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Eine Hotel zum Verlieben und ganz viel Wellenrauschen Auf der Suche nach ihrer Zwillingsschwester verschlägt es Isabell an die Nordsee, in das idyllische Sankt Peter-Ording. Zwischen Strandkörben und Brandung findet sie Freundschaft und Geborgenheit, als sie im heimeligen Hotel der alten Dame Anni unterkommt. Und sie trifft auf den attraktiven Nicklas, der ihr bei ihrer Suche helfen möchte. Langsam, aber sicher schleicht er sich in ihr Herz. Doch es gibt etwas, das er ihr verschweigt … Das perfekte Buch für den Sommer!
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Seitenzahl: 365
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das kleine Hotel am Strand
Nadine Feger, geboren 1979 in Viersen, lebt mit ihrer Familie in einer beschaulichen Gemeinde am Niederrhein. Schon als Teenager liebte sie das Schreiben und träumte davon, eines Tages Romanautorin zu werden. Ihr Debüt erschien im Juli 2020. Sie liebt Musik, das Reisen und die Natur. Wenn sie nicht gerade schreibt, steckt sie irgendwo zwischen Alltagschaos und Kinderlachen oder sie ist unterwegs, um neue Orte zu erkunden und Inspiration zu sammeln.
Eine Hotel-WG zum Verlieben
Auf der Suche nach ihrer Zwillingsschwester verschlägt es Isabell in das idyllische Sankt Peter-Ording. Zwischen Strandkörben und Brandung findet sie Freundschaft und Geborgenheit, als sie im heimeligen Hotel der alten Dame Anni unterkommt. Und sie trifft auf den attraktiven Nicklas, der ihr bei ihrer Suche helfen möchte. Langsam, aber sicher schleicht er sich in ihr Herz. Doch es gibt etwas, was er ihr verschweigt …
Nadine Feger
Ein Nordsee-Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei UllsteinUllstein ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH,Berlin Juni 2023 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®E-Book powered by pepyrusISBN 978-3-95818-706-1
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Einen Monat später
Danksagung
Leseprobe: Das kleine Atelier am Fjord
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Kapitel 1
Verdammt, muss es ausgerechnet jetzt auch noch anfangen zu schütten wie aus Eimern? Kann dieser beschissene Tag eigentlich noch beschissener werden? Als ob die Offenbarung meiner Eltern nicht schon schlimm genug gewesen wäre, finde ich in diesem verfluchten Kaff nicht einmal ein Hotelzimmer. Seit einer gefühlten Ewigkeit fahre ich durch die Straßen von Sankt Peter-Ording auf der Suche nach einer Unterkunft. Was denke ich mir auch dabei, ausgerechnet am Osterwochenende spontan an die Nordsee zu fahren? Es hätte mir klar sein müssen, dass alles ausgebucht ist. Ich koche innerlich. Mit jedem Kilometer, den ich gefahren bin, hat sich mein Zorn nur gesteigert. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals so gefühlt zu haben. So einsam, so verletzt, so niedergeschlagen. Der Regen bringt das Fass endgültig zum Überlaufen.
Was soll ich denn jetzt machen? Wieder zurück nach Köln fahren? Ohne mich! Irgendwo muss sich doch eine Übernachtungsmöglichkeit finden. Ich kann nicht wieder umdrehen und nach Hause fahren.
Tränen der Wut steigen in mir auf und verschlechtern meine Sicht. Die Scheibenwischer meines alten mintfarbenen Opel Corsa sind auch nicht mehr die Besten. Anscheinend hat sich die ganze Welt gegen mich verschworen. Während ich ziellos durch die Dunkelheit kurve, suche ich fieberhaft nach einer Lösung.
Plötzlich rückt ein schwaches, flackerndes Licht in mein Sichtfeld und lässt einen Funken Hoffnung in mir aufflammen. Mit Mühe lese ich, was auf dem beleuchteten Schild geschrieben steht:
Apart-Hotel Weber – Zimmer frei
Vielleicht habe ich hier Glück. Doch gerade als ich aussteige, wird der Regen noch schlimmer. Es ist, als hätte mir jemand einen Kübel Wasser über den Kopf gegossen. Egal, da muss ich jetzt durch.
So schnell ich kann, laufe ich auf den Eingang zu und drücke die Tür auf. Zumindest versuche ich es. Es sollte mich an einem Tag wie diesem nicht überraschen, dass sie verschlossen ist. Meine Hoffnung schwindet, dennoch drücke ich die Klingel. Nichts passiert.
Missmutig will ich mich wieder abwenden, als ich höre, wie von innen ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wird.
Eine kleine ergraute Dame, eingehüllt in einen kuscheligen Hausmantel, blickt mich fragend an. »Ja, bitte? Was kann ich für Sie tun, junges Fräulein?«
»Ich hätte gern ein Zimmer.« Triefnass und fröstelnd schlinge ich die Arme um meinen Körper.
»Ein Zimmer? Da muss ich Sie leider enttäuschen. Ich vermiete schon lange nicht mehr. Tut mir leid.«
»Aber … das Schild.« Fahrig deute ich in Richtung Einfahrt.
Kopfschüttelnd schaut die zierliche Frau an mir vorbei. »Ach herrje! Ich muss wieder an diesen verflixten Schalter gekommen sein, ich Schusselkopf. Ich sollte ihn dringend abklemmen lassen.«
»Das heißt also, ich kann hier nicht übernachten?« Meine letzte Hoffnung wird soeben mit dem Regen davongespült.
»Wie gesagt, das Hotel ist geschlossen.«
»Verstehe.« Mutlos lasse ich den Kopf sinken. »Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, wohin ich sonst könnte? Anscheinend ist alles in der Umgebung restlos ausgebucht.«
»Na, das ist ja wohl kein Wunder an einem langen Wochenende. Da hätten Sie vorher etwas buchen müssen.« Mit mitleidigem Blick zuckt die alte Dame mit den Schultern.
»Ja, habe ich jetzt auch kapiert. Entschuldigen Sie die Störung.«
»Auf Wiedersehen.« Die Tür schließt sich wieder und ich bleibe ratlos in der Dunkelheit stehen.
Wo soll ich denn jetzt bloß hin? Verdrossen bleibe ich unter dem kleinen Vordach stehen und ziehe mein Handy aus der Jackentasche, um mich auf die Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu machen. Allerdings sollte ich den Radius deutlich vergrößern und auch außerhalb von Sankt Peter-Ording suchen. Doch noch bevor ich die Suche anstoßen kann, öffnet sich die Tür wieder.
