Die eisblaue Spur - Yrsa Sigurdardóttir - E-Book

Die eisblaue Spur E-Book

Yrsa Sigurdardóttir

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Beschreibung

Ein entlegenes Forschungscamp im eisigen Grönland: Zwei isländische Arbeiter sind verschwunden. Außerdem weigert sich der Rest des Teams, ins Camp zurückzukehren. Wovor haben sie Angst? Die junge Anwältin Dóra Gudmundsdóttir ermittelt. Als sie bei einem heftigen Schneesturm im Camp festsitzt, entdeckt sie alte Kultgegenstände und menschliche Knochen. Doch nachdem der Sturm sich gelegt hat, macht die grönländische Polizei einen noch viel grausameren Fund...

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Yrsa Sigurdardóttir

Die eisblaue Spur

Thriller

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Ein entlegenes Forschungscamp im eisigen Grönland: Zwei isländische Arbeiter sind verschwunden. Außerdem weigert sich der Rest des Teams, ins Camp zurückzukehren. Wovor haben sie Angst? Die junge Anwältin Dóra Gudmundsdóttir ermittelt. Als sie bei einem heftigen Schneesturm im Camp festsitzt, entdeckt sie alte Kultgegenstände und menschliche Knochen. Doch nachdem der Sturm sich gelegt hat, macht die grönländische Polizei einen noch viel grausameren Fund …

Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir ermittelt in ihrem vierten Fall.

 

YRSA SIGURDARDÓTTIR, geboren 1963, ist eine vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin, deren Thriller in über 30 Ländern erscheinen. Sie zählt zu den »besten Kriminalautorinnen der Welt« (Times Literary Supplement). Sigurdardóttir lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Reykjavik. Sie debütierte 2005 mit »Das letzte Ritual«, der Erfolgs-Serie von Thrillern um die junge Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir. Bei btb erscheint mit dem Spiegel-Bestseller »DNA« und »SOG« außerdem die Serie um Kommissar Huldar und Kinderpsychologin Freyja.

 

YRSA SIGURDARDÓTTIR BEI BTBDas letzte Ritual. Thriller (71440) Das gefrorene Licht. Thriller (71441) Das glühende Grab. Thriller (71837) DNA. Thriller (71575) SOG. Thriller (71756)

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Audnin« bei Veröld, Reykjavík.

 

 

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1. Auflage Genehmigte Ausgabe Februar 2019 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCopyright der Originalausgabe © 2008 by Yrsa Sigurdardóttir Erstmals auf Deutsch erschienen 2010 im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. Covergestaltung: semper smile, München Covermotiv: © plainpicture/Johner/Mikael Svensson; Shutterstock/Slava Gerj mr · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-24527-6V002

 

www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

www.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightPROLOG
31. OKTOBER 2007
1. KAPITEL
18. MÄRZ 2008
2. KAPITEL
18. MÄRZ 2008
3. KAPITEL
19. MÄRZ 2008
4. KAPITEL
19. MÄRZ 2008
5. KAPITEL
19. MÄRZ 2008
6. KAPITEL
20. MÄRZ 2008
7. KAPITEL
20. MÄRZ 2008
8. KAPITEL
20. MÄRZ 2008
9. KAPITEL
20. MÄRZ 2008
10. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
11. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
12. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
13. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
14. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
15. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
16. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
17. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
18. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
19. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
20. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
21. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
22. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
23. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
24. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
25. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
26. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
27. KAPITEL
23. MÄRZ 2009
28. KAPITEL
23. MÄRZ 2008
29. KAPITEL
23. MÄRZ 2008
30. KAPITEL
23. MÄRZ 2008
31. KAPITEL
23. MÄRZ 2008
32. KAPITEL
24. MÄRZ 2008
33. KAPITEL
24. MÄRZ 2008
34. KAPITEL
24. MÄRZ 2008
EPILOG
20. MAI 2008
PERSONEN DER HANDLUNG

 

 

 

 

 

Anmerkungen

 

Die isländischen Buchstaben werden wie folgt ausgesprochen:

Æ bzw. æwie ai in KaiserÐ bzw. ðwie englisches stimmhaftes th in thisÞ bzw. Þwie englisches stimmloses th in thick

Weil sich alle Isländer üblicherweise mit dem Vornamen anreden, wurde auch in dieser Übersetzung – bei Gesprächen der Isländer untereinander – die Du-Form gewählt.

 

 

 

 

 

Viele Menschen haben mir bei der Entstehung dieses Buches geholfen. Mein besonderer Dank geht an Jenný Einarsdóttir von der Firma Ístak, an die Eheleute Jóhann Kröyer und Arnbjörg Jóhannsdóttir sowie an Arvid Thastum aus Kulusuk.

Aus gegebenem Anlass möchte ich darauf hinweisen, dass die Figuren in dieser Geschichte, von denen einige nach meinen Freunden und Verwandten benannt sind, bis auf die Namen nichts mit diesen gemein haben.

Ich widme dieses Buch meiner Schwester Laufey Ýr Sigurðardóttir.

 

Yrsa

PROLOG

31. OKTOBER 2007

Oddný Hildur schaute vom Bildschirm auf, setzte die Kopfhörer ab und lauschte. Draußen brauste der Wind, bei starken Böen knirschte das Holzhaus, ansonsten war kein Laut zu hören. Merkwürdig. Sie hatte das Gefühl, nicht allein im Haus zu sein. Oddný Hildur lockerte ihre verspannten Schultern und schaute auf die Uhr. Nur noch ein paar Minuten bis Mitternacht. Es war so gut wie ausgeschlossen, dass so spät noch jemand rübergekommen war; die meisten schliefen schon längst. Also doch Einbildung. Wer sollte um diese Zeit noch unterwegs sein? Oddný Hildur seufzte. Sie hatte ohne Pause gearbeitet, seit sie nach dem Abendessen ins Bürogebäude gegangen war. Das Wetter war umgeschlagen. Die schöne, eiskalte Stille hatte sich in einen lärmenden Sturm verwandelt, der den Neuschnee hochwirbelte. Die Wetterumschwünge in dieser Gegend überraschten sie schon lange nicht mehr, auch wenn man sich schwer daran gewöhnen konnte. Sie hätte sich besser an die Sicherheitsvorschriften gehalten und den anderen Bescheid gesagt, aber sie wollte nicht, dass jemand sie begleitete. Arnar hatte eigentlich noch arbeiten wollen, sich aber zum Glück nicht blicken lassen. Oddný Hildur war froh, allein mit sich und ihrer Arbeit zu sein, denn einiges hatte sich verzögert und war liegengeblieben. Wenn die anderen da waren, hatte man keine Ruhe, besonders abends, nach einem langen Arbeitstag.

Plötzlich jedoch beschlich sie ein unangenehmes Gefühl. Normalerweise hatte sie keine sehr blühende Phantasie; alles, was nichts mit eindeutigen Fakten zu tun hatte, interessierte sie nicht. Das kam ihr als Geologin zugute, stand ihr aber bei zwischenmenschlichen Beziehungen manchmal im Weg. Oddný Hildur gähnte und schüttelte das ungute Gefühl ab.

Bevor sie den Computer ausschaltete, checkte sie, ob ihr Mann Stebbi auf MSN war, aber natürlich lag er längst im Bett. Aufgrund der Zeitverschiebung war es bei ihm mitten in der Nacht, und er musste um acht Uhr auf der Arbeit in Ártúnshöfði sein und wegen des Berufsverkehrs sehr früh in Hafnarfjörður losfahren. Sie hatten dort eine Wohnung gekauft, was auch der Grund dafür war, dass sie diesen stressigen Job angenommen hatte. Er war viel besser bezahlt als ein vergleichbarer Job in Reykjavik, vor allem wegen der langen Trennung von der Familie. Sie hatten sich erst entschlossen, eine Wohnung zu kaufen, als die Immobilienpreise explodiert waren, und nun kämpften sie mit dem Abbezahlen des Kredits. Zum Glück hatten sie keinen ausländischen Kredit aufgenommen, wie so viele Isländer, die jetzt unter dem Fall der Krone litten. Als Oddný Hildur die Anzeige des Bauunternehmens Bergtækni für den Job an der Ostküste Grönlands gesehen hatte, hatte sie sich aus Vernunftgründen beworben. Ihr Mann war nicht gerade begeistert gewesen, denn das bedeutete, dass sie vier Wochen am Stück weg war. Aber sie versuchte, die positiven Seiten zu sehen: gute Bezahlung und zwischen den Schichten zwei Wochen frei. Am Ende hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie den Job für ein bis zwei Jahre machen würde. Danach würden sie die Familienplanung in Angriff nehmen, die sie aus finanziellen Gründen erst mal aufgeschoben hatten. Doch bis dahin musste Oddný Hildur in dem abgeschiedenen Camp an diesem gottverlassenen Ort ausharren.

