Das Leben ist (k)ein Zonk - Jörg Draeger - E-Book

Das Leben ist (k)ein Zonk E-Book

Jörg Draeger

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Beschreibung

Das Leben ist (k)ein ZONK ist die Autobiografie von Jörg Draeger, der sein Leben von der Kindheit bis zum Fernsehen beschreibt, sowie dessen ungewöhnliche Wendepunkte vom katholischen Spanien, uber das harte Studentenleben ohne Geld und ohne Eltern im Berlin der 68er und schließlich einer lebenslangen Verpflichtung bei der Bundeswehr. Drei Ehen fährt er gegen die Wand, bevor er durch Gluck und Zufall zum ZONK und seiner großen Liebe findet.

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Jörg Draeger

Delia Grösch

Das Leben ist (k)ein ZONK

Biografie

Impressum

©NIBE Media ©Jörg Draeger

Delia Grösch

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für den Inhalt des Buches ist allein der Autor verantwortlich und er muss nicht der Meinung des Verlags entsprechen.

Created by NIBE Media

Alle Fotos: Privatarchiv Jörg Draeger

Coverfoto: Delia Grösch

Covergestaltung: Thomas Weitz

NIBE Media

Broicher Straße 130

52146 Würselen

Telefon: +49 (0) 2405 4064447

E-Mail:[email protected]

www.nibe-media.de

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

1. Ekelhaft, mit mir hat er das noch nie so gemacht

2. Hömma Göarch, kannze dich abschminken. Die Schükes tunet schon noch paar Järkes

3. Wilhelmine, mein Goldschatz

4. Hören´se mal Frau Draeger, nehmen´se ihn mit, der bleibt eh kleben

5. Ohne deutsche Hilfe brennt die Hütte im Hüttenwerk

6. Vom siebten Himmel auf den harten Boden der Tatsachen

7. Ab nach Deutschland und nochmal in die Oberprima

8. Da willst du dich schon einmal umbringen und keiner kommt

9. Wer nicht ist „von großen Nutzen“, der muss Autos putzen

10. Erlaubst du mir einen Kuss auf die Süße deiner Lippen?

11. Ich habe dir meine Corvette geliehen, nicht meine Frau

12. Renate liebte Wein. Ich Bier. Renate liebte Eislauf. Ich Schalke 04

13. Alle Führerscheine: PKW, LKW, Bus, Motorrad und … Panzer

14. Ich, Panzerschütze Draeger, schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen

15. In Negligé und Höschen

16. Time to say Goodbye

17. Russisch Roulette

18. Hauptmann Draeger, bis zur Rente gehört Ihr Arsch mir

19. In der Psychiatrie

20. Journalistisch, investigativ, am Mikrophon Jörg Draeger

Statt Malibu, Sankt Peter Ording

21. Ein Silberblick voller Glückseligkeit

22. HIV-positiv

23. Unverschuldete Glanzleistung

24. Barfuß oder Lackschuh, Wodka oder Cola

25. Entweder du gehst allein nach Berlin … oder

The same procedure as every time

26. Krypton Faktor

Ja mei, is doch wurscht. Die Lizenz war halt’n Schnapper

27. Let’s Make a Deal

Schließ du dich doch dem Casting gleich mit an, wenn du schonmal da bist

28. Zu dir oder zu mir

29. Wo ich bin, ist die Kamera

30. Nachrichten war gestern, jetzt ist Unterhaltung

31. Wer dieser Maus in die Augen schaut, wird lächeln, wird sie liebhaben und nicht denken, er habe eine Niete gezogen

32. Also Ernst, deine Frau ist dir wirklich jeden Monat fremdgegangen?

33. Und plötzlich war ich in allen Zeitungen, war ich in aller Munde, mein Leben spielte Klabautermann

34. Geh scho her, Jörg, wennst so weidamochst, wird’s no schlimm

35. Publikumsmagnet

36. Schau mal Schatz, hier kann man wohl auch heiraten

37. Datt hänge mer dem Sponnjer anne Fööss

38. Tor 2 oder den Koffer?

39. BEST OF Geh aufs Ganze Kandidaten

DISCHMACHISCHFÄDDISCH

40. Lecker Brodjes mit Mett und Zwiebelringen

41. Weiß ich denn, ob Sie abends betrunken vor dem Fernseher sitzen?

42. Man lebt nur zweimal

Herr Schröder? Herr Schröööder?

43. Mr. President

44. Rhesusäffchen

Paulo Noël Draeger

45. Dann lieber in der Pause aufs Klo und ab nach Hause

46. Der letzte Vorhang fiel, für heute ist die Show gelaufen

Der 2,20 Meter ZONK

47. Mysteries

O-Saft. Papa, bitte O-Saft

48. Studioverbot

49. Schwieriger Eigenbrötler

Liebe auf den ersten Blick

50. Der Würfler

51. Beide für dich, nur einmal anfassen

52. Herr Draeger, et reischt locker für zwei un upp der Jraden hänn Ihre Spermscher noch Formel 1 Jeschwindischkeit

53. Papa, was ist Deutschland?

54. Spiel mit Geld, das du nicht hast

55. Drei Autos auf einen Schlag verzockt

Ja mei, jedem sei Abschied, ned?

56. Viele Hunde sind des Hasen T

57. Und solange es geht, mache ich weiter – für Sie, liebes Publikum!

Anmerkungen

Vorwort

Sehr geehrte Leserin,

Sehr geehrter Leser,

Wann beginnt ein Kind zu lesen, wann zu schreiben? Mir ist, als hätte ich beides mit großer Begeisterung begonnen, noch bevor ich laufen lernte.

Kaum, dass ich Buchstaben erkennen und zu Wörtern bilden konnte, las ich, was ich in die Finger kriegte, oder irgendwo sah. Vom Einkaufszettel meiner Mutter, über die ersten Comics, bis hin zu ausgeschilderten Straßennamen. Und ich schrieb mir die Finger wund. Alles was ich sah und erlebte, schrieb ich auf Zettel und später in mein erstes Tagebuch. Ich beneidete die, die in der Lage waren ein ganzes Buch zu schreiben. Eine Kunst, von der ich sicher war, dass ich sie nie erfahren würde. Aber dennoch las und schrieb ich unentwegt, einfach für mich, immer und immer weiter.

Der erste Versuch ein Buch – damals über den Jakobsweg – zu schreiben kam gut an, ein Treffen 2010 mit dem Lektor eines namhaften Verlages machte große Hoffnung. Meiner Unerfahrenheit geschuldet, ließ ich mich auf eine Agentur ein, die mir einen Ghostwriter zuwies. Dieser schrieb aber alles so um, dass ich mich selbst im Text nicht mehr wiederfand und der Verlag auch nicht. Deal geplatzt. Und das war wohl auch gut so, denn für mich war von vornherein klar: Bei mir sollte alles einfach nur echt, sollte alles authentisch sein.

Das angefangene Manuskript moderte vor sich hin, 2015 wagte ich mit meiner Managerin den zweiten Versuch und irgendwann stellten wir fest, es war einfach nicht genug Zeit da.

Wieder Schublade, und wieder einmal waren es die Zufälle des Lebens, die schließlich die Lösung bringen sollten:

2018 lernte ich Delia Grösch bei einer Talk Show in München kennen, eine selbständige Marketing Managerin. Wir begannen uns auszutauschen und entdeckten unsere gemeinsame Liebe zur deutschen Sprache und zum Schreiben. Im Juni 2020 trafen wir uns wieder und als ich ihr erzählte, dass ich – Corona und der Langeweile geschuldet – den bereits dritten Versuch meines Buches in Angriff genommen hätte, sagte sie nur kurz und trocken: „Schickst as halt amal rüber.“

Ihr gefiel, was ich schrieb, aber ihr fehlte die Struktur im Manuskript. Wie mein Klassenlehrer von vor fast 60 Jahren setzte sie noch einen drauf: „Thema verfehlt. Leg den Jakobsweg beiseite und lass uns über dein Leben schreiben – und über das des ZONK. Beide Leben von der Geburt an mit allen Höhen und Tiefen, ungeschönt und knallhart ehrlich.“

Ich selbst kam mir zu unbedeutend für eine Biografie vor, aber Delias Argumente überzeugten mich schließlich: „Deine 75 Jahre, der ZONK und der Blick hinter die Kulissen von Geh aufs Ganze sind es wert, deine Fans daran teilhaben zu lassen.“

Und so entstand: Das Leben ist (k)ein ZONK.