»Nun kommen Sie schon rein. Ich bringe es nicht übers Herz, Sie hier draußen bei dem Wetter stehen zu lassen.«
Überrascht schaue ich die zerbrechliche Frau an, die ihren Mantel fest um ihren Körper gezogen hat. Ihre überraschend moderne Kurzhaarfrisur wird vom Wind durchgepustet, während sie auf meine Reaktion wartet.
Mir fallen tausend Steine vom Herzen. »Ist das Ihr Ernst? Vielen lieben Dank.« Am liebsten würde ich sie vor lauter Dankbarkeit an mich drücken. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.
»Da nicht für. Kommen Sie erst einmal mit in die Wohnstube. Ich schaue dann mal nach, welches Zimmer halbwegs passabel aussieht. Geputzt wurde in den Appartements schon länger nicht mehr. Warum auch?«
Ich folge ihr ins Haus und sofort macht sich das Gefühl von Behaglichkeit in mir breit. Der schmale helle Flur wirkt einladend. Eine urige Holzbank mit bunten Kissen steht an der Wand gleich neben der Garderobe. Weiter hinten entdecke ich einen verwaisten Empfangstresen. »Das ist überhaupt nicht schlimm, Frau …«
»Weber. Aber nenn mich ruhig Anni, Kind.«
»Wie jetzt? Ich soll Sie duzen?«
»Aber sicher. Ich weiß ja nicht, wie das bei euch ist, aber hier im Norden haben wir keinen Stock im Arsch.« Grinsend zwinkert Anni mir zu und ich pruste laut los.
»Also dann, ich bin Isabell. Oder Isa. Wie Sie … äh … wie du möchtest.«
Anni bedeutet mir, ihr den Flur entlang zu folgen, stößt schließlich eine Tür auf und schiebt mich hindurch. »Dann mach’s dir mal bequem, Isabell. Ich bin gleich wieder bei dir.«
Schneller, als ich ihr zugetraut hätte, verschwindet Anni die Treppe hinauf und lässt mich allein zurück.
Ich streife meine nasse Jacke ab und hänge sie im Flur an einen Haken, bevor ich mich im Wohnzimmer auf der bunt geblümten Couch niederlasse. Ein knisterndes Feuer brennt im Kamin und gibt eine wohlige Wärme ab. Auf dem Sims entdecke ich Fotos von einer um Jahre jüngeren Anni mit, vermutlich, ihrem Ehemann. Gerade, als ich aufstehen und sie mir näher anschauen will, kommt Anni wieder herein.
»Du kannst Zimmer 1 haben. Ich habe dir das Bett frisch bezogen und der Rest sieht auch ganz passabel aus. Von mir aus kannst du ein paar Tage bleiben. Woanders wirst du sicher eh nichts finden. Geh doch ruhig schon mal rauf. Ich mache dir in der Zeit eine Suppe warm. Siehst aus, als könntest du die gebrauchen.« Mit einer wedelnden Handbewegung scheucht sie mich aus dem Raum.
»Das ist so nett. Vielen lieben Dank«, erwidere ich.
»Nun ist mal gut. Ehrlich gesagt, freue ich mich sogar über ein bisschen Gesellschaft. Hatte schon lange niemanden mehr hier.« Plötzlich liegt Traurigkeit in ihren blauen Augen.
In diesem Moment tut sie mir leid. Vielleicht erzählt sie mir später ein bisschen über sich. Aber zunächst muss ich wieder raus in diesen nicht enden wollenden Regen, um meinen Koffer aus dem Auto zu holen.
Nach dieser kalten Dusche stelle ich mich erst einmal unter eine warme. Die habe ich dringend nötig und wärmt mich wieder ein wenig auf. Danach packe ich mich in meinen Kuschelpulli und eine Jogginghose und nehme mir nun endlich die Zeit, mich in dem geräumigen Apartment richtig umzusehen. Es ist behaglich eingerichtet, mit einem großen Doppelbett im Landhausstil, einem passenden Kleiderschrank und einer gemütlichen Sitzecke mit zwei Schlafsofas. Eine kleine Küchenzeile macht die Einrichtung komplett.
Schade, dass dieses schöne Hotel ungenutzt brachliegt. Ich frage mich, warum Anni es nicht verkauft oder vermietet hat und stattdessen völlig allein in diesem großen Haus lebt. Bei dem Gedanken an sie fällt mir ein, dass unten noch eine heiße Suppe auf mich wartet. Ich schleiche durch den dunklen Flur die Treppe hinunter und klopfe zaghaft an die Tür zur Stube.
»Komm nur rein«, höre ich Anni von drinnen rufen.
»Tut mir leid, hat etwas länger gedauert. Ich war so durchgefroren, dass ich erst einmal eine Dusche zum Aufwärmen brauchte.« Auf Annis Geste hin setze ich mich an den Esstisch und beuge mich über den dampfenden Teller, der dort für mich bereitsteht.
»Das ist mein guter Bohneneintopf. Ich hoffe, du magst Bohnen?« Lächelnd sitzt sie mir gegenüber auf der Bank.
»Natürlich. Meine Oma macht auch oft Bohneneintopf. Den liebe ich.« Bei dem Gedanken an Oma kommt mir zwangsläufig wieder in den Sinn, was der Grund für meine überstürzte Abreise von zu Hause war. Sie war diejenige, die mich mit einer scheinbar beiläufigen Andeutung hellhörig werden ließ, sodass ich meine Eltern zur Rede gestellt habe. Mein Vater war schließlich derjenige, der mit der ganzen Wahrheit rausrückte.
Noch immer geht mir nicht in den Kopf, wie meine Eltern mir all die Jahre etwas so Wichtiges verschweigen konnten. Warum haben sie mir nicht direkt die ganze Wahrheit erzählt? Wie konnten sie mich bloß so hintergehen?
Als ich zehn Jahre alt war, haben sie mir offenbart, dass ich adoptiert bin. Ich bin immer gut damit klargekommen, denn ich habe mich stets geliebt und geborgen bei ihnen gefühlt. Doch ein grundlegendes Detail durfte ich erst jetzt erfahren: dass irgendwo da draußen meine Zwillingsschwester lebt. Das haben sie mir heute – fünfzehn Jahre später – gebeichtet, und das auch nur, weil ich keine Ruhe gegeben habe.