Ein paarmal hatte Stebbi nicht schlafen können und war noch online gewesen, aber diesmal leider Fehlanzeige auf dem Monitor. Sie spürte ganz deutlich, dass jemand auf ihren Nacken starrte. Natürlich wusste sie, dass das nicht möglich war, musste aber dennoch allen Mut zusammennehmen, um sich umzudrehen. Noch zwei Tage bis zum Schichtende, sie war einfach ausgelaugt. Zu allem Überfluss war die Wettervorhersage schlecht, und sie hatte Angst, bei stürmischem Wetter nach Hause fliegen zu müssen oder sogar festzusitzen. Außerdem ärgerte sie sich, dass sie vorhin bei dem Streit derart heftig geworden war und den Mund so voll genommen hatte.

Oddný Hildur erstarrte.

War da jemand vor dem Fenster? Entweder drehte sie durch, oder sie wurde wirklich beobachtet. Von draußen konnte man sie in dem hell erleuchteten Büro gut sehen. Ganz langsam drehte sich Oddný Hildur auf ihrem Stuhl um und spähte in die schwarze Nacht hinaus, sah aber nur ihr eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe. Ihr Gesicht wirkte viel jünger, die weit aufgerissenen, angstvollen Augen verliehen ihr etwas Kindliches, Vertrautes, das sie lange nicht mehr gesehen hatte. Warum stellte sie sich eigentlich so an? Sie musste allein im Bürogebäude sein; Arnar hätte bestimmt bei ihr vorbeigeschaut, wenn er wirklich noch rübergekommen wäre. Und natürlich war da draußen niemand. Ihre Kollegen würden bestimmt nicht bei diesem katastrophalen Wetter im Freien rumlungern und sie beobachten. Und die Dorfbewohner? War vielleicht ein Einheimischer da draußen? Oddný Hildur verfluchte sich selbst dafür, die Außentür nicht abgeschlossen zu haben. Aber das war doch Unsinn! Natürlich war niemand bei diesem Gegenwind den ganzen Weg vom Dorf zum Camp marschiert; die Einzigen, die auf eine solche Idee kommen könnten, waren die Säufer, und Oddný Hildur wusste sehr wohl, dass die längst ihren Rausch ausschliefen. Obwohl die Einheimischen den Bergtæskni-Leuten gegenüber misstrauisch waren, glaubte Oddný Hildur nicht, dass ihre Abneigung so weit ging, dass sie ihnen etwas antun würden.

Und dennoch ließ gegen jede Vernunft das unheimliche Gefühl nicht nach. Oddný Hildur rollte den Stuhl an die Wand und schaltete das Licht aus, zögerte jedoch, aus dem Fenster zu schauen. Schließlich gab sie sich einen Ruck.

Ein Windstoß fegte ums Haus, dann legte sich der Sturm ein wenig. Oddný Hildur stockte der Atem, als sie ihn sah. Ein großer, zottiger Schlittenhund saß auf dem Parkplatz hinter dem Haus und glotzte sie an. Seine Ohren zuckten im Wind, alles andere an ihm war wie erstarrt. Ihre Augen begegneten sich, der Hund stierte sie unverwandt an. Wie hypnotisiert schaute Oddný Hildur zurück, während ihr das Herz bis in den Hals schlug. Eine der ersten Anweisungen, die sie bekommen hatte, war, sich den Schlittenhunden nicht zu nähern, sie nicht zu streicheln und ihnen nichts zu fressen zu geben. Sie waren Arbeitstiere, die ein ganz anderes Verhältnis zu Menschen hatten als Haustiere. Das hatte Oddný Hildur indirekt miterlebt, als sie kurz nach ihrem Arbeitsbeginn eine Mitfluggelegenheit mit einem Krankentransport von Grönland nach Reykjavik bekam. Das war das erste und letzte Mal, dass sie mit einem solchen Transport mitgeflogen war. Ein kleines Mädchen war in eine Gruppe von Schlittenhunden hineingelaufen und mehrmals ins Gesicht gebissen worden. Ihr Weinen hallte während des gesamten Flugs durch die Maschine und lag Oddný Hildur immer noch in den Ohren, ebenso wie die verzweifelten Versuche der Mutter, das Kind zu beruhigen. Oddný Hildurs Magen verkrampfte sich bei der Erinnerung daran, wie das Mädchen ausgesehen hatte, als sie es ein paar Monate später bei einem ihrer seltenen Ausflüge ins Dorf mit einer Puppe am Straßenrand hatte spielen sehen. Vielleicht war der Hund da draußen ja einer von denen, die das Mädchen angegriffen hatten. Die Hunde waren damals nicht eingeschläfert worden. Oddný Hildur überlegte, ob sie ihren Stolz überwinden und Gisli anrufen sollte. Er war für die Sicherheit auf dem Gelände verantwortlich, war pflichtbewusst und unglaublich hilfsbereit und würde sie bestimmt anstandslos zu ihrer Wohnung hinüberlotsen. Aber Oddný Hildur hatte keine Lust auf das Geläster ihrer Kollegen, weil sie mitten in der Nacht jemanden aus dem Bett holte, nur damit er sie ein winziges Stück begleitete. Sie war ohnehin schon unbeliebt genug. Nein, sie würde das allein schaffen.

Man hatte ihr gesagt, die Hunde würden einen nicht sofort angreifen, sie seien völlig ungefährlich, solange man sie in Ruhe ließ. Oddný Hildur würde das kurze Stück zielstrebig hinübergehen, der Hund würde ruhig sitzen bleiben und dann in der Dunkelheit verschwinden. In Windeseile wäre sie in ihrer Wohnung und läge im Bett. Sie schaltete den Computer aus und machte sich bereit zu gehen. Bevor sie in den Flur trat, schaute sie noch einmal aus dem Fenster und sah, dass der Hund sie immer noch anstarrte. Dann neigte er plötzlich den Kopf, so als wundere er sich darüber, dass sie aufgestanden war. Jetzt wusste er, dass sie hinausgehen wollte. Er würde bestimmt vor der Tür auf sie warten. Der Hund schien jedoch nicht so schlau zu sein und blieb einfach sitzen. Oddný Hildur wollte gerade die Jalousie zuziehen, als das Tier aufjaulte, so dass sie zusammenzuckte und die Schnur der Jalousie aus ihrer Hand glitt. Sie hörte entferntes Bellen, doch was sie noch mehr beunruhigte, war die plötzliche Bewegung des Tieres. Oddný Hildur ließ die Jalousie offen und eilte in den Flur. Auf dem Weg zur Außentür schaltete sie das Licht in Arnars Büro aus; die anderen Zimmer lagen im Dunkeln.

Im Vorraum schlüpfte sie in eine dicke Daunenjacke, die bei diesem Höllenwetter von unschätzbarem Wert war. In Gedanken noch bei dem entstellten Gesicht des kleinen Mädchens, nahm sie einen Schal vom Haken und wickelte ihn sich fest um den Kopf, so dass nur noch ihre Augen zu sehen waren. Dann zog sie Handschuhe an und suchte sich die wärmsten Stiefel heraus. Ihre Schuhe waren noch nass, denn sie hatte wieder einmal vergessen, sie zum Trocknen umzudrehen. Während sie gearbeitet hatte, war der Schnee an den Schuhen geschmolzen, und nun waren sie nass und klamm. Dasselbe galt für ihre Mütze, die auf den feuchten Fußboden gefallen war. Deshalb nahm Oddný Hildur irgendeine Pelzmütze vom Haken. Wenn sie morgen früh genug wieder im Büro wäre, würde niemand die Kleidungsstücke vermissen. Sie stopfte ihre Hosenbeine in die Stiefel und richtete sich ungelenk auf. Jetzt war sie so dick eingepackt, dass sie sich kaum bewegen konnte. Es würde nicht einfach sein, gegen den Wind anzukämpfen. Sie holte tief Luft und öffnete die Außentür. Da schoss ihr plötzlich durch den Kopf, dass der Hund sie womöglich warnen wollte. Dass sie gar nicht vor ihm, sondern vor etwas ganz anderem Angst haben musste.

