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Yrsa Sigurdardóttir

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Beschreibung

In der Universität von Reykjavík wird die Leiche eines jungen Deutschen gefunden. Der Geschichtsstudent war fasziniert von alten Hexenkulten, und sein Mörder hat ihm ein merkwürdiges Zeichen in die Haut geritzt. Aber die isländische Polizei glaubt an einen Drogendelikt und verhaftet einen Dealer. Die Eltern des Opfers misstrauen den Ermittlungen: Sie beauftragen die junge Anwältin Dóra Gudmundsdóttir, den Fall noch einmal aufzurollen. Und auf der Suche nach dem wahren Mörder findet Dóra mehr über die dunklen Rituale heraus, als ihr lieb ist …

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Yrsa Sigurdardóttir

Das letzte Ritual

Thriller

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Zum Buch

In der Universität von Reykjavík wird die Leiche eines jungen Deutschen gefunden. Der Geschichtsstudent war fasziniert von alten Hexenkulten, und sein Mörder hat ihm ein merkwürdiges Zeichen in die Haut geritzt.

Die isländische Polizei glaubt an einen Drogendelikt und verhaftet einen Dealer. Die Eltern des Opfers misstrauen den Ermittlungen: Sie beauftragen die junge Anwältin Dóra Gudmundsdóttir, den Fall noch einmal aufzurollen. Auf der Suche nach dem wahren Mörder findet Dóra mehr über dunkle Rituale heraus, als ihr lieb ist …

Zur Autorin

YRSA SIGURDARDÓTTIR, geboren 1963, ist eine vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin, deren Spannungsromane in über 30 Ländern erscheinen. Sie zählt zu den »besten Kriminalautoren der Welt« (Times Literary Supplement). Sigurdardóttir lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Reykjavik.

YRSA SIGURDARDÓTTIR BEI BTB Das gefrorene Licht. Thriller DNA. Thriller

Die isländische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »þriðja táknið« bei Veröld, Reykjavík.

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Genehmigte Taschenbuchausgabe Oktober 2016 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © der Originalausgabe 2005 Yrsa Sigurdardóttir Copyright © der deutschen Ausgabe 2006 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © Jim Smithson/Corbis mir · Herstellung: sc

eISBN 978-3-641-20293-4V001

www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

www.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyright31. OKTOBER 2005
EINLEITUNG
6. DEZEMBER 2005
1. KAPITEL2. KAPITEL3. KAPITEL 4. KAPITEL 5. KAPITEL
7. DEZEMBER 2005
6. KAPITEL 7. KAPITEL 8. KAPITEL 9. KAPITEL 10. KAPITEL 11. KAPITEL 12. KAPITEL
8. DEZEMBER 2005
13. KAPITEL 14. KAPITEL 15. KAPITEL 16. KAPITEL 17. KAPITEL 18. KAPITEL 19. KAPITEL
9. DEZEMBER 2005
20. KAPITEL 21. KAPITEL 22. KAPITEL 23. KAPITEL
10. DEZEMBER 2005
24. KAPITEL 25. KAPITEL 26. KAPITEL 27. KAPITEL 28. KAPITEL 29. KAPITEL 30. KAPITEL 31. KAPITEL
12. DEZEMBER 2005
32. KAPITEL 33. KAPITEL
13. DEZEMBER 2005
EPILOG

Anmerkung:

Weil sich alle Isländer üblicherweise mit dem Vornamen anreden, wurde auch in dieser Übersetzung grundsätzlich die Du-Form gewählt. Eine Ausnahme bilden die ersten Gespräche zwischen den Hauptfiguren Dóra und Matthias, die sich auf Deutsch (wenn sie zu zweit sind) oder Englisch (wenn weitere Personen dabei sind) unterhalten und sich daher zunächst siezen.

31. OKTOBER 2005

EINLEITUNG

Der Hausmeister schaute sich verwundert um. Was war das? Durch das geschäftige Hantieren der Putzfrauen tönte ein sonderbarer Laut aus dem Gebäudeinneren. Erst leise, dann immer deutlicher. Tryggvi signalisierte den Frauen, ruhig zu sein, und spitzte die Ohren. Die Frauen blickten einander mit großen Augen an und zwei von ihnen bekreuzigten sich.

Bevor die Putzfrauen eingetroffen waren, hatte Tryggvi das Alleinsein genossen. Er hatte in aller Ruhe bei der Kaffeemaschine auf seinen Morgenkaffee gewartet. Sie konnten jeden Moment kommen. Tryggvi war seit über dreißig Jahren Hausmeister im Gebäude der Historischen Fakultät und hatte in dieser Zeit unglaubliche Veränderungen miterlebt. Am Anfang putzten ausschließlich Isländerinnen, die jedes Wort verstanden hatten. Jetzt musste er die Arbeit mit Händen und Füßen und einfachen Anweisungen erklären. Die Frauen waren alle Einwanderinnen, und bevor die Lehrer und Studenten ins Haus strömten, hätte er sich ebenso gut in Bangkok oder Manila befinden können.

Als der Kaffee fertig war, war Tryggvi mit der dampfenden Tasse ans Fenster des menschenleeren Gebäudes getreten, hatte hinausgeschaut und den schneebedeckten Campus betrachtet. Es war ungewöhnlich kalt und die weiße Welt glitzerte. Es herrschte absolute Stille. Tryggvi hatte an das bevorstehende Weihnachtsfest gedacht und ihm war warm ums Herz geworden. Dann hatte er ein Auto beobachtet, das in den Parkplatz einbog. Der Geist der Weihnacht, dachte Tryggvi. Er hatte gesehen, wie der Fahrer aus dem Wagen gestiegen war, die Autotür zugeknallt hatte und auf das Haus zugestapft war. Tryggvi hatte die Gardine fallen gelassen und war vom Fenster zurückgetreten.

Er hatte gehört, wie der Neuankömmling die Eingangstür öffnete. Von allen Professoren, Dozenten, Lektoren und Sekretärinnen konnte Tryggvi diesen Mann am wenigsten leiden. Er hieß Gunnar, war Geschichtsprofessor und beschwerte sich ständig über die Arbeit des Hausmeisters. Tryggvi konnte Gunnars Überheblichkeit nicht ertragen und fühlte sich in seiner Anwesenheit unwohl. Am Anfang des Semesters hatte Gunnar die Putzfrauen beschuldigt, einen alten, maschinegeschriebenen Aufsatz über die Papar gestohlen zu haben, jene irischen Mönche, die vor der eigentlichen Landnahme in Island siedelten. Zum Glück tauchte der Aufsatz wieder auf und die Sache verlief im Sande. Seitdem fand Tryggvi Gunnar nicht nur unerträglich – nein, er verachtete ihn. Warum sollten asiatische Putzfrauen irgendeinen dämlichen Artikel über irische Mönche stehlen? Tryggvi interessierte sich nicht im Geringsten für die Aufsätze des Professors. In seinen Augen war das ein primitiver Angriff auf diejenigen, die sich nicht wehren können.

Tryggvi war es nicht geheuer, als Gunnar Leiter der Historischen Fakultät wurde. Zumal er sofort mit dem Hausmeister diverse Änderungen besprach, die er für unumgänglich hielt. Unter anderem wollte er, dass die Putzfrauen bei der Arbeit den Mund hielten. Tryggvi versuchte erfolglos, diesen selbstgefälligen Mann darauf hinzuweisen, dass das Plaudern der Frauen niemanden störe, da sich während ihrer Arbeitszeit niemand im Haus befinde. Außer Gunnar natürlich. Warum musste er auch jeden Morgen zu einer Uhrzeit kommen, zu der noch nicht einmal die Busse fuhren. Tryggvi war Gunnars Aufforderung, die Frauen anzuweisen, dass sie bei der Arbeit nicht miteinander reden sollen, nicht nachgekommen – er wusste nicht, wie er ihnen das verständlich machen sollte, und außerdem hatte er einfach keine Lust dazu. Auch wenn ihn die Sprachbarrieren manchmal ärgerten, hatte er die Fröhlichkeit dieser tüchtigen Frauen schätzen gelernt.

