Das gefrorene Licht - Yrsa Sigurdardóttir - E-Book
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Das gefrorene Licht E-Book

Yrsa Sigurdardóttir

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Beschreibung

Sommer 2006, im Westen von Island. Auf der Halbinsel Snæfellsnes wird die Architektin eines Wellness-Hotels tot am Strand gefunden. Sie wurde vergewaltigt und brutal erschlagen, in ihren Fußsohlen stecken Nadeln. Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir findet heraus, dass die Ermordete sich sehr für die Geschichte der verlassenen Gegend interessiert hat. Vor vielen Jahrzehnten standen auf dem Hotelgrundstück die Höfe zweier Brüder. Offenbar ist sie auf ein unaussprechliches Familiengeheimnis gestoßen …

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Yrsa Sigurdardóttir

Das gefrorene Licht

Thriller

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Zum Buch

Sommer 2006, im Westen von Island. Auf der Halbinsel Snæfellsnes wird die Architektin eines Wellness-Hotels tot am Strand gefunden. Sie wurde vergewaltigt und brutal erschlagen, in ihren Fußsohlen stecken Nadeln. Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir findet heraus, dass die Ermordete sich sehr für die Geschichte der verlassenen Gegend interessiert hat. Vor vielen Jahrzehnten standen auf dem Hotelgrundstück die Höfe zweier Brüder. Offenbar ist sie auf ein unaussprechliches Familiengeheimnis gestoßen …

Zur Autorin

YRSA SIGURDARDÓTTIR, geboren 1963, ist eine vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin, deren Spannungsromane in über 30 Ländern erscheinen. Sie zählt zu den »besten Kriminalautoren der Welt« (Times Literary Supplement). Sigurdardóttir lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Reykjavík.

YRSA SIGURDARDÓTTIR BEI BTB

Das letzte Ritual. Thriller

DNA. Thriller

Die isländische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Sér grefur gröf« bei Veröld, Reykjavík.

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage Genehmigte Taschenbuchausgabe Oktober 2016 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © der Originalausgabe 2006 Yrsa Sigurdardóttir Copyright © der deutschen Ausgabe 2007 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: Robert Postma/First Light/Corbis/Ghettyimages mr · Herstellung: sc

eISBN 978-3-641-20286-6V001

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Anmerkungen

Die isländischen Buchstaben werden wie folgt ausgesprochen:

Æ bzw. æwie ai in KaiserÐ zw. ðwie englisches stimmhaftes th in thisþ bzw. þwie englisches stimmloses th in thick

Weil sich alle Isländer üblicherweise mit dem Vornamen anreden, wurde auch in dieser Übersetzung grundsätzlich die Du-Form gewählt.

Die deutsche Übersetzung des Verses aus der Edda ist aus folgendem Band entnommen: Die Edda. Nach der Übersetzung v. Karl Simrock neu bearb. u. eingeleit. v. Hans Kuhn. 3 Bde. Reclam, Leipzig 1935–1947, Stuttgart 1997, 2004.

Dieses Buch ist meinem neugeborenen Enkel gewidmet,

Reginn Freyr Mánason.

Besonderen Dank an Páll Kjartansson,

Schrecken aller Briefträger.

Yrsa

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightAnmerkungenWidmungPERSONEN DER HANDLUNGPROLOG1. KAPITEL2. KAPITEL3. KAPITEL 4. KAPITEL 5. KAPITEL 6. KAPITEL 7. KAPITEL 8. KAPITEL 9. KAPITEL 10. KAPITEL 11. KAPITEL 12. KAPITEL 13. KAPITEL 14. KAPITEL 15. KAPITEL 16. KAPITEL 17. KAPITEL 18. KAPITEL 19. KAPITEL 20. KAPITEL 21. KAPITEL 22. KAPITEL 23. KAPITEL 24. KAPITEL 25. KAPITEL 26. KAPITEL 27. KAPITEL 28. KAPITEL 29. KAPITEL 30. KAPITEL 31. KAPITEL 32. KAPITEL 33. KAPITEL 34. KAPITEL 35. KAPITEL EPILOG

PERSONEN DER HANDLUNG

Dóra GuðmundsdóttirReykjavíker Rechtsanwältin und alleinerziehende MutterMatthias Reichihr Freund aus Deutschland, ehemaliger KriminalkommissarSóley und GylfiDóras KinderSiggaGylfis schwangere FreundinBragiDóras Kollege in der AnwaltskanzleiBellaihre SekretärinJónasHotelbesitzer, Dóras MandantBirnaArchitektinþórólfurKriminalkommissarNachbarnBergurBauerRósaseine FrauGvendurRósas VaterSteinijunger Mann im Rollstuhl

Die Familien der Brüder von den alten Höfen in Snœfellsnes:

Hotelangestellte und -gäste:

VigdísEmpfangschefinSóldísZimmermädchenLáraSóldís’ GroßmutterJökullKellnerSibbaMasseurinKataKosmetikerinEiríkurHellseherStefaníaSexualberaterinTeiturBörsenmaklerþrösturKajakfahrerRobin Kohmanamerikanischer FotografMagnúspensionierter PolitikerBaldvinMagnús’ Enkel, KommunalpolitikerHerr Takahashi und sein Sohnjapanische Hotelgäste

PROLOG

FEBRUAR 1945

Das kleine Mädchen spürte, wie ihm die Kälte die Beine hinauf bis in den Rücken kroch. Sie versuchte, sich auf dem Vordersitz hochzurecken, um besser hinausschauen zu können. Konzentriert betrachtete sie die schneeweiße Landschaft, konnte aber kein Vieh entdecken. Draußen ist es zu kalt für die Tiere, dachte sie und wünschte sich, aus dem Auto steigen und wieder ins Haus gehen zu dürfen. Aber sie traute sich nicht, etwas zu sagen. Eine Träne rann langsam über ihre Wange, während der Mann neben ihr sich mühte, den Motor in Gang zu bringen. Sie presste die Lippen aufeinander und wandte ihr Gesicht von ihm ab, damit er es nicht sah. Er würde sehr wütend werden. Sie beobachtete das Haus, vor dem der Wagen stand, und versuchte, das andere Mädchen zu erspähen, aber das einzige sichtbare Geschöpf war der Hofhund Snúður. Er lag schlafend auf den Stufen vor der Haustür. Plötzlich hob er den Kopf und blickte sie starr an. Betrübt lächelte sie ihm zu.

Das Auto sprang an, und der Mann richtete sich im Sitz auf. »Na endlich«, sagte er mit tiefer, rauer Stimme und fuhr los. Er warf dem Mädchen, das sich wieder zur Frontscheibe gedreht hatte, einen raschen Blick zu. »So, jetzt machen wir einen kleinen Ausflug.« Als sie über den holprigen Zufahrtsweg vom Hof wegfuhren, wurde das Mädchen auf dem Sitz durchgeschüttelt. »Halt dich fest«, sagte er, ohne sie anzuschauen.

Schließlich erreichte das Auto die Straße, und sie fuhren eine Weile schweigend. Das Mädchen schaute aus dem Fenster, in der Hoffnung, ein paar Pferde zu sehen, aber alles war öde und leer. Ihr Herz machte jedoch einen Sprung, als sie die Gegend erkannte. »Fahren wir zu mir nach Hause?«, fragte sie mit dünner Stimme und großen Augen.

»Könnte man vielleicht so sagen.« Das Mädchen reckte sich noch mehr und musterte die Umgebung genauer. Vor ihnen lag der vertraute Landstrich: In der Ferne war der Felsen zu erkennen, von dem Mama erzählt hatte, er sei eine versteinerte Trollfrau. Instinktiv beugte sie sich vor, um besser sehen zu können. Auf einer kleinen Anhöhe tauchte ein Auto auf, das ihnen entgegenkam. Das Mädchen glaubte, ein Militärfahrzeug zu erkennen. Der Mann bremste ab und befahl ihr, sich zu ducken. Sie tat es widerspruchslos; sie war es gewohnt, sich zu verstecken. Anscheinend war der Mann derselben Meinung wie Großvater, dass das Militär nichts Gutes brächte. Ihre Mama hatte ihr zugeflüstert, die Soldaten seien ganz normale Männer, genau wie Großvater. Nur jünger. Und hübscher. »So wie du.« Wie lieb ihre Mama sie dabei angelächelt hatte.