»Das wäre damals zu viel auf einmal gewesen«, hat meine Mutter mir gesagt, um mich zu beschwichtigen. »Du warst doch noch ein Kind.«
Vielleicht hat sie damit recht. Aber ein Kind bin ich schon lange nicht mehr, und sie hätten ausreichend Gelegenheit gehabt, mir von meiner Schwester zu erzählen. Ich spüre, wie die Wut in mir erneut aufkocht. Vergeblich versuche ich, sie mitsamt der Suppe wieder hinunterzuschlucken.
»Nun spuck’s schon aus. Reden hilft immer.« Anni schaut mich abwartend an.
»Wie bitte?«, antworte ich völlig perplex.
»Man kann dir an der Nasenspitze ansehen, dass dich etwas bedrückt. Und offenbar bist du ziemlich planlos hier gestrandet. Oder liege ich da etwa falsch?«
»Wohl wahr«, antworte ich betrübt. Ich lehne mich zurück und mustere Anni nachdenklich. Ob ich ihr davon erzählen soll? »Ich bin auf der Suche nach meiner Zwillingsschwester. Meine Eltern haben mir erst heute verraten, dass es sie gibt«, murmle ich schließlich in meinen Teller.
»Oh. Da überrascht es mich nicht, dass du so durch den Wind bist.« Verwundert mustert sie mich und beugt sich vor. »Und du suchst sie hier in Sankt Peter? Wie heißt sie denn?«
»Wenn ich das wüsste, wäre ich schon ein ganzes Stück weiter. Sie soll jedenfalls mal hier gelebt haben. Aber das ist auch schon das Einzige, was ich über sie weiß. Du kennst nicht zufällig jemanden, der aussieht wie ich?«
»Ich bin zwar alt eingesessen und kenne Hinz und Kunz, doch bei deiner Generation muss ich leider passen.« Anni reibt sich nachdenklich das Kinn. »Aber mir kommt da eine Idee. Es gibt im Ort ein Restaurant, in dem sich die jungen Leute oft tummeln. Vielleicht kennt sie dort jemand.«
»Und wie heißt es?« Bei dem Gedanken, eine erste Anlaufstelle zu haben, werde ich etwas entspannter.
»O weh, diesen Namen vergesse ich immer wieder. Lass mich überlegen … Tamatsu, wenn ich mich nicht irre.«
»Super. Dann werde ich dort morgen mal hingehen.« Ich löffle weiter an meiner Suppe, kann jedoch meine Neugier nicht stillen. »Darf ich dich auch etwas fragen, Anni?«
»Nur zu.«
»Seit wann ist das Hotel eigentlich nicht mehr in Betrieb?«
»Nach der Sommersaison letztes Jahr habe ich es geschlossen. Ich bin schließlich nicht mehr die Jüngste, wie man sieht.«
»Das Haus gehört also dir?«
Anni nickt abwesend. »Mein Mann und ich haben es damals gekauft und in Eigenleistung umgebaut. Früher war es ein alter Hof. War ganz schön viel Arbeit, das kann ich dir sagen.«
»Das glaub ich dir aufs Wort. Aber warum verkaufst du das Hotel nicht? Oder verpachtest es wenigstens an jemanden? Ich meine, es ist so schade, dass es nicht genutzt wird.« Hoffentlich trete ich ihr damit nicht zu nahe. Aber die Frage brennt mir so sehr unter den Nägeln, dass sie einfach rausmusste, nicht zuletzt, weil mir alles lieb ist, was mich von den Ereignissen dieses turbulenten Tages ablenkt.
Annis Blick schweift zu den Fotos auf dem Kaminsims. »Das hier ist mein Zuhause. Mich trägt man hier nur mit den Füßen vorweg raus.«
»Verstehe. Und was ist, wenn du es vermietest, mit der Bedingung, hier wohnen zu bleiben?« Ich lege den Löffel in den Teller und schenke Anni meine volle Aufmerksamkeit.
»Ach, Kind, das wäre einfach nicht mehr dasselbe. Ich möchte keine Fremden hier in meinem Haus. Wenn ich könnte, würde ich es ja selbst weiterführen. Aber seit ich an diesem verflixten Rheuma leide, schaffe ich es einfach nicht mehr. Und von meinem Personal gab es auch niemanden, der diese Herausforderung auf sich nehmen wollte. Es steckt eben doch viel Arbeit und Verantwortung darin, ein Hotel zu führen. Mir blieb gar keine andere Wahl mehr, als zu schließen.« Annis Blick wirkt entrückt, als wäre sie gerade ganz weit weg.
»Was ist mit deinem Mann?« Ich beiße mir auf die Zunge. Eigentlich wollte ich mir diese Frage verkneifen.
»Mein August ist vor fünf Jahren eingeschlafen. Danach war es ohnehin schwer, hier einfach so weiterzumachen. Jetzt ist es, wie es ist.« Melancholie schwingt in ihrer Stimme mit.
Betroffen schaue ich sie an. »Das tut mir sehr leid. Ich wollte nicht …« Mir fällt nichts zu sagen ein. Sie traurig zu machen, war das Letzte, was ich wollte.
»Mach dir keine Gedanken. Mir geht es gut. Es war schwer, August gehen zu lassen, und gleichzeitig war ich um seinetwillen froh, dass er es endlich geschafft hatte. Er hatte viele Jahre gegen den Krebs gekämpft und am Ende ging es ihm wirklich sehr schlecht. Jetzt hat er seinen Frieden und muss sich nicht mehr quälen, und dieser Gedanke ist auch für mich tröstlich.« Sie lächelt und betrachtet dabei den schmalen goldenen Ring an ihrem Finger.
Gerade möchte ich etwas sagen, da lässt uns ein Klingeln an der Haustür aufhorchen.
Mit der flachen Hand haut Anni auf den Tisch. »Das gibt’s ja nicht. Was ist denn heute hier los? Warte kurz, bin gleich wieder da.« Die Bank knarzt, als sie sich erhebt, und ich schaue ihr nach, als sie den Raum verlässt.
Ich höre leises Stimmengewirr. Auch wenn ich nicht genau verstehen kann, was gesprochen wird, entnehme ich dem Tonfall, dass Anni die Person an der Tür zu kennen scheint. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bereits weit nach zehn Uhr ist. Wer klingelt denn um diese Uhrzeit noch, mal abgesehen von mir, die ziellos in der Gegend umhergeirrt ist?
Nur wenige Augenblicke später wird meine Neugier gestillt, als an Annis Seite eine große schlanke Frau, schätzungsweise Mitte vierzig, den Raum betritt.