Wahrscheinlich lag alles nur an der Videoaufnahme, aus der sie versucht hatte, schlau zu werden. Der Film war kurz vor dem Abendessen zwischen den Kollegen herumgemailt worden und zeigte die beiden Bohrmänner Bjarki und Halldór bei irgendwelchen Blödeleien im Raucherzimmer. Oddný Hildur wusste nicht, wer ihn aufgenommen hatte, vielleicht hatten die beiden die Kamera auch aufgestellt, denn außer ihnen hielt es ohnehin kaum jemand in dem rauchgeschwängerten Kabuff aus. Das blöde Herumgealbere hatte sie dabei allerdings weniger interessiert als das, was hinter den Männern am Fenster vorbeigehuscht war. Da Oddný Hildur sich nicht viel aus solchen Späßen machte, hatte sie die Mail vor dem Essen nicht mehr geöffnet und ihre Kollegen nicht danach fragen können. Gehörte diese Aktion hinter den Männern zu dem Gag? Sie hatte versucht, den Film an der richtigen Stelle anzuhalten, um die Sache genauer begutachten zu können, aber die Bewegung war zu schnell.

Es sah aus wie ein Mensch mit einer Maske oder merkwürdigen Kopfbedeckung, und nachdem er verschwunden war, befand sich ein roter Streifen auf der Fensterscheibe. Der Mensch – oder was auch immer es gewesen war – hatte mit der Hand etwas Rotes über die Scheibe gezogen. Aber was? Die schnelle Bewegung und der dunkelrote, ungleichmäßige Streifen bildeten einen unheimlichen Hintergrund für die Späße der Bohrmänner. Vielleicht würde ihr das morgen früh alles ganz harmlos vorkommen, aber in diesem Moment wünschte sich Oddný Hildur, sie hätte eine Erklärung dafür. Aus unerfindlichen Gründen war sie nicht in der Lage, ins Raucherzimmer zu gehen und sich das rote Etwas anzuschauen. Weil sie Angst hatte, es könnte Blut sein.

1. KAPITEL

18. MÄRZ 2008

Dóra Guðmundsdóttir legte die Aufstellung über die abgeleisteten Sprechstunden des letzten Monats beiseite. Alles andere als eine inspirierende Lektüre. Bragi, der Miteigentümer der Anwaltskanzlei, die beiden Referendare und sie hatten zwar viele Fälle, aber die meisten waren belanglos und schnell bearbeitet. Das war zwar gut für die Mandanten, brachte jedoch nicht viel ein. Aber Geld war schließlich nicht alles. Die interessantesten Fälle waren anspruchsvoll und arbeitsintensiv. Dóra stöhnte leise. Sie traute sich nicht, laut zu seufzen, aus Angst, einer der beiden jungen Referendare könnte sie hören. Wenn die herausfänden, dass sich Dóra Sorgen um den Betrieb machte, würden sie womöglich erwägen, die Stelle zu wechseln, und das durfte auf keinen Fall passieren. Bragi und Dóra würden die Kanzlei niemals zu zweit bewältigen können, geschweige denn den Job der Sekretärin des Grauens. Auch wenn es schwer vorstellbar war, dass irgendjemand diesen Job schlechter machen könnte als Bella, riss Dóra sich nicht darum, sie abzulösen, und auch Bragi würde alles tun, um sich vor dem Telefondienst zu drücken. Deshalb mussten sie sich mit der Personalsituation zufriedengeben – mit den Referendaren, die sich mehr für YouTube als für die Urteile des Obersten Gerichtshofs interessierten, und mit der Sekretärin Bella, die ebenfalls länger als vertretbar im Internet surfte.

Dóra schaute wieder auf die Liste mit Mandanten und Fällen: Scheidungen, Insolvenzen, diverse Finanzsachen. Dann noch ein paar Erbangelegenheiten, Vaterschaftsklagen und eine Reihe von Kleinstfällen. Dóra sehnte sich nach neuen Strafsachen. Die waren viel anspruchsvoller als Bragis Spezialgebiet Scheidungen. Da er sich in dem Bereich einen guten Namen gemacht hatte, wandten sich immer mehr Leute an die Kanzlei, wenn ihre Ehe bröckelte.

Diese Fälle waren jedoch meistens ziemlich skurril. Dóra hatte beispielsweise einen Mandanten namens Trausti, der im Zuge seiner Scheidung seinen Vornamen ändern lassen wollte, weil seine Frau ihn für einen anderen Mann mit demselben Namen verlassen hatte. Im Grunde war das problemlos möglich. Die Sache verkomplizierte sich allerdings dadurch, dass besagter Trausti es nicht darauf beruhen lassen wollte, sondern auch noch den Nachnamen der gemeinsamen Kinder, also den Vaternamen Traustason, ändern lassen wollte. Er wollte unbedingt klarstellen, dass er der Vater der Kinder war und nicht der neue Mann im Leben seiner Frau. Die Namensgesetzgebung gestattete zwar unter besonderen Umständen eine Änderung der Nachnamen der Kinder, aber diesen Fall hatte der Gesetzgeber nicht vorgesehen. Daher war die Vorgehensweise unklar. Dóra hielt es für unwahrscheinlich, dass Trausti, der nicht Trausti heißen wollte, recht bekommen würde, zumal die Mutter der Kinder absolut gegen die Änderung war. Nachdem Dóra ihm ihre Einwände dargelegt hatte, wurde der Mann noch hartnäckiger, und am Ende ließ sie sich überreden und setzte ein Schreiben an den Justizminister auf. Bevor sie diesen grotesken Brief unterschrieb, hätte sie am liebsten ihren Namen geändert. Sie hatte ihn vor gut einem Monat abgeschickt und immer noch keine Antwort erhalten. Wahrscheinlich überlegten die Beamten noch, ob es sich um einen Scherz handelte.

Dóras eigene Scheidung hatte seinerzeit auch nicht gerade die besten Seiten an ihr und ihrem Ex-Mann Hannes zum Vorschein gebracht. Allerdings hatte ihnen die Phantasie gefehlt, sich über etwas anderes als weltliche Güter wie Flachbildschirme und DVD-Player zu streiten. Über Namensänderungen hatten sie nie diskutiert. Diese Erfahrung machte wohl den Unterschied zwischen Dóra und Bragi aus, der solche Fälle liebte. Er war seit dreißig Jahren mit derselben Frau verheiratet. Dóras eigene Scheidung lag schon so weit zurück, dass ihr inzwischen klar war, wie unerträglich sie gewesen sein musste; sie hatte jede Gelegenheit wahrgenommen, sich über Hannes’ unmögliches Verhalten zu beklagen. Natürlich war sie ihm gegenüber sehr ungerecht gewesen – und umgekehrt genauso. Aber trotzdem war es am vernünftigsten gewesen, sich scheiden zu lassen – darüber waren sie sich immerhin einig.

Inzwischen hatte sich das Blatt gewendet. Dóra hatte eine feste Beziehung mit Matthias Reich aus Deutschland, der eine Stelle als Leiter der Sicherheitsabteilung bei der Kaupþing-Bank angenommen hatte. Allerdings waren sie noch nicht zusammengezogen. Er war zwar nicht abgeneigt, aber es lag an ihr. Dóra hatte im Augenblick alle Hände voll zu tun: Ihre beiden Kinder, Sóley und Gylfi, brauchten ihre ganze Aufmerksamkeit, und dann war da noch ihr fast zweijähriger Enkel Orri. Dóras Aufgaben als Oma waren wesentlich umfangreicher als üblich. Ihr Sohn war selbst noch ein Kind gewesen, als er mit seiner Freundin Sigga leichtsinnige biologische Experimente durchgeführt hatte. Orri sprach noch nicht viel und nannte Dóra immer noch Mama. Wer sie nicht kannte, musste Dóra für ziemlich merkwürdig halten, da sie ihre älteren Kinder scheinbar auf das Jüngste aufpassen ließ und sich noch nicht einmal darum kümmerte, wenn Orri weinte oder nach seiner Mama rief. Aber so war es nun mal, wenn man so früh Oma wurde.