Es waren am Ende zahllose Tage und Nächte, zahllose „unsere“ Samstage mit 400 Gramm Steaks und literweise Rotwein, unzähligen Stunden des Lachens und der Recherche, hitzige Diskussionen und Ringen um nur ein einziges Wort, ebenso wie kannenweise Kaffee und Fleischsalat Brote.

Ich hoffe, dass Ihnen das Lesen nun genauso viel Spaß macht wie uns das Schreiben.

Ihr Jörg Draeger

P.S.: Ich habe lange gebrütet, wie ich Delia ganz persönlich danken könnte und ich sann nach etwas, was sie ja schon immer wollte: Ein Buch über 13 Jakobswege und mein Leben ab 2006 zu schreiben.

„Kann sie haben“, dachte ich und vor einer Woche ging’s los – denn einem echten Pilger wie mir redet keiner den Jakobsweg aus, das macht leider nur bald der Camino selbst, wenn ihn niemand rettet.

1. Ekelhaft, mit mir hat er das noch nie so gemacht

Ich wurde am 28. September im Deutschen Roten Kreuz Krankenhaus in Berlin geboren. Jährlich finden hier heute mehr als 3.800 Geburten statt und 1945 war ich eine davon.

Meine Mutter, Hertha Rissmann, war zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt und Sekretärin, mein Vater, Karl-Heinz Draeger, 23 Jahre und Schauspieler am Berliner Schlosspark Theater.

Eine seiner „Glanzrollen“ war der erste Liebeskuss mit Hildegard Knef in dem Stück Ein Spiel um Tod und Liebe. Nach Aussage meiner Mutter, die noch heute mit 99 Jahren bei uns wohnt, sei es ihre unabdingbare Forderung gewesen, das „Zungenknutschen” sofort und für immer ihr und niemandem sonst zu überlassen.

„Für mich war das eher mehr Tod als Liebe. Ekelhaft, mit mir hat er das noch nie so gemacht.“

Mein Vater bekannte mir später einmal, dass er in der Tat eines Tages das Theater für meine Mutter aufgegeben habe: „Dabei passiert da nix. An Hildes und meinem Hals waren hauchdünne, fleischfarbene Pflaster aufgeklebt, damit wir uns nicht vollsabberten.“

Der alles dahinschmelzende Zungenkuss sei nicht echt gewesen und würde lediglich angetäuscht. Aber ohne dramatisch sich den anderen hingebende Liebesszenen, sei in den Nachkriegsjahren auf der Bühne nichts zu machen gewesen.

„Das lief doch frei nach der Ballade von Johann Wolfgang von Goethe `Halb zog sie ihn, halb sank er hin´ ab. Das ist wieder die alte Geschichte von der Macht der Frau über den Mann. Da sitzt ein Fischer angelnd am Ufer, als eine Nixe vor ihm auftaucht und ihn mit Gesang und Worten in die Tiefe lockt.“

Dann zitierte mein Vater aus voller Brust: „Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm. Da war’s um ihn geschehn. Halb zog sie ihn, halb sank er hin, und ward nicht mehr gesehn. Was der alte Goethe uns damit auf den Weg geben will, mein Sohn, ist, dass am Ende immer die Frau den Mann in ihren Fängen hat und dem Mann keine andere Chance mehr bleibt, als zu kapitulieren, wenn er das Weib haben will. So, wie ich deine Mutter haben wollte und deshalb das Theater aufgegeben habe.“

Wobei, wenn man ehrlich ist, viel war da nicht mehr aufzugeben, der Krieg war gerade mal vier Monate zu Ende und das Beste daran war, dass wir ihn verloren hatten. Jeder hatte nichts mehr, auch meine Mutter hatte ihre Stelle verloren. Jeder war sich selbst der Nächste, die Mütter wurden zu Trümmerfrauen, das Zerstörte helfen wieder aufzubauen. Die Väter noch immer auf der Flucht vor Russen und Amerikanern, weil auch der Bravste unter Generalverdacht stand, Nazi und Kriegsverbrecher zu sein. Essen und Trinken waren auf das Allernotwendigste beschränkt – wobei meine Eltern Luftsprünge vor Freude machten, wenn sie zu ihren täglichen dreimal Haferflocken mit Wasser von den Amerikanern etwas Milch oder gar Schokolade bekamen. In aller Regel wurde aber geklaut: Meine Mutter bei den grenznahen Bauern in Posen, indem sie mich als wimmerndes, verhungertes und dürstendes kleines Äffchen darbot, das jedem Bauern das Herz erweichte. Während die Bäuerin mich auf den Arm nahm und liebkoste, stahl meine Mutter den Hühnern die Eier unterm Arsch weg. Mein Vater wurde sicherheitshalber von meiner Tante Erni Meyer–Bernsdorf, kurz Mausi, in einer Gartenlaube versteckt. Nachts, wenn die Fledermäuse flogen, flog auch er durch die nahen Schrebergärten und Kaninchenställe, würgte das eine oder andere und Tante Mausi briet es. Allem zum Trotz waren es erträgliche, vor allem satte Jahre und ich war inzwischen vier.

2. Hömma Göarch, kannze dich abschminken. Die Schükes tunet schon noch paar Järkes

1949 zogen meine damals nahezu mittellosen Eltern zu meinen Großeltern nach Essen, die dort ein einträgliches Geschäft führten: Eine Trinkhalle, wie man das im Ruhrpott nennt. In einer Trinkhalle wurden nicht nur Getränke verkauft, sondern auch Klümkes1, Zigaretten, Sprudel, Cola und Sinalco, Stauder Pils, diverse Schnäppskes, Zeitungen und Zeitschriften sowie das ein oder andere, das damals nur unter dem Ladentisch verkauft werden durfte.

TRINKHALLE VON ERNST DRAEGER 1949

Gewohnt haben wir zu fünft in Essen Karnap, Karnaper Straße 40, in einer dreieinhalb Zimmer Wohnung, worin in einem Zimmer ausschließlich Waren für die Trinkhalle lagerten. Diese lag direkt an der Straßenbahnhaltestelle, wo 24 Stunden am Tag die Bergleute ein und ausstiegen, um in die Zeche2 einzufahren und Kohle abzubauen.

Mein Großvater, Ernst Draeger, war Bergmann und Steiger und fiel einer Explosion auf Sohle 73 in 900 Meter Tiefe zum Opfer. Taub, halb blind und lahm – aber überlebt – und so wurde er mit der neuen Geschäftseröffnung geradezu eine Ikone. Innerhalb eines Jahres wurden aus einem Verkaufsschalter vier. An jeder Seite der Trinkhalle einer.

Mami half im Verkauf aus, Papa lernte bei der Sparkasse – das Theater hatte er ja meiner Mutter zuliebe aufgegeben – und ich besuchte zunächst die Grundschule in Essen Karnap.

Das Geld war knapp und es half auch nicht, dass meine Mutter und ich ab und an in der Trinkhalle meiner Großeltern aushalfen. Uns zu entlohnen sei ja nicht nötig, sagte mein Opa, schließlich dürften wir ja bei ihnen wohnen und das von hoher Wohnqualität. Obgleich genau diese „Wohnqualität“ zunächst in einem Tierversuch hätte erprobt werden müssen. Meine Eltern schliefen eingepfercht im Warenzimmer auf einem Ausziehsofa und ich im Doppelbett meiner Großeltern. Genauer gesagt zwischen ihnen, also grausam genau auf der Holzritze zwischen den beiden Betten.

Da mir dies ungerecht erschien und ich schon immer davon überzeugt war, dass gute Arbeit guten Lohn verdiene, wollte ich der Gerechtigkeit zu ihrem Recht verhelfen. Da es damals noch keine elektronischen Registrierkassen gab, dachte ich, dass jedes fünfte 50 Pfennig Stück von der Handkasse – einer einfachen Schublade – in meine Tasche wandern könnte, also meins sein sollte. Meine Mutter, der ich dieses Prinzip genauer erläuterte, meinte aber, dass das innerhalb der eigenen Familie wohl nicht der richtige Weg sei. Auch wenn uns Opa ausnutze wie auf einem Sklavenmarkt, dürfe man eigentlich nicht Unrecht mit Unrecht vergelten. Dann aber zog sie vom Leder: „Jedes fünfte tut Opa nicht weh. Erhöhe auf drei und kassier‘ jedes dritte 50 Pfennig Stück.“

Sie selbst, meinte sie augenzwinkernd, werde mit jedem zweiten Heiermann4 eröffnen und in ihrer Schürze verschwinden lassen. Immer noch lange weg vom Mindestlohn.