»Ich habe noch einen Gast mitgebracht«, sagt Anni an mich gerichtet. »Christine, das ist Isabell. Isabell, das ist Christine. Ihre Mutter und ich waren enge Freundinnen.« Sie lässt sich wieder auf ihren Platz mir gegenüber sinken und bedeutet Christine, sich neben sie zu setzen. »Möchtest du auch eine Suppe?«
Die elegant gekleidete Frau mit dem langen blonden Haar kommt Annis Aufforderung nach, schüttelt aber den Kopf. »Nein, danke. Nur ein Bett brauche ich. Mehr nicht.« Sie wirkt müde, abgekämpft – als würde sie eine große Last mit sich herumschleppen. Genau wie ich.
»Magst du uns nicht erzählen, was passiert ist?«, fragt Anni in einem mütterlichen Tonfall und legt dabei ihre faltige Hand auf Christines Schulter. »Wir sind ohnehin gerade dabei, uns unsere Herzen auszuschütten.«
Unauffällig streift mein Blick die unbekannte junge Frau mit dem dunklen Haar und den traurigen braunen Augen. Sie kommt mir bekannt vor, aber mir fällt nicht ein, woher ich sie kennen könnte. »Sei mir nicht böse, Anni, aber mir ist gerade nicht zum Reden zumute.«
In dem Moment springt das Mädchen, das kaum älter als meine Tochter sein mag, unvermittelt auf. »Ich bin ziemlich müde nach der langen Fahrt. Ich sollte besser schlafen gehen.«
Anni lächelt verstehend. »Nur zu. Schlaf gut.«
»Gute Nacht. Und danke noch einmal.« Isabell schenkt Anni und mir ein warmes Lächeln und verlässt dann den Raum.
Erst, als ihre Schritte auf der Treppe verhallen, wendet Anni sich mir wieder zu. »Möchtest du jetzt vielleicht etwas loswerden?«
Sicher bin ich mir nicht, aber sie lässt mich bei sich übernachten, da bin ich ihr eine Erklärung schuldig. Trotzdem weiche ich ihrer Frage aus. Ich fühle mich nicht in der Lage auszusprechen, was vorgefallen ist. »Wer ist das Mädchen?«, frage ich stattdessen.
»Isabell? Sie ist auf der Suche nach ihrer Zwillingsschwester, von der sie erst heute erfahren hat. Du kennst nicht zufällig jemanden, der ihr ähnlich sieht?«
»Hm. Ich bin mir nicht sicher. Mir ist, als hätte ich das Gesicht schon mal gesehen. Wie heißt ihre Schwester denn?« Erleichtert gehe ich auf dieses Thema ein, weil es mich von meinen eigenen Problemen ablenkt.
»Das weiß sie leider auch nicht. Vielleicht kennen deine Kinder sie ja.« Anni steht auf und räumt Isabells Teller weg. »Kannst sie ja mal fragen.«
Erst als sie in der Küche ist, sage ich in den Raum hinein: »Ich habe mich von Alexander getrennt.«
Nur einen Wimpernschlag später steht Anni mit betroffenem Blick wieder in der Stube. »Als du vor meiner Tür gestanden hast, habe ich genau das befürchtet. Ich kann das einfach nicht glauben! Ihr habt immer so glücklich auf mich gewirkt.«
»Alles nur Schein«, murmle ich verbittert.
Sie setzt sich mir gegenüber auf den Stuhl, auf dem Isabell vorhin noch gesessen hat, und umfasst fürsorglich meine Hände. Diese Berührung wirkt beruhigend. Ich kenne Anni schon, seit ich denken kann. Ihre Nähe ist tröstlich, und ich wusste nicht, zu wem ich sonst hätte gehen können.
»Hat er dich etwa betrogen?« Annis Augen sind von Sorge getrübt.
Sofort schüttle ich den Kopf. »Nein. Nein, das ist es nicht.« Ich senke den Blick und schlucke die Worte, die sich an die Oberfläche drängen wollen, hinunter. »Wir sind einfach nur … so festgefahren. Auch wenn es nach außen hin völlig anders wirken mag, sind wir meilenweit davon entfernt, glücklich zu sein.« Das ist nur die halbe Wahrheit. Was wirklich passiert ist, behalte ich lieber für mich. Ich muss das selbst erst einmal verdauen.
»Denkst du, dass das eine Sache ist, an der ihr arbeiten könnt? Oder hast du das Gefühl, es ist schon alles verloren?« Dass Anni nach wie vor meine Hand hält, gibt mir den Mut weiterzureden.
»Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Wenn ich in mich hineinhorche, ist da nichts außer Leere. Ich könnte dir nicht einmal sagen, ob ich überhaupt noch etwas für Alex empfinde.« Das ist die Wahrheit. Als wäre mein Herz nichts weiter als ein klirrend kalter Eisklotz.
»Verstehe. Wie sieht Alexander das Ganze?«
»Er … war wie in Schockstarre, als ich ihm offenbart habe, dass ich gehen werde. Gesagt hat er kaum etwas. Es machte den Anschein, als wäre er gar nicht in der Lage zu realisieren, was überhaupt passiert.« Ich senke den Blick und entziehe Anni meine Hände. »Es war nicht schön, ihn so zu sehen. Aber das hat mich trotzdem nicht davon abgehalten zu gehen.« Selten habe ich mich so schuldig gefühlt. Zwar weiß ich nicht genau, wie viel Alex überhaupt noch für mich empfindet, aber mir ist klar, wie sehr ich ihn mit meiner Entscheidung getroffen haben muss. Anscheinend hat er nicht im Geringsten damit gerechnet.
»Weißt du was? Am besten versuchst du erst einmal, zur Ruhe zu kommen und deine Gedanken zu sortieren. Entweder wirst du merken, dass er dir fehlt, oder zu dem Schluss kommen, dass es dir ohne ihn besser geht. So lange kannst du gern hierbleiben. Platz habe ich schließlich genug.«
»Danke, Anni. Was würde ich nur ohne dich machen?«
»Ach, komm schon. Jemand wie du findet immer eine Lösung. Auch ohne mich.« Sie zwinkert mir zu und steht auf. »Ich mach dann mal ein Zimmer fertig. Das zweite heute. Ganz schön viel los für ein geschlossenes Hotel.« Ein warmes Lachen entweicht ihrer Kehle und bringt sogar mich an diesem düsteren Tag zum Schmunzeln.
Eine halbe Stunde später liege ich allein in der Dunkelheit, in einem fremden Bett, zum ersten Mal seit vierundzwanzig Jahren ohne Alexander an meiner Seite.