An jenem Morgen verhielten sie sich wie immer. Sie betraten gemeinsam die kleine Kaffeestube und wünschten mit starkem Akzent im Chor Guten Morgen. Darauf folgte üblicherweise heftiges Gekicher. Tryggvi musste wie immer lächeln. Die Frauen schälten sich aus ihrer bunten Winterkleidung, während er in einiger Entfernung dastand und sie beobachtete. Ein ganz normaler Tag, der nun eine unerwartete Wendung zu nehmen schien.

Tryggvi drängte sich durch die Gruppe der Frauen zur Tür, die auf den Flur hinausführte. Er hörte, wie sich das Geräusch von einem Stöhnen in ein Schreien verwandelte. Tryggvi konnte weder ausmachen, ob es von einem Mann oder einer Frau stammte, noch war er sicher, ob es überhaupt menschlich war. Konnte ein Tier ins Gebäude gelangt sein und sich verletzt haben? Tryggvi hatte keine Zeit, diesen Gedanken zu Ende zu denken, denn es ertönte ein lauter Knall, wie wenn etwas zu Boden stürzt oder zerbricht. Tryggvi beschleunigte seinen Schritt und betrat den Flur. Der Lärm schien aus der oberen Etage zu kommen. Tryggvi wendete sich schnell zur Treppe und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Die Frauen folgten ihm und begannen zu jammern.

Die Schreie kamen zweifellos aus den Büros der Historischen Fakultät. Tryggvi spurtete los und die Frauen folgten ihm auf den Fersen. Er riss die Feuerschutztür zum Büroflur auf und bremste abrupt – woraufhin die Frauen eine nach der anderen gegen ihn prallten. Tryggvi starrte geradeaus.

Es war nicht der Anblick des Bücherregals auf dem Fußboden oder des Fakultätsleiters auf allen vieren auf dem Bücherhaufen im Flur, der Tryggvi erstarren ließ. Dort drinnen lag eine Leiche, die halb aus einem kleinen Druckerkabuff hinausragte. Tryggvi spürte, wie sich sein Magen umdrehte. Was zum Teufel waren diese Stofflappen vor den Augen? Hatte jemand etwas auf die Brust gezeichnet? Und die Zunge – was war nur mit der Zunge? Die Frauen blickten über Tryggvis Schulter und er spürte, wie sie nach seinem Hemd griffen. Er versuchte, sich loszumachen, aber ohne Erfolg. Der Fakultätsleiter streckte Hilfe suchend die Arme aus. Der Mann schien vor Angst völlig aufgelöst zu sein und griff mit der einen Hand nach seinem Herz, aschfahl im Gesicht. Dann kippte er zur Seite. Tryggvi widerstand der Versuchung, die Frauen zu packen und wegzurennen. Er machte einen Schritt nach vorn, woraufhin die Frauen noch nachdrücklicher versuchten, ihn zurückzuziehen, doch er schüttelte sie ab. Er beugte sich hinab zu Gunnar, der offenbar versuchte, ihm etwas zu sagen.

Tryggvi verstand nicht viel von dem zusammenhanglosen Gestammel des Mannes. Er begriff nur, dass die Leichte – es konnte nur eine Leiche sein, so sah kein lebendiger Mensch aus – auf Gunnar gestürzt war, als dieser die Tür zum Druckerkabuff geöffnet hatte. Tryggvi richtete seinen Blick instinktiv auf den entsetzlich zugerichteten Körper.

Guter Gott. Die schwarzen Stofflappen vor den Augen waren gar keine Stofflappen.

6. DEZEMBER 2005

1. KAPITEL

Dóra Guðmundsdóttir wischte hastig einen Cornflakeskrümel von ihrem Hosenbein und zupfte ihre Kleidung zurecht, bevor sie die Rechtsanwaltskanzlei betrat. Gar nicht so übel. Sie hatte das morgendliche Geduldspiel, ihre sechsjährige Tochter und ihren 16-jährigen Sohn rechtzeitig zur Schule zu bringen, überstanden. Neuerdings weigerte sich Dóras Tochter strikt, etwas Rosafarbenes anzuziehen, was nicht weiter problematisch wäre, wenn nicht der gesamte Inhalt ihres Kleiderschranks mehr oder weniger rosa wäre. Ihr Sohn hingegen hatte das ganze Jahr über vergnügt dieselben verschlissenen Klamotten angezogen, vorausgesetzt, auf einem der Kleidungsstücke befand sich ein Totenkopf. Seine Heldentat bestand darin, überhaupt aufzuwachen. Dóra seufzte bei dem Gedanken. Es war nicht leicht, allein mit zwei Kindern zu leben. Aber es war auch nicht leichter gewesen, als sie noch verheiratet gewesen war. Der Unterschied war der, dass zur morgendlichen Routine noch der Streit mit ihrem Ex-Mann hinzugekommen war. Die Gewissheit, dass dies Vergangenheit war, hob ihre Stimmung, und ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als sie die Tür öffnete.

»Guten Morgen!«, sagte sie gut gelaunt.

Die Sekretärin entgegnete ihren Gruß nicht, sondern setzte eine beleidigte Miene auf. Immer diese ansteckende Fröhlichkeit, dachte Dóra. Insgeheim verfluchte sie, wie so oft, das Sekretärinnenproblem. Es war für die Kanzlei zweifellos geschäftsschädigend. Dóra konnte sich an keinen Mandanten erinnern, der sich nicht schon einmal über das Mädchen beschwert hatte. Sie war nicht nur unfreundlich, sondern auch ausgesprochen unattraktiv. Ihr Übergewicht war nicht das Schlimmste, sondern die allgemeine Nachlässigkeit bei ihrem Äußeren. Außerdem regte sie sich über alles und jeden auf. Zu allem Überfluss – wie aus purer Gemeinheit – hatten die Eltern das Mädchen Bella genannt. Wenn sie doch nur von sich aus kündigen würde. Sie schien keineswegs mit dem Job zufrieden zu sein und war hier bestimmt nicht am richtigen Platz. Eigentlich konnte sich Dóra gar keinen Job vorstellen, der dem Mädchen liegen würde. Andererseits war es nicht möglich, sie zu feuern.

Als Dóra und Bragi, ihr älterer und erfahrenerer Kollege, sich zusammengetan und die Kanzlei eröffnet hatten, waren sie so begeistert von den Büroräumen gewesen, dass sie sich auf eine Bedingung im Mietvertrag eingelassen hatten – die Tochter des Vermieters sollte als Sekretärin eingestellt werden. Damals konnten sie unmöglich ahnen, worauf sie sich einließen. Das Mädchen hatte ein hervorragendes Zeugnis von den Vormietern, einer Immobilienfirma, bekommen. Dóra war sich mittlerweile sicher, dass die Vormieter aus dem großartig gelegenen Büro am Skólavörðustígur nur ausgezogen waren, um diese Horrorsekretärin loszuwerden. Dóra war davon überzeugt, dass sie Recht bekämen, wenn sie wegen des höchst zweifelhaften Arbeitszeugnisses gegen die Vertragsklausel klagten. Doch damit wäre der gute Ruf, den sie sich bis jetzt erarbeitet hatten, hinüber. Wer wendet sich schon an eine Anwaltskanzlei, die sich unter anderem auf Vertragsrecht spezialisiert hat, aber die eigenen Verträge vermasselt? Selbst wenn sie Bella loswürden – gute Sekretärinnen gab es auch nicht wie Sand am Meer.