Trotz dieses kleinen, „selbst auferlegten” Wohlstandes, erinnere ich, musste ich Schuhe tragen, deren Sohlen abgewetzt und die Absätze schief waren.

„Schuster? Hömma Goärch, kannsze dich abschminken. Läufsze eben grade. Die Schükes tunet schon noch paar Järkes.“

Es blieb mir also nichts anderes übrig, als einen genialen Plan zu fassen: Direkt vor der Wohnung meiner Großeltern verliefen Straßenbahnschienen, die reichlich befahren waren. Daher wusste ich, dass die Weichen auf den Gleisen sich mehrmals am Tag öffneten und schlossen und schon so mancher Gefahr gelaufen war, dort mit seinen Füßen stecken zu bleiben. Also passte ich den richtigen Moment ab, lief gekonnt unauffällig auf die Weichen und platzierte mich pünktlich zur Umstellung an der Gefahrenstelle. „Leider“ blieb ich mit beiden Füßen in einer Weiche hängen und konnte nur entkommen, indem ich blitzschnell aus den Schuhen schlüpfte und so wenigstens mich selbst rettete. Die Schuhe wurden anschließend wie geplant von der nahenden Straßenbahn platt gefahren. Große Bewunderung und viel Anerkennung wurden mir von Nachbarn und Schülern zuteil, sodass meine Eltern mir voller Stolz neue Schuhe kauften, die sie wegen meines tapferen Verhaltens mit 50% Rabatt erhielten. Und wie immer in jener Zeit, zwei Nummern größer als nötig.

„Hömma in dein Alter musse Schuhe zwei Nümmerkes größer kaufen. Deine Füßkes tun schneller wachsen, als datt dat Geld reinkommen tut.“

Ich war mächtig stolz auf mich, dass ich es fertiggebracht hatte, meine alten Schuhe rechtzeitig in der Weiche eingeklemmt zu haben und dass meine Karl May Geschichte so glaubwürdig rüberkam. Das machte mir Mut, auch meiner großen Liebe jener Zeit, Brigitte, auf diese Weise gleich zu zwei Paar neuen Schuhen zu verhelfen. Lange währte unsere Liebe nicht, denn ihre Eltern wollten, dass Brigitte gleich nach der Grundschule „was Gescheites lernen” und deshalb nicht aufs Gymnasium wechseln sollte. Ich bestand den Test zur Aufnahme ins Gymnasium, das aber 20 Kilometer entfernt war, oder besser dreimal umsteigen – fast eine Stunde unterwegs. Es war das Helmholtz Gymnasium in Essen-Süd. Damals noch Jungs und Mädchen getrennt, aber „umme Äcke“ die Maria-Wächtler-Schule, das Lyzeum5. Mit viel List und Tücke gelang es immer wieder, uns in den Pausen auf einer nahegelegenen Wiese mit dichten Hecken und Sträuchern heimlich zum Händchen halten zu treffen. Natürlich versuchte die Schulleitung uns eines Tages einen Strich durch die Rechnung zu machen, indem sie die großen Pausen zeitversetzt legten, sodass sich die Pausen für gerade mal 10 Minuten überschnitten. Reichte uns aber auch für‘s Nötigste.

Nichtsdestotrotz schrie das nach Rache und nach bester Feuerzangenbowle-Manier, hatten wir uns einen Riesenstreich einfallen lassen: Wir Jungs von der 5a nahmen eines Morgens zur ersten Stunde im Lyzeum Platz, genauer gesagt im Klassenraum der Mädchen aus der 5c. Umgekehrt setzten sich die Mädchen aus der 5c in unseren Klassenraum in der Helmholtz. So machten wir die jeweiligen Lehrer glauben, sie seien in der falschen Schule.

„Frau Gebauer, alles gut bei Ihnen? Sollen wir einen Arzt anrufen? Sie sind an der falschen Schule, hier ist die Helmholtz und Sie wollen doch bestimmt zum Lyzeum, oder?“

Hat kurz, aber saugeil funktioniert.

Wann immer ich in meinem Leben das Ruhrgebiet, den Pott, verlassen habe, nach Spanien, nach Schweden oder Frankreich, es zog mich immer wieder wie ein Magnet zurück. So wird es immer sein und bleiben, ich werde im Herzen immer ein Pott Junge sein:

„Mein Pappa iss Ässener, ich bin in Ässen Kannapp auffe Grundschule gegangen, war inne Brigitte Nendza die mitti Zöppe faliebt, abba ohne ächte Tschangse, happ den Oppa unn die Omma inne Halle beim Klümkes Verkauf geholfen unn ap un an faif Groschen auße Kasse genommen. Mit main Freund, den rothaarigen Bodo, füar den ich imma ne Schtange Zicks von Oppa zum Überleben imms Waisenhaus geklaut happ, mit dehn bin ich imma von die Rhein-Herne-Kanal Brücke gesprungen. Unn dann rann mitti Flossen an die Boartkante von sonn Schleppa, die ja beladen mit Kohle tief im Wassa lagen. Musstesse nur aufpassen, datte nich abrutschen tatst. Sind dann imma sonne zwei Stunden bis nach Herne gezörft unn mitte Stratzenbahn bäck nach Kannapp. Einmal isset ein passiert, datt er abgerutscht iss anne Boartkante von sonn Schleppa unn schonn warer inne Schraube von den Schleppa. Sah gar nicht gut aus, allet verquätscht unn zerrmalmt, dattat Blut nur so gespritzt iss. Ach so, klar unn tot. Abba war nich soooo schlimm, weil war ja kein Kannaper, sondern son Herner auffe Rückfahrt.“

Aber wir spielten auch weit weniger gefährliche Spiele, wie mit Indianer und Cowboy Tonfiguren, so bis zu 5 cm groß. Dazu gab es alles, was für den Wilden Westen unausbleiblich war. Zum Beispiel Pferde und Saloons, Wigwams und Lagerfeuer für die Indianer und vieles, vieles mehr. Teuer, bis zu 8 Mark teilweise. Allein dazu brauchte es, dass ich in Opas Kasse griff, zumal er nicht einmal nur auf die Idee kam, seinem Enkel eine solche Figur zu schenken. Bodo und ich stellten dann im Keller oder auch draußen auf der Wiese unsere Figuren gefechtsmäßig auf, versteckten sie in Bäumen, hinter Baumstämmen, oder ließen sie den „Weißen Mann“ in vollem Galopp und mit viel Indianergeheul überrennen.

Dann bewaffneten wir uns selbst mit vielen Mensch Ärgere Dich Nicht-Holzpüppchen, die sich genial als Wurfgeschosse eigneten. Im Wechsel bewarf Bodo meine und ich seine Figuren. Dann entschieden wir jeweils, ob eine Figur für tot erklärt oder zum Beispiel noch durch eine Bein OP gerettet werden konnte. So eine Arztpraxis mit Doc und Schwester und Gerätschaft konnte allerdings schon mal 15 Mark kosten.

Am schlimmsten war ein Bauchschuss, wobei da der Doc von Carson City meist ein besseres Händchen und Instrumentarium hatte, als sein nativer indianischer „Kollege“ mit seinen Beschwörungsformeln.

Gleichzeitig entdeckte ich meine ausgeprägte Leidenschaft, meine Spielkameraden zum Wettspiel zu verführen. Keine Brettspiele, keine Karten, nix vorgefertigtes. Es waren meist spontane Wetten oder Wettkämpfe, bei denen es auch immer um etwas gehen musste: Einen Groschen, einen Gefallen erfüllen, z.B. Kohlen in den Keller schüppen, oder einfach nur um Punkte oder um die Spielerehre.

Die Vielfalt der Spiele ergab sich meist aus den ganz normalen Situationen des Alltags: „Wer schafft es als erster die Straße zu überqueren, bevor die Ampel von gelb auf rot schaltet? Wer schluckt als erster im Handstand an der Wand, ein halbes trockenes Brötchen runter? Wer schafft es als erster, sich an den Schleppkahn zu hängen und wer lässt als letzter wieder los? Oder auch immer wieder gerne, wer spuckt den Kirschkern am weitesten? Wer macht beim Armdrücken als erster die Fliege, wenn zu beiden Seiten eine brennende Kerze mit höllischen Brandwunden droht?

Und unerlässlich war für mich grundsätzlich so eine Art Wetteinsatz, der dem Verlierer auch wirklich weh tat. Beim Mau-Mau entdeckte ich schließlich meine Fähigkeit zu bluffen und einen undurchdringlichen Blick beim Legen des nächsten Spielzuges aufzusetzen. So zockte ich meine Kumpels regelmäßig ab und sackte entweder den Groschen ein, oder ließ sie Kohlen in den Keller meines Opas schüppen.

