Das glühende Grab - Yrsa Sigurdardóttir - E-Book
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Das glühende Grab E-Book

Yrsa Sigurdardóttir

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Beschreibung

Auf den isländischen Westmännerinseln werden bei Ausgrabungen drei Leichen und ein abgetrennter Kopf gefunden. Sie liegen im Keller des Elternhauses von Markús Magnússon, das bei einem Vulkanausbruch vor mehr als dreißig Jahren verschüttet wurde. Da Markús die Ausgrabung vorher unbedingt verhindern wollte, steht er plötzlich unter Mordverdacht: Hat er als Jugendlicher drei Menschen getötet und verstümmelt? Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir glaubt an seine Unschuld. Doch dann wird eine weitere Leiche entdeckt ...

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Yrsa Sigurdardóttir

Das glühende Grab

Thriller

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Auf den isländischen Westmännerinseln werden bei Ausgrabungen drei Leichen und ein abgetrennter Kopf gefunden. Sie liegen im Keller des Elternhauses von Markús Magnússon, das bei einem Vulkanausbruch vor mehr als dreißig Jahren verschüttet wurde. Da Markús die Ausgrabung vorher unbedingt verhindern wollte, steht er plötzlich unter Mordverdacht: Hat er als Jugendlicher drei Menschen getötet und verstümmelt? Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir glaubt an seine Unschuld. Doch dann wird eine weitere Leiche entdeckt …

Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir ermittelt in ihrem dritten Fall.

 

YRSA SIGURDARDÓTTIR, geboren 1963, ist eine vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin, deren Thriller in über 30 Ländern erscheinen. Sie zählt zu den »besten

Kriminalautorinnen der Welt« (Times Literary Supplement). Sigurdardóttir lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Reykjavík. Sie debütierte 2005 mit »Das letzte Ritual«, der Erfolgs-Serie von Thrillern um die junge Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir. Bei btb erscheint mit dem Spiegel-Bestseller »DNA« und »SOG« außerdem die Serie um Kommissar Huldar und Kinderpsychologin Freyja.

 

YRSA SIGURDARDÓTTIR BEI BTBDas letzte Ritual. Thriller (71440) Das gefrorene Licht. Thriller (71441) Die eisblaue Spur. Thriller (71839) DNA. Thriller (71575) SOG. Thriller (71756)

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Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »ASKA« bei Veröld, Reykjavík.
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright der Originalausgabe © 2007 by Yrsa Sigurdardóttir Erstmals auf Deutsch erschienen 2008 im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. Covergestaltung: semper smile, München Covermotiv: © plainpicture/Tamboly; mauritius images mr Herstellung: scISBN 978-3-641-24528-3V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagwww.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightPROLOG1. KAPITEL
MONTAG 9. JULI 2007
2. KAPITEL
MONTAG 9. JULI 2007
3. KAPITEL
DIENSTAG 10. JULI 2007
4. KAPITEL
DIENSTAG 10. JULI 2007
5. KAPITEL
MITTWOCH 11. JULI 2007
6. KAPITEL
SAMSTAG 14. JULI 2007
7. KAPITEL
SONNTAG 15. JULI 2007
8. KAPITEL
SONNTAG 15. JULI 2007
9. KAPITEL
SONNTAG 15. JULI 2007
10. KAPITEL
MONTAG 16. JULI 2007
11. KAPITEL
MONTAG 16. JULI 2007
12. KAPITEL
DIENSTAG 17. JULI 2007
13. KAPITEL
DIENSTAG 17. JULI 2007
14. KAPITEL
DIENSTAG 17. JULI 2007
15. KAPITEL
MITTWOCH 18. JULI 2007
16. KAPITEL
MITTWOCH 18. JULI 2007
17. KAPITEL
MITTWOCH 18. JULI 2007
18. KAPITEL
DONNERSTAG 19. JULI 2007
19. KAPITEL
FREITAG 20. JULI 2007
20. KAPITEL
FREITAG 20. JULI 2007
21. KAPITEL
FREITAG 20. JULI 2007
22. KAPITEL
SAMSTAG 21. JULI 2007
23. KAPITEL
SAMSTAG 21. JULI 2007
24. KAPITEL
SAMSTAG 21. JULI 2007
25. KAPITEL
SAMSTAG 21. JULI 2007
26. KAPITEL
SAMSTAG 21. JULI 2007
27. KAPITEL
SAMSTAG 21. JULI 2007
28. KAPITEL
SAMSTAG 21. JULI 2007
29. KAPITEL
SAMSTAG 21. JULI 2007
30. KAPITEL
SONNTAG 22. JULI 2007
31. KAPITEL
SONNTAG 22. JULI 2007
32. KAPITEL
MONTAG 23. JULI 2007
33. KAPITEL
MONTAG 23. JULI 2007
34. KAPITEL
DIENSTAG 24. JULI 2007
35. KAPITEL
DIENSTAG 24. JULI 2007
36. KAPITEL
DIENSTAG 24. JULI 2007
37. KAPITEL
SAMSTAG 4. AUGUST 2007
38. KAPITEL
SAMSTAG 4. AUGUST 2007
PERSONEN DER HANDLUNG

 

 

 

 

 

Anmerkungen

 

Die isländischen Buchstaben werden wie folgt ausgesprochen:

Æ bzw. æwie ai in KaiserÐ bzw. ðwie englisches stimmhaftes th in thisÞ bzw. Þwie englisches stimmloses th in thick

Weil sich alle Isländer üblicherweise mit dem Vornamen anreden, wurde auch in dieser Übersetzung grundsätzlich die Du-Form gewählt.

 

 

 

 

 

Ich bedanke mich bei allen Einwohnern der Westmännerinseln, die mich während der Arbeit an diesem Buch unterstützt haben. An erster Stelle ist dies Kristín Jóhannesdóttir, die mir eine große Hilfe war. Sigurmundur Gisli Einarsson, Ólafur M. Kristinsson und Árni Johnsen sowie dem ehemaligen Insulaner Gisli Baldvinsson danke ich ebenfalls für ihre Hilfsbereitschaft. Keiner von ihnen ist Vorbild für die Personen in diesem Buch.

 

Ich widme dieses Buch meinem Verleger Petur Már Ólafsson, mit herzlichem Dank für die großartige Zusammenarbeit und seine unendliche Geduld.

Yrsa

PROLOG

Schon oft war ihr der Tod verlockend erschienen. Heute hatte sie jedoch gar nicht an ihn gedacht, was angesichts der Umstände ziemlich ungünstig war.

Wie flüchtig und unbedeutend das Leben letztlich doch war. Ihr Vater war der Anker der kleinen Familie gewesen, aber einen Monat nach seinem Tod hatte sie schon Schwierigkeiten gehabt, sich sein Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Und das, obwohl sie zu den engsten Angehörigen zählte. Wie schnell würden ihn da andere vergessen? Nachdem ihr Vater diese Welt und damit auch sie und ihre Schwester verlassen hatte, dachte niemand mehr an ihn. Es war, als hätte er nie einen Fuß auf die Erde gesetzt. Als sie nun ihrem eigenen Schicksal ins Auge sah, wurde ihr bewusst, dass ihre Vergangenheit niemals ans Licht kommen würde. Sie würde nie reinen Tisch machen können. Niemand würde die Ereignisse von damals erklären können. Ihr wurde schwarz vor Augen, aber sie konnte sich gerade noch bei Bewusstsein halten. Beim nächsten Mal wäre sie verloren.

Wenn sie doch nur klar denken könnte und nicht so erschöpft wäre. Dann könnte sie zumindest versuchen, sich zu wehren, anstatt einfach nur dazuliegen und alles über sich ergehen zu lassen. Sie wusste, dass ihr Medikamente verabreicht worden waren. Das erklärte den Dämmerzustand. Auf dem Nachttisch stand ein Pillenfläschchen, das sie nicht dorthin gestellt hatte: die starken Schmerztabletten, die man ihr nach dem letzten Eingriff mit nach Hause gegeben hatte. Das Fläschchen hatte monatelang unberührt in ihrem Medikamentenschrank gestanden. Undenkbar, dass sie selbst es herausgeholt und freiwillig eine größere Menge Tabletten geschluckt hatte. Vielleicht war ihr das Medikament ins Essen gemischt worden. Sie kannte den Geschmack der Pillen. Der Wein konnte ihn unmöglich überdeckt haben. Dieser ekelhafte Geschmack im Mund, nachdem sie erbrochen hatte, stammte nicht vom Alkohol. Sie würgte erneut und schloss die Augen, obwohl sie Angst hatte, sie nicht wieder öffnen zu können. Doch etwas Schweres prallte auf ihren Körper, sodass ihr die Luft wegblieb und sie instinktiv die Augen wieder aufriss. Im nächsten Moment legte ihr jemand eine eiskalte Hand über die Augen.

Ihr Herz schlug schneller. Eine andere Hand zwängte ihren Mund auf, und Finger tasteten darin herum. Hilflos strampelte sie mit den Beinen. Ihre Zunge wurde herausgezogen, und kurz darauf spürte sie einen stechenden Schmerz. Ein Brennen, wie von einer Spritze, kroch langsam über ihre Zunge. Anschließend presste ihr jemand die Hand auf die Nase.