Man konnte also nicht sagen, dass sie nicht mit Matthias zusammenwohnen wollte. Sie fand es nur einfach bequem, ab und zu in ein anderes Leben einzutauchen, ein Leben, in dem alles sauber und ordentlich war, ohne schmutzige Windeln, ohne Pausenbrote, die geschmiert werden mussten, und ohne Klamottenstapel vor der Waschmaschine. In diesem Parallelleben konnte Dóra essen gehen, Cafés besuchen und einfach das tun, wozu sie Lust hatte. Dieses Leben drehte sich ausschließlich um Matthias und sie, zwei erwachsene Menschen, die am Wochenende nicht in aller Herrgottsfrühe aufstehen wollten, um Zeichentrickfilme zu gucken. Dóra kam nur jedes zweite Wochenende in den Genuss dieses Lebens, wenn die ganze Kompanie zu Hannes und seiner neuen Frau übersiedelte. Es gab wenig, was Dóra mehr amüsierte als die aufgesetzte Fröhlichkeit des Wochenendpapas, wenn sie mit der Kinderschar vorfuhr. Sein Lächeln war wie festgefroren, seit sich Sigga kürzlich mit ihrer Mutter überworfen hatte und ganz zu Dóra gezogen war. Gylfis Freundin ließ es sich nämlich nicht nehmen, einfach mit zu Hannes zu fahren, und als der protestieren wollte, sagte Gylfi, wenn Sigga nicht willkommen sei, dann würde er auch nicht mehr kommen. Sein Vater verstummte, und auf einmal war nicht mehr die Rede von zu wenig Platz. Gylfi war achtzehn und musste längst nicht mehr jedes zweite Wochenende zu seinem Vater; er hätte sich schon mit sechzehn weigern können. Dóra bezweifelte, dass Gylfi das wusste, hatte ihn aber auch nicht darauf hingewiesen, damit Vater und Sohn weiter in Kontakt blieben. Und damit sie selbst ein bisschen Luft hatte.

Dóra versuchte, sich wieder zu konzentrieren – auf den Entwurf für eine Teilungserklärung: Ein zweistöckiges Einfamilienhaus sollte in zwei getrennte Wohnbereiche aufgeteilt werden, um den Eigentümer vor dem Schwarzen Loch eines Fremdwährungskredits zu retten, den er in einem Anfall von Optimismus zur falschen Zeit aufgenommen hatte.

Bevor sich Dóra an die Arbeit machte, rief Matthias an. Es war ziemlich ungewöhnlich, dass er sie während der Arbeitszeit anrief. Im Gegensatz zu Dóra war er sehr gewissenhaft, nahm beispielsweise den Isländischkurs, zu dem er sich angemeldet hatte, sehr ernst. Am Anfang hatte Dóra ihm bei den Hausaufgaben geholfen und der Verlockung nicht widerstehen können, ein paar unanständige Worte in seine Aufsätze zu schmuggeln. Matthias fand solche Scherze überhaupt nicht witzig und lehnte ihre Hilfe fortan ab, woraufhin Dóras Tochter Sóley den Nachhilfeunterricht übernahm. Sóley war erst acht Jahre alt und brachte noch den nötigen Respekt für jede Art von Unterricht auf. Die beiden wurden die besten Freunde, und Matthias konnte sich schon bald auf Isländisch verständigen, auch wenn Dóra und er weiterhin Deutsch miteinander sprachen.

»Was hältst du von einem kleinen Auftrag für die Bank?«, fragte Matthias, nachdem er sich für die Störung im Büro entschuldigt hatte.

»Für die Bank?« Banken hatten doch ein Heer von Experten und Juristen an der Hand. »Was denn für ein Auftrag?« Dóra starrte die Teilungserklärung auf ihrem Bildschirm an. Brauchten die etwa auch so was? Hatte sich das Heer von Anwälten geweigert, sich mit derart langweiligem Kram zu beschäftigen?

»Es geht um eine Erfüllungsgarantie«, antwortete Matthias. »Die Bank bürgt für ein Bauunternehmen, die Firma Bergtækni. Die halten ihren Werkvertrag mit einem britischen Bergbaukonzern nicht ein. Sieht so aus, als wollten die Briten die Garantie in Anspruch nehmen, was zur Folge hätte, dass die Bank zahlen muss.« Er schwieg einen Moment. »Es geht um einen Haufen Geld, ehrlich gesagt, eine Riesensumme – die Bürgschaft läuft in Euro.«

»Und was soll ich dabei tun? Den Bergbaukonzern davon abhalten, sein Geld einzufordern?«

Matthias lachte kurz auf. »Nein, da hättest du wohl keine Chance. Die sind ziemlich hartnäckig. Die wollen Geschäfte machen, keine Kredite vergeben. Selbst wenn sie die Garantiesumme von der Bank bekommen, machen sie noch Verluste. Sie versuchen einfach, den Schaden zu begrenzen.«

»Und was genau soll ich machen? Mich um den Geldtransfer kümmern? Ansprüche geltend machen?« Womöglich war der Fall noch langweiliger als Teilungserklärungen.

»Weder noch«, entgegnete Matthias. »Die Sache ist die, dass Bergtækni weit hinter dem Zeitplan zurück ist. Sie werden die Verzögerung kaum aufholen können. Zumal ihnen auch noch Kapazitäten weggebrochen sind und es nicht so aussieht, als würde sich da in absehbarer Zeit was ändern. Die Mitarbeiter weigern sich, an ihren Einsatzort zurückzukehren, und die Arbeit ist so spezialisiert, dass man auf die Schnelle keine Ersatzleute bekommt. Wir planen, jemanden zum Einsatzort zu schicken, um den Stand der Dinge zu überprüfen, ob die Bank eine andere Firma beauftragen soll.«

»Darf sie das denn?« Obwohl Dóra schon mit Vertragsrecht zu tun gehabt hatte, war noch nie ein Werkvertrag auf ihrem Tisch gelandet.

»Ja. Ich kann dir den Werkvertrag und die Bedingungen für die Erfüllungsgarantie schicken.«

Dóra überlegte. »Habe ich das richtig verstanden, dass dieser Auftrag im Ausland durchgeführt werden soll?« Sie hätte nichts dagegen gehabt, ein paar Tage wegzufahren. Der Winter war extrem kalt gewesen, und obwohl es schon März war, folgte ein Schneesturm auf den nächsten.

»Ja, du müsstest ins Ausland fahren.«

Dóra meinte, an Matthias’ Stimme zu hören, dass das Ziel nicht besonders attraktiv war. Aber im Gazastreifen, Irak, Afghanistan oder anderen Krisengebieten waren bestimmt keine isländischen Bauunternehmen tätig. So schlimm würde es schon nicht sein. »Worum geht es denn bei dem Projekt?«, fragte sie, in der Hoffnung, es handele sich um den Bau eines Hotels in der Karibik. Sie hatte schon seit Ewigkeiten keine Gelegenheit mehr gehabt, sich in ihrem schicken Bikini in der Sonne zu aalen. Warum sollte ein Bergbaukonzern seine Tätigkeitsbereiche nicht ausweiten und sich im Tourismus … –

»Bohrungen, Dóra. Es handelt sich um Testbohrungen und Baumaßnahmen für die Gewinnung von Bodenschätzen im Auftrag von Arctic Mining. In Grönland. Bergtækni hat das günstigste Angebot gemacht und ist seit fast einem Jahr mit Leuten vor Ort. Bisher ist alles reibungslos verlaufen. Aber jetzt ist etwas vorgefallen, und das Team hat sich aufgelöst.«

Grönland. Eines der wenigen Länder, wo es um diese Jahreszeit noch kälter und ungemütlicher war als in Island. Statt Bikini wäre da wohl eher eine Hose aus Seehundfell angebracht. Dóra schluckte ihre Enttäuschung herunter. »Sind die Mitarbeiter noch in Grönland?«

»Nein. Bis auf zwei Männer sind alle wieder in Island. Die beiden sind wahrscheinlich noch vor Ort. Die anderen hatten Urlaub und weigern sich jetzt, zurückzufahren.«

»Was meinst du damit, dass die beiden Männer wahrscheinlich noch vor Ort sind?«

»Sie sind seit zehn Tagen nicht erreichbar, und es gibt dort niemanden, der überprüfen kann, was los ist. Vielleicht ist die Kommunikationstechnik im Camp ausgefallen, aber um das herauszufinden, muss eben jemand hinfahren. Wenn es eine vernünftige Erklärung dafür gibt, können die anderen Mitarbeiter vielleicht dazu bewegt werden, zurückzukehren. Das wäre für die Bank natürlich die beste Lösung.«

»Aber es könnte auch was passiert sein? Die Männer könnten bei einem Unwetter umgekommen sein oder so?«

»Durchaus denkbar«, sagte Matthias. »So was ist schon mal vorgekommen. Vor einem halben Jahr ist eine Geologin aus dem Camp verschwunden, eine junge Frau. Sie gilt als tot. Jedenfalls wurde sie nie gefunden. Wahrscheinlich hat sie sich im Sturm verlaufen und ist erfroren.«