»Da hat jemand angerufen«, nuschelte Bella, während sie gebannt auf ihren Computerbildschirm starrte.

»Aha?« Dóra, die gerade ihren Daunenanorak aufhängte, schaute fragend auf und fügte wenig hoffnungsvoll hinzu: »Hast du eine Ahnung, wer es war?«

»Nee. Hat Deutsch gesprochen, glaub ich. Ich hab ihn jedenfalls nicht verstanden.«

»Wollte der Mann vielleicht noch mal anrufen?«

»Weiß ich nicht. Hab aufgelegt. Aus Versehen.«

»Für den unwahrscheinlichen Fall, dass dieser Mann noch einmal anruft, obwohl du eben aufgelegt hast, würdest du ihn mir dann bitte durchstellen? Ich habe in Deutschland studiert und spreche Deutsch.«

»Hrmf«, stieß Bella hervor und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war’s auch kein Deutsch. Könnte auch Russisch gewesen sein. Außerdem war es eine Frau. Glaub ich. Oder ein Mann.«

»Bella, wer auch immer anruft – eine Frau aus Russland oder ein Mann aus Deutschland, von mir aus auch ein sprechender Hund aus Griechenland –, würdest du ihn bitte durchstellen, ja?« Dóra wartete nicht auf eine Antwort – damit war sowieso nicht zu rechnen – und ging geradewegs in ihr schlichtes Büro.

Sie setzte sich und schaltete den Computer ein. Ihr Schreibtisch war nicht ganz so unordentlich wie sonst. Sie hatte am Tag zuvor eine Stunde damit zugebracht, Papiere zu sortieren, die sich im letzten Monat angesammelt hatten. Dóra löschte ein paar Spam-Mails und Gags von Freunden und Kollegen. Danach waren noch drei E-Mails von Mandanten übrig, eine von ihrer Freundin Laufey mit der Betreffzeile Am Wochenende einen draufmachen und schließlich eine Mail von der Bank. Mist. Sie hatte bestimmt ihre Kreditkarte überzogen. Und ihren Dispo wahrscheinlich auch. Dóra beschloss, die Mail sicherheitshalber nicht zu öffnen.

Das Telefon klingelte.

»Anwaltskanzlei Innenstadt. Dóra am Apparat.«

»Guten Tag, Frau Guðmundsdóttir?«

»Guten Tag.« Dóra tastete nach Papier und Stift. Hochdeutsch. Sie ermahnte sich, die Frau immer zu siezen.

Dóra kniff die Augen fest zu und hoffte, dass ihr Deutsch sie nicht im Stich lassen möge. Sie hatte die Sprache recht gut beherrscht, als sie an der Universität in Berlin ihren Juraabschluss gemacht hatte. Jetzt bemühte sie sich, die Wörter so korrekt wie möglich auszusprechen. »Womit kann ich Ihnen helfen?«

»Ich heiße Amelia Guntlieb. Ich habe Ihren Namen von Herrn Professor Anderheiß erhalten.«

»Ja, er hat mich in Berlin unterrichtet.« Dóra hoffte inständig, wenigstens bei der Wortwahl nicht völlig danebenzuliegen, weil sie spürte, dass sich ihre Aussprache verschlechtert hatte. In Island gab es nicht viele Gelegenheiten, Deutsch zu sprechen.

»Ja.« Nach einer unangenehmen Pause fuhr die Frau fort: »Mein Sohn ist ermordet worden. Mein Mann und ich brauchen Hilfe.«

Dóra dachte fieberhaft nach. Guntlieb? Der deutsche Student, dessen Leiche in der Uni gefunden worden war? Hieß der nicht Guntlieb?

»Hallo?« Die Frau schien nicht sicher zu sein, ob Dóra noch in der Leitung war.

Dóra beeilte sich zu sagen: »Ja, Verzeihung. Ihr Sohn. Ist das hier in Island passiert?«

»Ja.«

»Ich glaube, ich weiß, von welchem Mord Sie sprechen, aber ich muss gestehen, dass ich nur in den Nachrichten davon gehört habe. Sind Sie sicher, dass Sie mit der richtigen Person sprechen?«

»Das hoffe ich. Wir sind mit den polizeilichen Ermittlungen nicht zufrieden.«

»Ach?«, sagte Dóra überrascht. Sie hatte den Eindruck, die Polizei hätte den Fall vorbildlich gelöst. Der Mörder war drei Tage nach der grausamen Tat festgenommen worden. »Sie wissen bestimmt, dass sie einen Mann verhaftet haben?«

»Das ist uns bekannt. Wir sind allerdings davon überzeugt, dass er nicht der Schuldige ist.«

»Warum nicht?«, fragte Dóra ungläubig.

»Wir sind einfach davon überzeugt. Mehr will ich dazu nicht sagen.« Die Frau räusperte sich höflich. »Wir möchten, dass sich eine neutrale Person des Falls annimmt. Jemand, der Deutsch spricht.« Stille. »Sie müssen verstehen, wie schwer uns das fällt.« Wieder Stille. »Harald war unser Sohn.«

Dóra versuchte, Anteilnahme zu zeigen, indem sie ihre Stimme senkte und langsamer sprach. »Doch, doch, das verstehe ich gut. Ich habe selbst einen Sohn. Ich kann mich natürlich unmöglich in die Lage von Ihnen und Ihrem Mann versetzen, aber ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen. Allerdings bin ich nicht sicher, ob ich Ihnen helfen kann.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme.« Ihre Stimme war eiskalt. »Professor Anderheiß glaubt, dass Sie die Eigenschaften besitzen, nach denen wir suchen. Er sagte, Sie seien beharrlich, entschlossen und knallhart.« Stille. Dóra stellte sich vor, der Mann habe das Wort »frech« wohl nicht in den Mund nehmen wollen. Die Frau sprach weiter. »Und zugleich verständnisvoll. Er ist ein guter Freund der Familie und wir vertrauen ihm. Wären Sie bereit, den Fall zu übernehmen? Wir zahlen sehr gut.« Die Frau nannte eine Summe.

Sie war unglaublich hoch, ob mit oder ohne Mehrwertsteuer. Mehr als doppelt so hoch wie Dóras üblicher Stundenlohn. Darüber hinaus bot ihr die Frau ein Zusatzhonorar an, falls die Ermittlungen zur Verhaftung eines anderen Täters führen sollten. Das Zusatzhonorar war höher als Dóras Jahresgehalt. »Was erwarten Sie für diese hohe Summe? Ich bin keine Privatdetektivin.«

»Wir suchen jemanden, der den Fall noch einmal aufrollt, das Beweismaterial begutachtet und die Schlussfolgerungen der Polizei überprüft.« Wieder machte die Frau eine Pause, bevor sie weitersprach. »Die Polizei weigert sich, mit uns zu reden. Das irritiert uns.«

Ihr Sohn ist ermordet worden und das Verhalten der Polizei irritiert sie, dachte Dóra. »Ich überlege es mir. Haben Sie eine Nummer, unter der ich Sie erreichen kann?«

»Ja.« Die Frau nannte die Telefonnummer. »Ich möchte Sie bitten, sich nicht allzu lange Bedenkzeit zu lassen. Ich versuche es woanders, wenn ich bis heute Nachmittag nichts von Ihnen gehört habe.«

»Machen Sie sich keine Gedanken. Ich gebe Ihnen so bald wie möglich Bescheid.«

»Frau Guðmundsdóttir, noch eine Sache.«

»Ja?«

»Wir haben eine Bedingung.«

»Und die wäre?«

Frau Guntlieb räusperte sich. »Wir möchten umgehend über alles informiert werden, was Sie herausfinden. Egal, ob es wichtig oder unwichtig ist.«

»Warten wir mal ab, ob ich Ihnen überhaupt behilflich sein kann, bevor wir die Details besprechen.«

Sie verabschiedeten sich und Dóra legte auf. Großartig, wenn der Tag damit beginnt, wie ein Dienstmädchen behandelt zu werden. Und die Kreditkarte überzogen zu haben. Und den Dispo. Das Telefon klingelte erneut. Dóra nahm ab.