3. Wilhelmine, mein Goldschatz

In all dieser Zeit gab es für mich den wichtigsten Menschen auf Erden überhaupt, meine Großmutter väterlicherseits, Wilhelmine Draeger. Sie war damals, 1955, so alt wie ich heute, 70 plus plus. Sie war eine geborene Grande Dame, eine ewig fröhliche, lebensbejahende, im Alter schön gebliebene und herzensgute Frau. Wenn sie lachte, klang es wie ein himmlisches Glockenspiel und steckte damit auch den ärgsten Griesgram an. Wenn sie ihr Lieblingsgetränk – echten Schampus mit Williamsbirne – trank, sang sie aus voller Brust immer und immer wieder das gleiche Lied: „Schmiede das Eisen solang es noch warm ist, schmiede das Eisen solang es noch glüht.“

Als habe sie dieses Lied selbst komponiert und den Text dazu geschrieben, lebte sie diese Weisheit. „Göarch, wennet dein Ding is, dann machet. Jetzt oder nie.“

Mein Großvater, Ernst Draeger, war ein Geizhals, der selbst Walt Disneys geldgierige Entenfigur hätte alt aussehen lassen. Meine Eltern mussten jede Schachtel Zigaretten, jede Flasche Korn, oder was auch immer auf Heller und Pfennig bezahlen. Ich für jede Kinokarte, obgleich er sie reichlich als Werbegeschenk bekam, wenn er die Programmanzeigen in die Fenster seiner Trinkhalle hing. Seine ewig gleiche Leier war: „Wilhelmine und ich müssen auch sehen, wo wir bleiben.“ Wäre ja auch nicht falsch, aber da es meinen Großeltern finanziell richtig gut ging, wäre auch nur ein wenig Familiensinn angebracht gewesen. Stattdessen betonte er immer wieder, was schon keiner mehr hören konnte, wir würden ja schließlich mietfrei bei ihnen wohnen und so sei es auch für ihn und Wilhelmine „ganz schön eng“. Eines Tages schlug er meinem Vater, seinem Sohn, vor, er würde uns ein Auto kaufen – wenn wir jedes Wochenende mit Oma ins Grüne führen. Was Wilhelmine über alles liebte und er liebte seine Wilhelmine abgöttisch. Er behängte sie mit teuren Pelzen und echtem Schmuck wie einen Weihnachtsbaum, was sie zu seinem Unverständnis überhaupt nicht wollte: „Oppa“, pflegte sie zu sagen, „watt soll ich mit all dem Gedöhns, kann ich doch sowieso nicht mit nach oben nehmen. Lass uns lieber viel in Wald und Wiese spazieren gehen.“

Deshalb also das Auto. Unser erstes Auto. Ein Buckel Taunus6. Es war eine Sensation damals – ein eigenes Auto – der schiere Wahnsinn. Welcher normale Mensch konnte sich das damals schon leisten? Unser Opa!

Es war damals auch noch gang und gäbe, dass man in Cafés und Ausflugslokalen sein Mitgebrachtes aß und trank. Vorausgesetzt, für solche Gäste war noch ein Tisch frei. Man musste lediglich eine Grundgebühr, das Korkengeld entrichten.

VON LINKS: ICH, OMA WILHELMINE, PAPA, MAMA

Den heftigsten Korken ließ Opa los, wenn wir während unserer Fahrten „ins Grüne“ immer im gleichen Lokal unser zweites Frühstück einnahmen.

„Wilhelmine, mein Goldschatz“, pflegte mein Großvater dann zu sagen, „Kaffee und Kuchen, oder Schnitzel mit Williams? Oder beides?“ Während meine Großmutter schmauste, packte er für meinen Vater, meine Mutter, für mich und für sich selbst Schmalzstullen mit Gurke und Thermoskannen mit Kaffee und Kakao aus. Und wehe, Oma wollte mich auch nur einmal ins Schnitzel beißen lassen: „Wilmi, nein, das ist nur für dich, mein Goldschatz.“

Niemand wagte es jemals aufzubegehren. Einfach eine große, beispiellose Liebe. Auch für mich war Oma Wilhelmine mein Ein und Alles. Ihr vertraute ich alles an. Mit ihr konnte ich über alles reden, ganz egal was es war, sie hörte mir immer zu – gab mir das Gefühl wirklich zuzuhören – und gab mir daraufhin immer den richtigen Rat.

Das wohl bedeutsamste meiner Bekenntnisse an Oma Wilhelmine war mein Besuch bei Tante Helga, als ich schon ein junger Erwachsener war.

Als ich bereits zum ersten Mal verheiratet war und wir der Bundeswehr wegen in Ingolstadt lebten, fuhr ich einmal im Monat nach Essen, um meinen geliebten Ruhrpott und meine geliebte Großmutter zu besuchen. Meine Eltern waren mit einem Ehepaar befreundet, das sich zuvor aber hatten scheiden lassen. Irgendwann sagte mir Oma, ich solle doch „Tante Helga“ mal wieder besuchen, die jetzt allein und geschieden ganz in der Nähe wohne. Es war in jener Zeit wohl üblich, dass wir Kids zu den Freunden unserer Eltern „Tante und Onkel“ sagten, wohl um die Nähe zwischen den Freunden zu betonen. Also machte ich mich auf, Tante Helga zu besuchen. Helga war damals Model für Dessous bei Peek & Cloppenburg und eine wunderschöne Frau. Da wir uns 10 Jahre nicht gesehen hatten, war ich inzwischen zum Manne gereift, was Tante Helga bei der Begrüßung in bloßes Staunen versetzt hatte und was sie den ganzen Abend unermüdlich betonte. Wir schauten uns Fotos aus gemeinsamen Urlauben mit meinen Eltern an, die jetzt wieder in Spanien lebten, und ließen die Vergangenheit aufleben. Dann zeigte sie mir Fotos von ihren Modenschauen, alle mehr oder weniger in Hemd und Höschen. Als sie mich dann fragte, ob sie mir die Dessous mal vorführen dürfe, um zu wissen, wie junge Leute darüber urteilen, wie sollte ich da nein sagen, ohne sie zu brüskieren. Irgendwann lagen wir auf dem Teppich und ich glaubte mich im 7. Himmel, als ich etwas erlebte, was ich mir nicht im Traum hätte vorstellen können. Mein erster Blow Job, ich war 23 und sie war 42.

Am nächsten Tag plagte mich das allerschlimmste Gewissen, das ich bislang kannte. Sie war immerhin die beste Freundin meiner Eltern, sie war förmlich immer noch „Tante Helga“, wie ich auch am Abend zuvor auf dem Höhepunkt meiner Lust noch vor mich hin gestammelt hatte: „Nein, bitte nicht, Tante Helga.“

Aber dann eben doch. Wie sollte ich damit jetzt umgehen? Ich traute mich vor lauter Scham nicht mal, sie anzurufen.

„Hättste mal, war doch schön“ lachte sie, als wir uns Jahre später zum 75. Geburtstag meines Vaters wiedersahen. Meine Eltern lachten mit. Aber damals, am „Tag danach“ war mir, als müsse ich Erlösung finden und meine Großmutter schien mir für eine solch pikante Beichte die einzig richtige Person. Während ich noch stammelte und nach den richtigen Worten suchte, Angst hatte, Oma könne mich verachten, kicherte sie mitwisserisch und stieß glucksend hervor: „Göarch, echt? Ihr Mund hat dich...“

„Glücklich gemacht, Oma“, brach ich ab.

Dann sang Oma für mich als grandiosen Schlussakkord, wie sie wohl meinte, ihr ewiges Lieblingslied.

„Göarch, hat doch noch nie so gut gepasst wie heute.“

Und los gings: „Schmiede das Eisen, solang es noch hart ist, schmiede das Eisen solang es noch glüht“.

Dann lachte Sie wieder das gesamte Glockenspiel rauf und runter.

„Göarch, sei nicht so niedergeschlagen, du bist jung und wirst noch so viele andere Erfahrungen machen. Gute und weniger gute, das ist das Leben.“

Wer wollte nicht eine solch wunderbare Oma haben? Ich blieb noch einen weiteren Tag bei ihr und als sie am nächsten Morgen mit viel Sorgfalt und Überlegung ihre Kleidung auswählte, mit gleicher Mühe passende Unterwäsche raussuchte, sagte ich nur: „Oma, mach doch bitte nicht solchen Aufwand, wer sollte dich denn heute verführen wollen, wir fahren doch nur schnell zum Grab von Opa und gleich wieder zurück.“

„Göarch, erstens bin ich das Opa schuldig, so wollte er mich immer haben und zweitens was ist, wenn ich umfalle und ins Krankenhaus komme? Sollen die Doktors denken, ich bin eine schlampige Alte?“

Das war meine Oma, wie sie leibt und lebt. 1970 mit 85 Jahren schlief sie gesund und munter ein und wachte bei Opa im Himmel wieder auf – wo auch sonst? – wo er wahrscheinlich mit Schampus und Williamsbirne auf sie wartete.