Ihre Gedanken wurden immer schwammiger. War sie im Krankenhaus bei einem Arzt? Sie konnte nichts sehen und nichts riechen. Leise flüsterte jemand in ihr Ohr: Es ist bald vorbei – entspann dich. War das ein Arzt oder eine Krankenschwester? Angestrengt versuchte sie, sich daran zu erinnern, wer bei ihr gewesen war, sie wusste es, konnte sich aber unmöglich den Namen oder das Gesicht ins Gedächtnis rufen, sie hatte weder eine Vorstellung von dem Ort, an dem sie sich befand, noch wusste sie, wie viel Zeit vergangen war. War es Tag oder Nacht? War das alles wirklich passiert? Ihre Nase wurde freigegeben und ihr Mund wieder geöffnet, Finger drückten gegen ihre Zunge, die sich merkwürdig anfühlte. Sie versuchte, sie zu bewegen, aber es ging nicht. Hatte sie etwa einen Schlaganfall? Plötzlich drückten die Finger ihre Zunge fest in ihren Rachen. Wie sehr sie auch versuchte, dagegen anzukämpfen – ihre Zunge rührte sich nicht. Derjenige, der auf ihr saß, presste ihre Arme mit seinen Knien fest in die Matratze. Verzweifelt versuchte sie, sich an alles zu erinnern, was sie über Schlaganfälle wusste. Konnte ein Schlaganfall eine Lähmung der Zunge verursachen?

Gedämpftes Fluchen, wie in einem Tunnel, echote in ihrem Kopf. Sie versuchte zu sprechen, dachte, ihre Stimme würde so klingen wie beim Zahnarzt, aber es kam nur ein Stöhnen tief aus ihrer Bauchhöhle. Sie röchelte, als ihr die Zunge noch fester in die Kehle gepresst wurde, riss die Augen auf und starrte die vertraute Zimmerdecke an.

Die Finger ließen von ihr ab, und der Druck auf ihren Magen und ihre Arme verschwand. Sie verspürte noch nicht einmal Erleichterung, schnappte nur verzweifelt nach Luft. Wahnsinnig vor Angst, versuchte sie klar zu denken. Ihre Zunge steckte fest in ihrem Rachen und ließ sich nicht bewegen. Ihre Beine zuckten und trommelten auf die Matratze. Ihre Hände tasteten hinauf zu ihrem Hals und Mund, und ihre Fingernägel zerkratzten die weiche, glatte Haut.

Dann wurde alles schwarz, und sie ging, wie ihr Vater. Die Schreie, die so heftig versucht hatten, aus ihrem Körper zu dringen, waren verstummt. Ihr Kopf sank langsam zur Seite und blieb am Ende mit leeren Augen in einer Blutlache liegen. Einen Moment lang war alles still. Dann wurde der CD-Player auf dem Nachttisch eingeschaltet, und Musik erklang.

Kurz darauf schloss der Gast taktvoll die Schlafzimmertür.

1. KAPITEL

MONTAG 9. JULI 2007

»Markús wird doch wohl nicht den Keller aufräumen? Schon komisch, dass er unbedingt als Erster runterwollte – da ist doch nichts als Gerümpel.«

Dóra Guðmundsdóttir lächelte dem Archäologen Hjörtur Friðriksson, der schweigend neben ihr stand, höflich zu. Die Sache ging langsam wirklich zu weit. Dóra fühlte sich zunehmend unwohl; Brandgeruch und Asche reizten ihre Schleimhäute, und sie befürchtete, dass das Dach jeden Moment einstürzen würde. Auf dem Weg durchs Haus hatten sie an einer Stelle, wo das Dach nachgegeben hatte, einen riesigen Ascheberg auf dem Teppich umrunden müssen, bei dessen Anblick Dóra den Verschluss ihres Schutzhelms festgezurrt hatte. Nervös schaute sie auf die Uhr. Ein dumpfer Knall drang aus dem Keller. Was machte der Mann da bloß? Markús hatte gemeint, er bräuchte nur einen kurzen Moment, aber weder Dóra noch dem Archäologen war klar, wie er diese vage Zeitangabe definierte. »Er kommt bestimmt gleich«, sagte sie wenig überzeugt und musterte die kaputte Kellertür. Dann warf sie einen verstohlenen Blick auf die Zimmerdecke, bereit loszurennen.

»Mach dir keine Sorgen.« Hjörtur zeigte nach oben. »Wenn das Dach nicht mehr tragen würde, wäre es schon längst eingebrochen.« Er seufzte und strich sich über das unrasierte Kinn. »Hast du eine Ahnung, was er da eigentlich macht?«

Dóra verneinte. Sie wollte mit einem Unbeteiligten nicht über die Absichten ihres Mandanten spekulieren.

»Er muss doch irgendwas erzählt haben. Wir haben uns schon den Kopf darüber zerbrochen. Ich glaube, es hat was mit Pornos zu tun. Die anderen denken das auch.«

Dóra zuckte mit den Schultern. Daran hatte sie natürlich auch schon gedacht. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, was so heikel sein mochte, dass es keinem Unbekannten in die Hände fallen durfte. Ein Kurzfilm mit einer Bettszene von den Herrschaften des Hauses? Wohl kaum. In den 70ern hatte fast niemand eine Filmkamera besessen. Außerdem war es fraglich, ob solche Filme die Katastrophe unbeschadet überstanden hätten. Und Markús Magnússon war gerade mal fünfzehn gewesen, als das Haus unter Lava und Asche begraben worden war. Trotzdem musste es einen triftigen Grund dafür geben, warum er unbedingt als Erster in den Keller wollte. Dóra seufzte. Warum musste sie sich immer wieder mit solchen Spinnern rumschlagen? Sie kannte keinen Anwalt, der so viele skurrile Fälle und Mandanten hatte wie sie. Sie nahm sich vor, Markús zu fragen – falls er jemals wieder aus dem Keller auftauchte –, warum er ausgerechnet ihre kleine Kanzlei ausgewählt hatte, als er die Ausgrabungen gerichtlich verbieten lassen wollte. Sie steckte die Nase in ihren Rollkragenpulli und versuchte, durch den Stoff zu atmen. Schon besser. Hjörtur grinste.

»Glaub mir, man gewöhnt sich dran. Dauert allerdings ein paar Tage.«

Dóra verdrehte die Augen. »Er will sich doch wohl verdammt nochmal nicht häuslich da unten niederlassen«, murmelte sie in ihren Pulli. Dann zog sie den Kragen herunter und lächelte Hjörtur an. Es war ihm zu verdanken, wie gut es bis jetzt gelaufen war und dass sie um eine einstweilige Verfügung herumgekommen waren – was so oder so nur von kurzem Erfolg gekrönt gewesen wäre, da Markús und seine Familie keinen Anspruch mehr auf das Haus hatten. Es war samt Inhalt im Besitz der Stadt Vestmannæyjabær; darüber brauchte man gar nicht zu diskutieren, obwohl Markús es versucht hatte. In erster Linie hatte er sich mit Hjörtur Friðriksson herumgestritten, der nun neben Dóra stand. Er war Leiter des Projekts Pompeji des Nordens, bei dem mehrere Häuser ausgegraben wurden, die 1973 beim Vulkanausbruch in Heimæy von Asche verschüttet worden waren. Dóra hatte sich telefonisch und per E-Mail bereits ausführlich mit dem Mann ausgetauscht und konnte ihn gut leiden. Er brauchte zwar ziemlich lange, bis er zum Punkt kam, war aber kooperativ und hatte sich auch nicht aus der Ruhe bringen lassen, als sich Markús ihm gegenüber mehrfach unverschämt verhalten hatte. Dóras Mandant hatte sich geweigert, Gründe anzugeben, warum er gegen die Ausgrabung seines Elternhauses war, hatte permanent über die Unantastbarkeit der Privatsphäre schwadroniert und den Fall in jeglicher Hinsicht verkompliziert. Irgendwann hatte Dóra Hjörtur entnervt gefragt, ob er nicht einfach irgendein anderes Haus ausgraben könnte, es waren ja schließlich genug da. Aber das kam nicht in Frage, da Markús’ Elternhaus eines der wenigen Betonhäuser vor Ort war und die Katastrophe deshalb besser überstanden hatte als andere. Es war schließlich nicht Sinn der Sache, Ruinen auszubuddeln.

Bei Dóras Recherchen, wie sich die Ausgrabung durch eine einstweilige Verfügung stoppen lassen könnte, hatte sich herausgestellt, dass es Markús nur um den Keller ging. Also hatte Hjörtur den Vorschlag gemacht, das Haus sollte ausgegraben und durchlüftet werden, und anschließend dürfte Markús als Erster den Keller betreten und alles daraus mitnehmen, was er wollte.

Und nun standen sie da, der Archäologe und die Rechtsanwältin, und starrten die kaputte Kellertür an, während der Mann, der 1973 noch ein Teenager gewesen war, eine Etage tiefer mit einem schrecklichen Geheimnis kämpfte.

»Na endlich!« Dóra hörte Schritte auf der Kellertreppe.

»Hoffentlich hat er auch alles gefunden«, sagte Hjörtur zaghaft, »was passiert, wenn er mit leeren Händen wieder raufkommt?«

Dóra schaute zur Tür.

Gespannt beobachteten sie, wie sich die Türklinke bewegte. Aber die Tür öffnete sich nur einen winzigen Spalt. Verwundert schauten sich die beiden an. »Markús«, sagte Dóra ruhig, »stimmt was nicht?«

»Kannst du mal kommen?«, erklang eine dumpfe Stimme von der anderen Seite der Tür. Der schwache Schein seiner Taschenlampe schoss plötzlich über den Boden und fiel auf Dóras Füße.

»Ich? Ich soll da runterkommen?« Sie warf Hjörtur einen verständnislosen Blick zu.