»Hier ist die Autowerkstatt. Hör mal, das sieht doch schlimmer aus, als wir dachten.«

»Wird er überleben?«, fragte Dóra gereizt. Der Wagen hatte beschlossen, nicht mehr anzuspringen, als sie gestern Mittag ein paar Besorgungen machen wollte. Sie hatte mehrmals versucht, ihn in Gang zu bringen, aber ohne Erfolg. Schließlich musste sie aufgeben und der Wagen wurde in die Werkstatt geschleppt. Der Automechaniker hatte sie mitleidig angeschaut und ihr für die Reparaturzeit eine Dreckskarre geliehen. Ein schäbiges Gefährt, das auf der Heckscheibe die Aufschrift Bibbis Autowerkstatt trug und dessen Fußräume vor den Rücksitzen und auf der Beifahrerseite mit Müll bedeckt waren, überwiegend Verpackungen von Ersatzteilen und leere Coladosen. Dóra musste sich damit abfinden, denn sie brauchte ein Auto.

»So gerade.« Völlig gefühllos. »Es wird nicht ganz billig.« Darauf folgte ein Redeschwall mit Begriffen aus der Welt der Autoreparatur, von der Dóra nur wenig verstand. Die am Ende genannte Summe bedurfte jedoch keiner näheren Erläuterung.

»Besten Dank. Dann reparier ihn halt.«

Dóra legte auf. Sie starrte gedankenvoll einige Minuten auf das Telefon. Weihnachten stand vor der Tür mit den dazugehörigen Ausgaben, Weihnachtsschmuck, Ausgaben, Geschenken, Ausgaben, Festlichkeiten, Ausgaben, Familienfeiern, Ausgaben und – wie sollte es auch anders sein – noch mehr Ausgaben. Man konnte nicht gerade von Hochbetrieb in der Kanzlei sprechen. Wenn sie diesen Auftrag aus Deutschland annehmen würde, hätte sie genug zu tun. Außerdem würde es ihre Geldprobleme lösen und mehr als das. Sie könnte sogar mit den Kindern in Urlaub fahren. Es gab bestimmt genügend verlockende Reiseziele für ein sechsjähriges Mädchen, einen 16-jährigen Jungen und eine 36-jährige Frau. Sie würde es sich sogar leisten können, auch noch einen 26-jährigen Mann einzuladen, zwecks Förderung der Geselligkeit und Ausgleichs der Geschlechterverteilung. Sie nahm den Hörer in die Hand.

Anstelle von Frau Guntlieb meldete sich ein Dienstmädchen. Dóra fragte nach der Frau des Hauses und hörte kurz darauf klappernde Schritte. Eine kühle Stimme meldete sich.

»Guten Tag, Frau Guntlieb. Hier ist Dóra Guðmundsdóttir aus Island.«

»Ja.« Nach kurzem Schweigen war klar, dass Frau Guntlieb im Moment nicht mehr sagen würde.

»Ich habe mich entschieden und möchte versuchen, Ihnen zu helfen.«

»Gut.«

»Wann soll ich anfangen?«

»Sofort. Ich habe für heute Mittag einen Tisch bestellt. Dort können Sie die Sache mit Matthias Reich besprechen. Er arbeitet für meinen Mann. Er hält sich gerade in Island auf und verfügt über die Ermittlungserfahrungen, an denen es Ihnen mangelt. Er wird Ihnen weitere Informationen geben.«

Der vorwurfsvolle Ton bei dem Wort »mangelt« klang so, als sei Dóra für schuldig befunden worden, stockbesoffen bei einem Kindergeburtstag erschienen zu sein. Sie tat trotzdem so, als sei nichts gewesen. »Ja, ich verstehe. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass ich nicht sicher bin, ob ich Ihnen helfen kann.«

»Das wird sich zeigen. Matthias gibt Ihnen einen Vertrag, den Sie unterschreiben müssen. Lassen Sie sich Zeit, lesen Sie ihn gut durch.«

Auf einmal hätte Dóra der Frau am liebsten gesagt, sie solle sich zum Teufel scheren. Sie konnte diese Überheblichkeit und Arroganz nicht ausstehen. Als sie aber dann sich selbst, die Kinder und den 26-jährigen Typen im Urlaub vor sich sah, schluckte sie ihren Stolz hinunter und murmelte etwas Zustimmendes.

»Seien Sie um zwölf Uhr im Hotel Borg. Matthias kann Ihnen die eine oder andere Information geben, die nicht in der Zeitung steht. Einiges davon ist nicht druckfähig.«

Dóra lief plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken. Frau Guntliebs Stimme klang barsch und gefühllos, aber gleichzeitig irgendwie zerbrechlich. Vermutlich klang man unter diesen Bedingungen so. Dóra schwieg.

»Haben Sie mich verstanden? Kennen Sie das Hotel?«

Dóra hätte fast laut aufgelacht. »Ja, ich glaube schon. Ich werde dort sein.« Ganz bestimmt.

2. KAPITEL

Dóra schaute auf die Uhr und legte den Fall beiseite, mit dem sie sich gerade beschäftigt hatte. Schon wieder ein Mandant, der nicht wahrhaben wollte, dass er gerade einen Prozess verlor. Sie war zufrieden mit sich, hatte ein paar kleinere Sachen bearbeitet und genug Zeit, sich mit Herrn Matthias Reich zu treffen. Sie wählte Bellas Durchwahl.

»Ich gehe zu einer Besprechung in die Stadt. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, aber rechne nicht vor zwei Uhr mit mir.« Das Grummeln am anderen der Leitung interpretierte Dóra als Zustimmung. Mein Gott, warum kann sie nicht einfach »ja« sagen?

Dóra nahm ihre Handtasche und steckte das Notizbuch ein. Alles, was sie über den Fall wusste, stammte aus den Medien. Allerdings hatte sie die Sache nicht besonders aufmerksam verfolgt. Sie erinnerte sich nur an die wichtigsten Punkte: Ein ausländischer Student war ermordet und seine Leiche auf nicht näher beschriebene Weise geschändet worden. Die Polizei hatte einen Drogendealer, der steif und fest seine Unschuld beteuerte, festgenommen. Daraus ließ sich nicht allzu viel schließen.

Während sie ihren Mantel anzog, musterte sich Dóra in dem großen Spiegel. Sie wusste, wie wichtig es war, beim ersten Treffen einen guten Eindruck zu machen, besonders, wenn ihr Gegenüber vermögend war.

Dóra wühlte in ihrer Handtasche, fand endlich den Lippenstift und schminkte sich hastig die Lippen. Sie trug fast nie Make-up und legte morgens nur eine Feuchtigkeitscreme und Wimperntusche auf. Den Lippenstift hatte sie für unerwartete Ereignisse wie jetzt dabei. Er stand ihr gut und steigerte ihr Selbstbewusstsein. Dóra war froh, ihrer Mutter zu ähneln und nicht ihrem Vater, der einmal als Doppelgänger von Winston Churchill posiert hatte. Man konnte zwar nicht behaupten, sie sei wunderschön oder attraktiv, aber mit ihren hohen Wangenknochen und ihren blauen, mandelförmigen Augen konnte man sie zweifellos als hübsch bezeichnen. Sie hatte außerdem das Glück gehabt, die Figur ihrer Mutter zu erben und schlank zu bleiben.