4. Hören´se mal Frau Draeger, nehmen´se ihn mit, der bleibt eh kleben

Bis 1955 hatten meine Eltern und ich also bei meinen Großeltern in Essen Karnap gelebt, ich ein Herz und eine Seele mit meiner Oma, meine Eltern der Not gehorchend. Im wahrsten Sinne des Wortes, der Geldnot wegen. Aber dann hatte mein Vater die Bankkaufmannslehre bei der Sparkasse beendet und vom Fleck weg einen tollen Job in Essen Zentrum bei der Heinrich Koppers GmbH, welche Hochöfen herstellte, gefunden. Ende des Jahres erhielten meine Eltern dann eine Firmenwohnung zur Miete, Essen – Süd, Johannastraße 41, direkt gegenüber vom Helmholtz Gymnasium, wo ich ja bereits die erste Klasse Gymnasium besuchte. Somit entfiel auch glücklicherweise der tägliche Schulweg mit der Straßenbahn, der von der Wohnung meiner Großeltern hin und zurück immerhin fast zwei Stunden dauerte. Zu meiner Zeit ging der Unterricht unter der Woche zwar nur bis spätestens 13:30, aber auch samstags und von Tag zu Tag mit jeder Menge Schularbeiten, meist in mindestens drei Schulfächern.

Das Jahr 1955 war noch nicht zu Ende, da erhielt mein Vater von seiner Firma ein Angebot ins Ausland zu gehen. Er sollte die kaufmännische Leitung eines „Dritte Welt“ Projektes in Galicien, Spanien, übernehmen. Das spanische Hüttenwerk Calvo Sotelo benötigte dringend Hilfe, die zur Verbrennung von Kohle und der Stahlgewinnung notwendigen Hochöfen herzustellen und in Betrieb zu halten. Das war Puentes García de Rodriguez, ein klitze kleiner Ort in Galicien, 100 km von Santiago de Compostela entfernt. Aber genau dort ließ Generalísimo Franco, Spaniens Diktator, sein Prestige Werk Calvo Sotelo del Caudillo mit deutschen Fachkräften erbauen. In dem kleinen Ort gab es nichts außer einer Handvoll Häuser, keine Poststelle, keinen Supermarkt, keinen Metzger und keinen Bäcker. Dafür aber reichlich Wald und Wiese, einen Bach voller Forellen und einen Wochenmarkt. Aber auch das Lebenselixier eines jeden Spaniers, eine Taverne; und zur Beruhigung des Gewissens zwei Kirchen. Die einzige Dorfschule wurde vom einzigen Pfarrer des Dorfes geleitet. Dreißig Schüler, Jungen und Mädchen, waren auf zwei Klassen verteilt und wurden im Wechsel ebenfalls vom einzigen Pfarrer unterrichtet: Die Erst- bis Zweitklässler im ersten Klassenzimmer, die Schüler der dritten und vierten Klasse in dem anderen.

MAMA HEDDI, ICH & PAPA CARLOS 1955

Mein Vater war voraus gezogen, aber noch vor Ende der Sexta7 sollte meine Mutter mit der Schulleitung klären, ob ich für ein bis zwei Jahre die deutsche Schule aussetzen und mit meinen Eltern nach Spanien ziehen könne. Der Direx, Dr. Vollmer, hatte dazu eine ganz eindeutige Meinung: „Hören´se mal Frau Draeger, der Bengel wird von vier mangelhaft wohl kaum bis Schuljahresende drei ausbügeln können. Nehmen´se ihn mit, der bleibt eh kleben.“

Auf diese Weise würde ich außerdem vermeiden, bei der Rückkehr in eine deutsche Schule ein Zeugnis mit vier Mal mangelhaft und dem Zusatz „Nicht versetzt“ vorlegen zu müssen. Stattdessen gab es ein Abgangszeugnis, in welchem lediglich vermerkt war, dass der Schüler Jörg Draeger die Sexta vorzeitig verlassen hat.

Also ab nach Galicien, beste schulische Voraussetzungen, zumindest für mich. Anfangs konnte ich die Schule allerdings noch nicht besuchen, weil Spanisch gleich null. Der Plan sah vor, dass der Priester, Don Augusto, und mein Vater mich in allen wichtigen Fächern unterrichten sollten. Das führte zu einer regelrechten babylonischen Sprachverwirrung: Mein Vater in radebrechendem Spanisch, Don Augusto in radebrechendem Deutsch und beide in radebrechendem Englisch.

Den Versuch war es wert, aber Versuch missglückt – ohne dass ich diesen Umstand für mein späteres mangelhaft in Mathe und ausreichend in Physik verantwortlich machen will. Beide Fächer waren für mich eine Dauergeißel bis zum Abi.

Das erste Jahr war hart, denn Anschluss zu finden war am Anfang nicht leicht, weil irgendwie war ich wohl für die Einheimischen wie von einem anderen Stern.

Das mag sicherlich auch daran gelegen haben, dass die drei deutschen Familien in abseits gelegenen, luxuriösen Bungalows untergebracht waren und so auch der Kontakt unter den Erwachsenen im ersten Jahr noch eingeschränkt war. Oft stand ich lange am Rande des Bolzplatzes und schaute den johlenden Kickern zu, ohne dass sie mich beachteten, geschweige mich zum Mitspielen aufforderten. Was mein größter Wunsch war – aber ich zu schüchtern, um mich ins Spiel zu bringen. Doch dann glaubte ich die Chance meines Lebens erkannt zu haben: Lederbälle gehörten für uns Kinder in Deutschland bereits zum Alltag, für die Kinder in Puentes wäre es ein Geschenk des Himmels gewesen. Sie spielten mit den gerade aufgekommenen Nylon Fußbällen, die in der Tat gut zum Kicken waren, aber denen schon bald die Luft ausging, oder die einfach platzten, wurden sie gegen eine Mauer gehämmert. Also bat ich meinen Vater, mir bei seinem nächsten Besuch in Deutschland einen, besser gleich zwei Lederbälle mitzubringen. Als mein Vater dann mit zwei prächtigen, nagelneuen Lederbällen vor mir stand, glaubte ich mich schon am Ziel meiner Träume.

Es sollte tatsächlich so klappen, wie ich es mir gewünscht hatte.

Wie Graf Rotz stellte ich mich gleich am nächsten Tag an den Spielfeldrand und lief, den Ball lustvoll vor mich her kickend, immer mal wieder „zufällig“ aufs Spielfeld. So passierte es auch einmal, dass ich den Ball so schwungvoll kickte, dass er quer über den Platz schoss – genau zwischen die Füße der beiden Mannschaften. Großes „perdón“, passiert nie wieder, aber „un balón de cuero no se puede controlar tan fácil“, „Tschuldigung, aber so ein Lederball lässt sich nicht so leicht kontrollieren.“

Von diesem Zeitpunkt an war ich einer von ihnen und am Ende noch der beliebteste und heiß begehrteste Torwart. Wir trafen uns fast täglich, bolzten mit dem neuen Lederball und schon bald sprach ich ziemlich gut Spanisch, hatte viele Freunde und ging ab 1956 auch mit ihnen zur Schule.

Es waren Jahre der Unbeschwertheit, zumal für mich an der Schule der Einfachheit halber ein eigenes Benotungssystem eingeführt wurde. Ein System, das schlicht und einfach mein sprachliches Handicap berücksichtigte, weil ich mich mit Spanisch in den wissenschaftlichen Fächern noch verdammt schwer tat. Die beiden einzigen Noten, die es für mich gab, waren aprobado (bestanden) und suspendido (durchgefallen). In den drei folgenden Schuljahren in Puentes schaffte ich das jeweils notwendige aprobado.

Anfang 1959 wurde mein Vater dann nach Essen in die Stammfirma zurückberufen und ich stand vor dem Problem, mit meinem in Spanien erlernten Halbwissen dem Alter entsprechend in die Untertertia, also die 4. Gymnasialklasse aufgenommen zu werden.