»Ja«, antwortete Markús mit einem seltsamen Tonfall. »Ich bräuchte mal deine Einschätzung.«

»Meine Einschätzung?«, wiederholte Dóra, um Zeit zu schinden.

»Ja. Juristisch.«

»Ich kann dir jederzeit meine Einschätzung geben, Markús. Mit uns Rechtsanwälten verhält es sich allerdings so, dass wir nicht alles, womit wir uns beschäftigen, am eigenen Leib erleben müssen. Es gibt keinen Grund, mit dir da runterzuklettern. Sag mir, worum es geht, und ich gebe dir eine schriftliche Beurteilung in meinem Büro.«

»Du musst mitkommen. Ich brauche keine schriftliche Beurteilung. Eine mündliche genügt.« Er schwieg einen Moment. »Bitte. Komm kurz runter.« Markús’ Stimme hatte noch nie so sanft geklungen – ganz anders als seine übliche Arroganz und Großspurigkeit.

Hjörtur wirkte nicht gerade begeistert, nickte ihr aber zu. Dóra zögerte. Sie hatte nicht die geringste Lust auf noch mehr Dunkelheit und Mief, aber sie mussten die Sache hier und jetzt abschließen. Dóra riss sich zusammen. »Na gut.« Hjörtur gab ihr seine Taschenlampe. »Ich komme mit runter.« Dóra öffnete die Tür so weit, dass sie durch den Spalt passte. Markús stand leichenblass auf der Treppe, und der Schein ihrer Taschenlampen tauchte alles in ein gespenstisches Licht. Sie schluckte. Hier war es noch stickiger und staubiger. »Was willst du mir zeigen? Beeil dich.«

Markús stieg die Treppe hinab in die Finsternis. Der Schein seiner Taschenlampe konnte gegen den Staub und die Asche nicht viel ausrichten, sodass das Ende der Treppe nicht zu sehen war. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Markús wirkte unnatürlich ruhig. »Du musst mir glauben, dass ich nicht hergekommen bin, um das … – Dóra, du musst die Ausgrabung unbedingt stoppen und das Haus wieder zuschütten lassen.«

Dóra beleuchtete ihre Füße mit der Taschenlampe. Sie wollte auf keinen Fall auf der Treppe ausrutschen und kopfüber in den Keller stürzen. »Ist es etwas, wovon du nichts wusstest?«

»Ja, könnte man so sagen. Wenn ich das hätte verbergen wollen, hätte ich eine Ausgrabung niemals zugelassen. Das kannst du mir glauben.« Markús war auf dem Kellerfußboden angelangt. »Ich glaube, jetzt sitze ich wirklich in der Klemme.«

Dóra nahm die letzte Treppenstufe und stellte sich neben ihn. »Was meinst du denn?«, fragte sie und leuchtete in alle Richtungen. Das Wenige, was sie erkennen konnte, schien völlig harmlos zu sein: ein alter Schlitten, ein verbeulter Vogelkäfig, unzählige Kisten und jede Menge mit Ruß und Staub überzogener Krempel.

»Komm mit.« Markús führte sie zu einer Trennwand und richtete seine Taschenlampe auf den Boden.

Dóra kniff die Augen zusammen, konnte aber nur drei graue Aschehaufen erkennen und ließ den Schein ihrer Taschenlampe darüberwandern. Es dauerte eine Weile, bis es ihr dämmerte – woraufhin ihr fast die Taschenlampe aus der Hand gerutscht wäre. »Um Gottes willen.« Automatisch richtete sie das Licht auf die drei Gesichter, eins nach dem anderen. Eingefallene Wangen, tiefe Augenhöhlen, weit geöffnete Münder, wie Mumien. »Was sind das für Leute?«

»Ich weiß es doch auch nicht!«, sagte Markús entgeistert. »Spielt das eine Rolle? Jedenfalls sind sie schon ziemlich lange tot.« Er hielt sich die Nase zu, obwohl kein Leichengeruch in der Luft lag, verzog das Gesicht und schaute weg.

Dóra hingegen konnte ihren Blick nicht von den Leichen abwenden. Markús hatte vollkommen recht: Es sah alles andere als gut für ihn aus. »Was, bitteschön, wolltest du denn verbergen, wenn nicht das hier?«, fragte sie und fügte hastig hinzu: »Das Haus zuschütten zu lassen, so als wäre nichts passiert, kannst du vergessen!« Warum war immer alles so kompliziert? Hätte der Mann nicht einfach mit einem Arm voller verstaubter Pornofilme aus dem Keller kommen können? Sie richtete ihre Taschenlampe auf Markús. »Jetzt sag schon.« Ihr war unwohl zumute, seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war es nichts Amüsantes. »Schlimmer als das kann’s ja nicht sein.«

Markús schwieg einen Moment. Dann räusperte er sich und beleuchtete eine Stelle direkt neben ihnen. »Ich kann das alles erklären«, sagte er, ohne hinzuschauen.

»Das ist ja …« Dóra ließ ihre Taschenlampe fallen.

2. KAPITEL

MONTAG 9. JULI 2007

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich mich darüber freuen soll, dass euer merkwürdiger Körperteile- und Leichenfund ausgerechnet jetzt stattfindet – kurz bevor ich aufhöre.« Der Polizist schaute von einem zum anderen. Dóra Guðmundsdóttir, der Archäologe Hjörtur Friðriksson und Dóras Mandant Markús Magnússon lachten nervös. Sie befanden sich auf der Polizeiwache der Insel, wo sie unendlich lange auf den Polizeichef, der nun vor ihnen saß, hatten warten müssen. Offenbar hatte er den Keller inspiziert, weil er vor ihrem Gespräch mit eigenen Augen sehen wollte, worum es sich handelte. »Ich stehe kurz vor der Rente«, fügte Guðni Leifsson hinzu. »Nach fast vierzig Jahren Dienst.« Er verschränkte die Arme. »Das soll mir mal einer nachmachen.« Dóra versuchte krampfhaft, Interesse für seine bemerkenswerte Laufbahn aufzubringen, aber es gelang ihr nicht. Am liebsten hätte sie nach der Uhrzeit gefragt, da sie die letzte Maschine nach Reykjavík nicht verpassen durfte. Der Polizeichef nickte bedächtig und schnalzte mit der Zunge. »So was habe ich jedenfalls noch nie gesehen.« Er schmunzelte. »Vielleicht spielt das Schicksal der Behörde in Reykjavík ja einen bösen, bösen Streich?«

Dóra hob die Braue und fragte, obwohl sie dieses seltsame Verhör auf keinen Fall in die Länge ziehen wollte: »Inwiefern?«

»Wundert mich nicht, dass du das fragst. Reykjavíker Anwälte interessieren sich anscheinend nicht für das, was hier in der Einöde passiert.« Der alte Mann sah sie tadelnd an. »Vor kurzem wurde die hiesige Kripo-Behörde aus Spargründen aufs Festland verlegt. Offenbar waren die Verbrechen hier zu unbedeutend, um die Kosten zu rechtfertigen.« Er lächelte in die Runde. »Bis jetzt.« Er schaute Markús fest in die Augen und sprach dann weiter: »Drei Leichen und ein Kopf.« Wieder schnalzte er. »Du warst ja schon als kleiner Junge zu schlechten Scherzen aufgelegt, mein lieber Markús, aber das ist nun wirklich zu viel des Guten. Ziemlich großer Sprung vom Rhabarberdiebstahl zum Massenmord!«

Markús beugte sich vertraulich vor. »Ich schwöre, dass ich nichts über diese Leichen weiß. Ich habe nichts damit zu tun.« Selbstsicher lehnte er sich wieder im Stuhl zurück und wischte etwas Staub von seinem Jackenärmel.

Dóra stöhnte innerlich. Bevor Markús erzählen konnte, er habe den Kopf nur unwesentlich bewegt, ergriff sie das Wort. »Bevor wir weiterreden, würde ich gerne wissen, ob das ein offizielles Verhör sein soll.« Sie erwähnte nicht, dass es in diesem Fall ziemlich heikel wäre, sie gemeinsam zu verhören, vor allem Markús und Hjörtur. Ihre Interessen waren völlig entgegengesetzt. »Falls dem so ist, möchte ich als Markús’ Anwältin meine Zweifel an dieser Vorgehensweise äußern.«

Polizeichef Guðni sog Luft zwischen den Zähnen ein, so als wolle er die Zwischenräume säubern. »Gut möglich, dass in Reykjavík andere Sitten herrschen, Frau Anwältin«, sagte er kühl. »Da läuft vermutlich alles nach Vorschrift. Aber hier habe ich das Sagen. Und wenn ich ein bisschen mit euch plaudern will, dann tue ich das auch. Das schadet niemandem. Zuallerletzt deinem Mandanten.« Er lächelte Dóra mit kalten Augen an. »Es sei denn, du glaubst, dass er etwas auf dem Kerbholz hat. Diese Leichen scheinen ziemlich betagt zu sein. Vielleicht hat er die seinerzeit, als er noch ein grüner Junge war, alle umgebracht.« Er räusperte sich lautstark. »Ich habe das Gefühl, dass dem nicht so ist. Ich denke, es gibt eine vernünftige Erklärung, und hoffe, dass wir die ohne große Formalitäten finden können. Das wird mir ja wohl niemand übelnehmen!«

Dóra legte Markús beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Bevor wir weiterreden, möchte ich mit meinem Mandanten sprechen. Und anschließend wird alles nach Vorschrift laufen, damit das klar ist.«