Dóra rief ihren Kollegen einen Abschiedsgruß zu und Bragi entgegnete »viel Glück«. Sie hatte ihm von ihrem Telefonat mit Frau Guntlieb und dem bevorstehenden Treffen mit deren Bevollmächtigtem erzählt. Bragi hatte die ganze Geschichte äußerst spannend gefunden und behauptet, die Tatsache, dass eine Mandantin aus dem Ausland sie kontaktiere, sei ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie auf dem richtigen Weg seien. Er hatte sogar vorgeschlagen, den schlichten Namen der Kanzlei mit einem International oder Group aufzupeppen. Dóra hoffte, dass Bragi nur einen Witz gemacht hätte, war sich jedoch nicht sicher.

Draußen wehte ein frischer Wind. Im November war es ungewöhnlich kalt gewesen, was auf einen langen, harten Winter hindeutete. Jetzt würden sie für den extrem warmen Sommer bezahlen müssen. Dóra zog sich ihre Kapuze tief ins Gesicht, damit sie nicht mit abgefrorenen Ohren zu ihrer Verabredung käme. Das Hotel Borg lag nicht weit entfernt und es lohnte sich nicht, mit dem Werkstattauto dorthin zu fahren. Wer weiß, was der Deutsche von ihr denken würde, wenn er sah, wie sie die Rostlaube vor dem Hotel parkte. Dann würden ihre schicken Schuhe auch nichts mehr retten können, das war klar.

Es dauerte keine sechs Minuten, bis sie von der Kanzlei an der Drehtür des Hotels angekommen war.

Dóra ließ ihren Blick durch den schönen Speisesaal schweifen. Sie stellte fest, dass es hier kaum noch so aussah wie in den Jahren, als sie die meisten Samstagabende wild feiernd mit ihrer Clique im Borg verbracht hatte – bis auf die großen Fenster, die den Blick auf das Parlamentsgebäude und den Austurvöllur freigaben. Damals hatte sie sich über gar nichts Gedanken gemacht, höchstens darüber, wie ihr Hintern im Outfit des jeweiligen Abends zur Geltung käme.

Der Deutsche schien um die vierzig zu sein. Er saß kerzengerade auf einem gepolsterten Stuhl und seine breiten Schultern verdeckten die schmucke Rückenlehne. Er war leicht ergraut, was ihm eine gewisse Würde verlieh. Er wirkte steif und förmlich und trug einen grauen Anzug und eine ebensolche Krawatte, was die Farbpalette nicht gerade bereicherte. Dóra versuchte, freundlich und aufmerksam zu lächeln, und hoffte, nicht vollkommen idiotisch dabei auszusehen. Der Mann erhob sich, nahm die Serviette vom Schoß und legte sie auf den Tisch.

»Frau Guðmundsdóttir.« Eine harte, kalte Aussprache.

Sie gaben sich die Hände. »Herr Reich«, raunte Dóra mit so guter deutscher Aussprache wie möglich. »Nennen Sie mich bitte Dóra«, fügte sie hinzu. »Das kann man leichter aussprechen.«

»Nehmen Sie Platz«, sagte der Mann und setzte sich. »Und nennen Sie mich Matthias.«

Sie achtete darauf, gerade zu sitzen, und dachte darüber nach, was die anderen Gäste wohl von diesem stocksteifen Duett halten mochten. Vielleicht glaubten sie, es handele sich um das Gründungstreffen des Vereins für Menschen mit Stahlschienen in der Wirbelsäule.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte der Mann Dóra höflich auf Deutsch. Der Kellner verstand offenbar, was er gesagt hatte, denn er wendete sich zu Dóra und wartete auf die Bestellung.

»Ein Wasser bitte. Mineralwasser.« Sie erinnerte sich daran, wie verrückt die Deutschen auf Mineralwasser waren. Allerdings wurde es auch in Island immer beliebter – vor zehn Jahren wäre niemand mit gesundem Menschenverstand auf die Idee gekommen, in einem Restaurant für ein Glas Wasser zu bezahlen. Es floss ja schließlich unablässig aus dem Wasserhahn. »Ich nehme an, Sie haben mit meinen Arbeitgebern gesprochen, oder besser gesagt mit Frau Guntlieb?«, fragte Matthias Reich, als der Kellner gegangen war.

»Ja. Sie hat mir gesagt, Sie würden mir nähere Informationen geben.«

Er zögerte und leerte sein mit einer klaren Flüssigkeit gefülltes Glas. Die Luftbläschen gaben zu erkennen, dass er ebenfalls Mineralwasser bestellt hatte. »Ich habe eine Mappe mit Material für Sie zusammengestellt. Die können Sie mitnehmen und später durchsehen, aber es gibt noch ein paar Dinge, die ich jetzt mit Ihnen besprechen möchte, wenn Ihnen das recht ist.«

»Selbstverständlich«, antwortete Dóra ohne Zögern. Bevor Matthias fortfahren konnte, sagte sie: »Ich möchte unter anderem gern etwas mehr über die Leute wissen, für die ich arbeiten werde. Das spielt vielleicht für die Ermittlung keine Rolle, aber es ist mir wichtig. Frau Guntlieb nannte eine sehr beachtenswerte Summe als Honorar. Ich habe kein Interesse daran, das Schicksal der Familie auszunutzen, falls sie sich das nicht leisten kann.«

»Sie kann sich das leisten«, entgegnete er und grinste. »Herr Guntlieb ist Direktor und Hauptteilhaber der Anlagenbestand-Bank in Bayern. Die Bank ist nicht überregional tätig, hat aber wichtige Firmenkunden und sehr wohlhabende Privatkunden. Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Ich verstehe«, sagte Dóra und wusste nun auch, warum ein Dienstmädchen ans Telefon gegangen war.

»Mit ihren Kindern haben die Guntliebs hingegen weniger Glück gehabt. Sie hatten vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter. Der ältere Sohn starb vor zehn Jahren bei einem Autounfall und die ältere Tochter war von Geburt an schwer behindert. Vor ein paar Jahren riss die Krankheit sie in den Tod. Jetzt ist ihr Sohn Harald ermordet worden, und die jüngste Tochter, Elisa, ist die Einzige, die sie noch haben. Das hat Herrn und Frau Guntlieb sehr mitgenommen, wie Sie sich bestimmt vorstellen können.«

Dóra nickte und fragte dann zögernd: »Was hat Harald nach Island verschlagen? Ich dachte, es gäbe in Deutschland eine Menge guter Universitäten für Historiker.«

Nach Matthias’ Gesichtsausdruck zu schließen, der ansonsten völlig unbewegt gewesen war, handelte es sich um eine schwierige Frage. »Ich weiß es nicht genau. Er hatte Interesse am 17. Jahrhundert, und ich habe herausgefunden, dass er sich auf einem bestimmten Gebiet mit vergleichenden Forschungen zwischen dem europäischen Festland und Island beschäftigt hat. Er kam über ein Austauschprogramm zwischen der Universität München und der Universität Islands hierher.«

»Welche Art vergleichende Forschungen? Ging es um Regierungsformen oder so etwas?«, fragte Dóra.