Wir kennen uns seit der Schulzeit und waren von Anfang an unzertrennlich, auch wenn es immer jemanden gab, der daran etwas ändern wollte. Zwischen Alex und mich passte kein Blatt Papier. Da hat es niemanden verwundert, dass wir jung geheiratet haben. Wir haben beide noch mitten im Medizinstudium gesteckt, als ich mit unserem Sohn Jakob schwanger wurde. Als die Erinnerung daran in mir hochkommt, kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Diese Zeit war so unglaublich intensiv. Eine Familie mit Alex zu gründen, hat mir damals alles bedeutet. Es machte unser Glück perfekt.
Ich habe das Studium schließlich abgebrochen und wir lebten zu dritt in Hamburg in einer kleinen Studentenwohnung. Die ersten Jahre waren hart, doch wir haben es irgendwie geschafft. Mit Alex an meiner Seite war alles machbar. Ich habe mir nie Sorgen machen müssen. Nachdem er sein Staatsexamen in der Tasche hatte, sind wir nach Sankt Peter-Ording zurückgekehrt. Alex hat angefangen, in einer Reha-Klinik hier im Ort zu arbeiten, die er inzwischen sogar leitet. Wenig später wurde Alina geboren und machte unsere Familie vollständig. Es fehlt uns an nichts – und doch fehlt mir alles. Wie konnte es nur so weit kommen?
Eine bedrohliche Schwärze breitet sich in mir aus, wie sie mich seit Monaten immer wieder heimsucht und mich Nacht für Nacht wachhält. Wie ein schwerer Schleier legt sie sich auf meine Seele und vergiftet meine Gedanken. Ich bin müde. So unendlich müde. Plötzlich fühlt sich mein Körper bleischwer an und endlich falle ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Doch am Morgen kommt das böse Erwachen. Erst jetzt realisiere ich, dass ich von einem Tag auf den anderen mein ganzes Leben weggeworfen habe, ohne mir über die Konsequenzen klar zu sein. Wie soll ich Alex gegenübertreten, wenn er nach Antworten verlangt? Und wie soll ich das alles bloß den Kindern beibringen, ohne dass sie mich dafür hassen werden? Wie kann sich etwas, das sich so falsch anfühlt, gleichzeitig so richtig anfühlen?
Mit aller Macht schlucke ich die aufkommenden Tränen hinunter, springe aus dem Bett und stelle mich unter die Dusche. Mit dem kühlen Wasser spüle ich auch die trüben Gedanken aus mir heraus.
Mein Entschluss war richtig. Ich hätte keine andere Entscheidung treffen können. Nun wird sich alles fügen. Es muss einfach.
Als ich in die Wohnstube trete, sehe ich Isabell und Anni gemeinsam am Tisch sitzen. Am liebsten würde ich sofort wieder auf dem Absatz kehrtmachen, doch ich muss mich meinem neuen Leben stellen. Ich wollte, dass sich etwas verändert, und das habe ich durch meine tiefgreifende Entscheidung herbeigeführt. Nun muss ich auch damit zurechtkommen.
»Moin! Gut, dass du kommst«, sagt Anni. »Wir wollten gerade mit dem Frühstück beginnen.«
»Guten Morgen zusammen.« Entschlossen streife ich meine Bluse glatt und setze mich auf denselben Platz, auf dem ich gestern gesessen habe. Ich schenke Isabell ein offenes Lächeln. »Es tut mir leid, Isabell, dass ich gestern so unhöflich war. Das ist normalerweise nicht meine Art.«
Beschwichtigend hebt sie ihre Hände. »Unhöflich? Ach was! Ich habe gleich gespürt, dass es Ihnen nicht gut geht. Machen Sie sich bloß keine Gedanken.«
Erleichtert atme ich auf. »Da bin ich beruhigt. Und bitte, lass bloß das Sie weg!«
»Schon klar. Ihr im Norden habt schließlich keinen Stock im Arsch.« Isabell schmunzelt amüsiert.
Erschrocken reiße ich die Augen auf.
»Das hat Anni behauptet, nicht ich«, meint die junge Frau entschuldigend. Ihr Grinsen wird dabei nur noch breiter.
Mein Blick wandert tadelnd zu Anni, die gerade an ihrem Tee nippt und währenddessen unschuldig mit den Schultern zuckt. Kopfschüttelnd wende ich mich wieder Isabell zu. »Du bist auf der Suche nach deiner Schwester?«
»Ja. Kennst du sie etwa?«
»Du kommst mir zwar irgendwie bekannt vor, aber ich weiß beim besten Willen nicht, wo ich dein Gesicht einordnen soll. Aber wenn du willst, frage ich meine Kinder. Vielleicht kennen sie deine Schwester ja von der Schule. Magst du mir ein Foto von dir aufs Handy schicken? Dann leite ich es den beiden weiter.«
»Super Idee!«
Ich halte Isabell mein Handy entgegen, damit sie meine Nummer abtippen kann. »Und du kennst nicht einmal ihren Namen?«
Während sie auf ihr Handy starrt, schüttelt sie beiläufig den Kopf. »Nein, ich weiß gar nichts. Nur, dass sie hier leben oder gelebt haben soll. Wir wurden schon als Babys adoptiert, gleich nach der Geburt. Dummerweise habe ich nicht einmal daran gedacht, meine Geburtsurkunde mitzunehmen.«
»Warum fragst du nicht deine Eltern, ob sie sie dir abfotografieren können?«
»Habe ich versucht. Aber meine Mutter stellt sich stur und ist der Meinung, ich solle lieber nach Hause kommen, damit wir in Ruhe über alles reden können. Darauf habe ich aber keine Lust. Zumindest im Moment nicht. Also muss ich halt allein versuchen, etwas herauszufinden.« Isabell lässt ihr Handy auf den Tisch gleiten und im selben Moment erklingt ein Signalton auf meinem.
»Oh, super. Ich schicke es sofort an Jakob und Alina weiter.« Nachdem ich das erledigt habe, keimt die Frage in mir auf, ob Alex ihnen bereits erzählt haben könnte, was passiert ist. Dieser Gedanke verursacht Übelkeit in mir. Deshalb nehme ich einen kräftigen Schluck Kaffee. Der kommt mir jedoch fast wieder hoch, als mein Handy klingelt. »Das ist Alex«, sage ich tonlos.
»Willst du nicht rangehen?«, möchte Anni wissen.
»Das ist das Letzte, was ich gerade will.«
»Er macht sich bestimmt Sorgen«, sagt sie mit warmer Stimme. Und ich weiß, sie hat recht.