Das kleine Mädchen hörte, wie sich das Motorengeräusch des anderen Wagens näherte, anschwoll, bis die beiden Fahrzeuge aneinander vorbeifuhren, und dann wieder schwächer wurde, als sie sich entfernten. Sie rutschte auf dem Sitz herum. »Du darfst dich wieder hinsetzen«, sagte der Fahrer, und sie setzte sich auf. »Weißt du, wie alt du bist?«, fragte er.

»Vier Jahre«, antwortete sie.

Der Mann schnaubte. »Du bist furchtbar schmächtig für eine Vierjährige.« Das Mädchen verstand das Wort nicht, wusste aber, dass es nicht gut war, so zu sein. Sie antwortete nicht. Schweigen. »Willst du deine Mama wiedersehen?«

Das kleine Mädchen riss die Augen auf und starrte den Mann an. Fuhren sie etwa zu Mama? Sie spürte, wie allein bei dem Gedanken daran alles besser wurde. Eifrig nickte sie.

»Dachte ich mir«, sagte der Mann und glotzte auf die vor ihnen liegende Straße. »Du wirst sie wiedertreffen.«

Das Mädchen spürte vor Kälte seine Beine nicht mehr. Sie bogen in einen Weg, den sie genau kannte. Sie sah ihren Hof und lächelte das erste Mal seit langer Zeit. Jetzt würde alles wieder gut werden. Das Auto fuhr langsam auf den Hof zu und hielt an. Verzückt starrte das Mädchen das große, stattliche Haus an. Irgendwie wirkte es einsam und traurig. Kein Licht und kein Rauch über dem Schornstein. »Ist Mama hier?«, fragte sie ungläubig. Irgendetwas stimmte nicht. Als sie Mama zum letzten Mal gesehen hatte, lag sie im Bett, in einem Zimmer im Haus von diesem Mann. Krank. So wie Großvater. Krank, und niemand wollte Mama helfen, außer ihr. Ob Mama in der Nacht, als sie aus dem Bett verschwand, zurück nach Hause gegangen war? Aber warum hatte sie sie dann bei dem Mann zurückgelassen? Das hätte sie nie getan.

»Deine Mama ist nicht genau hier. Aber du wirst sie treffen. Von jetzt an könnt ihr immer zusammen sein.« Er grinste, und das dämpfte die Freude des Mädchens ein wenig. Trotzdem traute sie sich nicht, Fragen zu stellen. Der Mann stieß die Wagentür auf und stieg aus. Er ging um das Auto herum und hielt ihr die Tür auf. »Komm. Du musst eine kleine Reise machen, bevor du deine Mama wiedersiehst.« Vorsichtig stieg das Mädchen aus dem Wagen. Sie schaute nach allen Seiten und hoffte, jemanden oder etwas zu sehen, das sie ermutigen würde, konnte aber nichts entdecken.

Der Mann beugte sich hinunter und griff nach der behandschuhten Hand des Mädchens. »Komm, ich will dir was zeigen.« Er zog sie mit sich. Sie musste fast laufen, um mit seinen großen Schritten mithalten zu können. Sie gingen hinter das Haus in Richtung Stall. Ein grässlicher Gestank kam auf und wurde immer stärker, je näher sie dem Viehstall kamen. Sie hätte sich gerne die Nase zugehalten, traute sich aber nicht. Als sie den Stall erreicht hatten, trat der Mann an das Gebäude heran und schaute durchs Fenster. Das Mädchen war zu klein, es ihm gleichzutun. Der Mann wich zurück und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie hoffte, dass den Kühen nichts Schlimmes zugestoßen war. Aus dem Stall waren keine Geräusche zu hören. Wahrscheinlich schliefen die Tiere. Der Mann zog sie weiter.

»Verdammt ekelhaft«, sagte er. Sie entfernten sich ein kleines Stück vom Stall, bis der Mann stehen blieb und über die Schneedecke spähte. Er ließ die Hand des Mädchens los. »Wo zum Teufel war es nochmal?«, murmelte er ungeduldig. Mit den Schuhen schob er den Schnee beiseite.

Still stand sie da, während der Mann weiter im Schnee herumwühlte. Sie war nicht mehr froh. Mama war nicht hier. Sie konnte doch nicht unter dem Schnee sein. Sie war krank. Das Mädchen schluckte den Kloß im Hals hinunter und fragte leise: »Wo ist Mama?«

»Sie ist bei Gott«, antwortete er, ohne seine Suche zu unterbrechen.

»Bei Gott?«, fragte Kristín verwirrt. »Was macht sie da?«

Da schnaubte der Mann verächtlich. »Sie ist tot. Dann geht man zu Gott.«

Das Mädchen wusste nicht genau, was das bedeutete. Sie hatte noch nie jemanden getroffen, der tot war. »Gott ist gut, oder?« Sie war sich nicht sicher, warum sie den Mann danach fragte. Sie kannte die Antwort genau. Ihre Mama und Großvater hatten ihr das oft gesagt. Gott war gut. Sehr gut. »Kommt sie von Gott wieder zurück?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Der Mann stieß einen Jubelschrei aus und hörte auf zu wühlen. »Hier ist es! Endlich.« Er beugte sich hinunter und begann, mit seinen behandschuhten Händen den Schnee von der Erde zu schaufeln. »Nein, von Gott kommt niemand zurück. Du musst zu ihm gehen, wenn du deine Mama wiedersehen willst.«

Das Mädchen erstarrte. Was meinte er? Sie beobachtete, wie der Mann eine eiserne Luke in der Wiese freilegte. Hier hatte Mama ihr verboten, zu spielen. Gott konnte doch nicht da drin sein?

Der Mann straffte seinen Rücken, bevor er sich wieder hinunterbeugte, um die schwere Falltür zu öffnen. Er warf dem Mädchen einen Blick zu und lächelte erneut. Sie wünschte, er würde damit aufhören. Er gab ihr ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Zögernd ging sie auf den Mann und die große schwarze Öffnung zu, die unter der Falltür zum Vorschein gekommen war. »Ist Gott mit Mama da drin?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

Der Mann lächelte immer noch. »Nein, ist er nicht, aber er holt dich da ab. Komm her.« Er umfasste die schmächtigen Schultern des Mädchens und zog es zu der Öffnung. »Es ist besser, wenn du getauft bist. Gott nimmt keine Ungetauften zu sich. Wir wollen hoffen, dass Gott sich an dich erinnert, denn er wird dich im Kirchenbuch nicht finden können.« Der Mann lachte leise.

Das Mädchen verstand nicht, was er meinte, und starrte wie hypnotisiert in den Abgrund. Alles schwarz und kalt und still. Wenn es irgendwo dort unten einmal ein Licht gegeben hat, muss es wohl längst erfroren sein, dachte sie. Ihre Mama würde niemals in ein solches Loch klettern. Sie hörte den Mann etwas Undeutliches über »Nottaufe« murmeln und schaute erst wieder auf, als er sie zu sich drehte, ihr eine Handvoll Schnee auf die Stirn legte, die Augen schloss und sagte: »Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Er öffnete die Augen und stierte das Mädchen an. Obwohl ihr die Kälte auf der Stirn furchtbar wehtat, schmerzte sein Blick noch mehr. Sie schaute weg und steckte die Hände in ihre Jackentaschen. Inzwischen war ihr eiskalt, und die Wollfäustlinge halfen bei dem frostigen Wind nicht viel. Als ihre Hand in der rechten Jackentasche auf etwas stieß, fiel ihr der Umschlag wieder ein. Ein tiefer Schmerz durchfuhr sie und verdrängte einen Moment lang die Angst vor dem Mann. Sie hatte ihrer Mama versprochen, den Umschlag zu überbringen, und jetzt sah es so aus, als würde sie es nicht erfüllen können. Es war das Letzte gewesen, worüber sie gesprochen hatten, und das Mädchen konnte sich gut daran erinnern, wie wichtig es ihrer Mama gewesen war. Sie spürte, wie ihr eine Träne über die Wange lief. Dem Mann konnte sie den Umschlag nicht geben, denn Mama hatte ganz deutlich gesagt, dass sie das auf keinen Fall tun dürfe. Sie knabberte an der Unterlippe und wusste nicht, ob sie etwas sagen oder schweigen sollte. Deshalb schloss sie die Augen und wünschte sich, nicht länger dort zu stehen, sondern neben ihrer Mama zu liegen, und alles wäre so wie früher. Als sie die Augen wieder öffnete, standen sie immer noch an derselben Stelle, sie und der Mann. Hoffnungslosigkeit durchfuhr sie. Lautlos weinte das Mädchen, ließ die Tränen einfach die Wangen hinabströmen und in den Schal tropfen.