Dass ich damals mit 14 lieber in Spanien geblieben wäre und meine Freunde nicht aufgeben wollte, das interessierte meine Eltern null. Grundsätzlich hatte mein Vater das Sagen, auch wenn Mutter ihn in ihrem Sinne meist geschickt zu lenken wusste. Nun schon wieder Freunde zurücklassen, wieder die Schule wechseln zu müssen und vor allem die Angst, wieder ans Helmholtz zu kommen, wo ich doch noch drei Jahre zuvor eigentlich sitzengeblieben wäre... das alles war wie ein Schock für mich. Wie sollte ich es jetzt schaffen, nach der doch etwas relaxten Art der drei vergangenen Schuljahre in die Untertertia aufgenommen zu werden? Immer noch der gleiche Direx, Dr. Vollmer, der mich schon einmal trickreich vor dem Sitzenbleiben rettete. Es stellte sich schon bald heraus, dass alle meine Sorgen unbegründet waren. Ich weiß auch nicht, ob die Pisa Studie8 schon damals das deutsche Schulsystem als mal gerade durchschnittlich qualifizierte, jedenfalls reichte mein Halbwissen aus, um die Aufnahmeprüfung mit Bravour zu bestehen. Der Schulleiter bot uns aufgrund meiner Leistung sogar an, ich könne eine Klasse überspringen. Ich wollte aber lieber auf Nummer sicher gehen und war froh, die Aufnahmeprüfung überhaupt bestanden zu haben.

Denn was meine Oma immer schon sagte, wurde bald wahr: „Die Spitze zu erklimmen, Göärch, iss einfach. Die Spitze zu halten, Göärch, datt iss datt Schwierige.“

Oma hatte mal wieder so recht. Ich hielt die guten Noten nicht bis Ende des Schuljahres und so waren alle Fächer wieder zusammen, die ich so liebte: Mathe mangelhaft, Physik und Chemie auch. Wieder nutzte mir das „sehr gut“ in Deutsch, Geschichte und Sport überhaupt nichts.

5. Ohne deutsche Hilfe brennt die Hütte im Hüttenwerk

Noch vor Ablauf des Schuljahres 1960 wurde mein Vater wieder nach Spanien geschickt. Mit der Order, dass er und die Kollegen die Feuerwehr spielen müssten, weil auf der Baustelle in Bilbao alles zusammenbrach. Bilbao war nach Puentes García de Rodriguez, der zweite Standort für die spanischen Hüttenwerke.

„Ohne deutsche Hilfe brennt die Hütte im Hüttenwerk“, hieß es von oberster Stelle der Heinrich Koppers GmbH.

Das wiederum hieß, Dr. Vollmer von der Helmholtz musste wieder ran und beurteilen, ob ich vor Ende Untertertia noch einmal eine Auslandspause machen könne. Es war ein ähnlicher Text, wie Ende Sexta: „Das Beste, was Ihrem Bengel passieren kann, denn er würde so gut wie sicher sitzenbleiben.“

Und so fand ich mich einmal mehr in einer Aufnahmeprüfung wieder. Es war das bilinguale private Gymnasium Colegio Aleman, San Bonifacio in Bilbao. Wieder einmal hieß es Zittern und Bangen um die entscheidende Frage: Untertertia aprobado oder suspendido?

„Willkommen in meiner Obertertia“, begrüßte mich nach dem Test mein neuer Klassenlehrer Dr. Möller mit Beginn des Schuljahres September 1960.

Wer nicht mitgezählt hat, eigentlich war ich zweimal sitzen geblieben und hatte wegen grandios glücklicher Aufnahmeprüfungen dennoch kein Schuljahr verloren, sprach Spanisch inzwischen wie Deutsch und verblüffte wieder einmal Lehrer und Mitschüler mit meinem rasanten Start in allen Fächern. Durchschnitt die glatte 8, was im spanischen Notensystem der 2 entspricht. Sollte aber wieder einmal nicht lange so bleiben, obgleich die Voraussetzungen optimal waren. Das besonders Geniale dabei war, dass wir mal gerade acht Schüler in der Klasse waren, sechs Jungs, zwei Mädels.

Zur Schule gehörte ein Internat, ein Fußball- und ein Basketballplatz, ein Freibad, eine großzügige Sporthalle und eine evangelische Kirche. Eine Kirche, die aber außen nicht wie eine Kirche aussehen durfte, weil das spanische Rathaus der Ansicht war, Protestanten seien keine Religion, mehr eine Sekte. Also keine Glocke, kein Kreuz und kein Hahn, eher eine Art Gemeindehaus. Aber selbst dieses evangelische Gemeindehaus fiel im streng katholischen Spanien wiederholte Male schlimmem Vandalismus zum Opfer. Zu Weihnachten, oder wann immer wir unserem Pfarrer Dr. Rettig einen Gefallen tun wollten, sangen wir:

„Chri-i-ist, der Rettig ist da“ und prompt ging er in sein kleines Zimmerchen, öffnete ne Flasche Rioja und kredenzte uns ein Gläschen nach dem Gottesdienst. Wenn er ganz toll drauf war - das war er meist - sagte er nur:

“Abierto“ und ging.

„Offen“ war das Signal, sein Zimmer bliebe offen und wir 16 jährigen Gläubigen könnten uns über seinen Wein hermachen. Das war immer freitags nach der letzten „richtigen“ Schulstunde und mit den meist drei Flaschen ein guter Einstieg ins Wochenende. Am Freitag drauf waren wieder drei Flaschen da und somit war Dr. Rettig im wahrsten Sinne ein Retter für uns.

MAMA HEDDI, ICH und TANTE MAUSI VOR DEM COLEGIO ALEMÁN UND DER KIRCHE 1960

Es war ein wohlfeiles und sorgenfreies Leben in 1963. Morgens um 08:00 Uhr wurde ich vom Schulbus abgeholt, 09:00 war Schulbeginn, 16:30 war Schulschluss, um 17:00 oder auch mal um 22:00 war ich zu Hause. So spät immer dann, meist einmal in der Woche, wenn meine Freunde und ich durch die Altstadt zogen und chupitos tranken. Ein chupito ist eine Art Senfglas das man für ein paar Peseten, heute immer noch für einen Euro, mit vino tinto9, vino blanco10 oder cerveza11 füllte. Auf spanische Art, randvoll. Die Gläser wie auch wir. Spanien eben.

An den normalen Tagen waren die deberes, die Hausaufgaben, meist im Bus auf der Heimfahrt erledigt oder der Rest am nächsten Morgen. Einer war immer da von dem man noch schnell abschreiben konnte, weil um 18 Uhr wollte ich spätestens ja am Strand sein. Mit meinem damals besten Freund, dem waschechten Basken Flóren El Orriaga. Ein bildhübscher Kerl mit Wimpern bis zu den Augenbrauen. Wenn wir nach den muchachas, den hübschen Mädels, Ausschau hielten, hatte er immer die hübschesten - ich bekam den Rest. Was das Flirten in jener Zeit anging, so war es sehr katholisch. Am Strand waren Schilder mit der Aufschrift aufgestellt, auf denen gewarnt wurde: „Küssen und Händchen halten bei Strafe von 25 Peseten verboten.“

Das wurde kontrolliert, und wie. Regelmäßig streiften uniformierte Ordnungshüter durch die Grüppchen und beobachteten alles aufs genaueste. So breiteten wir meist große Badetücher um uns herum auf, unter denen sich Finger fingernd suchten und fanden. Wenn wir uns erhoben und zum Wasser gingen, stolperten wir und fielen unbedacht, aber flüchtig auf unsere Liebste. Meist konnte man auch noch ein besito, ein Küsschen unterbringen. Ob Sie mir das glauben oder nicht, all dieses Zärtliche, all das Versteckte, das heimliche Berühren, all das war nicht weniger frei von Begierde als das ungenierte, ungebremste übereinander herfallen heute.

So fiel auch mein erstes Mal anders als üblich aus. Alles in Butter? Nee, alles in der Hose.

Meine Eltern waren in Deutschland und ich organisierte eine kleine Party bei uns zu Hause. Fünf Pärchen. Im Allgemeinen galt damals in Spanien, dass ein Mädchen aus gutem Hause nie in eine Disco oder eine Nachtbar ging. Stattdessen wurde reihum in den verschiedenen Elternhäusern gefeiert. Immer mit einer Gouvernante als Wachhund, immer am Dimmer.