»Nein, es lag mehr auf dem Gebiet der Religion.« Er nahm einen Schluck Wasser. »Wir sollten vielleicht erst bestellen, bevor wir das vertiefen.« Er winkte dem Kellner, der mit zwei Speisekarten erschien.

»Religion, sagen Sie.« Sie überflog die Karte. »Welche Religion?«

Matthias legte die aufgeschlagene Speisekarte auf den Tisch. »So etwas bespricht man eigentlich nicht beim Essen, aber ich denke, wir müssen es früher oder später tun. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Haralds Studieninteressen etwas mit dem Mord zu tun haben.«

Dóra runzelte die Stirn. »Ging es vielleicht um eine Pest?«, fragte sie. Das war das Einzige, was ihr in den Sinn kam.

»Nein, keine Pest.« Er schaute ihr in die Augen. »Hexenverfolgung. Folter und Hinrichtungen. Nicht besonders angenehm. Leider hat sich Harald sehr dafür interessiert. Dieses Interesse liegt sogar in der Familie.«

Dóra nickte. »Ich verstehe.« Im Grunde verstand sie gar nichts. »Vielleicht sollten wir das lieber nach dem Essen besprechen.«

»Das ist eigentlich gar nicht nötig. Die wichtigsten Punkte stehen in der Mappe.« Er nahm die Speisekarte wieder zur Hand. »Später gebe ich Ihnen auch ein paar Kisten mit Haralds persönlichen Dingen, die ich von der Polizei bekommen habe. Darunter befindet sich auch aufschlussreiches Material zu seiner Masterarbeit. Ich warte außerdem auf seinen Computer und andere Dinge, die möglicherweise Hinweise geben können.«

Sie studierten schweigend die Speisekarte.

»Fisch«, bemerkte Matthias, ohne aufzuschauen. »Sie essen hier ja viel Fisch.«

»Ja, das tun wir«, war das Einzige, was Dóra darauf einfiel.

»Ich mag keinen Fisch«, erklärte er.

»Wirklich nicht?« Dóra schloss die Speisekarte. »Ich esse sehr gern Fisch und ich glaube, ich nehme die gebratene Scholle.«

Schließlich entschied er sich für eine Quiche. Als der Kellner wieder gegangen war, fragte Dóra, wieso die Familie davon ausging, dass die Polizei den falschen Mann verhaftet hatte.

»Das hat verschiedene Gründe. Erstens hätte Harald seine Zeit nicht damit verschwendet, sich mit irgendeinem Drogendealer zu streiten.« Er blickte ihr in die Augen. »Harald nahm ab und zu Drogen; das ist bekannt. Alkohol getrunken hat er auch. Er war jung. Aber er war weder drogen- noch alkoholabhängig.«

»Das kommt natürlich drauf an, wie man es definiert«, entgegnete Dóra. »Für mich bedeutet regelmäßiger Drogenkonsum Abhängigkeit.«

»Ich weiß ziemlich viel über Drogenmissbrauch.« Matthias verstummte, beeilte sich aber dann zu sagen: »Nicht aus eigener Erfahrung, sondern durch meine Arbeit. Harald war nicht abhängig – er war zweifellos dabei, es zu werden, aber er war nicht abhängig, als er ermordet wurde.«

Dóra stellte fest, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, warum dieser Mann nach Island geschickt worden war. Wohl kaum, um sie zum Mittagessen einzuladen und sich über isländischen Fisch zu beschweren. »Was genau ist Ihre Tätigkeit für diese Familie? Frau Guntlieb erwähnte, Sie arbeiteten für ihren Mann.«

»Ich kümmere mich um Sicherheitsfragen der Bank. Das beinhaltet unter anderem die Überprüfung der Lebensläufe zukünftiger Mitarbeiter und die Kontrolle verschiedener Sicherheitsbestimmungen in der Firma und bei den Finanzgeschäften.«

»Dabei haben Sie wohl kaum mit Drogen zu tun?«

»Nein. Damit meinte ich meinen vorherigen Job. Ich war zwölf Jahre lang bei der Münchner Kriminalpolizei.« Er schaute ihr direkt ins Gesicht. »Ich weiß einiges über Mordfälle und habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass bei dieser Morduntersuchung geschlampt wurde. Ich musste den Ermittlungsleiter nur ein paar Mal treffen, um festzustellen, dass er keinen blassen Schimmer davon hat, was er tut.«

»Wie heißt er?«

Dóra verstand, wen er meinte, obwohl seine Aussprache ziemlich merkwürdig war. Árni Bjarnason. Sie seufzte. »Ich kenne ihn von anderen Fällen. Er ist ein furchtbarer Idiot. Wirklich ungeschickt, ihm die Ermittlung zu übergeben.«

»Es gibt auch noch andere Gründe, warum die Familie glaubt, dass der Drogendealer nichts mit dieser grausamen Tat zu tun hat.«

Dóra schaute auf. »Und welche Gründe sind das?«

»Kurz vor seinem Tod hat Harald eine große Summe Geld von einem Bankkonto abgehoben, das auf seinen Namen läuft. Man hat nicht herausgefunden, was mit dem Geld passiert ist. Es war wesentlich mehr, als Harald für Drogen gebraucht hätte, selbst wenn er sich die nächsten Jahre hätte zudröhnen wollen.«

»War er vielleicht in Drogentransporte verwickelt?«, fragte Dóra und fügte hinzu: »Finanzierung von Drogenschmuggel oder so was?«

Matthias schnaubte. »Ausgeschlossen. Harald brauchte kein Geld. Er war sehr wohlhabend. Sein Großvater hat ihm ein Vermögen vererbt.«

»Ich verstehe.«

»Die Polizei konnte nicht beweisen, dass der Dealer Geld entgegengenommen hat. Das Einzige, was man über Haralds Verbindung zur Drogenszene herausgefunden hat, ist, dass er ab und zu Haschisch gekauft hat.«

Das Essen wurde serviert und sie aßen schweigend. Dóra war ein bisschen verlegen. Mit diesem Mann konnte man nicht gut schweigen. Andererseits hatte Smalltalk ihr nie gelegen, selbst wenn die Stille beklemmend war. Deshalb beschloss sie, lieber den Mund zu halten.

Sie bestellten Kaffee und kurz darauf wurden zwei dampfende Tassen, eine Zuckerdose und ein silbernes Milchkännchen an den Tisch gebracht.

Dóra nippte an ihrem Kaffee und unterbrach dann die Stille. »Haben Sie einen Vertrag, den ich mir anschauen kann?«

Der Mann reckte sich nach einer Aktentasche, die auf dem Stuhl lag, und holte eine dünne Mappe hervor. Er reichte sie Dóra über den Tisch. »Nehmen Sie den Vertrag mit. Wir können morgen die Punkte durchgehen, die Sie ändern wollen. Ich gebe Ihre Anmerkungen dann an Familie Guntlieb weiter. Es ist ein fairer Vertrag und ich glaube nicht, dass Sie viel daran ändern möchten.« Er bückte sich erneut und holte eine zweite, dickere Mappe hervor, die er zwischen sie auf den Tisch legte. »Nehmen Sie das auch mit. Das ist die Mappe, die ich eben erwähnt habe. Es wäre mir wichtig, dass Sie die Unterlagen durchsehen, bevor Sie sich entscheiden. Der Fall hat sehr unangenehme Seiten und ich möchte, dass Ihnen das vorher klar ist.«

»Glauben Sie, damit würde ich nicht zurechtkommen?«, fragte Dóra ein klein wenig beleidigt.