Der Mann packte sie an der Schulter. »Gott wird dich nun freundlich aufnehmen. Kennst du irgendwelche Gebete?« Das Mädchen nickte verunsichert. »Gut.« Er schaute in das Loch. »Ich setze dich jetzt da hinein, und Gott kommt dich holen. Am besten betest du, bis er da ist. Dir wird kalt werden, aber dann schläfst du ein, und bevor du es merkst, bist du schon bei deiner Mama im Himmel.«

Das zierliche Mädchen fing auf einmal heftig an zu schluchzen, obwohl es alles tat, um dagegen anzukämpfen. Das war nicht richtig. Warum konnte Gott sie nicht einfach sofort zu sich holen, wenn er doch so gut war? Warum musste sie in das schwarze Loch klettern? Sie fürchtete sich im Dunkeln, und das war ein böses Loch. Ihre Mama hatte ihr das erzählt. Als die Kleine den Mann anschaute, wusste sie, dass sie hineinklettern musste, ob sie wollte oder nicht. Sie war wie erstarrt. Der Mann griff unter ihre Arme und hob sie hoch. Er ließ sie in das Loch gleiten. Das Kind drehte den Kopf, um einen letzten Blick auf den Hof zu werfen. Verwundert schaute sie zum Mansardenfenster. Jemand stand dort und beobachtete sie. Das Fenster war zu schmutzig und zu weit entfernt, um erkennen zu können, wer es war. Als sie vollständig in dem Loch verschwunden war, konnte sie ihre Hand nicht mehr vor Augen sehen und versuchte, gegen die Panik anzukämpfen. Gott war gut. Das war kein Geist am Fenster. Gott war gut. Und das leise, klägliche Weinen, das plötzlich durch die Öffnung hineindrang, stammte nicht von den toten Kindern. Gott war gut. Mama hatte es gesagt.

In dem Loch war es viel kälter als draußen. Das Mädchen versuchte, sich hinzusetzen, aber der Boden war noch kälter als zuvor der Autositz. Sie schlang die Arme um ihren Körper. Die Falltür neigte sich, und kurz bevor sie zuschlug, hörte sie den Mann sagen: »Alles Gute. Grüß deine Mama von mir. Und Gott. Und vergiss nicht, zu beten.«

Alles wurde schwarz. Das Mädchen versuchte, Luft zu holen, was ihm wegen des Schluchzens schwerfiel. Am schlimmsten fand sie, dass sie den Umschlag nicht übergeben hatte. Sie schloss die Augen und wurde ruhiger, als sie sich vorstellte, es wäre hell. Vielleicht würde jemand kommen und sie holen; die Person im Fenster würde sie bestimmt retten. Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich. Sie wollte nicht länger hier sein. Sie faltete die Hände:

Nun schließe ich die Augen,oh, Gott, lass deine Gnademich schützen diese Nacht.Ach, wenn du mich zu dir rufst,lass deinen Engel wachenüber meinen Schlaf.

1. KAPITEL

DIENSTAG, 6. JUNI 2006

»Briefeinwurfklappe«, berichtigte Dóra und lächelte höflich. »In der Verordnung heißt das Briefeinwurfklappe.« Sie zeigte auf den Ausdruck auf dem Schreibtisch und drehte ihn so, dass das Ehepaar auf der anderen Seite des Tisches den Text lesen konnte. Ihre Gesichter verdunkelten sich, und Dóra beeilte sich, fortzufahren, bevor der Mann eine weitere Schimpftirade loslassen konnte. »Als Verordnung Nummer 505/1997 über den Grundpostdienst von Verordnung Nummer 364/2003 über den allgemeinen Dienst und die Durchführung des Postdienstes abgelöst wurde, fiel Paragraph 12 zu Briefkästen und Briefeinwurfklappen weg.«

»Na also!«, rief der Mann und warf seiner Frau einen triumphierenden Blick zu. »Hab ich doch gleich gesagt! Sie können sich also nicht einfach weigern, uns die Post zuzustellen.« Er drehte sich zu Dóra, setzte sich auf und verschränkte die Arme.

Dóra räusperte sich dezent. »Leider ist das nicht ganz so einfach. Die neue Verordnung verweist in Bezug auf Briefeinwurfklappen und deren Positionierung auf die Bauverordnung. Alle Briefeinwurfklappen sollen demnach so angebracht sein, dass der Abstand vom Boden bis zur unteren Kante der Briefeinwurfklappe nicht weniger als 1000 und nicht mehr als 1200 Millimeter beträgt.« Dóra hielt kurz inne, um Luft zu holen, achtete jedoch darauf, dem Mann nicht die Gelegenheit zu geben, ihr ins Wort zu fallen. »In der Gesetzesverordnung Nummer 12/2002 zum Postdienst heißt es, den Postdienstleistern sei es gestattet, Postsendungen zurückzuschicken, wenn die Briefeinwurfklappe nicht den Bauvorschriften entspricht.«

Weiter kam sie nicht, denn dem Mann riss der Geduldsfaden. »Willst du mir damit sagen, dass ich keine Post mehr bekomme und nichts tun kann, um mich vor diesem Vorschriftenunwesen zu schützen?« Er schnaubte und gestikulierte wild mit den Händen, so als wolle er einen Angriff unsichtbarer Bürokraten abwehren.

Dóra zuckte die Achseln. »Du kannst die Briefeinwurfklappe natürlich erhöhen.«

Der Mann warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Ich dachte, du könntest uns helfen. Immerhin hast du versprochen, dich vorher in die Sache einzuarbeiten!«

Anstatt die Verordnung zu nehmen und sie dem Mann in sein feuerrotes Gesicht zu schleudern, ließ Dóra es zähneknirschend dabei bewenden. »Was ich selbstverständlich getan habe«, sagte sie ruhig und setzte ein falsches Lächeln auf. Sie hatte damit gerechnet, dass das Ehepaar beeindruckt wäre, wie perfekt sie die Nummern der Verordnungen herunterleiern konnte. Im Grunde hätte sie sich denken können, dass das einer dieser nervtötenden Fälle war, bei denen man sich völlig sinnlos wie ein Hamster im Laufrad abmühen musste. Schon als der Mann vor zwei Tagen mit erregter Stimme in der Kanzlei angerufen hatte, hätten die Alarmglocken läuten müssen. Gehetzt hatte er nach rechtlichem Beistand verlangt wegen einer Auseinandersetzung mit dem Postboten und der Post. Seine Frau und er hatten soeben ein Fertighaus bezogen, das aus Amerika importiert und mit sämtlichem Zubehör angeliefert worden war – darunter auch eine Haustür mit einem unzulässigen Briefschlitz. Eines Tages war die Frau nach Hause gekommen und hatte einen handgeschriebenen Zettel an der Haustür vorgefunden, auf dem stand, dass sie keine Post mehr zugestellt bekämen, weil der Briefschlitz zu niedrig sei. In Zukunft sollten sie ihre Sendungen bei der Post abholen. »Ich kann dir nur raten, das in dieser Situation Vernünftigste zu tun. Ein Prozess gegen die Isländische Post, wie du ihn in Erwägung ziehst, würde nur zusätzliche Kosten verursachen. Von einem Prozess gegen die Baubehörde rate ich dir ebenfalls ab.«

»Es kostet auch Geld, die Haustür austauschen zu lassen. Der Schlitz lässt sich nicht nach oben versetzen. Das habe ich dir doch schon gesagt.« Siegesgewiss schauten der Mann und die Frau einander an.