Guðni zuckte mit den Achseln. Für sein Alter sah er noch gut aus, schlank und mit vollem Haar. Dóra fand, dass er Clint Eastwood unglaublich ähnlich sah, und hätte ihm am liebsten einen Zahnstocher in den Mundwinkel gesteckt, um das Bild perfekt zu machen. Er fixierte sie einen Moment lang, so als wüsste er, woran sie gerade dachte, und wandte sich dann an Markús, der wie erstarrt neben ihr saß. »Möchtest du das, mein lieber Markús?«

Markús rutschte nun nervös auf seinem Stuhl herum. Vor ihm saß eine Autoritätsperson aus seiner Jugend, die sich daran erinnerte, wie er Gemüse aus Nachbars Garten geklaut hatte. »Ich hab nichts getan«, murmelte er mit einem Seitenblick zu Dóra. »Müssen wir das unbedingt so förmlich machen?«

Dóra atmete tief ein. »Mein lieber Markús«, sie hoffte, dass sie denselben Tonfall traf wie der Polizeichef, »du hast mich im Keller um Hilfe gebeten, und die bekommst du. Lass uns kurz rausgehen und das unter vier Augen besprechen. Dann kannst du entscheiden, was du tun willst. Von mir aus kannst du dann mit Guðni nach Hause fahren und dich von ihm am Küchentisch in Anwesenheit seiner Frau und seiner Katze verhören lassen.«

»Meine Frau ist tot«, sagte Guðni kühl, »und ich habe einen Hund.«

Während der gesamten Unterredung hatte sich Hjörtur zurückgehalten und das Geschehen schweigend mitverfolgt. Endlich ergriff er das Wort. »Es wäre mir sehr recht, die Sache abzuschließen. Ich muss so schnell wie möglich zurück ins Büro, damit meine Kollegen nicht denken, mir wäre was passiert. Sie wissen, dass ich in dem Haus war, das ihr versiegelt habt, und haben bestimmt gehört, dass da was nicht stimmt.«

Guðni starrte Hjörtur stumm an. Dóra vermutete, dass dieses Schweigen seine Geheimwaffe bei Verhören war. Vielleicht hoffte er, die Leute würden dann weiterreden, weil sie die unangenehme Stille nicht aushalten konnten. Der Archäologe ging jedenfalls nicht in die Falle. Plötzlich huschte ein spöttisches Lächeln über Guðnis Gesicht, und er sagte: »Gut. Ich will ja nicht riskieren, dass deine Wissenschaftlerkollegen die Stifte zücken und schon mal Nachrufe auf dich verfassen, Hjörtur.« Sein Blick wanderte von dem errötenden Archäologen zu Dóra. »Bitte sehr. Draußen im Flur seid ihr ungestört.« Mit einer schwungvollen Geste zeigte er zur Tür. »Wir bleiben hier, falls ihr uns wieder mit eurer erlauchten Anwesenheit beglücken wollt.«

 

»Markús, was hast du dir bloß dabei gedacht?«, zischte Dóra mit zusammengekniffenen Lippen. »Du gehst da runter, um einen Schädel rauszuholen, und dann willst du einfach so mit der Polizei darüber plaudern, ohne die geringste Ahnung von deiner rechtlichen Lage zu haben! Bist du dir im Klaren darüber, in welche Schwierigkeiten du dich damit bringen kannst?«

Markús wollte gerade protestieren, aber dann verflog seine Wut, und er beließ es bei einem lauten Seufzen. »Du weißt nicht, wie das hier läuft. Dieser Mann ist die Polizei auf der Insel. Er alleine. Selbst wenn es noch andere Polizisten gibt, hat er das Sagen. Er bringt die Dinge meistens in Ordnung, ohne weitere Schwierigkeiten für die Beteiligten. Und ich denke, es wäre ganz einfach besser, mit ihm zu reden. Wenn er hört, was ich zu sagen habe, ist alles okay. Zumal ich nichts verbrochen habe.«

Dóra wäre am liebsten laut geworden, beließ es aber dabei, zur Untermalung ihrer Worte leicht gegen die Wand zu trommeln. »Der Fall wird nicht mehr lange in Guðnis Händen sein. Leichen und Köpfe werden nicht von kleineren Wachen betreut, Rhabarberdiebstähle kann er von mir aus auf seine unorthodoxe Weise klären, aber hierbei geht’s um was anderes. Wahrscheinlich wird die Kripo Reykjavík samt Spurensicherung herangezogen, und du kannst davon ausgehen, dass die ganz anders vorgehen werden als dieser Guðni. Unabhängig davon, ob du etwas verbrochen hast oder nicht, sieht es wesentlich besser für dich aus, wenn die Dinge ihren korrekten Lauf nehmen. Bei einem informellen Verhör kann Guðni im Nachhinein alles bezeugen, was du sagst. Und Hjörtur kann als Zeuge auch noch alles bestätigen. Das wäre vollkommen leichtsinnig.«

»Verstehe«, sagte Markús mit leiser Stimme.

Dóra atmete auf. Der Mann tat ihr leid, jegliche Überheblichkeit war von ihm abgefallen. Offenbar hatte er im Keller einen Schock erlitten, und Dóra glaubte ihm aufs Wort, dass er die drei Leichen und den Kopf zum ersten Mal gesehen hatte. Bei dem Durcheinander, das entstanden war, als sie Hjörtur gebeten hatten, die Polizei zu rufen, war Dóra nicht dazu gekommen, ihn nach den merkwürdigen Widersprüchen zu fragen. Nachdem sie das entstellte Gesicht des abgetrennten Kopfes gesehen hatte, das die Zunge herauszustrecken schien, hatte sie sich plötzlich so beklommen gefühlt, dass sie unmöglich im Keller mit Markús sprechen konnte. »Wie wär’s, wenn du mir erklären würdest, warum du unbedingt den Kopf aus dem Keller holen wolltest, von dem du angeblich überhaupt nichts gewusst hast?« Sie zögerte einen Moment und schaute Markús in die Augen. »Wenn ich deine Version der Geschichte gehört habe, warten wir, bis Hjörtur rauskommt, und gehen dann rein und lassen Guðni entscheiden, ob er dich offiziell verhören oder es denjenigen überlassen will, die den Fall übernehmen.«

»Gut. Markús holte tief Luft.

»Und wenn ich etwas sage, dann bist du ruhig und lässt mich ausreden. Ebenso, wenn ich dir empfehle, nicht zu antworten.«

»In Ordnung.« Er lächelte sie zerknirscht an. »Wo warst du eigentlich, als der große Rhabarberdiebstahl aufgeflogen ist? Ich musste einen Monat lang jeden Abend im Schulgarten Unkraut rupfen.«

Dóra erwiderte sein Lächeln. Sie schaute in alle Richtungen, um sich zu vergewissern, dass keiner von Guðnis Untergebenen zuhörte. »Und jetzt erzähl mir von dem Kopf.«

 

Guðni lehnte sich im Stuhl zurück und zog das letzte Blatt aus einer altmodischen elektrischen Schreibmaschine. Sorgfältig legte er es auf den Stapel mit den anderen Blättern, nahm ihn in die Hände, klopfte ihn gerade und legte ihn vor Dóra und Markús auf den Schreibtisch. »Alles nach Vorschrift. Lest es euch durch. Anschließend solltest du, Markús, deine Aussage bestätigen, damit alle Formalitäten erfüllt sind und deine Anwältin ruhig schlafen kann.«

Dóra setzte ein Lächeln auf. Letztendlich war alles zufriedenstellend verlaufen. Markús war zwar als Verdächtiger verhört worden, aber angesichts der Sachlage hatte man damit rechnen müssen. Das Wichtigste war, dass er sich nicht noch mehr reingeritten hatte.

Guðni faltete die Hände und beugte sich vor. »Kurz zusammengefasst habe ich Folgendes verstanden: Am späten Abend des 22. Januar 1973 suchte dich Alda þorgeirsdóttir auf und bat dich, eine kleine Kiste für sie verschwinden zu lassen. Du warst in Alda verliebt – schließlich war sie damals das hübscheste Mädchen auf der ganzen Insel – und hast die Kiste daher ohne weitere Fragen an dich genommen. Dann hast du sie in den Keller deines Elternhauses gebracht. Du wolltest sie später besser verstecken. Dazu kam es nicht mehr, denn in derselben Nacht brach der Vulkan aus. Du wurdest von deinen Eltern geweckt, auf ein Schiff gebracht und zusammen mit deiner Mutter und deinem Bruder aufs Festland evakuiert. Auf dem Schiff triffst du Alda wieder, die dich fragt, was du mit der Kiste gemacht hast, und du erzählst es ihr. Die Kiste bleibt bei der ganzen Aufregung im Keller zurück. Du fragst Alda nicht nach dem Inhalt der Kiste, weil du ihr Vertrauen nicht aufs Spiel setzen willst, wo sie doch so süß ist.« Guðni grinste Markús an, der errötete. »Dreißig Jahre lang geschieht nichts, bis das Projekt Pompeji des Nordens ins Leben gerufen wird. Alda kontaktiert dich, sie bittet dich inständig, die Ausgrabung des Hauses zu verhindern, wegen der Kiste, und du fragst immer noch nicht nach dem Inhalt. Bist du vielleicht immer noch in Alda verknallt?«

Markús wurde wieder rot. »Nein, wir … wir haben einfach nicht darüber gesprochen.«

»Na, was soll’s. Schließlich einigt ihr euch darauf, dass du in den Keller gehst und Alda die Kiste bringst. Als du dann endlich im Keller stehst, willst du plötzlich doch wissen, was in der Kiste ist, und heraus rollt ein vertrockneter Schädel. Im selben Augenblick siehst du drei Leichen, die vorher noch nicht da waren.«