»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Deshalb bitte ich Sie, die Mappe durchzusehen. Darin befinden sich ziemlich unappetitliche Fotos vom Tatort und alle möglichen Erläuterungen, die auch nicht unbedingt nett sind. Es ist mir gelungen, mit Hilfe einer Person, deren Namen ich nicht nennen möchte, an verschiedene Beweisstücke zu kommen.«

Er legte seine Hand auf die Mappe.

»Hier drin sind auch Informationen über Haralds Leben. Sie sind streng vertraulich und nichts für zart Besaitete. Ich vertraue darauf, dass Sie diese Fakten für sich behalten, falls Sie beschließen sollten, den Fall nicht anzunehmen. Die Familie möchte nicht, dass das hier an die Öffentlichkeit gelangt.«

Er nahm die Hand von der Mappe und schaute Dóra in die Augen. »Ich möchte das Unglück der Familie nicht noch verschlimmern.«

»Ich verstehe«, antwortete Dóra. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht über meine Arbeit … tratsche.« Sie fixierte ihn und fügte bestimmt hinzu: »Niemals.«

»Gut.«

»Aber da Sie all dies schon zusammengetragen haben – wofür brauchen Sie mich da noch? Sie scheinen Zugang zu Informationen zu haben, die ich sicher nicht bekommen würde.«

»Möchten Sie wissen, warum wir Sie brauchen?«

»Ich glaube, das habe ich gerade gesagt«, konterte Dóra.

Er atmete hektisch durch die Nase. »Ich will Ihnen sagen, warum. Ich bin Ausländer in diesem Land und außerdem Deutscher. Wir müssen mit verschiedenen Leuten sprechen, die mir niemals etwas Wichtiges anvertrauen würden. Ich habe nur ein bisschen an der Oberfläche gekratzt und die meisten Informationen über Haralds Privatleben in Deutschland erhalten. Ich bin kein Mann, mit dem man gern über unangenehme und heikle Privatangelegenheiten spricht.«

»Ja, das ist mir klar«, rutschte es Dóra heraus.

Der Mann lächelte zum ersten Mal. Es überraschte Dóra, wie schön sein Lächeln war, offen und ehrlich, trotz seiner unnatürlich weißen, geraden Zähne. Sie musste zurücklächeln, fügte dann aber irritiert hinzu: »Über welche unangenehmen Dinge soll ich denn mit den Leuten reden?«

Sein Lächeln verschwand so schnell, wie es erschienen war. »Sexuelle Würgespiele, Folter, Okkultismus, Misshandlungen des eigenen Körpers und andere abnorme Verhaltensweisen ernsthaft geschädigter Personen.«

Dóra erstarrte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, worauf das alles hinausläuft.« Von sexuellen Würgespielen hatte sie noch nie etwas gehört – wenn Würgespiele etwas mit erwürgen zu tun hatten, dann würde sie nichtsexuelle Spiele vorziehen, die einzigen, die sie zurzeit praktizierte.

Als sein Lächeln zum zweiten Mal erschien, war es nicht mehr ganz so charmant wie zuvor. »Oh, das werden Sie schon noch herausfinden. Haben Sie da mal keine Sorge.«

Sie tranken ihren Kaffee, ohne weitere Worte zu wechseln, und dann nahm Dóra die Mappe und machte sich bereit, wieder zurück in die Kanzlei zu gehen. Sie verabredeten sich für den darauffolgenden Tag und verabschiedeten sich.

Als Dóra gerade den Tisch verlassen wollte, legte er seine Hand auf ihren Arm.

»Noch eine Sache, Frau Guðmundsdóttir.«

Sie drehte sich um.

»Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, warum ich davon überzeugt bin, dass der Mann, den die Polizei verhaftet hat, nicht der Mörder ist.«

»Warum?«

»Man hat Haralds Augen nicht bei ihm gefunden.«

3. KAPITEL

Dóra hatte normalerweise keine Angst vor Taschendieben, aber auf dem Rückweg von ihrer Besprechung mit Matthias hielt sie ihre Tasche fest umklammert. Sie wollte sich nicht ausmalen, wie es wäre, den Mann anrufen und ihm mitzuteilen zu müssen, die Unterlagen seien gestohlen worden. Sie war froh, als sie die Tür zur Anwaltskanzlei öffnete.

Schwerer Zigarettenqualm schlug ihr entgegen. »Bella, du weißt doch, dass hier Rauchverbot ist.«

Bella hechtete vom Fenster weg und ließ hektisch etwas fallen. »Ich hab nicht geraucht.« Während sie dies sagte, kräuselte sich ein sehr schmaler Rauchstreifen aus ihrem Mundwinkel.

Dóra stöhnte innerlich. »Ach so, dann steht wohl nur dein Mund in Flammen. Mach das Fenster zu und rauch in der Kaffeestube. Das ist gesünder, als aus dem Fenster zu hängen.«

»Ich hab nicht geraucht, ich hab Tauben vom Fensterbrett verscheucht«, protestierte Bella beleidigt. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, ohne Dóra anzuschauen.

Dóra beschloss, es gut sein zu lassen. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es wenig Sinn hatte, sich mit dem Mädchen zu streiten. Sie ging in ihr Büro und schloss die Tür.

Die prall gefüllte Mappe, die Matthias ihr gegeben hatte, war schwarz, was in Anbetracht ihres Inhalts auf gewisse Weise passend war. Der Ordner war nicht beschriftet. Es wäre ja auch schwierig gewesen, einen geschmackvollen Titel zu finden. »Leben und Tod des Harald Guntlieb«, murmelte Dóra vor sich hin, als sie die Mappe öffnete und das ordentlich angelegte Inhaltsverzeichnis betrachtete. Die Mappe war mit Trennblättern in sieben Abschnitte unterteilt, in chronologischer Reihenfolge: Deutschland, Wehrdienst, Universität München, Universität Islands, Kontoauszüge, polizeiliche Ermittlung. Der siebte und letzte Abschnitt trug den Titel Obduktion. Sie beschloss, die Mappe chronologisch durchzuarbeiten. Sie schaute auf die Uhr; es war kurz vor zwei. Sie würde es kaum schaffen, sich alles bis fünf Uhr anzusehen. Dann musste sie ihre Tochter Sóley vom Hort abholen. Sie musste sich beeilen. Dóra stellte die Weckfunktion ihres Handys auf Viertel vor fünf. Sie nahm sich vor, bis dahin die wichtigsten Dokumente in der Mappe überflogen zu haben. Sie wollte die Unterlagen ungern mit nach Hause nehmen, obwohl das nicht selten vorkam, wenn viel zu tun war. Der Inhalt dieses Ordners war zweifellos nicht dazu geeignet, in einem Haushalt mit Kindern herumzuliegen. Sie blätterte das erste Trennblatt um und begann mit der Arbeit.

Das erste Blatt war eine beglaubigte Kopie der Geburtsurkunde. Darin stand, dass Frau Amelia Guntlieb am 18. Juni 1978 in München einen gesunden Sohn zur Welt gebracht hatte. Als Vater war Herr Johannes Guntlieb, Bankdirektor, angegeben. Dóra kannte das Krankenhaus nicht. Dem Namen nach handelte es sich nicht um eines der großen städtischen Krankenhäuser, und sie vermutete, es war ein kostspieliges Privatkrankenhaus oder Geburtshaus für gut Betuchte.

Dóra blätterte weiter.

Die nächsten Seiten waren Plastikhüllen mit jeweils vier Fächern. In jedem Fach befand sich ein Foto; die meisten zeigten die Familie Guntlieb bei verschiedenen Gelegenheiten. Zu jedem Foto gehörte ein weißer Papierstreifen mit den Namen der abgebildeten Personen. Als Dóra auf die Schnelle alle Fotos durchblätterte, stellte sie eine Gemeinsamkeit fest: Harald war auf jedem Foto. Neben den Familienbildern gab es auch ein paar Schulfotos von Harald in verschiedenen Altersstufen, frisch gekämmt und herausgeputzt, wie es üblich ist. Dóra grübelte darüber nach, warum diese Fotos in der Mappe waren. Die einzige logische Begründung war, dass die Fotos sie daran erinnern sollten, dass der Ermordete einmal lebendig gewesen war. Sie erfüllten ihren Zweck.