»Eine Haustür kostet jedenfalls weniger als irgendein Prozess.« Dóra reichte ihnen das letzte Dokument von dem Stapel, den sie vor dem Eintreffen des Ehepaars vorbereitet hatte. »Hier ist ein Brief, den ich in deinem Namen geschrieben habe.« Beide Eheleute griffen nach dem Papier, aber der Mann war schneller. »Die Post oder der Briefträger sind falsch vorgegangen. Ihr hättet ein förmliches Einschreiben bekommen sollen, in dem euch mitgeteilt wird, dass die Briefeinwurfklappe in einer unzulässigen Höhe angebracht ist. Des Weiteren hätte euch eine Korrekturfrist gesetzt werden müssen. Die Postzustellung hätte erst nach Ablauf dieser Frist eingestellt werden sollen.«

»Ein Einschreiben!«, tönte die Frau. »Wie sollen wir das denn kriegen, wenn uns nichts zugestellt wird!« Selbstzufrieden blickte sie zu ihrem Mann. Seine Reaktion war jedoch nicht so, wie sie erwartet hatte, und ihr Gesicht nahm schnell wieder einen beleidigten Ausdruck an.

»Ach, Liebes, verdreh doch nicht die Worte«, stieß der Mann hervor. »Einschreiben wirft man nicht in den Briefschlitz – die müssen bei Annahme quittiert werden.« Er wandte sich an Dóra. »Fahr bitte fort.«

»In dem Brief fordern wir ein korrektes Vorgehen der Post: dass ein Einschreiben geschickt, die Korrektur eingefordert und euch eine akzeptable Frist gesetzt wird. Wir setzen zwei Monate an.« Sie zeigte auf den Brief, den der Mann bereits gelesen hatte und nun an seine Frau weiterreichte. »Danach können wir nicht mehr viel tun. Ich empfehle euch, die Höhe der Briefeinwurfklappe vor Ablauf der Frist zu korrigieren. Wenn das aber nicht möglich ist, und ihr die Tür so belassen wollt, könnt ihr einen Briefkasten aufstellen. Der Schlitz muss sich innerhalb derselben Höhenangaben befinden, wie sie auch für die Einwurfklappe gelten. Falls ihr euch dafür entscheidet, rate ich euch, zur Vermeidung weiteren Ärgers, den Briefkasten mit Hilfe eines Zollstocks aufzustellen.« Sie lächelte dem Ehepaar trocken zu.

Der Mann sah sie scharf an und dachte nach. Plötzlich grinste er schadenfroh. »Okay. Ich verstehe. Wir schicken den Brief, bekommen ein Einschreiben und haben dann zwei Monate, in denen der Briefträger uns die Post zustellen muss, unabhängig von der Höhe der Luke, nicht wahr?« Dóra nickte. Mit triumphierendem Gesicht stand der Mann auf. »Wer zuletzt lacht, lacht am längsten. Ich schicke den Brief jetzt ab, und sobald ich die Frist bekommen habe, werde ich den Briefschlitz runter zur Türschwelle verlegen. Nach Ablauf der Frist stelle ich dann einen Briefkasten auf. Komm, Gerða!«

Dóra brachte die beiden zur Tür, wo sie sich bedankten und verabschiedeten. Der Mann hatte es eilig, den Brief einzuwerfen, damit die zweite Halbzeit seines Kleinkriegs mit dem Postboten eingeläutet werden konnte. Auf dem Weg zurück zu ihrem Schreibtisch schüttelte Dóra den Kopf, verwundert über das Wesen der Menschen. Auf was für Ideen die Leute kamen. Sie hoffte, dass Briefträger gut bezahlt würden, bezweifelte es aber stark.

Dóra hatte sich gerade wieder hingesetzt, als Bragi, der Miteigentümer ihrer kleinen Anwaltskanzlei, seinen Kopf durch die Tür steckte. Er war ein älterer Herr, der sich auf Scheidungen spezialisiert hatte. Dóra konnte sich nicht vorstellen, solche Fälle zu bearbeiten. Ihre eigene Scheidung reichte ihr für den Rest ihres Lebens. Bragi war auf diesem Gebiet jedoch ganz in seinem Element und es gelang ihm hervorragend, die kompliziertesten Fälle zu lösen und die Leute dazu zu bringen, ohne große Reibereien miteinander zu reden. »Na, wie ist es mit dem Briefschlitz gelaufen? Wird das ein Präzedenzfall vor dem Obersten Gerichtshof?«

Dóra lächelte ihm zu. »Nein, sie überlegen es sich nochmal. Wir müssen dran denken, die Rechnung mit einem Kurier zu schicken. Es ist völlig unklar, ob sie noch Post zugestellt bekommen.«

»Ich hoffe sehr, dass sie das kapieren«, sagte Bragi und rieb seine Handflächen gegeneinander. »Sonst hätten wir ein Verfahren, das sich gewaschen hat.« Er zog einen gelben Zettel hervor und reichte ihn Dóra. »Der hat angerufen, als die Postschlitz-Leute bei dir waren. Du sollst ihn zurückrufen, wenn du Zeit hast.«

Dóra schaute auf den Zettel und seufzte, als sie den Namen sah. Jónas Júlíusson. »Na super«, sagte sie und warf Bragi einen Blick zu. »Was wollte er denn?« Vor einem guten Jahr hatte Dóra diesen wohlhabenden Herrn mittleren Alters beim Abschluss eines Kaufvertrags unterstützt. Er hatte in ein Grundstück und einen Bauernhof in Snæfellsnes investiert. Jónas war im Ausland durch den Kauf insolventer Radiosender, die er wieder aufbaute und mit gewaltigem Gewinn verkaufte, schnell zu Geld gekommen. Dóra wusste nicht, ob er schon immer seltsam gewesen war oder ob es mit dem Geld zusammenhing. Zum damaligen Zeitpunkt war er fasziniert von Esoterik und wollte ein großes Zentrum mit Wellnesshotel errichten, zwecks ganzheitlicher Beseitigung aller möglichen körperlichen und seelischen Leiden durch alternative Behandlungsmethoden. Dóra schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an Jónas’ Pläne.

»Ein verdeckter Mangel, wenn ich ihn recht verstanden habe«, antwortete Bragi. »Er ist wohl irgendwie unzufrieden mit dem Anwesen.« Er lächelte ihr zu. »Ruf ihn an; mit mir wollte er nicht reden. Du bist für ihn aufsteigende Venus im Krebs und deshalb eine gute Rechtsanwältin.« Bragi zuckte mit den Schultern. »Ein aussagekräftiges Horoskop ist vielleicht auch keine schlechtere Empfehlung als gute Jura-Noten. Was weiß denn ich?«

»So ein Quatsch«, sagte Dóra und griff nach dem Telefon. Jónas hatte zu Beginn ihrer Zusammenarbeit ein Horoskop für sie anfertigen lassen, bei dem sie gut abgeschnitten hatte, und deshalb hatte er sie beauftragt. Dóra vermutete, dass die großen Kanzleien sich geweigert hatten, Informationen über die Geburtszeit ihrer Anwälte herauszugeben, und Jónas daraufhin nach kleineren Büros Ausschau gehalten hatte. Sonst ließe sich kaum erklären, warum sich ein Mann mit einem so großen Betrieb an eine Kanzlei mit nur vier Mitarbeitern wenden sollte. Sie wählte die Nummer, die Bragi auf den Zettel gekritzelt hatte, und schnitt eine Grimasse, während sie darauf wartete, dass abgenommen wurde.

»Hallo«, erklang eine sanfte Männerstimme, »Jónas.«

»Hallo Jónas, hier ist Dóra Guðmundsdóttir, Anwaltskanzlei Innenstadt. Ich sollte dich zurückrufen.«

»Ja, genau. Ich bin sehr froh, deine Stimme zu hören.« Der Mann seufzte.

»Bragi hat etwas von einem verdeckten Mangel erzählt. Worum geht es denn?«, fragte Dóra und schaute dabei den nickenden Bragi an.