»Du meinst, sie ist spazieren gegangen? Bei Sturm?«

»Das weiß niemand. Sie ist einfach verschwunden, könnte sich auch das Leben genommen haben. Wenn man so isoliert lebt, wird man schnell depressiv.« Dóra schwieg. Schnell fügte Matthias hinzu: »Aber darum geht es gar nicht, das hat nichts mit dem Verschwinden der beiden Männer zu tun. Die sind möglicherweise noch am Leben, vielleicht ist der Sender ausgefallen, und sie konnten ihn einfach nicht wieder in Gang bringen. Alle anderen Möglichkeiten wären allerdings eher … negativer Art. Das Wetter war dort in der letzten Zeit so ähnlich wie hier, nur noch schlimmer. Das können sie nur überlebt haben, wenn sie drinnen waren. Wie auch immer, die Lage ist ernst, sowohl was die beiden Männer als auch was die Interessen von Bergtækni und damit der Bank betrifft.«

»Wäre es nicht einfacher, den grönländischen Rettungsdienst oder die Polizei zu rufen? Das klingt alles ziemlich beunruhigend, und wenn was passiert ist, müssen sich die Behörden doch sowieso darum kümmern.«

»Das Camp liegt in einem unbewohnten Gebiet an der Ostküste. Da gibt es zwar in unmittelbarer Nähe ein kleines Dorf, aber keine Polizeistation, und die Einheimischen sind nicht bereit, für uns oder für Arctic Mining eine Suchexpedition zu starten. Falls die Männer eine Lebensmittelvergiftung haben oder irgendwie erkrankt sind, zählt jeder Tag. Wir können einfach nicht warten, bis die Grönländer aktiv werden.«

»Wenn es sich um eine Krankheit handelt, bin ich aber keine große Hilfe«, gab Dóra zu bedenken. »Und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich dahin möchte, wenn die Männer ernsthaft oder sogar tödlich erkrankt sind.«

»Du würdest ja natürlich nicht allein fahren. In der Gruppe sind noch ein Arzt, ein sehr erfahrener Rettungsmann und eine ehemalige Mitarbeiterin von Bergtækni, die sich vor Ort auskennt. Außerdem noch ein IT-Spezialist, der die Verbindung wiederherstellen soll.« Matthias schwieg einen Moment. »Und ich.«

»Aha.« Das war ein Pluspunkt. Das Land war ein Minuspunkt. Jedenfalls im Winter. »Wann muss ich losfahren, und wie lange soll es dauern?«

»Es geht morgen früh los. Der Wetterbericht ist gut – erstaunlicherweise.« Matthias räusperte sich. »Wir werden versuchen, es so kurz wie möglich zu machen, aber das klärt sich erst, wenn wir da sind. Das Wetter spielt natürlich eine große Rolle.«

»Wo werden wir übernachten?«, fragte Dóra, die schon eine böse Ahnung hatte. In Grönland gab es garantiert kein 5-Sterne-Hotel mit karibischem Flair.

»Im Camp. Falls es da sicher ist. Wenn nicht, müssen wir die Einheimischen um Unterkunft bitten.«

Dóra starrte wieder auf den Stumpfsinn auf ihrem Bildschirm. Vor fünf Minuten hatte sie noch dagesessen und sich über langweilige Aufträge beklagt – und jetzt kam plötzlich ein kleines Abenteuer in Sicht. Sie konnte sich problemlos für ein paar Tage loseisen. Die Referendare mussten in der Zwischenzeit eben ein bisschen weniger im Internet surfen. »Ich komme mit«, sagte sie, »aber erst muss ich die Kinder bei Hannes unterbringen oder meine Mutter dazu bewegen, auf sie aufzupassen.«

»Großartig!« Die Zufriedenheit in Matthias’ Stimme war nicht zu überhören. »Wir können die Sache nachher genauer besprechen. Du solltest vorbeikommen und mit dem Verantwortlichen reden. Der Job ist übrigens echt gut bezahlt.«

»Warum fährt keiner von euren Anwälten?«

»Die haben zurzeit viel zu tun und interessieren sich nicht besonders dafür. Und sie sind sowieso nicht so gut geeignet. Du bist genau die Richtige!«

Dóra war nicht klar, warum Matthias das glaubte. Sie war keine gute Skifahrerin oder Bergsteigerin und hielt nicht viel von Outdoor-Aktivitäten, kurze Spaziergänge bei schönem Wetter einmal ausgenommen. »Äh, diese Männer«, sagte sie, »glaubst du, dass sie tot sind?«

Matthias atmete hörbar ein. »Der eine vielleicht, aber hoffentlich nicht beide.«

»Wie meinst du das?«

»Einem Mitarbeiter von Bergtækni hier in Island ist es ganz kurz gelungen, ins interne Firmennetz zu kommen. Weitere Versuche sind seitdem fehlgeschlagen. Es gab also anfangs noch eine instabile Netzverbindung, die jetzt ganz abgerissen ist. Jedenfalls hat der Mann die neuesten Dateien herausgesucht und ist auf etwas sehr Bemerkenswertes gestoßen: eine Datei, die gespeichert wurde, als das Team das Camp schon verlassen hatte. Der Mann hat sie runtergeladen und an seine Teamkollegen verschickt. Und diese Mail ist der Hauptgrund dafür, dass die Mitarbeiter sich jetzt weigern, nach Grönland zurückzukehren.«

»Wieso?«

»Sieht danach aus, dass einer der Männer noch am Leben ist. Irgendjemand vor Ort ist jedenfalls noch sehr lebendig. Deshalb hat die Sache auch allerhöchste Priorität.«

»Was in der Datei war?!«, hakte Dóra nach.

»Am besten schicke ich sie dir. Lässt sich schwer beschreiben. Willst du das wirklich sehen? Ist nichts für schwache Nerven.«

2. KAPITEL

18. MÄRZ 2008

Der Film war kurz, aber wirkungsvoll. Dóra brauchte eine ganze Weile, um sich darüber klarzuwerden, was da eigentlich aufgenommen worden war. Die Qualität war schlecht, und der Clip erschien in einem sehr kleinen Fenster. Als Dóra versuchte, es zu vergrößern, wurde das Bild so grobkörnig, dass es noch schwerer zu erkennen war. Der Ton wurde von einem leisen, anhaltenden Rauschen begleitet. Bei CSI Miami wäre es kein Problem gewesen, ihn zu verbessern, aber die Kanzlei verfügte leider nicht über die notwendige Kriminaltechnik. Was schade war, denn das, was man durch das Rauschen hören konnte, klang interessant. Der Film war drinnen aufgenommen worden, aber man konnte nicht feststellen, in welcher Art von Raum, denn die Kameraführung war sehr wackelig. Am Anfang tauchten ein Bücherregal und ein Stuhl auf, dann wurde die Kamera sofort auf den gesprenkelten Fußboden gerichtet. Diese Perspektive wurde mehr oder weniger bis zum Ende beibehalten. Außer dem Fußboden waren zwei Füße und Unterschenkel zu sehen. Der Besitzer der Beine lag oder saß auf dem Boden, was an und für sich schon merkwürdig war. Und er schien sich nicht zu bewegen, was das Ganze noch befremdlicher machte. Dem Schuhwerk nach zu urteilen, handelte es sich hierbei nicht um eine feuchtfröhliche Party. Die Füße steckten in dicken isländischen Wollsocken und altmodischen Hausschlappen, die für eine Party höchst ungeeignet waren. Die Person trug Jeans und saß oder lag mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden, die Füße nach außen gespreizt. Dóra hatte den Eindruck, dass es ein Mann war, ohne genau sagen zu können, warum, denn die Größe der Füße und Schuhe war nicht auszumachen.