»Das kann schon sein. Aber ich kann jetzt nicht mit ihm sprechen. Lasst uns bitte das Thema wechseln.«
Schweigen tritt ein. Offenbar weiß niemand, was jetzt am besten zu sagen wäre.
Isabell ist es schließlich, die die Stille durchbricht. »Sag mal, Anni, wir hatten ja gestern über dein Hotel gesprochen. Bist du dir sicher, dass du dich nicht nach einem neuen Betreiber umsehen willst? Es ist so bedauerlich, dass das alles«, sie macht eine ausschweifende Geste, »nicht mehr genutzt wird. Man sieht in jedem Detail, wie viel Liebe hier drin steckt.«
»Da muss ich Isabell zustimmen, Anni. Es bricht mir das Herz, dass euer Lebenswerk einfach brachliegt. Gibt es nicht irgendwas, das wir tun können?« Erwartungsvoll schaue ich in Annis vertrautes Gesicht. Ich weiß, wie schwer es ihr fiel, das Hotel schließen zu müssen.
»Dann eröffnet ihr es doch neu, wenn ihr wollt.« Anni sagt das nur so daher, aber mich trifft dieser Gedanke wie ein Blitz.
»Warum eigentlich nicht? Mit deiner Unterstützung, Anni, würde ich diesen Schritt wagen.« Ich kann selbst nicht glauben, was ich da gerade gesagt habe.
Aber Anni offenbar noch viel weniger. »Bist du von allen guten Geistern verlassen? Das war ein Scherz. Nichts weiter.«
»Was denn? Die Idee ist doch großartig«, feuert Isabell uns an. »So könntest du dein Hotel wieder eröffnen, ohne dass es in fremde Hände kommt. Und du hättest tatkräftige Unterstützung.«
Anni schaut Isabell skeptisch an. »Und jetzt erzählst du mir wahrscheinlich, dass du auch mit im Boot bist.«
Ein Funkeln blitzt in ihren Augen auf. »Eigentlich keine schlechte Idee. Wenn das bloß so einfach wäre …«, entgegnet sie.
Erstaunt mustere ich Isabell. Hier passiert gerade etwas, das eine ungeahnte Energie in mir freisetzt. »Was hindert dich daran?«
»Mein Leben in Köln, meine Familie, mein Job als Erzieherin? Ich kann die Kids doch nicht im Stich lassen.«
Annis Blick wird weich. »Du bist Erzieherin?«
»Ja. Wobei ich zugeben muss, dass ich an der Stelle nicht gerade hänge. Meine Chefin …« Isabell macht eine wegwerfende Geste und rollt mit den Augen. »Aber an ein paar Kindern hängt mein Herz wirklich sehr.«
»Das kann ich mir gut vorstellen.« Anni wirkt plötzlich sehr melancholisch. »Eigentlich sollte das hier immer ein Familienhotel werden. Das ganze Haus sollte mit Kinderlachen gefüllt sein. Aber mein August hat es nicht verkraftet, dass wir keine eigenen Kinder kriegen konnten. Es schmerzte ihn so sehr, dass wir unsere Pläne auf Eis gelegt haben. Ihm zuliebe habe ich auf diesen Traum verzichtet, es tief in meinem Inneren aber immer wieder bereut. Im Nachhinein glaube ich nämlich, es hätte auch August gutgetan.«
»Ein Familienhotel, das ist es!«, werfe ich euphorisch ein. »Wer sagt denn, dass du diesen Plan nicht immer noch in die Tat umsetzen kannst? Isa, du könntest dann die Kinderbetreuung übernehmen. Das wäre doch perfekt.« Plötzlich nimmt mich diese Idee so gefangen, dass meine Gedanken nicht mehr stillstehen.
»Jetzt ist aber mal Schluss, ihr beiden!« Anni klopft mit der Faust auf den Tisch. »Wenn ich gewusst hätte, dass ihr zwei solch einen Wirbel veranstaltet, hätte ich euch nicht hier übernachten lassen.«
Ich sehe ihr an, dass sie das nicht ernst meint. Doch offensichtlich fühlt sie sich gerade total von meiner Idee überrumpelt, ebenso wie ich selbst. Und dennoch reizt mich dieser Gedanke, das Hotel gemeinsam mit Anni neu aufzuziehen. Aber ich kann nicht einfach hier aufkreuzen und ihr Leben auf den Kopf stellen. Ohnehin muss ich erst mein eigenes wieder auf die Reihe bekommen. Und das wird sicher alles andere als leicht.
Aufmerksam laufe ich die lebhafte Dorfstraße entlang. Was ich gestern in meiner Wut noch als verfluchtes Kaff betitelt habe, entpuppt sich als ein wunderschöner und lebendiger Urlaubsort. Hier reihen sich kleine Geschäfte und Restaurants aneinander, und die vielen Touristen mischen sich unter die Einheimischen. Unterscheiden kann man sie fast nur an der Kleidung. Christine hat erzählt, sobald hier die ersten Sonnenstrahlen hervorkommen, ganz gleich, wie frisch der Wind noch sein mag, erkennt man die Einwohner an der sommerlich kurzen Kleidung. Und sie hatte recht.
Ich beobachte all die Menschen, die an den Tischen in der Sonne sitzen, essen, trinken und miteinander lachen. Auf den ersten Blick entdecke ich jedoch niemanden, den ich auf meine Schwester ansprechen und ausfragen könnte.
Auch als ich das Tamatsu erreiche und durch die geöffnete Tür ins Innere schaue, finde ich niemanden in meinem Alter vor. Dennoch gehe ich hinein und spreche einen Kellner an. »Hi! Ich bin Isabell und auf der Suche nach meiner Zwillingsschwester. Sie kennen nicht zufällig eine Frau, die aussieht wie ich?« Die Hitze schießt mir in die Wangen. Das ist gar nicht so einfach, wie ich dachte. Denn im Grunde genommen, bin ich eher ein zurückhaltender Mensch. Nur mit Kindern kann ich gut. Von deren Offenheit sollte ich mir besser mal eine Scheibe abschneiden.
Der Mann mittleren Alters kneift die Augen zusammen, als würde er überlegen, schüttelt dann aber den Kopf. »Nein, tut mir leid. Aber unser Restaurant gibt es auch noch nicht so lange. Vielleicht fragst du einfach mal im Wirtshaus nebenan.«
»Okay. Danke.« Missmutig verlasse ich das Lokal und bleibe unschlüssig vor dem Wirtshaus stehen. Was bringt das alles überhaupt? Als ob ich so meine Schwester finden würde. Etwas Besseres fällt mir allerdings auch nicht ein, also gebe ich mir einen Ruck und gehe hinein.