»Ich kann dir sagen, es ist wirklich fürchterlich. Ein erheblicher verdeckter Mangel ist ans Licht gekommen, von dem der Käufer mit Sicherheit gewusst und den er mir verschwiegen hat. Ich glaube, das wird meine gesamte Planung hier in Gefahr bringen.«

»Worin besteht denn dieser verdeckte Mangel?«, fragte Dóra überrascht. Das Anwesen war vor dem Kauf von anerkannten Gutachtern sorgfältig geprüft worden, und sie hatte die Gutachten persönlich gegengelesen. Darin stand nichts, womit man nicht gerechnet hatte. Das Gelände war genauso groß, wie der Verkäufer angegeben hatte, und die beiden alten Höfe auf dem Grundstück waren so baufällig, dass man sie vollständig sanieren musste.

»Erinnerst du dich an das alte Gebäude, das ich in das Hotel integriert habe, den Kirkjustétt-Hof?«

»Ja, ich erinnere mich«, sagte Dóra und fügte hinzu: »Aber du weißt schon, dass sich der Mangel bei Immobilienkäufen auf mindestens zehn Prozent des Kaufpreises belaufen muss, um Schadenersatzforderungen geltend machen zu können? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein verdeckter Mangel bei einem so alten Haus diese Prozentzahl erreicht, selbst wenn er unbestreitbar erheblich ist. Außerdem muss ein solcher verdeckter Mangel ebendies sein – verdeckt. Aus den Gutachten geht deutlich hervor, dass die Gebäude von Grund auf sanierungsbedürftig sind.«

»Dieser Mangel macht den Hof für meine beruflichen Pläne so gut wie unbrauchbar«, sagte Jónas nachdrücklich. »Und es steht außer Frage, dass er verdeckt ist. Die Gutachter hätten ihn gar nicht erkennen können.«

»Und was hast du denn nun eigentlich überhaupt entdeckt?«

»Ich weiß, dass du für übernatürliche Phänomene nicht besonders empfänglich bist«, sagte Jónas ruhig. »Du wirst also wahrscheinlich verblüfft sein, wenn ich dir erzähle, was hier los ist, aber du musst mir bitte glauben.« Er schwieg einen Moment und ließ dann die Katze aus dem Sack. »Hier spukt es.«

Dóra schloss die Augen. Es spukte. Klar. »Ach so«, sagte sie in den Hörer, während sie sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn tippte, um Bragi zu signalisieren, dass Jónas’ Anliegen höchst sonderbar war. Bragi rückte näher heran, in der Hoffnung, Jónas’ Worte verstehen zu können.

»Ich wusste, dass du skeptisch sein würdest«, brummelte Jónas. »Aber es ist wahr und hier in der Gegend allgemein bekannt. Der Verkäufer hat es gewusst und beim Verkauf nichts darüber gesagt. Für mich ist das Betrug, vor allem, wenn man bedenkt, dass ihm meine Pläne für Hof und Grundstück bekannt waren. Ich habe hier sehr sensible Leute, und damit meine ich sowohl die Gäste als auch die Mitarbeiter. Sie fühlen sich unwohl.«

Dóra fiel ihm ins Wort. »Wie … gestaltet sich dieser Spuk denn?«

»Es sind einfach schlechte Schwingungen im Haus. Zum Beispiel verschwinden Dinge, in der Nacht hört man unerklärliche Laute, und Leute haben plötzlich ein Kind auftauchen sehen.«

»Und?«, fragte Dóra. Das war ja nun wirklich nichts Besonderes. Bei ihr zu Hause verschwanden unentwegt Dinge, vor allem Autoschlüssel, tagsüber wie nachts waren Geräusche zu hören, und Kinder tauchten ziemlich oft plötzlich auf.

»Hier gibt es gar kein Kind, Dóra. Auch nicht irgendwo in der Nachbarschaft.« Er schwieg einen Moment. »Das Kind ist nicht von dieser Welt. Ich habe es hinter mir auftauchen sehen, als ich in den Spiegel geschaut hab. Man kann gar nicht beschreiben, wie unlebendig es ist.«

Dóra spürte, wie ihr ein leichter Schauer über den Rücken lief. Etwas in Jónas’ Stimme sagte ihr, dass er wirklich daran glaubte, etwas Übersinnliches gesehen zu haben, wie unglaublich ihr das auch vorkommen mochte.

»Was soll ich tun? Willst du, dass ich mit den Verkäufern darüber spreche und versuche, den Kaufpreis zu drücken? Geht es darum? Eins ist jedenfalls klar – ich kann dich nicht von Geistern befreien oder die Schwingungen in dem Haus verbessern.«

»Komm übers Wochenende her«, schlug Jónas unvermittelt vor, »ich möchte dir ein paar Dinge zeigen, die wir hier gefunden haben, und mit dir besprechen, ob die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Die Suite ist frei, du kannst es dir richtig gut gehen lassen. Eine Hot-Stone-Massage nehmen und so. Du wirst rundum gestärkt wieder nach Hause fahren. Natürlich bezahle ich dich auch anständig.«

Dóra konnte eine Auszeit gut gebrauchen, auch wenn sie die von Jónas versprochene Erholung in Anbetracht des angeblichen Spuks etwas widersprüchlich fand. Momentan drehte sich ihr Leben vor allem um den angekündigten Enkel, den ihr Sohn mit noch nicht einmal 16 Jahren gezeugt hatte, und um das angespannte Verhältnis zu ihrem Ex-Mann, der sich in den Kopf gesetzt hatte, das Kind sei nur zustande gekommen, weil Dóra selbst als Mutter unfähig sei. Seiner Meinung nach hatten die Hormone ihres Sohnes am wenigsten Anteil an dem ganzen Dilemma; es war alles Dóras Schuld. Und diese Meinung teilte er mit den Eltern der zukünftigen 15-jährigen Mutter. Dóra seufzte. Um diese ganzen Sorgen aus ihrer ramponierten Seele zu massieren, bräuchte man ziemlich machtvolle heiße Steine.

»Was soll ich mir denn überhaupt anschauen, Jónas? Kannst du mir das nicht einfach in die Stadt schicken?«

Jónas lachte reserviert. »Nein, eigentlich nicht. Es ist eine Unmenge von Kisten mit alten Büchern, Zeichnungen, Bildern und allem möglichen Kram.«

»Warum glaubst du, dass das alte Zeug wichtig ist?«, fragte Dóra zweifelnd. »Und warum schaust du es nicht einfach selbst durch?«

»Ich schaffe es nicht. Ich hab’s versucht, aber es ist mir unheimlich. Ich kann das Zeug nicht anfassen. Du bist viel erdverbundener als ich, du kannst das alles bestimmt durchsehen, ohne etwas zu spüren.«

Dóra konnte ihm nur beipflichten. Auren, Elfen, Geister und Derartiges hatten ihr bisher noch nicht allzu viele Probleme bereitet. Das Greifbare hatte ihr das Leben schon schwer genug gemacht, dafür musste sie die Grenzen der Realität gar nicht erst verlassen. »Gib mir ein kleines bisschen Bedenkzeit, Jónas. Ich kann dir nichts versprechen, aber ich schaue mal, ob ich Zeit habe zu kommen. Ich rufe dich morgen Nachmittag an, reicht das?«

»Ja, ja. Ruf auf jeden Fall an, ich bin den ganzen Tag zu erreichen.« Jónas zögerte kurz, bevor er weiterredete. »Du willst wissen, warum ich den alten Krempel für wichtig halte?«

Dóra bejahte. »In der Kiste, die ich als erste durchgesehen habe, war ein altes Foto.«

»Und?«

»Auf dem Foto ist das Mädchen, das ich im Spiegel gesehen habe.«

2. KAPITEL

DONNERSTAG, 8. JUNI 2006

Die Akte mit den Unterlagen über den Grundstückskauf in Snæfellsnes war nicht sonderlich hilfreich, zumindest fand Dóra nichts, was auf diesen seltsamen »verdeckten Mangel« schließen ließ. Es handelte sich um ein ganz reguläres Immobiliengeschäft, abgesehen davon, dass Jónas Forderungen bezüglich diverser Datierungen gestellt hatte – beispielsweise musste der Kaufvertrag an einem Samstag unterschrieben werden. Dóra hatte nicht weiter nachgefragt, da sie einen langen Vortrag über den Stand der Himmelskörper fürchtete. Samstage bringen Glück, war das Einzige, was ihr dazu einfiel. Ansonsten war der Verkauf nichts Besonderes. Es ging um das Grundstück und alles, was dazugehörte, inklusive beweglicher Güter und Bodenerträge. Die Verkäufer waren ein Geschwisterpaar in den Fünfzigern, Börkur þórðarson und Elín þórðardóttir. Allerdings vertraten die beiden ihre Mutter, die das Land vor langer Zeit vom Vater geerbt hatte. Die Verkäufer hatten einen ziemlich guten Preis erzielt, und Dóra wusste noch genau, wie sehr sie die beiden damals um das Geld beneidet hatte.