In den drei Minuten und zweiundzwanzig Sekunden, die der Clip dauerte, zuckten die Beine viermal unnatürlich. Jedes Mal, bevor dies geschah, übertönte ein Zischen das Rauschen und mündete in einen gedämpften Schlaglaut. Dann zuckten die Beine, ein dunkler Nieselregen tauchte kurz auf und verschwand wieder aus dem Bildausschnitt. Dóra war jahrelang dazu gezwungen gewesen, mit ihrem Sohn Gylfi Horrorfilme anzuschauen. Vielleicht interpretierte sie deshalb das Schlimmste in die Szene hinein. Sie hatte den Eindruck, dass entweder eine Leiche zerteilt oder jemand mit einer Axt oder einem schweren Gegenstand erschlagen wurde. Aber Letzteres konnte eigentlich nicht der Fall sein, denn es waren keine Schreie oder Schmerzenslaute zu hören. Nur dieses Zischen, der Schlaglaut – und ein merkwürdiges Kindersummen. Dóra erkannte eine Melodie, konnte den Text aber nicht verstehen. Entweder sang das Kind einfach irgendetwas vor sich hin, oder Dóra hatte die Sprache noch nie gehört. Sie nahm das Telefon und wählte die Durchwahl ihres Kollegen Bragi. »Kannst du mal kurz rüberkommen?« Dóra kniff die Augen zusammen, während sie den Clip zum dritten Mal ablaufen ließ. »Ich bräuchte mal deine Meinung.« Sie stoppte den Film, lehnte sich im Stuhl zurück und überlegte. Es war bestimmt ein Fehler gewesen, die Reise zuzusagen, aber sie konnte immer noch einen Rückzieher machen. Sie ließ ihren Blick über die Unterlagen auf ihrem Tisch schweifen und sah die Papiere des Namensänderungsfalls ganz oben auf dem kleinen Stapel liegen. Dann blickte sie wieder auf den Bildschirm. Dem Clip nach zu urteilen, war dieser Grönlandfall in der Tat von ganz anderem Kaliber.

»Was ist denn?«, frage Bragi neugierig, als er in voller Pracht in der Türöffnung erschien. Er war sehr groß, bekam mit zunehmendem Alter etwas Bärenhaftes und trug einen dunklen Anzug mit Krawatte. Er gehörte zu der Generation von Anwälten, die es als Schande für ihren Stand ansahen, sich leger zu kleiden. Seine Prinzipien gingen allerdings nur so weit, dass er den Krawattenknoten gelockert und den obersten Hemdknopf geöffnet hatte, wodurch seine Würde ein wenig litt.

»Guck dir das bitte mal an.« Dóra zeigte auf den Bildschirm. »Und dann sag mir, was du davon hältst.« Sie spielte den Film ab und schob ihren Schreibtischstuhl zurück, damit Bragi besser sehen konnte. Er hatte ein Faible für merkwürdige Vorfälle. Dóra wartete, bis die Szene vorbei und das sonderbare Kindersummen verklungen war. »Und? Was sagst du?«

Bragis Augen funkelten. »Wenn das ein Scheidungsfall ist, dann nehme ich ihn sofort an.« Er tastete nach der Maus, um den Clip noch einmal abzuspielen. »Das ist ja Wahnsinn!«

Dóra bremste ihn und erzählte ihm von Matthias’ Angebot und der Herkunft der Videoaufnahme. Bragis Lächeln verschwand, als er merkte, dass es sich offenbar nicht um einen Ehekrieg handelte. »Was glaubst du, was das ist, Bragi?«

»Das ist bestenfalls Körperverletzung. Und schlimmstenfalls Mord.«

»Das glaube ich auch. Ich sollte den Auftrag wohl doch besser ablehnen. Was, wenn der Film in diesem Camp aufgenommen wurde?«

»Ich würde da nicht zu viel reininterpretieren.« Bragi tätschelte ihre Schulter. »Das könnte überall aufgenommen worden sein. Sogar in einem Fitnesscenter.«

»Ich bezweifle, dass jemand in Wollsocken ins Fitnesscenter geht. Was für eine Übung sollte das deiner Meinung nach sein?«

»Das weiß der liebe Himmel. Die machen da doch so allerlei. Ich habe einen Scheidungsfall, der hat seinen Ursprung in einem Fitnesscenter. Der Ehemann war völlig auf seinen Körper fixiert und hat darüber Frau und Kinder vernachlässigt. Es würde mich nicht wundern, wenn dieser Idiot solche Übungen über sich ergehen lassen würde, um seine Muskelmenge zu vergrößern.«

»Muskelmasse«, korrigierte Dóra automatisch.

»Meinte ich doch.« Bragi schaute Dóra in die Augen. »Das Wichtigste an der ganzen Sache ist, dass wir dadurch bei den Banken einen Fuß in die Tür bekommen. Die haben sonst immer ihre eigenen Anwälte oder beauftragen die großen Kanzleien. Das könnte der Anfang einer lukrativen Geschäftsbeziehung für uns sein. Ganz zu schweigen von der Abwechslung, die du so gern mal hättest.«

Dóra nickte nachdenklich. Natürlich konnte das vorteilhaft für die Kanzlei sein, aber Dóra ging viel eher davon aus, dass die Anwälte der Bank die Grönlandreise einfach abgelehnt hatten und es nur bei einem Einzelfall bleiben würde. Bei anderen Fällen, die man vom wohltemperierten Büro aus erledigen konnte, sähe die Sache bestimmt ganz anders aus. Andererseits wurde die isländische Wirtschaft von dunklen Wolken überschattet, und obwohl Dóra die Geschehnisse in der Finanzwelt nicht so genau mitverfolgte, hatte sie vom Angriff ausländischen Risikokapitals auf die Krone und von der bedenklichen Lage verschiedener isländischer Konzerne gehört. Begriffe, die vor einem Monat noch niemand verstanden und benutzt hatte, waren jetzt in aller Munde, allen voran »Leerverkauf« und »wechselseitige Kapitalverflechtung«. Vieles deutete darauf hin, dass schwere Zeiten bevorstanden, und die brachten meist mehr Arbeit für Anwälte, vor allem im Inkassobereich. Obwohl Dóra es unmöglich fand, Geld einzutreiben, war es sehr wahrscheinlich, dass sie solche Aufträge mit Freude annehmen würde, wenn es erst einmal mit der Wirtschaft bergab ging. »Ich überlege es mir, Bragi.« Höchstwahrscheinlich war dieses Video irgendein Blödsinn aus dem Internet, der überhaupt nichts mit den Mitarbeitern von Bergtækni zu tun hatte. »Am besten informiere ich mich erst mal genauer über den Auftrag, und wenn dieser Clip das zeigt, was wir beide denken, dann gehört das zweifellos nicht in meinen Aufgabenbereich. Dann muss halt die Polizei das übernehmen.«

»Die grönländische Polizei? Da könntest du genauso gut einen Sportverein mit den Ermittlungen beauftragen. Ich meine, das wissen doch alle, dass da grässliche Zustände herrschen. Und das betrifft die Polizei genauso wie alles andere.«

›Grässlich‹ war ein Wort, das Dóras Mutter oft benutzte, wenn sie sehr deprimiert war, und Dóra musste einfach grinsen. »Jedenfalls muss die hiesige Polizei informiert werden. Die können sich dann mit ihren Kollegen in dem grässlichen Grönland in Verbindung setzen.«

Bragi riss die Augen auf. »Hör mal«, sagte er euphorisch, »du musst Bella mitnehmen! Sie passt auf dich auf, und wir können hier gut einige Zeit auf sie verzichten. In Grönland lauern alle möglichen Gefahren.«

Bella würde vermutlich eher dazu beitragen, dass Dóra im Maul eines Eisbären landete, als sie zu beschützen. »Matthias kommt mit, ich bin also nicht in Gefahr.« Dóra lächelte zögernd. »Ich brauche Bella wirklich nicht. Falls ich überhaupt fahre.«

»Doch, meine Liebe, du wirst fahren, und Bella fährt mit!« Bragi war von seiner Idee hellauf begeistert. »Es ist sogar von Vorteil, wenn sie nicht hier ist. Ich muss nämlich einiges erledigen. Es wäre eine große Erleichterung, sie eine Weile los zu sein.«

»Für Bella ist kein Platz mehr im Flugzeug«, behauptete Dóra. »Du kannst ja einfach die Trennwand aufstellen und sie abschirmen, so wie du es letztens überlegt hast.« Sie stand auf. »Und ich werde mich jetzt mal mit diesem Banker unterhalten.«

 

»Und?«, fragte Matthias gespannt, während er Dóra zum Ausgang der Bank begleitete. »Was wirst du tun?«