»Moin! Was kann ich für dich tun? Ein Tisch für eine Person?«, fragt mich eine Frau mit einer fetzigen Kurzhaarfrisur.
»Äh, nein. Danke. Ich habe nur eine Frage. Kennen Sie eine Frau, die mir ähnlich sieht? Ich suche nach meiner Zwillingsschwester, die ich leider noch nie gesehen habe.« In diesem Moment frage ich mich, ob ich nicht lieber Julia Leischik von Bitte melde Dich um Hilfe fragen sollte, als mich immer und immer wieder erfolglos von wildfremden Leuten mustern zu lassen.
»Nee du, da bin ich überfragt. Aber heute Abend kommt ein großer Pulk Leute so in deinem Alter. Die sind alle von hier. Komm doch einfach später noch mal, so ab sieben Uhr. Die können dir vielleicht weiterhelfen. Hier kennt eigentlich jeder jeden.«
»Dann versuche ich das. Vielen Dank.« Mit einem gequälten Lächeln wende ich mich ab und trete wieder ins Freie. Na, das hat ja wunderbar funktioniert! Als ob ich heute Abend in den vollen Laden renne, um irgendwelche Fremden nach meiner Schwester auszufragen. Mir wird bewusst, dass ich einfach nicht der Typ dafür bin, offen auf andere zuzugehen. Nicht einmal, wenn es um so etwas Wichtiges wie meine Schwester geht.
Die Sonne blendet mich, als ich die Straße überquere. Umso mehr erschrecke ich, als ein Kerl auf seinem Fahrrad wie ein Irrer angerast kommt und mich beinahe über den Haufen fährt. Das Quietschen der Fahrradbremsen tut mir in den Ohren weh. Noch mehr aus dem Tritt bringt mich jedoch der Blick dieses Typen, der mich anstarrt, als hätte er gerade das achte Weltwunder entdeckt.
»Spinnst du? Kannst du nicht besser aufpassen?«, fahre ich ihn an, und klinge dabei wütender, als ich es eigentlich bin.
»Was machst du hier?«, fragt er mich verständnislos.
»Die Straße überqueren und mich zu Tode erschrecken lassen.« Ich stoße laut Luft aus. »Ich sollte besser dahin zurück, wo ich hergekommen bin«, murmle ich. Hastig wende ich mich ab und lasse den Kerl einfach stehen.
»Warte doch!«, ruft er mir hinterher.
Ich ignoriere ihn und laufe unbeirrt weiter. Das scheint einfach nicht mein Tag zu sein. Ebenso wie der gestrige. Aber immerhin schüttet es heute nicht wie aus Eimern. Das ist ja auch schon mal was.
Wieder zurück im Hotel finde ich Anni am Esstisch in ihrer Stube vor. Sie blättert in der Tageszeitung, ohne wirklich darin zu lesen.
»Isabell, da bist du ja. Hattest du Erfolg?«
»Du kannst mich ruhig Isa nennen, wenn du magst. Alle meine Freunde nennen mich so.«
Ein Strahlen erhellt ihr Gesicht. »Dann zähle ich jetzt also zu deinen Freundinnen. Bin ich dafür nicht ein bisschen zu alt?«
Es mag verrückt klingen, aber ich habe Anni vom ersten Moment an in mein Herz geschlossen. Sie hätte mich gestern nicht hereinbitten und mir ein Bett anbieten müssen. Aber sie hat es trotzdem getan und mich herzlich aufgenommen.
»Ich glaube, Freundschaft kennt kein Alter«, entgegne ich. »Und um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, niemand kennt meine Schwester. Allzu viele Leute habe ich aber ehrlich gesagt nicht gefragt. Die Stadt ist voll von Touristen.«
»Das hätte ich dir auch gleich sagen können.«
Genervt lasse ich mich auf einen Stuhl fallen. »Heute Abend soll ich noch mal ins Wirtshaus kommen. Da soll ein Haufen junger Leute da sein.«
»Na, dann mach das doch.«
»Ich komme mir aber ganz schön doof dabei vor, wenn ich ehrlich bin. Eigentlich bin ich für heute schon bedient. Zu allem Überfluss hätte mich auch noch beinahe ein Radfahrer umgefahren. Das war haarscharf.«
»Lenk nicht ab. Wenn du deine Schwester finden willst, musst du da wohl hingehen. Kann dir doch egal sein, was die von dir denken. Schließlich kennst du sie nicht mal.«
Damit trifft sie es auf den Punkt. »Du hast ja recht.«
»Also, ziehst du es durch?« Anni nickt mir aufmunternd zu.
Innerlich gebe ich mir einen Ruck. Was habe ich schon zu verlieren? »Ja, werde ich machen.«
»Na, siehst du. Geht doch.« Anni lehnt sich zufrieden lächelnd zurück. Dennoch merke ich, dass sie nicht ganz bei der Sache ist. Ihr Blick flattert unruhig durch den Raum.
»Und was ist mit dir?«
»Mit mir? Was soll schon sein?«
»Du wirkst irgendwie … zerstreut.«
»Ich bin eine alte Frau. Was erwartest du da?« Sie gibt sich ahnungslos, doch ich bin mir sicher, sie weiß genau, worauf ich hinaus will.
»Dich beschäftigt Christines Vorschlag, das Hotel wieder zu eröffnen.«
Ihr Blick verrät mir, dass sie sich ertappt fühlt. »Kann schon sein.«
»Und was denkst du darüber?«
»Ach, Kind, was soll ich schon denken? Ich bin längst kein junges Reh mehr und werde hier nicht viel tun können, außer ein wenig im Hintergrund zu wirken. Und ob Christine das alles allein schafft, wage ich zu bezweifeln.«
»Auf mich macht sie aber durchaus den Eindruck, als hätte sie so was drauf. Und sie scheint von der Idee total angetan.«
Anni wiegt nachdenklich den Kopf hin und her. »Christine ist gerade in einer schwierigen Phase. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie wirklich den Kopf dafür frei hat. Ich sollte mich also nicht darauf versteifen, dass dem Hotel jemals wieder Leben eingehaucht wird.«
»Ich habe meinen Vorschlag ernst gemeint, Anni. Sonst hätte ich ihn dir nicht gemacht.« Christine steht plötzlich neben uns und wirkt ziemlich entschlossen auf mich.