Bei dem Gedanken, wie der Spuk finanziell beurteilt werden sollte, um den Wert des Anwesens um zehn Prozent zu mindern, musste Dóra lächeln. Doch dieses Lächeln verschwand sofort wieder, als sie sich vorzustellen versuchte, wie sie die Verkäufer davon überzeugen würde, wegen des Mangels nun Schadenersatz zu leisten. Der Bruder hatte sich maßgeblich um die Geschäfte seiner Mutter gekümmert; seine Schwester hatte Dóra nur einmal bei der Unterschrift des Kaufvertrages gesehen. Die Mutter selbst hatte sie nie getroffen. Laut Börkur war sie hochbetagt und bettlägerig. Auf Dóra wirkte der Bruder ziemlich anmaßend und selbstgefällig. Seine Schwester Elín hingegen schien still und zurückhaltend zu sein. Dóra hatte damals den Eindruck gehabt, dass sie nicht ganz so erpicht auf den Verkauf gewesen war wie ihr Bruder. Auch deswegen bezweifelte Dóra, dass er eine Schadenersatzforderung widerspruchslos hinnehmen würde. Dóra legte die Unterlagen beiseite, kreuzte die Finger und hoffte, Jónas würde seine Meinung ändern. Andernfalls müsste sie alles daransetzen, ihm die Sache auszureden.

Sie wandte sich ihren wenigen anderen, belanglosen Aufgaben zu. In der Kanzlei gab es leider nicht viel zu tun. Dóra stöhnte innerlich und verfluchte ihre Unfähigkeit in Geldangelegenheiten. Ende vergangenen Jahres hatte sie für eine wohlhabende deutsche Familie gearbeitet, die sie fürstlich bezahlt hatte. Wenn sie nur einen Funken Verstand besäße, hätte sie das Geld verwendet, um ihre Schulden abzuzahlen. Stattdessen hatte sie einen Wohnwagen und einen Jeep gekauft, ja sogar für den fehlenden Betrag einen Kredit aufgenommen und sich damit in noch größere Finanzschwierigkeiten gebracht. Dunkel erinnerte sich Dóra daran, dass sie von Reisen quer durchs Land bei sommerlicher Wärme geträumt hatte: die moderne Durchschnittsfamilie in den Ferien – eine geschiedene Mutter mit ihren zwei Kindern, in ihrem Fall eine sechsjährige Tochter und ein sechzehnjähriger Sohn, der allerdings selbst kurz davor war, Vater zu werden. Das Enkelkind hatte in diesem rosaroten Traum noch keinen Platz gehabt.

Als Dóra sämtliche Aufgaben erledigt hatte, ging sie ins Internet und suchte spaßeshalber nach Informationen über das Grundstück und die beiden alten Höfe. Sie probierte es mit den Namen der Höfe, wie sie im Kaufvertrag standen, Kirkjustétt und Kreppa, fand jedoch nichts – weder aus der Vergangenheit noch aus der Gegenwart. Schulterzuckend gab sie auf, checkte ihre E-Mails und sah zu ihrem Entsetzen, dass Matthias geschrieben hatte. Sie hatte den Deutschen bei der Untersuchung jenes Falls kennengelernt, der ihr am Ende den Wohnwagen und den Jeep und natürlich die Schulden beschert hatte. Sie hatte den Mann allerdings mehr als nur kennengelernt – sie hatte ihn »näher« kennengelernt, wie ihre Großmutter sagen würde –, und jetzt wollte er zu Besuch kommen, um ihre »nähere« Bekanntschaft zu vertiefen. Matthias wollte wissen, wann ihr ein kleiner Urlaub in Island am besten passen würde. Dóra wünschte sich seinen Besuch sehnlichst, wusste aber, dass ein günstiger Zeitpunkt dafür etwa im Jahr 2020 wäre, wenn ihre Tochter zwanzig würde. Sie war sich keineswegs sicher, ob Matthias so lange warten wollte. Deswegen schloss sie die E-Mail und entschied, mit der Beantwortung bis morgen zu warten.

Dóra erhob sich, räumte ihren Schreibtisch auf und seufzte. Sie überlegte kurz, ob ihr Seufzen mit der tiefen, unterdrückten Sehnsucht nach einem sorgenfreieren Leben ohne Schulden und verfrühte Enkelkinder zusammenhing, aber dann wurde ihr klar, dass es bei weitem nicht so kompliziert war. Sie stöhnte nur, weil sie auf dem Weg nach draußen an Bella vorbeigehen musste – Bella, die Sekretärin des Grauens, die Bragi und ihr bei der Gründung der Kanzlei zusammen mit dem Mietvertrag aufgenötigt worden war. Dóra riss sich zusammen und beeilte sich, hinauszukommen.

»Also dann, ich bin jetzt weg«, sagte Dóra, als sie am Empfangstresen vorbeiging. Sie dachte über die Möglichkeit nach, den Tresen zu erhöhen, sodass von der unattraktiven jungen Frau weniger zu sehen wäre, schämte sich jedoch umgehend und setzte ein scheinheiliges Lächeln auf. »Bis morgen!«

Bella hob die dunklen Augenbrauen und sah Dóra schräg an. Zur Vervollkommnung ihres unzufriedenen Gesichtsausdrucks zog sie einen Flunsch. »Du bist hier? Oh je.«

»Oh je? Was meinst du damit?«, fragte Dóra irritiert. »Wo sollte ich denn sonst sein? Du hast mich doch nach der Mittagspause reinkommen und nicht wieder rausgehen sehen. Ich springe normalerweise nicht aus dem Fenster.«

»Nee, leider nicht«, glaubte Dóra Bella murmeln zu hören, war sich aber nicht sicher. Wesentlich lauter sagte die junge Frau: »Dein Mann, also dein Ex hat wegen irgendwas angerufen, aber ich hab ihm gesagt, du seist nicht da. Er wollte keine Nachricht hinterlassen.«

Dóra war ihr dankbar, denn Telefonate mit Hannes waren nur selten vergnüglich. Sie hatte nicht die geringste Lust, Bella die Gelegenheit zu geben, sich über die Misserfolge in ihrem Leben lustig zu machen. Dóra beschloss, es gut sein zu lassen, denn sie hatte sich schon längst damit abgefunden, dass es keinen Sinn hatte, mit dieser Vogelscheuche zu diskutieren. Daher schenkte sie Bella lediglich ein weiteres Lächeln und holte ihre Jacke aus der Garderobe. Als sie fast entkommen war und an der Tür zum Hausflur stand – sogar schon mit der rechten Hand an der Türklinke –, räusperte sich das Mädchen und wollte offenbar noch etwas sagen.

»Äh, und dann hat Lýsing noch angerufen. Du hast die Rate für den Wohnwagen noch nicht bezahlt.«

Dóra drehte sich nicht um. Ruhig trat sie hinaus auf den Flur und schloss die Tür hinter sich. In diesem Moment hätte sie die Massage, die Jónas ihr angeboten hatte, liebend gerne angenommen – ob mit oder ohne heiße Steine.