Auf den ersten und ältesten Bildern sah man einen kleinen, gepflegten Jungen, meist mit seinem Bruder, der etwa zwei bis drei Jahre älter war, oder seiner Mutter. Dóra registrierte, wie schön Amelia Guntlieb war. Obwohl die Fotos zum Teil ziemlich unscharf waren, konnte man gut erkennen, dass sie zu den wenigen Frauen gehörte, die immer hervorragend aussehen, auch wenn sie nicht viel dafür tun. Dóra musterte ein Bild von Mutter und Sohn genauer, auf dem Frau Guntlieb dem Jungen das Laufen beibrachte. Das Foto war im Garten aufgenommen worden. Frau Guntlieb hielt Harald an den Händen fest, während er auf die ungeschickte Art eines einjährigen Kindes versuchte zu laufen, ein Bein angewinkelt und nach oben gestreckt. Frau Guntlieb lächelte in die Kamera und ihr schönes Gesicht strahlte vor Glück. Die kühle Stimme, die Dóra am Telefon von der anderen Seite des Ozeans gehört hatte, passte nicht zu diesem Motiv. Der Junge war in dem Alter, in dem das Gesicht mit dicken Bäckchen, Stupsnase und Babyspeck noch nicht richtig geformt ist. Dennoch ließ sich eine wirklich deutliche Ähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn ausmachen.

Die nächsten Fotos zeigten Harald im Alter von zwei oder drei Jahren. Jetzt ähnelte er seiner Mutter noch mehr, hatte aber keine mädchenhaften Züge. Seine Mutter war auch auf den Fotos, zuerst schwanger, dann lächelnd, mit einem in dicke Tücher gewickelten Baby im Arm. Auf diesem Bild stand Harald neben dem Stuhl seiner Mutter und reckte sich nach oben, um einen Blick auf den Säugling, seine kleine Schwester, werfen zu können. Seine Mutter hatte ihm den Arm um die Schultern gelegt. Auf dem Zettel unter dem Foto sah Dóra, dass die Kleine nach der Mutter benannt worden war: Amelia, mit dem Zweitnamen Maria. Das musste das Mädchen sein, das an einer angeborenen Krankheit gestorben war. Dem Bild nach zu urteilen, hatte die Familie nicht von Anfang an von der Krankheit gewusst. Die Mutter schien überglücklich und sorglos zu sein. Auf den nächsten Fotos hatte sich jedoch etwas verändert. Frau Guntlieb wirkte abwesend und traurig, ihre Augen waren ausdruckslos. Es gab auch keinen Körperkontakt zwischen ihr und Harald wie auf den früheren Fotos. Der kleine Junge wirkte niedergeschlagen und hilflos. Das Mädchen war nirgends zu sehen.

Dann schien ein Teil der Familiengeschichte zu fehlen, denn die nächsten Bilder waren mindestens fünf Jahre später aufgenommen. Dieser Abschnitt begann mit einem gestellten Familienfoto, das erste, auf dem Herr Guntlieb zu sehen war. Er sah würdevoll aus und war deutlich älter als seine Frau. Alle hatten sich fein herausgeputzt und ein Baby war hinzugekommen, das im Arm der Mutter lag. Dies war eindeutig die jüngste Tochter des Ehepaars, das einzige Kind, das noch lebte. Das kleine, kranke Mädchen war auch auf dem Bild; sie saß im Rollstuhl fixiert, ihr Kopf war zurückgeworfen und ihr Mund geöffnet. Ihr Unterkiefer hing schlaff zur Seite; sie schien ihn kaum unter Kontrolle zu haben. Das Gleiche galt für ihre Gliedmaßen; ein Arm war angewinkelt und die Hand unnatürlich gekrümmt. Ihre Finger waren verkrampft wie bei einer Klaue. Der andere Arm lag leblos in ihrem Schoß. Hinter dem Rollstuhl stand Harald, schätzungsweise acht Jahre alt. Sein Gesichtsausdruck war ganz anders als bei Dóras Kindern in diesem Alter. Die Trübsal des kleinen Jungen war ergreifend. Es musste etwas geschehen sein, und Dóra überlegte, ob sich ein so kleines Kind die Krankheit des Schwesterchens derart zu Herzen nehmen konnte. Vielleicht hatte Harald mit psychischen Problemen zu kämpfen, was bei Kindern nicht selten vorkam. Möglicherweise war der Kleine depressiv, weil die Konkurrenz mit den jüngeren Geschwistern um die Aufmerksamkeit der Eltern seine Kräfte überstieg. Falls das so war, wurde auf den nächsten Fotos deutlich, dass die Eltern damit überhaupt nicht umgehen konnten. Auf keinem der Bilder brachten sie dem Kind körperliche Zuneigung entgegen; der Junge hielt sich immer etwas abseits von der Familie, nur einige wenige Male stand sein Bruder neben ihm. Es war, als habe seine Mutter ihn einfach vergessen oder wolle ihn absichtlich ausgrenzen. Dóra ermahnte sich, nicht zu viel in die Fotos hineinzuinterpretieren. Sie waren lediglich Momentaufnahmen aus dem Leben dieser Menschen.

Es klopfte an der Tür und Bragi, der Miteigentümer und Gründer der Kanzlei, spähte herein. »Hast du zwei Minuten Zeit?«

Dóra nickte und Bragi trat ein. Er war fast sechzig und von großer, kräftiger Statur. Er war nicht nur hoch gewachsen, sondern sein ganzer Körper war massig. Dóra beschrieb ihn immer als insgesamt zwei Nummern zu groß, inklusive Finger, Ohren und Nase. Er ließ sich in den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs fallen und zog die Mappe, die Dóra gerade durchsah, zu sich herüber. »Wie war’s?«

»Die Besprechung? Ganz gut, glaube ich«, antwortete Dóra und beobachtete, wie Bragi lässig durch die Fotos blätterte, die sie gerade angeschaut hatte.

»Dieser Junge sieht ja furchtbar deprimiert aus«, kommentierte Bragi und tippte auf ein Foto von Harald. »Ist das etwa der Ermordete?«

»Ja«, entgegnete Dóra. »Ziemlich merkwürdige Fotos.«

»Nicht unbedingt. Du solltest mal Fotos aus meiner Kindheit sehen. Ich war ein trauriges Kind. Unglücklich und mit einem Wort: hoffnungslos.«

Dóra nahm ihn nicht ernst. Sie war alle möglichen Kuriositäten von Bragi gewöhnt. Das war bestimmt wieder eine Übertreibung, genau wie die Geschichte, dass er angeblich während seines Jurastudiums jede Nacht im Hafen und an den Wochenenden tagsüber auf Fischfangbooten gearbeitet hatte. Trotzdem kam sie gut mit ihm aus. Er war ihr stets wohlgesinnt und als er ihr vor drei Jahren vorgeschlagen hatte, gemeinsam eine Anwaltskanzlei zu eröffnen, hatte sie dankbar angenommen. Sie hatte damals in einer mittelgroßen Kanzlei gearbeitet und war heilfroh gewesen, dort wegzukommen. Sie vermisste es überhaupt nicht, an der Kaffeemaschine Gesprächen über Lachsangeln und Krawatten zu lauschen.