Aber ab 25 Peseten aufwärts vergaß so manche Gouvernante oftmals das Licht wieder hochzufahren wenn wir es gedimmt hatten. Zeit für einen richtigen Kuss, Zeit für ein, zwei Hände. Bei uns zu Hause gab es zwar keine Gouvernante, aber wir alle waren ja unerfahren und hatten null Erfahrung - was sollte schon passieren?. Ich war zu diesem Zeitpunkt, 1963, bereits 18 und in der Oberprima – also kurz vor dem Abi – und wusste immer noch nicht wie es geht. Wir waren katholisch erzogen, waren schüchtern und gehemmt. Meine dulcinea, meine Süße, hieß Ana und war so jungfräulich, wie ich jungmännlich war. Irgendwann am Abend nahm ich mir ein Herz und nahm Ana vor mich auf die Arme, um sie in mein Zimmer zu tragen. Mitten auf dem Gang, auf halber Strecke in mein Zimmer, wurde ich plötzlich von Gänsehaut zu Gänsehaut getrieben und dann war’s geschehen. Zu allem Überfluss ließ ich Ana auch noch fallen - sie schimpfte, schrie und verschwand. Für immer.

Wie ich schon sagte, war es ein freudvolles und sorgloses Leben – es hätte mich schlimmer treffen können. Wenn da nicht unser Mathe und Physiklehrer Dr. Winkler gewesen wäre. Ein Genie, streng katholisch und West Side Story, das Musical meiner Jugend, war für ihn Teufelswerk. Dabei war er selbst der Teufel in Person.

Meine Noten waren durchweg wieder auf meinem Normalniveau. Spanisch, Deutsch, Geschichte sehr gut. Mathe mangelhaft und Physik ausreichend, Tendenz mangelhaft. Auch hier galt, zwei mangelhaft in den Hauptfächern und das war‘s. Sein Teufelswerk vollendete er immer am Ende des Schuljahres, wenn die Versetzungen anstanden. Allein wenn er voller Genuss und Häme das D-R-A-E-G-E-R gemein von der Lippe tropfen ließ, wurde mir flau im Magen. Meist gab er direkt im Anschluss sein Lieblingszitat aus Der Feuerzangenbowle12 zum Besten: „Fünf, Draeger, sätzen sä säch.“

So auch zur Zeugnisausgabe Ende Untersekunda. Gestaffelt im Physiksaal saßen wir acht Klassenkameraden gespannt und warteten auf das Urteil. Dr. Winkler rief nacheinander unsere Namen auf und dann musste ein jeder zum Arbeitspult hinunter und bekam einen Kopfhörer auf die Ohren. Sodann bediente Dr. Winkler einen Plattenspieler: Ertönte der Triumphmarsch von Verdi, war man versetzt, ertönte nichts, war man durchgefallen. Das Boshafte aber war, wir mussten uns so vor das Pult stellen, dass wir in den Klassenraum schauten, in dem wir für alle Mitschüler wie auf dem Präsentier-Teller standen. Dr. Winkler im Rücken, unseren Kopfhörer auf den Ohren, hatte man keine Chance mitzubekommen, welch teuflisches Spiel er wieder trieb.

Als ich dran war, wieder das gewohnte, genüsslich teuflisch, in die Länge gezogene D-R-A-E-G-E-R. Ich stolperte aus der obersten Reihe hinunter, baute mich mit Kopfhörer am Pult auf und... hörte nix. Ich klopfte gegen die Kopfhörer, alle starrten mich an, Winkler griente teuflisch, nix.

Das war‘s dann wohl. Na ja, zweimal wäre ich ja ohnehin schon kleben geblieben, zweimal gerettet, wurde ja mal Zeit.

„D-R-A-E-G-E-R, hören Sie nichts? Kommen Sie mal zu mir. Sehen Sie diesen Knopf am Plattenspieler? Das ist der Lautstärkeregler und der ist auf der lautesten Stufe. Ich gebe Ihnen mal nen neuen Kopfhörer, wenn Sie dann nix hören, dann war’s das.”

Am liebsten hätte ich ihm den vor die Füße geworfen, aber wie in Trance setzte ich ihn auf und „ta, ta ta ta, ta, ta ta ta“ die ersten Akkorde erklangen. Alles war so geplant, alles bewusst so in Szene gesetzt. Es hätte mich nicht gewundert, wenn der Teufel selbst noch eingeschritten wäre und behauptet hätte, es wären wieder die falschen Kopfhörer. Es waren die richtigen und Dr. Winkler lachte aus vollem Hals: „Mann D-R-A-E-G-E-R, Mathe fünf, dreimal ausgeglichen, Physik ne vier plus, Glückwunsch. War doch den Spaß wert, oder?“

6. Vom siebten Himmel auf den harten Boden der Tatsachen

Wenn mit Ana auch nicht alles so gelaufen war, wie ich es mir gewünscht hatte, wollte ich es 1964 nun unbedingt wissen und eine feste Freundin haben.

Zwei hatte ich ins Auge gefasst: Michaela, die Adoptivtochter des deutschen Konsuls in Bilbao, und Alicia, Tochter des Großunternehmers Galletas Artiach, Spaniens größter Kekshersteller. Beide gingen auf unsere Schule, beide eine Klasse unter mir, in die Untersekunda.

Michaela war Norwegerin, naturblond, mit einem Zopf bis zum Po und wunderschönen hellblauen Augen. Alicia war spanisch sonnen getönt, lange schwarze gelockte Haare, wie Schiffstaue so voll und kräftig, eine Figur wie eine Elfe und Augen wie Glitzersteine.

Michaela wohnte in unserer Nähe, also war ich morgens fast 40 Minuten mit ihr im Bus und nachmittags nochmal. Da sollte doch was möglich sein. Dachte ich.

Aber Wolfgang Ziegler, mein Klassenkamerad, wohnte noch näher, nämlich gleich neben Michaela in der Prachtvilla ihrer Adoptiveltern. Er holte sie also vor der Haustür ab, stieg mit ihr gemeinsam in den Bus, saß natürlich neben ihr und brachte sie nach Schulschluss auch nach Hause. Ich nicht. Und er sang und spielte Gitarre. Ich nicht. Michaela wurde sein größter Fan. Ich nicht.

Aber 40 Jahre später wurde und ist er bis heute mein bester Freund. Mein allerbester Freund.

Ana weg, Michaela weg, ich gab die Hoffnung nicht auf. Blieb ja noch Alicia, arrogant und eingebildet wie keine zweite, als seien alle anderen nur Gewürm. Mein Freund Flóren – der mit den Wimpern – meinte: „Así son los super ricos en España, pero puede, que sea sola y no se atreve“; „So sind die Superreichen, aber vielleicht ist sie nur einsam und traut sich nichts. Trau du dich“.

Ich zog die deutsche Kavalier Karte und bot ihr immer wieder an, den schweren Schulranzen zu tragen, ihr im Deutschen behilflich zu sein und traute mich sogar, sie zu fragen, ob sie mit mir mal zum Angeln gehen wolle.

„Tal vez“, „vielleicht“ war mehr, als ich erwartet hatte.

Nach einem erneuten Versuch, für den ich all meinen Mut zusammen nahm, willigte sie tatsächlich ein. So fuhr der Arbeitskollege meines Vaters, Hans, eines schönen samstagmorgens in seinem schwarzen BMW 1802 mit uns ans Meer. Hans war gerade erst aus Deutschland in die Firma meines Vaters versetzt worden, war Ende 20, blond, hatte blaue Augen und hatte eben einen BMW. Schnell fiel mir auf, dass Alicia schon während der Hinfahrt nur Augen für den blonden Hans hatte und mich keines Blickes würdigte. Am Ende des Tages war ich am Boden zerstört. Als mein Vater mir dann eine Woche später erzählte, Hans schwärme in der Arbeit nur noch von seiner neuen festen Freundin Alicia, glaubte ich, das Herz würde mir in der Brust zerspringen. Ana weg, Michaela weg, Alicia weg. Doch ich gab die Hoffnung nicht auf.

Eines Tages fand ich in meiner Schultasche einen einfachen Zettel mit für mich einer wundervollen Botschaft: „Jorge, nos vemos después del cole en el Jolastoki? A.“

Ob wir uns nach Schulschluss im Jolastoki treffen wollten, dem angesagten Tennisclub in Bilbao-Neguri.

Mein Herz machte wumm wumm, Adrenalin schoss wie Superbenzin ins Blut und ich war zu nichts mehr zu gebrauchen, als immer nur ihren Namen vor mich hin zusagen. Vielleicht wollte sie ja doch nur mich.

A-L- I- C-I-A.