Birna ließ ihren Blick schweifen und atmete tief ein. Durch den dünnen Dunstschleier schaute sie aufs Meer und beobachtete, wie sich ein Möwenpaar im Kampf um Nahrung in die Tiefe stürzte. Es war Ebbe, und nasser Tang bedeckte den steinigen Küstenstreifen. Dies war ein ungewöhnlicher Strand, ohne Sand, nur mit abgerundeten Kieselsteinen verschiedener Größe und Struktur. Die ganze Umgebung war eindrucksvoll – eine kleine Bucht, eingerahmt von hohen Säulenbasalten, die der Allmächtige offenbar als Vogelbehausungen entworfen hatte. Jeder Felsvorsprung wurde genutzt, und der Lärm der Vögel war ohrenbetäubend. Birna ging bis zur schmalsten Stelle am äußersten Ende des Strandes, wo die Felsen eine Schlucht formten. Das Wasser flutete durch einen Steinbogen vom offenen Meer in die rundum von Stein eingeschlossene Bucht. Nur zwischen den hohen Felswänden hindurch konnte man in die Schlucht hineinschauen, aus der das Kreischen der Vögel über den ganzen Strand hinweg tönte.

Birna blieb stehen. Der Nebel war auf einmal dichter geworden und umhüllte ein eiskaltes Licht, sodass sie nur noch wenige Meter weit sehen konnte. Sie atmete tief ein, diesmal durch die Nase, und genoss den unverwechselbaren Strandgeruch. Am liebsten würde sie hier unter freiem Himmel schlafen, nur vom Nebel eingehüllt. Sie hatte überhaupt keine Lust, zurück zum Hotel zu gehen. Eigentlich sollte das anders sein. Eigentlich mochte sie das Gebäude, und es hatte sie stets mit kindlichem Stolz erfüllt, es zu betrachten, sogar, als es noch im Rohbau war. Das Gelände, auf dem das Hotel errichtet werden sollte, hatte sie sofort fasziniert, als sie zum ersten Mal herkam, um sich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen. Das Grundstück lag am offenen Meer an der Südküste der Halbinsel Snæfellsnes und unterschied sich im Grunde nicht sehr von anderem Bauland in dieser Gegend, war allerdings etwas abgelegener; das Gehöft war erst zu erkennen, wenn man es fast erreicht hatte. Der Hof stand auf einem mit Gras bewachsenen Gelände, versteckt in einem schroffen, fast bis zum Meer hinunterreichenden Lavafeld.

Das Hotel war ihre weitaus beste Arbeit, viel besser als alles, was sie je entworfen hatte. Ihr wurde bewusst, dass sie jetzt endlich vorankommen würde. Gefragt sein würde. Endlich eine angesehene Architektin.

Birna sah auf die Uhr. Was war nur los mit dem Mann? War er bei dieser bescheuerten Séance hängen geblieben? Die Nachricht war doch eindeutig. Sie holte ihr Handy heraus und öffnete die SMS. Doch, es stimmte. Triff mich um neun an der Schlucht. So ein verdammter Unsinn. Bevor sie das Handy wieder in ihre Tasche steckte, überzeugte sie sich davon, dass sie keinen Empfang hatte. Das war das Unangenehmste an dieser Gegend, dass man sich nie auf den Handyempfang verlassen konnte.

Sie beschloss, noch einmal zur Schlucht zu gehen. Gut möglich, dass er schon da war. Die Schlucht befand sich zwar am höchsten Punkt des Strandes, aber die Sicht war inzwischen so schlecht, dass er vielleicht dort stand und wartete, ohne dass sie ihn sah. Hoffentlich hatte er endlich seine Meinung geändert und sich von ihren Argumenten überzeugen lassen. Sie hatte schon genug Energie für die Sache verpulvert. Allerdings bezweifelte sie es, da er so vehement dagegen gewesen war. Dennoch hoffte sie, er würde ihr beipflichten. Falls es so kommen würde, war es nur ihr selbst zu verdanken. Sie hatte nachgegeben und mit ihm geschlafen. Wenn es schon nicht besonders befriedigend für sie gewesen war, dann hätte es ihr somit wenigstens etwas gebracht. Es war wichtig, mehrere Eisen im Feuer zu haben, wenn der Wettbewerb losging. Obwohl sie den Sieg eigentlich schon in der Tasche hatte, durfte er keine Fragen aufwerfen. Deshalb hatte sie es über sich ergehen lassen müssen. Was spielte ein unbedeutender Geschlechtsverkehr schon für eine Rolle im Vergleich mit einem Sieg in dem Wettbewerb?

Birna seufzte. Es war kühl geworden, und sie zog ihren Anorak fester um sich. Was war das eigentlich für ein Sommer? Sie hatte die Schlucht erreicht, konnte aber niemanden sehen. Sie rief, falls er irgendwo in der Nähe war, aber niemand antwortete. Zehn Minuten. Sie würde ihm zehn Minuten geben und dann gehen. Nein, fünf.

Erneut tönte ungewöhnlich lauter und eindringlicher Vogellärm von der Felswand, an die Birna sich gelehnt hatte. Sie erschrak und trat zwei Schritte vor. Sie hatte ein beunruhigendes Gefühl und erschauderte. Nicht zum ersten Mal. Es lag an diesem Ort. Nicht nur wegen der unerträglichen Spinner, die im Hotel arbeiteten und sich als Seelenklempner der Hotelgäste ausgaben. Und dann diese Gäste selbst – die waren genauso schräg. Aber nicht ganz so schlimm. Nein, es war noch etwas anderes. Etwas, das langsam, aber sicher stärker geworden war, sich schon bei der ersten Ortsbegehung bemerkbar gemacht hatte. Ausgerechnet sie, die bei ihren Freunden für ihre besonders ausgeprägte, wenn auch etwas langweilige Bodenhaftung bekannt war. Birna versuchte zu lächeln, als sie daran dachte, wie Eiríkur, der hoteleigene Hellseher sich aufgeführt hatte, als sie diese Woche angereist war. Er hatte sie fest am Handgelenk gepackt und geflüstert, ihre Aura sei schwarz. Sie solle vorsichtig sein. Der Tod sei ihr auf den Fersen. Bei dem Gedanken an seinen ekelerregenden Atem und Körpergeruch verzog sie das Gesicht.

Die fünf Minuten waren vergangen. Dem würde sie ihre Meinung sagen. Sie tastete sich vorsichtig über die Steine in Richtung des Kieswegs oberhalb vom Strand. Plötzlich blieb sie stehen und lauschte. Hinter ihr knirschte der steinige Boden. Sie wollte sich umdrehen, konnte es kaum erwarten, ihrem Ärger, der sich während des Wartens aufgestaut hatte, endlich Luft zu machen. Das wurde ja verdammt nochmal Zeit. Er war da. Birna schaffte es nicht mehr, sich ganz umzudrehen. Trotz des Getöses vom Vogelfelsen konnte sie das Zischen des Gegenstands, der sich durch die windstille Meeresluft auf ihren Kopf zubewegte, genau hören. Sie sah den grauen Stein im selben Moment, als er mit voller Wucht gegen ihre Stirn prallte. Dann sah sie in diesem Leben nichts mehr. Sie spürte jedoch einiges. Auf undeutliche, traumhafte Weise spürte sie, wie sie über den groben Erdboden gezogen wurde. Sie spürte die Gänsehaut, die der kalte Nebel auf ihrem nackten Körper auslöste, als ihr die Kleider vom Leib gerissen wurden, und sie spürte den eisenhaltigen Blutgeschmack im Mund und die anschließende Übelkeit. Die Socken wurden ihr von den Füßen gezogen, gefolgt von einem schrecklichen Schmerz unter den Fußsohlen. Was …? Alles war wie in einem Traum, ungreifbar. Eine Stimme, die sie gut kannte, drang an ihr Ohr, aber in Anbetracht der Dinge, die geschahen, war das doch nicht möglich. Birna versuchte, etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Ein merkwürdiges Stöhnen kam aus ihrer Kehle, aber sie hatte nicht gestöhnt. All das war höchst seltsam.

Dasselbe Möwenpaar, das Birna dabei beobachtet hatte, wie es sich auf seiner Jagd nach Nahrung ins Meer stürzte, verharrte weiter draußen am Strand und verfolgte geduldig durch den Dunst die Geschehnisse. Die Gezeiten und das Meer würden den Rest erledigen. Hier musste keiner hungern.