Anni schenkt ihr ein gutmütiges Lächeln. »Das weiß ich doch. Trotzdem, das Hotel bleibt geschlossen. Es ist besser so.« Sie steht auf und schlendert Richtung Küche. »Ich koche uns mal was Gutes.«
Christine und ich bleiben allein in der Stube zurück und schauen uns ratlos an.
»Ich glaube, es nimmt sie ganz schön mit«, sage ich leise.
Entmutigt lässt Christine sich auf die Bank fallen. »Das war das Letzte, was ich wollte.«
»Und du traust dir das mit dem Hotel wirklich zu?« Anni hat gerade noch erwähnt, dass Christine mit irgendetwas zu kämpfen hat. Nicht, dass der Vorschlag mit der Neueröffnung eine völlig kopflose Idee war.
»Es wäre zwar eine Herausforderung, aber eine, die ich zu gern annehmen würde. Ich habe nie wirklich gearbeitet. Das war nicht nötig. Mein Mann leitet eine Kurklinik und ich war voll und ganz für die Kinder da, war im Elternbeirat, bei all ihren Spielen und Auftritten dabei. Das war mein Lebensinhalt. Aber seit die beiden aus dem Haus sind, fühle ich mich irgendwie überflüssig.« Plötzlich scheint alle Energie aus Christine gewichen zu sein. Ihr Kummer fühlt sich nahezu greifbar für mich an und passt nicht im Geringsten zu der Christine, die noch vor wenigen Stunden Feuer und Flamme dafür war, das Hotel neu zu eröffnen.
»Wohnen sie denn noch in Sankt Peter?«
»Nein. Jakob ging vor zwei Jahren nach Hamburg zum Studieren, Alina macht gerade ein Auslandsjahr in den USA.« Christine kneift die Augen zusammen, schüttelt kurz den Kopf und scheint dann wieder fokussiert zu sein. »Die beiden haben sich übrigens inzwischen gemeldet und kennen deine Schwester nicht näher. Jakob hatte sie zwar ab und an in der Schule gesehen, aber da sie drei Stufen über ihm gewesen sein muss und sich die Großen nie mit den Jüngeren abgegeben haben, konnte er mir nicht mehr über sie verraten.« Nachdenklich zieht Christine ihre Stirn in Falten. »Kann ich dir sonst irgendwie bei der Suche helfen? Ich könnte dich nächste Woche aufs Bürgeramt begleiten. Vielleicht kann man dir dort etwas über sie sagen.«
»Ohne dir zu nahetreten zu wollen – du brauchst dringend eine Aufgabe.« Ich beiße mir auf die Zunge, atme aber erleichtert durch, als Christine mir nickend zustimmt.
»Damit triffst du den Nagel auf den Kopf, auch wenn ich das nur ungern zugebe.« Frustriert stützt sie den Kopf auf ihre Hand. »O Mann, ich komme mir wie ein frustriertes altes Weib in der Midlife-Crisis vor. Was ich ganz offensichtlich wohl auch bin.« Christine steht mit sich selbst auf Kriegsfuß, das ist mehr als offensichtlich. Auch wenn ich sie kaum kenne, tut es mir leid, sie so zu sehen – vor allem, weil ich ahne, dass diese starke kämpferische Seite in ihr steckt. Diese muss sie aus sich herauskitzeln.
»Das ist nichts, was man nicht ändern kann. Ich bin mir sicher, dass du einen Weg da rausfinden wirst«, versuche ich, sie zu ermutigen.
»Mit Sicherheit ist das auch der Grund, warum mich die Idee mit dem Hotel so gepackt hat. Ich muss etwas tun, das weiß ich genau. Nur hatte ich keine Perspektive. Bis jetzt.«
Mein Blick huscht Richtung Küche, aus der ich Töpfeklappern und leise Schlagermusik vernehme. Als ich mir sicher bin, dass Anni nichts mitbekommt, beuge ich mich leicht über den Tisch und lächle Christine aufmunternd an. »Was hältst du davon, wenn wir zusammen ein handfestes Konzept ausarbeiten? Und dann zeigst du es Anni und redest noch einmal in Ruhe mit ihr darüber. Wenn sie sieht, wie ernst es dir ist, ändert sie ihre Meinung mit Sicherheit.«
»Das ist gar keine schlechte Idee. Sollen wir uns morgen Früh zusammensetzen? Dann mache ich mir bis dahin einige Gedanken.«
»Bin dabei.«
»Was tuschelt ihr denn da?«, fragt Anni plötzlich hinter mir. In ihren Händen hält sie Teller und Besteck.
Sofort springe ich auf und nehme ihr das Geschirr ab. »Lass mich den Tisch decken. Du tust schon so viel für uns.«
»Soll ich dir in der Küche helfen?«, fragt Christine und steht ebenfalls auf.
»Nun werdet mal nicht bekloppt, ihr zwei. Ich bin zwar alt, aber das kriege ich schon noch allein hin.« Anni sagt das mit dem für sie typischen Grinsen. Ich mag ihre Art einfach. Für ihre knapp achtzig Jahre ist sie ziemlich cool.
Nach dem Essen ziehe ich mich auf den Balkon meines Zimmers zurück und genieße die raue Schönheit, die sich vor mir im strahlenden Licht der Sonne eröffnet. Während ich meinen Blick über die Weite der Salzwiesen und den dahinterliegenden Strand schweifen lasse, überlege ich, wie ich weiter vorgehen soll. Doch auch die frische salzige Luft kann meine Gedanken nicht klären. Was, wenn ich auch heute Abend kein Glück haben werde? Macht es dann überhaupt Sinn, noch länger hierzubleiben? Zumindest muss ich Christine bei ihrem Konzept unterstützen. Ich kann sie jetzt schließlich nicht hängen lassen. Danach sehe ich weiter.
Die Zeit verfliegt, während ich hier sitze und mir überlege, was man aus diesem Hotel machen könnte. Direkt vor dem Haus befindet sich ein Wasserspielplatz, auf dem sich viele Kinder tummeln. Gerade ist eines ins Wasser gefallen und schreit, weil es von oben bis unten nass ist. Doch ansonsten höre ich vor allem ihr Lachen, die Freude, die die Kinder beim Spielen haben. Und das ist für mich das schönste Geräusch und der Grund, weshalb ich Erzieherin geworden bin.
Dieser Spielplatz, das Meer fast vor der Tür, die hübschen Apartments – das alles schreit förmlich danach, Annis ursprünglichen Wunsch nach einem Familienhotel in die Tat umzusetzen. Am besten schaue ich mich mal genauer im Haus um. Die Gelegenheit ist günstig, weil Anni sich zu einem Nickerchen in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hat.