»Der Kopf ist nicht gerollt«, warf Markús etwas beleidigt ein. »Ich hab mich so erschrocken, dass mir die Kiste aus der Hand gerutscht ist. Der Kopf ist rausgefallen und an der Stelle gelandet, wo er jetzt ist. Er ist nicht gerollt. Ich glaube, ich bin beim Zurückspringen mit dem Fuß dagegen gestoßen. Jedenfalls ist er direkt neben den Leichen gelandet, woraufhin ich die überhaupt erst bemerkt habe. Es war ziemlich dunkel und staubig im Keller.«

Dóra fiel Markús ins Wort, bevor er seine Beschreibung der Wanderung des Kopfes über den Kellerfußboden weiter ausführen konnte. »Also, ich denke, es ist am besten, wenn du die Aussage trotz Guðnis netter Zusammenfassung noch einmal gegenliest, Markús, und dann müssen wir los. Die Polizei hat nach deiner Aussage einige Spuren zu verfolgen. Ich gehe davon aus, dass ihr mit dieser Alda sprechen werdet. Die scheint mehr über die Herkunft des Kopfes zu wissen als Markús.« Dóra schaute auf die Uhr. Mit etwas Glück könnte sie doch noch die letzte Maschine nach Hause kriegen. Anscheinend hatte Markús nichts mit der Sache zu tun, auch wenn die Kripo ihn später bestimmt noch einmal verhören würde. Sie hoffte, dass Alda seine Aussage stützen würde. Anderenfalls dürfte sich seine Lage wesentlich verschlechtern, sowohl was den Kopf betraf als auch die drei Leichen. Aber Alda könnte ganz bestimmt die Herkunft des Kopfes erklären. Dóra schaute verstohlen auf die Uhr, dann zu Markús. Er überflog immer noch die erste Seite des Polizeiberichts. Sie stöhnte und hoffte, dass ihr Flieger Verspätung hatte.

3. KAPITEL

DIENSTAG 10. JULI 2007

Manche Tage im Leben der Anwältin Dóra Guðmundsdóttir waren schlimmer als andere: wenn sie zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit noch einmal umkehren musste, um die Kaffeemaschine auszuschalten, oder wenn die Schule anrief und darum bat, dass sie ihre Tochter Sóley abholte, weil diese in der Pause Nasenbluten bekommen hatte. Und dann gab es die ganz schlimmen Tage: wenn große Rechnungen bezahlt werden mussten und der PIN-Code beim Internet-Banking nicht mehr funktionierte, wenn versehentlich Benzin in den Tank ihres Autos geflossen war, das eigentlich mit Diesel fuhr, und so weiter. An solchen Tagen funktionierte nichts so, wie es sollte, weder zu Hause noch in der Kanzlei.

Es war noch nicht Mittag, als Dóra klar wurde, dass einer dieser Unglückstage angebrochen war. Er begann mit einer langen Suche nach dem Autoschlüssel, der sich schließlich zwischen den Sachen ihres Sohnes Gylfi wiederfand. Dann war der Kühlschrank fast leer, und das Brot, das Dóra ihrer Tochter mit in die Schule geben wollte, hatte angefangen zu schimmeln. Dóra hatte auf ihrem Nachhauseweg vom Flughafen am Abend zuvor noch einkaufen wollen, aber die Maschine von den Westmännerinseln war so spät gelandet, dass alle Geschäfte schon geschlossen hatten. In der Kanzlei wurde es auch nicht besser: Der Internetzugang funktionierte nicht wegen einer angeblichen »Aktualisierung des Routers« beim Netzbetreiber, außerdem ging das Telefon nicht mehr, da ein übereifriger Elektriker versehentlich eine Leitung gekappt hatte. Die Sekretärin Bella war genervt und weigerte sich, ihr Privathandy für die Kanzlei zu benutzen, woraufhin Dóras Partner Bragi ihr resigniert sein Handy überlassen hatte. Das Mädchen würde den Anrufern wer weiß was an den Kopf werfen – sie war schließlich für alles andere als zuvorkommendes Auftreten bekannt.

Sobald das Telefon wieder funktionierte, rief Markús an.

»Dóra? Ich kann Alda nicht erreichen.« Die Angst in seiner Stimme war fast greifbar.

»Du solltest dich doch erst mit ihr in Verbindung setzen, wenn die Polizei sie verhört hat, Markús. Sonst sieht es so aus, als würdest du versuchen, Einfluss auf ihre Aussage zu nehmen. Das ist das Letzte, was wir wollen.« Dóra konnte gut verstehen, dass er sich vergewissern wollte, ob die Frau seine Aussage bestätigte, sie bezweifelte allerdings, dass das viel bringen würde. Entweder würde Alda die Wahrheit sagen oder lügen, um irgendwie ihre eigene Haut zu retten.

»Aber es ist schon seltsam«, meinte Markús, »wir hatten in der letzten Zeit ziemlich viel Kontakt, und sie ist immer rangegangen, wenn ich angerufen habe. Sie hat mich noch nie hängenlassen.« Er zögerte einen Moment. »Vielleicht geht sie mir aus dem Weg, was meinst du?«

Dóra war sich ziemlich sicher, dass es so war, wollte Markús’ Besorgnis aber nicht noch verstärken. Natürlich konnte es auch eine andere Erklärung geben. »Tja, ich denke, wir sollten einfach Ruhe bewahren, bis wir etwas Genaueres wissen.« Sie schaute auf die Uhr. »Ich gehe davon aus, dass die Polizei sie schon kontaktiert hat und vielleicht noch ihre Aussage aufnehmen muss. Wenn sie was anderes aussagt als du, wirst du wieder vorgeladen. In dem Fall hast du ein Anrecht auf meine Anwesenheit.«

Markús holte tief Luft. »Alda würde mich niemals den Löwen zum Fraß vorwerfen.«

»Vielleicht nicht«, entgegnete Dóra und dachte, dass Androklus vermutlich dasselbe von den alten Römern geglaubt hatte, bevor er in die Arena des Circus Maximus geworfen wurde. »Ich könnte natürlich meinen Freund Guðni anrufen und ihn nach dem Stand der Dinge fragen. Keine Ahnung, ob er mir überhaupt irgendwas sagt, aber wenn man bedenkt, wie wenig er von Formalitäten hält, ist das ja nicht ausgeschlossen.«

»Glaubst du, dass er noch für den Fall zuständig ist?«, fragte Markús hoffnungsvoll. »Ich kann auch selber anrufen.«

»Nein, auf keinen Fall. Ich möchte nicht, dass du alleine mit ihm sprichst. Ich rede mit ihm. Selbst wenn die Polizei in Reykjavík den Fall übernommen hat, halten sie ihn bestimmt auf dem Laufenden. Ist schließlich sein Revier.«

»Soll ich in der Zwischenzeit weiter versuchen, Alda zu erreichen?«

»Vergiss es«, antwortete Dóra mit Nachdruck. »Wann hast du zuletzt mit ihr gesprochen?«

»Ich hab vorgestern Abend kurz mit ihr telefoniert. An dem Abend, bevor wir auf die Insel geflogen sind. Ich hab ihr gesagt, dass es so weit ist – dass ich das Haus betreten darf.«

»Verstehe. Und glaubst du, dass Alda etwas von den drei Leichen wusste oder etwas mit ihrem Tod zu tun hat? Oder mit dem Tod des Mannes, dem der Kopf gehört?« Dóra konnte sich nicht erinnern, jemals eine so abscheuliche Frage gestellt zu haben.

»Völlig ausgeschlossen. Sie war doch auch erst fünfzehn, als der Vulkan ausgebrochen ist. Sie hat nie einer Fliege was zuleide getan. Weder damals noch heute. Und sie hat wohl kaum von mir erwartet, dass ich außer der Kiste noch drei Leichen aus dem Keller räume. Wenn sie davon gewusst hätte, hätte sie bestimmt darauf bestanden, dass ich die Ausgrabung verhindere. Mich zumindest gewarnt.«

»Ja, sollte man meinen«, sagte Dóra nachdenklich. »Aber es ist nun mal ein ziemlich merkwürdiger Zufall, dass eine Kiste mit einem abgetrennten Kopf und drei Leichen in ein und demselben Keller gefunden werden.«

»Es sind schon merkwürdigere Dinge passiert«, erwiderte Markús ein bisschen verstimmt.

»Bist du sicher?«, fragte Dóra arglos. Sie verabschiedeten sich, und Dóra holte sich rasch einen Kaffee. Eine kleine Stärkung vor dem Telefonat mit Guðni konnte nichts schaden.

 

Guðni Leifsson, Polizeichef der Westmännerinseln, schaltete seine Taschenlampe aus, als er in den Keller hinabstieg. Die Scheinwerfer der Kripo Reykjavík erleuchteten den Leichenfundort. Guðni stellte sich neben den Einsatzleiter, einen viel zu jungen Mann, der sich als Stefán vorgestellt hatte, als der Trupp spät am vergangenen Abend mit einer kleinen Propellermaschine eingeflogen war. Es geschah viel zu oft, dass Guðni auf Kollegen traf, die noch gar nicht auf der Welt gewesen waren, als er bei der Polizei angefangen hatte. Es war offensichtlich an der Zeit, aus dem Job auszuscheiden. Guðni starrte auf den Boden. »Was denkst du darüber?«, fragte er ruhig.