3. KAPITEL

FREITAG, 9. JUNI 2006

»Ich verstehe nicht, wo Birna abgeblieben ist«, murmelte Jónas und reckte sich nach der geblümten Tasse mit dem Gesöff, das er Dóra soeben wortreich beschrieben hatte. Es war ein speziell hergestellter Tee aus Kräutern der Umgebung, der laut Jónas alle möglichen Krankheiten und Gebrechen heilte. Dóra hatte eine Tasse genommen, leicht gesüßt, und dem Geschmack nach zu urteilen, musste der Tee außerordentlich gesund sein. »Es wäre gut, wenn ihr euch kennenlernen würdet«, fügte er hinzu, nachdem er an der Brühe genippt und die Tasse vorsichtig auf die Untertasse gestellt hatte. Das Ganze hatte etwas Lächerliches an sich; Tasse und Untertasse waren sehr stilvoll, aus hauchdünnem Porzellan mit einem zierlichen Griff, der in Jónas’ großen Händen noch fragiler wirkte. Jónas war alles andere als feingliedrig, von kräftiger Statur, jedoch nicht fett, und wettergegerbt; seine ganze Erscheinung ließ darauf schließen, dass es sich um einen Mann handelte, der an Bord eines Fischkutters Kaffee aus einem Becher hinunterkippt, anstatt nach der Yogastunde an einem Damentässchen mit ungenießbarem Kräutertee zu nippen.

Dóra rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Sie waren in Jónas’ Büro im Hotel, und ihr Rücken schmerzte nach der langen Fahrt. An diesem Freitag war viel Verkehr gewesen, und zu allem Überfluss hatte sie auf dem Weg aus der Stadt auch noch die Kinder zu ihrem Vater nach Garðabær fahren müssen. Die Autos waren vorwärtsgekrochen, und es hatte ganz den Anschein, als führen alle Hauptstadtbewohner denselben Weg. Obwohl dies eigentlich kein Papa-Wochenende war, hatte Hannes sie gebeten, mit ihm zu tauschen, weil er nächstes Wochenende zu einem Ärztekongress ins Ausland fahren musste und die Kinder nicht nehmen konnte. Daher hatte Dóra beschlossen, Jónas beim Wort zu nehmen und das Wochenende in dem Esoterik-Hotel in Snæfellsnes zu verbringen. Sie wollte die Chance nutzen und sich erholen, eine Massage und die Entspannung genießen, die Jónas ihr versprochen hatte. Der Hauptzweck der Reise war jedoch, ihm die Schadenersatzansprüche wegen Spukerscheinungen auszureden. Dóra wollte das Gespräch so schnell wie möglich beenden, ihr Zimmer beziehen und ein Nickerchen machen. »Sie wird schon wieder auftauchen«, sagte sie ins Blaue hinein. Dóra kannte die Architektin überhaupt nicht; die Frau hätte ebenso gut eine hysterische Alkoholikerin sein können, die abgestürzt war und sich die nächsten Wochen nicht blicken lassen würde.

Jónas schnaubte. »Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Wir wollten morgen die Entwürfe für das neue Gebäude durchsehen.« Er wühlte in irgendwelchen Papieren auf dem Tisch, offensichtlich verärgert über die Architektin.

»Vielleicht hatte sie in der Stadt was zu erledigen?«, fragte Dóra und hoffte, er würde aufhören, über diese Frau zu reden. Die Schmerzen im Rücken zogen langsam hoch zu den Schultern.

Jónas schüttelte den Kopf. »Ihr Auto steht vor dem Haus.« Er schlug mit beiden Händen gegen die Tischkante. »Aber was soll’s. Du bist jedenfalls hier.« Er lächelte Dóra zu. »Ich brenne darauf, dir von dem Spuk zu erzählen, aber das muss leider warten«, er schaute auf seine Armbanduhr und stand auf, »ich muss die Runde machen. Es gehört zu meinen Prinzipien, am Ende des Tages mit meinen Leuten zu reden. Ich kriege ein besseres Gefühl für den Betrieb und die Stimmung, wenn ich Probleme von Anfang an mitbekomme. Dann kann man besser eingreifen.«

Dóra erhob sich erleichtert. »Ja, natürlich. Wir unterhalten uns dann morgen darüber. Mach dir keine Gedanken um mich. Ich bleibe das ganze Wochenende hier, und wir haben genug Zeit, die Sache zu besprechen.« Als Dóra sich ihre Handtasche über die Schulter hängte, bemerkte sie einen üblen Geruch und rümpfte die Nase. »Was ist das eigentlich für ein entsetzlicher Gestank?«, fragte sie Jónas. »Ich hab es schon draußen auf dem Parkplatz gerochen. Gibt’s hier in der Nähe eine Lebertranfabrik?«

Jónas schnüffelte und atmete ein paar Mal rasch ein. Dann schaute er Dóra ausdruckslos an. »Ich rieche nichts. Wahrscheinlich habe ich mich schon an diesen Mief gewöhnt«, sagte er. »Unten am Strand ist ein Wal angespült worden. Je nachdem, wie der Wind steht, weht der Gestank hier rüber.«

»Und jetzt?«, sagte Dóra. »Wartest du einfach, bis der Kadaver verwest ist?« Sie verzog das Gesicht, als der Geruch sich wieder bemerkbar machte. Wenn an dem Grundstücksverkauf irgendetwas in diesem Stil zu bemängeln wäre, damit könnte man wenigstens arbeiten.

»Du gewöhnst dich dran«, sagte Jónas. Er nahm das Telefon und tippte eine Nummer ein. »Hi. Ich schicke Dóra zu dir. Zeig ihr das Zimmer und reservier ihr für heute Abend eine Massage.« Er verabschiedete sich und legte auf. »Komm mit zur Rezeption, ich habe dir eins der besseren Zimmer mit grandioser Aussicht geben lassen. Du wirst nicht enttäuscht sein.«

Ein junges Mädchen begleitete Dóra auf ihr Zimmer. Sie war ziemlich schmächtig und reichte Dóra gerade mal bis zur Schulter. Es widerstrebte Dóra beinahe, sich von der Kleinen den Koffer tragen zu lassen, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie war froh, dass das Gepäck nicht schwer war, obwohl sie, wie immer, viel zu viel mitgenommen hatte. Dóra folgte dem Mädchen durch einen langen Flur, der aufgrund des durch die Dachfenster fallenden Lichts breiter wirkte, als er eigentlich war. Die Abendsonne beschien das dünne blonde Haar des Mädchens. »Ist bestimmt nett, hier zu arbeiten«, meinte Dóra, nur um etwas zu sagen.

»Nee«, antwortete das Mädchen, ohne aufzuschauen. »Ich bin auf der Suche nach einem neuen Job. Aber es gibt nichts.«

»Oh«, sagte Dóra. Sie hatte nicht mit einer so offenen Antwort gerechnet. »Liegt es an den Kollegen?«

Das Mädchen drehte sich kurz um, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. »Ja und nein. Die meisten sind in Ordnung. Ein paar sind furchtbar langweilig.« Das Mädchen blieb vor einer Tür stehen, fischte eine Plastikkarte aus der Tasche und öffnete die Zimmertür. »Ich bin da vielleicht kein guter Maßstab. Ich hab nicht besonders viel übrig für diesen Mist, den sie den Gästen hier aufdrängen.«

Dieses Mädchen war nicht gerade die geborene Servicekraft. »Und deshalb willst du aufhören?«

»Nee, nicht direkt«, antwortete das Mädchen und ließ Dóra den Vortritt. »Es ist etwas anderes. Ich kann das nicht genau erklären. Das ist ein schlechter Ort.«

Dóra war schon über die Türschwelle getreten und konnte das Gesicht des Mädchens nicht sehen. Ihr war nicht klar, ob sie das ernst meinte, aber ihre Stimme klang so. Dóra schaute sich in dem hübschen Zimmer um und trat an die große Fensterfront mit Blick aufs Meer. Davor befand sich eine kleine Sonnenterrasse. »Inwiefern schlecht?«, fragte sie und drehte sich zu dem Mädchen. Der Ausblick jedenfalls – das Blitzen der sich kräuselnden Wellen und der idyllische Strand – war alles andere als schlecht.

ENDE DER LESEPROBE