»Ich werde wohl annehmen. Aber irgendwie bin ich mir nicht ganz sicher«, antwortete Dóra. Der Banker hatte sich als junger, schlanker Mann entpuppt, der so stark nach Rasierwasser roch, dass Dóra sich beherrschen musste, sich während des Gesprächs nicht die Nase zuzuhalten. Sie vermutete, dass er absichtlich so verschwenderisch damit umgegangen war, denn sein Händedruck war schwitzig, und er wirkte hypernervös. Zwischen den Zeilen konnte man heraushören, dass seine Zukunft bei der Bank am selben seidenen Faden hing wie die Bürgschaft. Wenn die Bank zahlen musste, konnte er seinen Hut nehmen. Die Sache hatte nämlich weitreichende Konsequenzen, weil man große Hoffnungen auf das potentielle Bergwerk in Grönland setzte. Man rechnete damit, dass es von Island aus versorgt würde, denn der nächstliegende Ort mit Flughafen war Ísafjörður. Dadurch würden direkt und indirekt Arbeitsplätze geschaffen. Die Anfangsschwierigkeiten hatten jedoch nicht dazu beigetragen, das Vertrauen des Großkonzerns zu gewinnen. Der junge Mann war recht entgegenkommend, und Dóra war sehr froh, dass er die Polizei über den Stand der Dinge informiert und dazu aufgefordert hatte, die grönländischen Behörden einzuschalten. Nur hatten die Interessen der Bank bei den Behörden keine Priorität – geschweige denn bei der grönländischen Polizei. Ziel der Reise war es, die Lage zu sondieren und den Schaden zu begrenzen, falls es hart auf hart käme und der Vertrag mit Bergtækni aufgelöst werden musste. Die Ausrüstung des Bauunternehmens musste gesichtet und der Stand der Probebohrungen beurteilt werden, damit die Bank gegebenenfalls eine andere Firma einschalten oder die Bergtækni-Mitarbeiter davon überzeugen konnte, ins Camp zurückzufahren. Im Team war Panik ausgebrochen, und die legte sich meist, wenn die Vernunft erst einmal wieder Oberhand gewann. Falls vor Ort wirklich etwas Ungewöhnliches vorgefallen war, mussten entsprechende Hinweise gesammelt werden. Das würde der Bank später helfen, zu beweisen, dass es sich um außergewöhnliche Umstände gehandelt hatte. Höhere Gewalt.

Der Begriff ließ Dóra aufhorchen. Höhere Gewalt bedeutete, dass die Vertragspartner von ihren Pflichten befreit werden konnten, da sie ihren Auftrag aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse nicht ausführen konnten. Dóra wusste sehr gut, dass in Grönland kein Krieg tobte, und von Naturkatastrophen oder Streiks hatte sie auch nichts gehört. Aber Verbrechen konnten als Höhere Gewalt gelten, was in Anbetracht des Films durchaus zutreffend sein könnte. Womöglich eine ziemlich spannende juristische Auslegungssache. War das nicht genau das, was sich Dóra am Morgen noch gewünscht hatte? Ein anspruchsvoller Auftrag, bei dem nicht die Gefahr bestand, dass sie ihrem Mandanten während der Sprechstunde aus Wut einen Bleistift an den Kopf warf.

»Ich komme mit, Matthias!«

 

»Welche Farbe haben Grönländer?«, fragte Sóley gähnend. Sie lag im Bett und hätte schon längst schlafen sollen, aber wegen Dóras bevorstehender Reise nahmen sie es mit der Zubettgehzeit nicht so genau. Dóra küsste ihre Tochter auf den blonden Schopf.

»Genau dieselbe wie wir, Schatz. Jedenfalls nicht grün, falls du das denkst.«

»Mama!«, sagte Sóley beleidigt. »Das weiß ich doch! Ich meine, ob sie gelb sind wie Chinesen.«

»Chinesen sind genauso wenig gelb, wie die Konservativen blau sind«, sagte Dóra und strich über die rosa Bettdecke.

»Was?« Sóley kannte sich mit Politik auch nicht besser aus als andere Achtjährige.

Dóra lächelte sie nur an. »Du bleibst brav bei Papa, während ich weg bin, versprochen?«

»Ja, wenn du mir was Schönes mitbringst«, antwortete Sóley grinsend. »Und was Süßes!«

»Ich bringe dir was mit. Vielleicht einen kleinen Eisbären.«

»Oh, ja!«, rief Sóley aufgeregt. »Einen echten!«

»Ich meinte eigentlich so einen«, sagte Dóra und tätschelte einen der vielen Teddybären, die auf dem Bett lagen. »Es ist schon spät. Du musst jetzt wirklich schlafen.«

»Einen Hund«, bettelte Sóley und griff nach der Hand ihrer Mutter, die aus alter Gewohnheit den Kopf schüttelte. Sóley quengelte mindestens einmal am Tag, sie wolle einen Hund oder eine Katze haben. »Warum denn nicht? Gylfi hat ein Baby bekommen – warum darf ich dann nicht einen Hund oder eine Katze?«

»Gute Nacht.« Dóra erhob sich vom Bettrand. »Morgen früh stehen wir zusammen auf, du gehst in die Schule und ich zum Flughafen. Wenn du bei Papa bist, versuche ich, dich anzurufen, aber ich kann dir nicht versprechen, dass es klappt. Es gibt Telefone in Grönland, aber ich weiß nicht, ob sie da, wo ich hinfahre, funktionieren.«

Nachdem Dóra das Licht in dem rosafarbenen Zimmer ausgeschaltet und einen Moment die zahlreichen schimmernden Teddyaugen betrachtet hatte, ging sie in die Garage. Matthias hatte ihr empfohlen, einen Rucksack mitzunehmen, aber sie besaß keinen – ein Koffer würde es auch tun. Viel schwieriger war es, zu entscheiden, was sie einpacken sollte. Keiner konnte sagen, wie lange sie in Grönland bleiben würden und wie die Umstände vor Ort waren. Am besten, sie nahm einfach von allem genug mit. Als es an der Tür klingelte, musste Dóra ihre Reisevorbereitungen verschieben. Draußen stand ihre Freundin Gugga, breit grinsend schwenkte sie zwei Weißweinflaschen. »Du musst mich reinlassen«, sagte sie, so als würde Dóra ihren Gästen normalerweise die Tür vor der Nase zuschlagen. »Ich hab mir ein neues Auto gekauft, das muss gefeiert werden!« Dóra fielen zwar verschiedene Möglichkeiten ein, einen Autokauf auch ohne Alkohol zu feiern, aber sie lächelte tapfer zurück. Sie wusste genau, dass der Wagen mit einem horrenden Kredit finanziert worden war und Gugga nach sechs Monaten wieder mit einer Flasche vor der Tür stehen würde, um ihren Kummer über den Schuldenberg und das gepfändete Auto im Alkohol zu ertränken. Manchmal musste man eben im Hier und Jetzt leben und sich im Stil König Ludwigs des Vierzehnten amüsieren. Der hätte bestimmt auch einen Autokredit aufgenommen, wenn es zu seiner Zeit so etwas gegeben hätte.

3. KAPITEL

19. MÄRZ 2008

Der Kaffee auf dem Reykjavíker Flughafen war ausgezeichnet, obwohl er einfach nur Kaffee hieß und nicht in einer blankpolierten, verchromten Maschine zubereitet wurde, die wie eine Lokomotive Dampf ausspie, wenn der Kaffee in die Tasse lief. Er kam aus einer altmodischen Kanne, die auf einer Warmhalteplatte stand und perfekt zu dem heruntergekommenen Flughafen passte. So etwas konnte man in der Stadt lange suchen; überall hatten schicke Kaffeeautomaten Einzug gehalten. Sogar Dóra hatte von ihren Eltern eine zu Weihnachten bekommen. Noch am selben Abend hatte sie sich reichlich Kaffee daraus einverleibt, ohne sich darüber klar zu sein, dass der neue Kaffee viel stärker war als die Plörre, die sie gewohnt war. Die ganze Nacht hatte sie mit aufgerissenen Augen wach gelegen, noch nicht einmal in der Lage, zu blinzeln, geschweige denn, die Augen zuzumachen. Seitdem setzte die Dampfmaschine Staub an. Jetzt hätte Dóra allerdings nichts gegen einen doppelten Espresso aus ebenjener Maschine gehabt. Ihr Kopf war kurz vorm Zerplatzen, eine Überdosis Koffein hätte bestimmt geholfen.

»Warum hast du keinen Rucksack mitgenommen?«, nörgelte Matthias, der neben ihr im Warteraum saß. »Das habe ich dir doch extra gesagt.«

»Ach, ist doch egal.« Dóra stellte die weiße Kaffeetasse ab. »Er hat Räder. Vier sogar.« Sie hatte sich angewöhnt, den Koffer mitzunehmen, den man am besten hinter sich herziehen konnte, und dieser ähnelte einem gut erzogenen Hund, der automatisch bei Fuß ging.