Stefán drehte sich abrupt um. Sofort setzte er ein genervtes Gesicht auf: Die Reykjavíker Polizisten wollten nicht, dass sich der Dorfbulle einmischte. Dieser Stefán hatte sich kaum Zeit genommen, Guðnis Bericht anzuhören, als sie gestern Abend mit einigen weiteren namenlosen, noch jüngeren Männern zu dem Haus gefahren waren. Die Begleiter hatten die ganze Zeit kein Wort gesagt. »Ist vielleicht gar nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussah, oder?« Guðni wollte sich von der Genervtheit des jungen Mannes nicht beeindrucken lassen.

»Wir wissen noch nichts«, antwortete Stefán. Er wandte sich von Guðni ab und beobachtete weiter die Tatortuntersuchung. »Wie sollte es denn weniger schlimm sein, als es aussieht?«

»Tja«, sagte Guðni schulterzuckend, »ich dachte, es könnte sich vielleicht um die sterblichen Überreste glückloser Einbrecher handeln, die bei dem Vulkanausbruch hier eingeschlossen wurden und erstickt sind. Das Haus ist erst später von der Asche verschüttet worden. Skrupellose Verbrecher hätten genug Zeit gehabt, aus dem Ausland herzukommen und sich zu bedienen. Über den Ausbruch wurde seinerzeit weltweit berichtet.«

Stefán schaute Guðni entgeistert an. »Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein.« Er zeigte auf die drei Leichen, die nebeneinander auf dem Rücken lagen. »Wie stellst du dir das denn vor? Die Luft wird so schlecht, dass die Einbrecher in den Keller laufen, um sich hinzulegen? Sie sind ja wohl kaum davon ausgegangen, dass sich hier irgendwas Wertvolles befindet.« Er drehte sich wieder zu seinen Kollegen. »Erstickte liegen meistens auf dem Bauch, es sei denn, sie schlafen, wenn es passiert. Sie versuchen wegzukriechen. Sie legen sich nicht hin und verlieren auch keine Köpfe.« Er zeigte auf die Stelle, an der der Kopf gelegen hatte, der inzwischen entfernt worden war.

»Du wirst schon noch feststellen, dass nichts in diesem Leben Allgemeingültigkeit hat«, entgegnete Guðni vollkommen gelassen. Das war nicht der erste Reykjavíker Schnösel, mit dem er aneinandergeriet. »Aber Alda wird die Sache vermutlich erklären können. Zumindest was den Kopf angeht. Habt ihr schon mit ihr gesprochen?«

»Soweit ich weiß, hat man sie noch nicht erreicht«, antwortete Stefán, ohne Guðni eines Blickes zu würdigen. »Wir versuchen es weiter. Hoffentlich klappt es heute. Und dann unterhalte ich mich mal genauer mit diesem Markús Magnússon, der den Kopf wegschaffen wollte. Ich habe starke Zweifel daran, dass er die Wahrheit sagt. Seine Aussage kommt mir ziemlich unglaubwürdig und dumm vor.«

»Er ist ja auch ein Dummkopf. Immer gewesen.« Guðni schaltete die Taschenlampe ein und ging zur Treppe, ohne sich zu verabschieden.

 

Dís hupte, reckte sich übers Lenkrad und spähte durch die Windschutzscheibe. Das kleine Reihenhaus wirkte verlassen. Sie lehnte sich wieder im Sitz zurück. Was dachte sich Alda nur dabei? Sie war zwei Tage hintereinander nicht zur Arbeit erschienen. Alda war die Gewissenhaftigkeit in Person, immer pünktlich und zu Überstunden bereit. Eine solche Krankenschwester musste man erst mal finden. Dís wusste, dass Ágúst und sie ohne Alda Schwierigkeiten in der Praxis bekommen würden. Sie zahlten ihr ein gutes Gehalt, und bis gestern war Aldas Arbeit ausgezeichnet gewesen. Es war ihnen vollkommen unverständlich, warum Alda gestern Morgen ihr Fehlen nicht entschuldigt hatte, und das an einem Tag, an dem vier Operationen anstanden. Dís und Ágústbeide Ärzte – hatten sich gegenseitig assistieren und gemeinsam operieren müssen, anstatt sich mit Aldas Hilfe abzuwechseln, und der Anästhesist musste ihnen zur Hand gehen. Es war wirklich höchst merkwürdig. Daher hatte Dís beschlossen, in der Mittagspause bei Alda vorbeizufahren. Sie spähte wieder durch die Windschutzscheibe und überlegte, ob der Frau etwas zugestoßen sein könnte. Sie war alleinstehend und kinderlos. Schon denkbar, dass sie in Ohnmacht gefallen war und niemand es bemerkt hatte. Dís stieg aus dem Wagen.

Sie ging zur Garage, die Aldas Reihenhaus mit dem nächsten verband, und lugte durch einen Spalt in der kleinen Tür in dem braungestrichenen Garagentor. Sie meinte, Aldas neuen grünen Toyota zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Jedenfalls ein schlechtes Zeichen. Alda konnte ohne Auto nicht weit sein, und falls sie zu Hause war, warum hatte sie sich nicht gemeldet? Dís ging zur Haustür. Das Schrillen der Türklingel drang von drinnen zu ihr. Sie nahm den Finger vom Klingelknopf und legte ihr Ohr an die Tür. Kein menschliches Geräusch war zu hören. Allerdings schien dafür umso lauter ein Radio zu dudeln. Sie presste ihr Ohr fester an die Tür und hielt sich das andere zu. Doch. Sie konnte sogar das Lied erkennen. Ein alter Schlager von Vilhjálmur Vilhjálmsson über einen Jungen, der nach seinem Papa ruft. Dís griff nach der Türklinke und drückte sie nach unten. Es war nicht abgeschlossen.

»Alda!« Keine Antwort – nur Vilhjálmurs melancholische Stimme, die den Papa anflehte zu warten. Dís stieß die Tür auf. »Alda! Bist du zu Hause?« Keine Antwort. Das Lied ging zu Ende und fing ein paar Sekunden später wieder von vorne an. Kein Radio – eine CD, auf Wiederholung programmiert. Dís ging langsam zur Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Falls Alda krank war, lag sie bestimmt oben im Schlafzimmer. Dís war nur einmal hier gewesen, als Alda sie und Ágúst mit ihren jeweiligen Partnern vor etwa einem Jahr zum Abendessen eingeladen hatte. Dís hatte sich immer darüber gewundert, dass Alda nach ihrer Scheidung keine feste Beziehung mehr gehabt hatte. Sie war eine äußerst attraktive Frau Ende vierzig, die sich gut gehalten hatte, liebevoll, charmant und selbstbewusst war.

»Alda?«

Keine Antwort. Die Musik wurde mit jedem Schritt lauter.

Vilhjálmur Vilhjálmssons Stimme drang durch die halb offenstehende Tür. Durch den Türspalt sah Dís einen bestickten Bettüberwurf. Sie stieß die Tür mit dem Fuß ganz auf und schlug sich die Hand vor den Mund. Die Musik kam von einem CD-Player auf dem Nachttisch; daneben lagen eine leere Whiskyflasche, ein offenes Medikamentenfläschchen und eine Spritze. Alda lag mitten auf dem Bett. Dís war sofort klar, dass es für Wiederbelebungsversuche zu spät war.

4. KAPITEL

DIENSTAG 10. JULI 2007

Dóra ließ sich seufzend auf den Stuhl sinken. Sie überlegte, wen sie bitten könnte, ihre Tochter Sóley abzuholen – zum zweiten Mal hintereinander. Ihre Mutter kam nicht in Frage. Die hatte ihr gestern Abend schon aus der Patsche geholfen, als sie auf den Westmännerinseln festsaß, und außerdem wollten ihre Eltern ins Theater. Dóra würde sich noch jahrelang das Gejammer ihrer Mutter anhören müssen, wenn sie die Aufführung verpasste, auf die sie sich schon seit Monaten gefreut hatte. Ihr Vater wäre zwar bestimmt dankbar, vor diesem Theaterabend bewahrt zu werden, aber Dóra wollte die Pläne ihrer Eltern lieber nicht durchkreuzen, denn die Enttäuschung ihrer Mutter währte länger als die Dankbarkeit ihres Vaters.

Also beschloss Dóra, ihren Ex-Mann anzurufen. Hannes würde alles andere als erfreut sein. Sein Job als Facharzt auf der Unfallstation war nicht weniger anstrengend als die Juristerei. Die Kinder waren jedes zweite Wochenende und, wenn er es einrichten konnte, auch an anderen Tagen bei ihm, aber kurzfristig einspringen konnte er nur selten. Hannes hatte eine neue Frau und ein neues Leben, das sich in erster Linie um die beiden drehte, während sich Dóras Leben am allerwenigsten um sie selbst drehte – die meiste Zeit ging für den Job, die beiden Kinder und das Enkelkind drauf, das gerade ein Jahr alt geworden war. Und dann gab es ja noch ein viertes Kind: die Schwiegertochter Sigga, noch keine siebzehn – ein Jahr jünger als Dóras Sohn Gylfi. Auf wundersame Weise war es den jungen Eltern gelungen, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten, trotz der Bruchlandung auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Sie wohnten im Wechsel eine Woche bei Dóra, und in der nächsten Woche war Sigga mit dem Kleinen bei ihren Eltern – ohne Gylfi. Das Verhältnis zwischen Siggas Eltern und Gylfi war distanziert; sie konnten ihm nicht verzeihen, dass er ihre Tochter so früh geschwängert hatte, das merkte jeder, allen voran Gylfi, daher war Dóra froh, dass er zu Hause blieb, wenn Sigga bei ihren Eltern war. Auf diese Weise hatte sie ihren Sohn noch ein bisschen für sich, auch nachdem er die Menschheit unbeabsichtigt vermehrt hatte.