Ich war als erster im Schulbus, als erster ausgestiegen, raste nach Hause, nahm die Treppen in den dritten Stock, weil mir der Fahrstuhl zu langsam schien, frische Hose, frisches Hemd, Eau de Toilette literweise über den ganzen Körper, dann 20 Minuten kontrolliertes Hetzen zum Tennisclub, ich glaubte mich am Ziel meiner Träume.

Ich fand sofort Einlass, weil meine Eltern Mitglieder waren und suchte mir einen Platz in der Cafeteria, sodass ich die Plätze und den Eingang im Auge hatte. Als ich ankam, war es kurz vor 18 Uhr, inzwischen kurz nach 19.

„Has visto a Alicia? La de Artiach?“; „Hast du Alicia gesehen, die von Artiach?”, fragte ich den Barkeeper.

„No, no la he visto, pero le está esperando una señorita en el salón.“ „Nein, aber eine junge Dame wartet im Salon auf Sie.“

Lauter Fragezeichen im Gesicht und keinen Reim, den ich mir darauf machen konnte. Ich schlich mich an die große Doppeltür zum Salon, in dem man lesen, Spiele jeder Art spielen oder einfach in herrlichen Clubsesseln entspannen konnte. Ich zog die Tür vorsichtig auf, spähte hinein – und sah nichts und niemanden.

„Jorge, es que has venido de verdad?“; „Jorge, du bist wirklich gekommen?“, eine Stimme, die ich nur zu gut kannte. Jeden Tag, jede Unterrichtsstunde, la Chelo.

Chelo war eine Klassenkameradin, Chelo Gonzales, ein wenig wohlbeleibt, von unauffälligem Äußeren, das Gesicht zierte ein nahezu schwarzer Oberlippenbart. Deshalb hieß sie an der Schule immer nur La Chelo, das sich mit Die da wohl am einfachsten übersetzen lässt.

Ein Gefühls-Wasserfall wie der von Niagara, alles, was mich hochgepeitscht hatte, fiel in sich zusammen. Von Alicia hinab zu La Chelo. Vom siebten Himmel auf den harten Boden der Tatsachen. War das wirklich alles was mir das Schicksal gönnte?

Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht und wie Schuppen fiel es mir von den Augen, dass Chelo seit Monaten immer meine Nähe suchte, mich mit Keksen und Schokolade bedachte, immer wieder meine Blicke suchte... sie war verliebt in mich. Was ich verdrängte, weil ich ja Alicia wollte.

Bevor ich auch nur etwas sagen konnte und vor lauter Enttäuschung und Peinlichkeit auch nicht gewusst hätte was, rettete Chelo die Situation in ihrem akzentfreien Deutsch: „Jorge, ich weiß, dass du Alicia erwartet hast, der Zettel war von mir und ich habe ihn bewusst mit A. unterschrieben. Aber ich will deine Freundin sein. Ich bin nicht so schön und nicht so reich wie Alicia, aber ich mag dich aufrichtig und von ganzem Herzen. Ich bedränge dich nicht, ich will dich nur mal allein haben und dir sagen, dass ich immer für dich da bin, wenn du Kummer hast.“

Ich war baff. Völlig.

„Chelo, ich...“

„Sag nichts, lass uns was essen und einfach klönen, oder was spielen, gönn mir diesen Abend.“

Hier würde selbst Rosamunde Pilcher feuchte Augen kriegen und so mag ich nur noch sagen, dass Schönheit tatsächlich von innen kommt. Irgendwann am späten Abend war Chelo wunderschön und noch heute sind wir Freunde.

7. Ab nach Deutschland und nochmal in die Oberprima

1965 hatte ich dreimal mehr Dr. Winklers Triumphmarsch gehört und es war Ende Unterprima, also noch ein Jahr bis zum Abi. Nebenher musste ich wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, dass ich in meinem Jahrgang wohl der letzte verbliebene Jungmann war und die Aussicht, dass sich das bald doch noch ändern würde, war äußerst gering. Denn: Ana weg, Michaela weg, Alicia weg. Alle drei liebte ich, alle drei weg.

Dafür hatte ich schon bald herausgefunden, was ich in Deutschland studieren wollte und was mein ersehnter Traumberuf war: Dramaturg am Theater.

In Vorbereitung auf das Abi wurde uns eröffnet, dass nicht ein jeder Studiengang in Deutschland ohne Aufnahmeprüfung möglich sei. Germanistik und Theaterwissenschaft, mein Studienwunsch, zählten dazu.

„Warum also für das Abi in Bilbao mich schinden und quälen, wenn dann noch eine Prüfung in Deutschland im Weg steht?“, fragte ich unseren Direx. Was denn die Alternative sei, wollte ich wissen.

„Ab nach Deutschland und nochmal in die Oberprima.“

Ich erinnerte mich, dass meine Patentante Mausi Chefsekretärin des Senators für Bildung in Berlin war. Also rief ich sie an und eine Woche später wartete Mausi mit einem fulminanten Plan auf. Das Schulamt sei bereit, wenn folgende Bedingungen erfüllt würden: Es müssten sich drei Schüler finden und Spanisch würde die Muttersprache, also die Unterrichtssprache sein – Deutsch erste Fremdsprache.

„Halleluja“ konnte ich nur jubeln; nicht wissend, wie ich noch zwei Klassenkameraden finden würde, die mit mir nach Berlin gingen. Nummer Eins war leicht gefunden, Erhart Streitner. Das nicht mehr katholische Leben im pulsierenden Berlin und die Aussicht auf ein rein deutsches Abi reichten aus, um ihn ins Boot zu holen. Schwieriger war es schon mit der Nummer Zwei, Roswitha, die anfällig für diesen Plan war, aber Angst hatte, allein in der großen Stadt zu sein. Erhart und ich beteuerten so redlich wie möglich, dass wir uns um sie kümmern würden.

Der Sack war zu, ich durfte bei meiner Tante wohnen und im Januar 1965 waren wir drei die 13b, Oberprima der Robert-Blum-Schule in Berlin.

Wir drei Spanier wurden in den Fächern Deutsch, Chemie, Erdkunde und Sport im Gesamt-Klassenverband mit den anderen Schülern unterrichtet, in den anderen Fächern blieben wir unter uns und wurden auf Spanisch unterrichtet.

Mir wäre es lieber gewesen, alle Fächer im Gesamt-Klassenverband zu haben, denn dann hätte ich mehr von Todora gehabt.

VON RECHTS NACH LINKS: ELKE, ROSWITHA, ERHARDT, ICH, RENATE, TODORA

Die Geschichte von Todora und mir ist für mich eine erfolglose und dramatische. Die wenigen Stunden, die wir gemeinsam unterrichtet wurden, hatten ausgereicht, um mich heillos in Todora zu verlieben. Todora Ossikovski. Die Bulgarin. Eine Bulgarin, wie man sie sich mit nordischem Temperament nur vorzustellen vermag: Schwarzes Haar, eine traumhafte, sensationell proportionierte Figur, leicht jenseits der 38er Konfektionsgröße und ein Lachen wie Glockenklang. Todoras Mutter war gebürtige Bulgarin, ihr Vater ein Berliner, der in Mariendorf eine der bekanntesten Trabrennbahnen unterhielt. Neben der Trabrennbahn gehörte ihm außerdem ein Rennstall mit zehn hochblütigen, hochsensiblen und hoch schreckhaften Pferden. Unter seinen Jockeys waren einige der besten jener Zeit, wie zum Beispiel die Traber Ikone Lester Piggott. So hatte ich mir gedacht, um überhaupt an Todora ranzukommen, würde ich sie fragen, ob ich in den Ferien oder an den Wochenenden vielleicht bei ihrem Vater arbeiten könne. Sie würden doch sicher jemanden brauchen, der die Pferde striegelt, die Hufe sauber macht und andere kleine Aufgaben übernimmt. Irgendwann sagte Todora „Kein Problem, ich stelle dir meinen Papa vor!“ – und kurz darauf war ich eingestellt.

Und jetzt sage ich Ihnen: Wenn Sie keine Ahnung, wirklich null Ahnung von Pferden haben und nun einem Hochblüter par excellence ausgeliefert sind – und Sie nur die Hufe säubern wollen… Da nehmen Sie, sage ich mal, das rechte Bein des Pferdes, heben es mit beiden Händen an und drehen es so zu sich hin, dass Sie das Hufeisen vor sich haben um dieses dann sauberzukratzen. Dann müssen Sie aber mit der linken Schulter leicht unter die rechte Schulter des Pferdes gehen, um es in Zaum zu halten. Und wenn Sie in dieser Stellung einen Tritt bekommen – so wie ich – dann sind Sie wochenlang außer Gefecht gesetzt. So wie ich.