Dóra klemmte sich den Hörer unters Kinn und rückte das Foto ihres Enkels zurecht, während sie Hannes’ Nummer wählte. Der Kleine war nach zahlreichen Vorschlägen der jungen Eltern, die Dóra immer noch entsetzten, auf den Namen Orri getauft worden. Er war unwiderstehlich: blond, riesige Augen und dicke Pausbäckchen, obwohl er schon längst kein Fläschchen mehr bekam. Dóra wurde ganz warm ums Herz, als sie das Foto anschaute, und sie freute sich darauf, Orri nächste Woche bei sich zu haben, auch wenn es dann zu Hause zweifellos stressiger würde. Sie lächelte dem Kleinen auf dem Foto zu, als am anderen Ende der Leitung endlich abgenommen wurde. »Grüß dich, Hannes. Kannst du mir einen kleinen Gefallen tun? Ich schaffe es heute nicht, Sóley abzuholen …«

 

Auf dem Spielplatz beobachtete Tinna, wie der Krankenwagen in die Hauseinfahrt bog. Sie setzte sich auf der Schaukel zurecht und schwang leicht vor und zurück. Sie war froh, dass die Sirene nicht eingeschaltet war – dann konnte es nicht so ernst sein. Vielleicht war die Frau nur hingefallen und hatte sich den Fuß gebrochen. Ihre Freundin hatte sich mal den Fuß gebrochen und war mit dem Krankenwagen abgeholt worden. Tinna blähte die Wangen und ließ die Luft dann wieder hinausströmen, während sie über die Sache nachdachte. Dicke Wangen. Schmale Wangen. Dicke Wangen. Schmale Wangen. Abrupt hörte sie auf und saß gedankenversunken da. Das war der Beweis dafür, dass man nicht essen musste, um dick zu werden. Luft konnte einen dick machen. Sie erstarrte. Hier war alles voller Luft. Überall war Luft, und man konnte sich nirgends vor ihr verstecken. Sie musste versuchen, weniger zu atmen.

Aus Richtung des Krankenwagens ertönte ein dumpfer Knall. Vielleicht wurde gerade ein Verbrecher festgenommen. Wenn das Haus dünne Wände hätte, könnte sie hindurchsehen, so, wie man irgendwann durch sie hindurchsehen könnte. Sie kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts erkennen. Trotzdem musste irgendetwas passiert sein; der Polizeiwagen, der zuerst gekommen war, hatte Blaulicht und Sirene angehabt. Als ihre Freundin sich auf dem Schulhof den Fuß gebrochen hatte, war kein Polizeiwagen gekommen, also hatte die Frau vermutlich keinen Unfall gehabt. Falls es ein Einbrecher war, würde die Polizei ihn hoffentlich ins Gefängnis stecken. Die Frau war nett und hatte nichts Schlechtes verdient. Die Schaukel knarzte. Tinna sah, wie zwei Männer aus dem Krankenwagen stiegen und eine Bahre herausholten. Sie seufzte leise. Das verhieß nichts Gutes. Wann sollte sie denn jetzt die Frau treffen? Vielleicht musste sie monatelang ins Krankenhaus. Als Tinna das letzte Mal eingeliefert worden war, durfte sie erst nach vierzig Tagen wieder nach Hause. Aber es änderte sich ja nicht viel. Die Sache konnte ruhig warten. Sie hatte schon oft monatelang auf etwas gewartet.

Tinna stellte sich auf die Schaukel, um besser sehen zu können. Sie hielt sich gut fest, weil ihr vom schnellen Aufstehen schwindelig wurde. Sobald sie die Augen schloss, ging das Schwindelgefühl wie immer vorbei. Als Tinna die Augen wieder öffnete, waren die Männer mit der Bahre ins Haus gegangen. Draußen war alles ruhig. Sollte sie nach Hause gehen oder darauf warten, dass die Frau herausgetragen wurde? Sie hatte es nicht eilig; es war sowieso niemand zu Hause. Mama arbeitete bis fünf. Es wartete niemand auf sie.

Sie ging in die Knie und schaukelte im Stehen. Es tat gut, die Luft im Haar zu spüren, und sie schaukelte schneller, bis ihr einfiel, dass die Luft nicht ihr Freund war. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie versuchte, die Schaukel zum Stillstand zu bringen. Sie überlegte, was sie zu der Frau sagen sollte, wie sie ihr zu verstehen geben könnte, dass sie wusste, wer sie in Wirklichkeit war. Tinna lächelte. Die Frau wäre überrascht und wahrscheinlich auch froh. Tinna konnte sich genau daran erinnern, wie verletzt die Frau gewesen war, als Papa so übel auf ihre Worte reagiert hatte. Papa war ja auch ein Idiot. Ein dummer, versoffener Idiot, der Tinna genauso wenig verstand wie Mama. Die war allerdings noch schlimmer, sprach nur über Essen und manchmal weinte sie sogar. Deshalb war Tinna gerne jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater, denn der hatte im Grunde keine Ahnung. Sagte ihr zwar, sie müsse etwas essen, kontrollierte es aber nicht wie ihre Mutter. Das passte ihr gut. Papa war Tinna gegenüber so gleichgültig, dass er noch nicht mal kapierte, dass sie alles, was an dem Abend zwischen ihm und der Frau vorgefallen war, gehört hatte. Unbemerkt hatte Tinna sich ins Haus geschlichen. Weil Papas Stimme so laut und zornig war, wollte sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie wusste, wie man nicht auffiel; das war schließlich ihr Ziel – am Ende würde sie unsichtbar sein. Leise schlich sie zur Wohnzimmertür und lauschte. Danach ging sie wieder nach draußen und tat so, als sei sie gerade erst eingetroffen, als die Frau aus dem Haus kam. Papa war furchtbar schlecht gelaunt und grüßte sie achtlos, aber sie ließ sich nichts anmerken, und am Ende war er wieder wie immer und interessierte sich für nichts anderes als für das Fußballspiel im Fernsehen.

Die Frau wusste ebenso wenig wie Papa, dass Tinna gelauscht hatte. Vielleicht wusste sie noch nicht einmal, dass es Tinna gab. Im Gegensatz zu Papa wäre sie allerdings froh darüber, dass Tinna das Gespräch mitbekommen hatte, und würde sie bestimmt kennenlernen wollen. Tinna wusste den Namen und die Telefonnummer der Frau von der Notiz, die die Frau für Papa auf dem Tisch liegen lassen hatte. Es war ein ziemliches Geduldsspiel gewesen, denn Papa hatte das Blatt in kleine Stücke zerrissen und auf den Boden geworfen, sodass Tinna es erst wieder zusammenpuzzeln musste. Anhand des Namens und der Telefonnummer war es leicht, die Adresse der Frau herauszubekommen. Manchmal war Tinna nur hergekommen, um das Haus zu beobachten, ohne genau zu wissen, warum. Gestern Abend war allerdings etwas vorgefallen, das sie aufmerksam verfolgt hatte. Tinna dachte an den Zettel, der weggeflogen und in einem Strauch hängen geblieben war. Sie hatte ihn mitgenommen und zu Hause versteckt. Er war wichtig. Das wusste sie genau. Es würde sich eines Tages schon noch herausstellen, warum.

Sie setzte sich wieder auf die Schaukel und klemmte die braunen Ketten in ihre schmächtigen Armbeugen. Der Eisengeruch an den Händen erinnerte sie an letzten Sommer, als sie versucht hatte, mit der Schaukel einen Überschlag zu machen, weil sie dadurch tausend Kalorien verbrannt hätte. Sie hatte immer noch eine hässliche Narbe am rechten Bein, weil der Versuch kläglich gescheitert war. Damals hatte die Luft sie nicht dick, sondern schlank gemacht. Es war alles so kompliziert – die Gesetzmäßigkeiten änderten sich, und Tinna musste ständig auf der Hut sein, wenn sie nicht fett, fetter und fetter werden wollte.

Tinna spitzte die Ohren. Männerstimmen drangen von der Straße herüber. Vorsichtig stellte sie sich wieder auf die Schaukel, damit sie alles sehen konnte. Als Erster erschien ein Polizist und öffnete die Heckklappe des Krankenwagens. Darauf folgten die Männer mit der Bahre, und das Mädchen erstarrte. Sie kniff die Augen zusammen und schauderte. Vielleicht gab es eine Erklärung dafür? Vielleicht hatte sich die Frau erkältet und durfte nicht frieren? Tinna sprang von der Schaukel und ging mit schnellen Schritten zum Gehsteig. Der Polizist, der an der Heckklappe stand, wurde auf sie aufmerksam und schickte sie weg. »Hier gibt’s nichts zu sehen. Geh nach Hause«, rief er dem Mädchen zu.

Tinna reagierte nicht. Normalerweise hatte sie Angst vor männlichen Autoritätspersonen, ob es nun Ärzte, Schuldirektoren oder Busfahrer waren. Aber jetzt hatte sie das Gefühl, als wäre der Polizist gar nicht da, und konnte die Augen nicht von dem weißen Laken abwenden. Die Frau rührte sich nicht. Sie war nicht erkältet. Sie war gestorben und mit ihr Tinnas Hoffnungen auf ein anderes, besseres Leben, in dem sie schön und begehrenswert sein würde. Die Frau konnte Leute schön machen. Das hatte sie gesagt. Tinna drehte sich abrupt um und rannte weg, ohne zu wissen, wo sie hinwollte. Wenn sie schnell genug lief, wäre sie vielleicht schneller als ihre Gedanken und würde das unangenehme Gefühl los, dass Papa der Frau etwas getan haben könnte. Es wäre ja nicht das erste Mal. Oder der Besucher, der sich aus dem Haus geschlichen hatte. Der Besucher, dem der Zettel gehörte. Tinna verbannte all diese Gedanken aus ihrem Kopf und dachte nur noch daran, dass sie Kalorien verbrannte. Verbrennen, verbrennen, verbrennen.

 

»Was? Tot?« Guðni runzelte nachdenklich die Stirn. Er schloss die Augen und massierte langsam seine Schläfe. Da er telefonierte, musste er seinen Gesichtsausdruck nicht unter Kontrolle halten. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er gelernt, möglichst keine Gefühlsregungen zu zeigen. Das war ihm nicht besonders schwergefallen, aber manchmal war es trotzdem gut, allein zu sein und Enttäuschung oder in seltenen Fällen auch Freude freien Lauf lassen zu können. Er holte tief Luft. »Wie ist sie zu Tode gekommen?«

»Sie ist noch nicht obduziert worden, aber es sieht so aus, als hätte sie sich umgebracht«, antwortete Stefán. Seine Stimme ließ keinerlei Regung erkennen. Vielleicht waren solche Fälle bei der Kripo Reykjavík ja an der Tagesordnung. »Ich gehe davon aus, dass wir morgen mehr wissen. Ich hab die Nachricht gerade erhalten und wollte dir nur Bescheid geben. Logischerweise war ich nicht persönlich am Tatort. Ich fahre morgen früh zurück in die Stadt und erfahre dann hoffentlich Näheres.«

»Wo hat man sie gefunden?« Guðni hätte nie gedacht, dass Alda einen solchen letzten Ausweg wählen würde, aber er hatte sie nur als Kind und unbekümmerten Teenager gekannt und hoffte, dass ihr Schicksal nichts mit den längst vergangenen Ereignissen auf den Westmännerinseln zu tun hatte.

»In ihrem Haus«, antwortete Stefán. »Ihre Kollegin hat sie gefunden. Wollte nachsehen, warum sie nicht zur Arbeit gekommen ist.«

»Das verkompliziert unseren Leichenfund ungemein«, sagte Guðni. »Zumindest wird Alda Markús’ Aussage nicht mehr bestätigen können.«

»Wenn der Todeszeitpunkt feststeht, können wir uns Gedanken darüber machen, ob sie sich wegen dieser Sache das Leben genommen hat.«

»Aber dann hätte sie doch bestimmt einen Abschiedsbrief hinterlassen oder irgendetwas, das Markús von dem Verdacht befreit«, meinte Guðni. »Ihr muss doch klar gewesen sein, dass sie die Einzige war, die seine Aussage bestätigen konnte. Oder sie wusste gar nichts von seiner Version der Geschichte und dem Leichenfund.«

»Ich möchte es vermeiden, zu Beginn der Ermittlungen über irgendwelche Eventualitäten zu spekulieren. Wir kennen noch nicht mal die Todesursache. So wie es aussieht, hat sie Selbstmord begangen, aber wer weiß, ob’s nicht ein Unfall oder Schlimmeres war. Wir durchsuchen morgen ihr Haus, da wird sich schon irgendwas finden.«

»Hoffentlich nicht noch mehr Leichen. Oder der passende Rumpf zu dem abgetrennten Kopf.« Guðni grinste. »Und vergesst nicht den Keller!« Er legte auf und starrte den Hörer an. Das passte alles nicht zusammen.

 

Dóra stellte die Einkaufstüte ab und suchte nach ihrem Handy. Es klingelte gedämpft, und sie versuchte, sich daran zu erinnern, ob sie es in die rechte oder linke Jackentasche geschoben oder in ihre Handtasche gesteckt hatte. Am Ende fand sie es in der linken Jackentasche zwischen Kleingeld und alten VISA-Belegen. Sie sah Markús’ Nummer auf dem Display und beschloss, nicht ranzugehen. Er konnte bis morgen warten. Dóra legte das Handy auf den Tisch und begann, das Essen zuzubereiten, das sie auf dem Nachhauseweg eingekauft hatte. Bald würde Hannes mit Sóley kommen. Er hatte Dóra aus der Patsche geholfen, sogar freundlich auf ihre Bitte reagiert und angeboten, mit seiner Tochter ins Schwimmbad zu gehen. Dóra hoffte, dass es in Zukunft immer so wäre und die Beziehung zu ihrem Ex-Mann endlich freundschaftlicher würde.

Ihr Handy piepte. Anstatt die SMS zu lesen, packte Dóra weiter Einkäufe aus und schaltete den Backofen ein. Sie las die Anleitung auf der Lasagne-Packung und schob das gute Stück – entgegen den Anweisungen des Herstellers – in den kalten Backofen. Am Ende käme dasselbe dabei heraus: Das Essen würde in einem kalten Ofen genauso heiß werden wie in einem heißen Ofen. Anschließend nahm sie das Handy, ging ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen.

Die Nachricht war von Markús: Alda ist tot. Polizei will mich morgen früh treffen. Ruf mich an.

Dóra stöhnte. Es sah ganz so aus, als würde ihr dieser Mandant noch länger erhalten bleiben. Sie setzte sich auf und tippte seine Nummer ein. Entweder war er der größte Pechvogel von ganz Island, oder es steckte etwas Ernsteres dahinter.

5. KAPITEL

MITTWOCH 11. JULI 2007

Markús knetete nervös seine Stirn.

Dóra hatte schon oft mit Mandanten zu tun gehabt, die verdammt in der Klemme saßen. Es brachte nicht viel, große Reden zu schwingen, es werde alles wieder gut, er solle sich keine Sorgen machen, es sei bald vorbei und so weiter. Sie kamen gerade vom Polizeiverhör. Es hätte schlimmer, aber auch besser laufen können. Markús hatte protestiert, als man eine Speichel- und Haarprobe von ihm haben wollte, am Ende aber eingewilligt.

»Markús, das Positive ist, dass sie kaum nach deinem Verhältnis zu dieser Alda gefragt haben. Entweder glauben sie, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist, oder du wirst nicht verdächtigt, sie umgebracht zu haben.« Sie schaute ihn scharf an. »Das Negative ist, dass Alda deine Aussage über die Kiste mit dem Kopf nicht mehr bestätigen kann.«

»Was du nicht sagst.«

Dóra ignorierte seinen Tonfall. »Und ihr habt die Sache ganz sicher nicht in einer E-Mail oder vor Zeugen besprochen? Arbeitskollegen zum Beispiel?« Markús besaß eine Firma, die Ersatzteile für Schiffsmotoren verkaufte. Dóra hatte zwar keine Ahnung von dieser Branche, wusste aber, dass er gut im Geschäft war und mehrere Angestellte hatte. Offenbar eine großartige Belegschaft, denn Markús war keinesfalls unentbehrlich, hatte noch kein einziges Meeting verschieben oder wegen seines Jobs einen Termin absagen müssen.

»Das hat niemand mitbekommen«, antwortete Markús mit fester Überzeugung. »Alda und ich haben meistens telefoniert, und dabei bin ich in der Regel alleine. Wir haben uns nur unregelmäßig getroffen, meistens zu zweit. In den seltenen Fällen, wenn jemand dabei war, haben wir nicht über … dieses Thema geredet. E-Mail verwende ich nur beruflich. Ich bin nicht so einer, der Witzchen und Katzenfotos verschickt.«

Das hätte Dóra auch nicht von ihm vermutet. »Es gibt also keinen Zeugen?«

Markús schüttelte mürrisch den Kopf. »Nein.«

»Die Polizei hat aufgehorcht, als du erzählt hast, Alda hätte dich an dem Abend, bevor wir auf die Westmännerinseln geflogen sind, angerufen. Daraus könnte man schließen, dass dieses Telefonat kurz vor ihrem Tod stattgefunden hat.« Dóra blätterte in dem Bericht, der ihr nach dem Verhör ausgehändigt worden war. »Du hast gesagt, Alda ist komisch gewesen, ungewöhnlich kurz angebunden und unkonzentriert, weil sie sich entweder Sorgen wegen deiner bevorstehenden Reise gemacht hat oder jemand bei ihr war und sie nicht frei sprechen konnte.«

»Das war nur so ein Gefühl. Sie hat nicht gesagt, dass jemand bei ihr ist, aber es klang ein bisschen so.«

»Der Grund, warum ich danach frage, ist, dass es möglicherweise einen Zeugen eures letzten Telefonats gegeben hat. Das würde uns helfen, besonders, wenn Alda die Kiste oder deren Übergabe damals erwähnt hat.« Dóra lächelte Markús aufmunternd zu.

Er legte seine Stirn in Falten. »Natürlich kann ich mich nicht mehr an jedes Detail erinnern, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nichts über damals gesagt hat. Sie hat mich gebeten, vorsichtig zu sein, ich sollte eine Plastiktüte mitnehmen, falls die Kiste vermodert wäre.« Markús schüttelte sich. »Sie hätte mir besser erzählt, was mich erwartet. Sie kann doch nicht gedacht haben, ich würde den Kopf einfach in eine Tüte stecken und mit raufbringen, so als wäre nichts passiert. Ich hätte ihn noch nicht mal anfassen können.«