»Toll, dass er vier Räder hat.« Matthias war noch genauso schlechtgelaunt wie vor einer halben Stunde, als er sie abgeholt hatte. Dóra hatte ihren Kater nicht verbergen können, und er war genervt. Sie fühlte sich so elend, dass ihr das egal war, was ihn noch mehr nervte. »In Grönland ist tiefster Winter.« Matthias hatte sich einen nagelneuen Rucksack zugelegt. Jedenfalls glänzte er so, dass er garantiert erst an diesem Morgen das erste Mal ins Freie gekommen war. Matthias hatte offenbar noch mehr Einkäufe getätigt, denn er trug ausnahmsweise einen Anorak, darunter allerdings eine Hose mit Bügelfalte und ein ungewöhnlich sportliches Hemd. Immerhin war er so schlau gewesen, die Krawatte wegzulassen. Dóra war davon überzeugt, dass er sicherheitshalber eine oder zwei eingepackt hatte.

Am Check-in-Schalter hatte einer ihrer Mitreisenden, der sich als Dr. Finnbogi Kolbeinsson vorgestellt hatte, einen abschätzigen Blick auf ihren knallgrünen Hartschalenkoffer geworfen. Er war um die fünfzig, seiner drahtigen Figur und seinen verschlissenen Wanderschuhen nach zu urteilen ein echter Outdoorfreak. Auf dem großen Rucksack, den er so lässig schwenkte, als sei er leer, waren alle möglichen Aufnäher von fernen Ländern.

»Ich versuche gerade, mir zu merken, wer wer ist.« Dóra ließ ihren Blick über die Gruppe schweifen, die sich, mit Handys bewaffnet, in dem kleinen Flughafengebäude verteilt hatte. Sie waren die einzigen Passagiere. Die Bank hatte eine Vereinbarung mit Air Iceland getroffen, sie nach Kulusuk zu fliegen, da im Winter keine Linienflüge dorthin verkehrten. Von Kulusuk sollte ein Hubschrauber sie weiter nach Norden bringen, zu dem kleinen Dorf in der Nähe des Camps. Es war noch unklar, wie sie die letzte Wegstrecke zurücklegen würden, aber man ging davon aus, dass wie üblich ein oder zwei Autos von Bergtækni in einem Schuppen beim Hubschrauberlandeplatz standen. Die Mitarbeiter, die nach Hause geflogen waren, hatten sie dort zurückgelassen. Dóra hoffte, dass sie nicht ausgerechnet zu Fuß würden gehen müssen – ihr Koffer taugte wirklich nicht für lange Wanderungen.

»Ich tue mich ein bisschen schwer mit den Namen, aber ich weiß, wer wer ist«, sagte Matthias. »Wir sind ja nicht viele, in der Abgeschiedenheit wirst du die Leute schnell kennenlernen.«

»Hm. Die wirken alle ganz sympathisch.« Dóra beobachtete, wie der jüngste Mitreisende, Eyjólfur þorsteinsson, eine Münze in einen Kaugummiautomaten steckte. Der Automat schluckte das Geld, weigerte sich jedoch, den Kaugummi auszuspucken, und nachdem der junge Mann alles probiert hatte, schlug er kräftig gegen die große Plastikkuppel, so dass die Kaugummikugeln durcheinanderflogen. Als das auch nichts bewirkte, ging er schmollend weg. Das also war der Mann, der sich vor Ort um das Computersystem kümmern sollte. Er hatte es seinerzeit installiert und kannte sich damit aus. Er war Mitte zwanzig, schlank, dunkelhaarig und sehr attraktiv – ein Frauentyp. In dieser Hinsicht war er das absolute Gegenteil von Alvar Pälsson. Der war um die vierzig und fuhr wegen seiner Erfahrung beim Rettungsdienst mit. Er war Mitglied eines isländischen Rettungsteams gewesen, das die Grönländer beim Aufbau eines eigenen Rettungsdienstes unterstützt hatte. Dóra wusste nicht, was er hauptberuflich machte, konnte sich aber gut vorstellen, dass er Leuchtturmwärter war oder irgendeinen Beruf ausübte, bei dem er nicht viel kommunizieren musste. Als Matthias ihm Dóra vorgestellt hatte, war er feuerrot angelaufen und hatte den Gruß kaum erwidert, nur geschnaubt und dann weiter seinen Wanderstock am Rucksack befestigt. Wenn Dóra ihn beschreiben müsste, würde das Adjektiv »schlecht« eine große Rolle spielen – der arme Mann hatte schlechte Zähne, roch schlecht, war schlecht proportioniert und zu allem Überfluss: schlecht rasiert.

»Wo ist denn die Geologin?«, fragte Dóra. In der sechsköpfigen Gruppe gab es außer Dóra noch eine Frau, Friðrikka Jónsdóttir. Sie hatte anfangs bei dem Projekt mitgearbeitet, dann aber zum Energieversorger Orkuveita gewechselt. Matthias erzählte Dóra, die Bank hätte sie mit einer größeren Summe geködert, damit sie sich ein paar Tage freinehmen und mitfahren würde. Sie kannte sich vor Ort aus und konnte den Stand der Bohrungen gut beurteilen, ohne sich lange einarbeiten zu müssen.

»Sie muss hier irgendwo sein. Zumindest hatte sie sich schon beim Check-in gemeldet. Wahrscheinlich ist sie draußen und raucht oder telefoniert.«

»Hat sie den Film gesehen?«

»Nein.« Matthias legte seine Aktentasche auf den Tisch. »Dazu war nicht genug Zeit, und es wäre auch nicht unbedingt angebracht. Sie muss nicht über jedes Detail Bescheid wissen, schließlich hat sie gekündigt.« Er öffnete die Tasche und holte einen Stapel Schnellhefter heraus. »Das ist für dich. Falls du die Zeit im Flugzeug zur Vorbereitung nutzen willst. Das gehört alles zu dem Werkvertrag.«

Dóra nahm den Stapel entgegen, der wesentlich umfangreicher war als die Verträge, mit denen sie normalerweise zu tun hatte. »Aber diese Friðrikka hätte doch vielleicht sagen können, wo der Film aufgenommen worden ist. Vielleicht hätte sie sogar die Hausschlappen erkannt.«

»Ja, schon«, entgegnete Matthias, »aber es wurde trotzdem entschieden, den Film nur dir und dem Arzt zu zeigen. Warten wir mal, wie sich die Sache entwickelt. Vielleicht zeigen wir ihn später noch anderen. Der IT-Spezialist könnte die Füße ja vielleicht auch identifizieren. Er kennt das Team, auch wenn er nicht richtig dazugehört.« Matthias schloss die Aktentasche wieder. »Aber ich hoffe, dass das nicht nötig sein wird.« Er schaute sich um und fügte dann hinzu: »Es fehlt noch jemand.«

»Ja? Wer denn?«

»Bella«, antwortete Matthias, ohne Dóra anzusehen.

»Ha, ha.« Bei dem Gedanken an ihre Sekretärin wurde Dóras Kater noch schlimmer. Sie kniff die Augen zusammen und starrte Matthias an, der immer noch ihrem Blick auswich. »Soll das ein Witz sein?«

»Nein«, sagte Matthias behutsam. »Bragi hat mich gestern Abend angerufen und sie mir aufgedrückt. Er meinte, wir müssten ihr noch nicht mal was dafür bezahlen, und es ist wirklich gut, jemanden zum Protokollieren dabeizuhaben. Die Bank hat heute Morgen grünes Licht gegeben. »Sie wird bestimmt eine große Hilfe sein. Es müssen jede Menge Sachen getippt werden.«

»Das ist ja wohl lächerlich. Grönländische Seehundjäger können garantiert besser tippen als Bella und sind wesentlich fleißiger.«

Matthias machte keine Anstalten, weiter darüber zu diskutieren. »Ich konnte einfach nicht nein sagen«, murmelte er. »Du weißt doch selbst, dass Bragi unheimlich hartnäckig sein kann.« Er lächelte entschuldigend.

Dóra war sprachlos. Sie war wütend auf Matthias und sauer auf Bragi und wusste nicht, wen sie lieber eine Woche mit Bella in eine Zelle gesperrt hätte. Der Kater hinderte sie jedoch daran, weiter darüber zu streiten. Von ihren Plätzen konnten sie den Eingang des Flughafens nicht sehen, aber am Check-in-Schalter war nichts los. »Hoffentlich verpasst sie den Flieger«, sagte Dóra und schaute auf die Uhr an der Wand. »Sie muss einfach den Flieger verpassen.« Ohne weitere Worte begann sie, die Unterlagen durchzublättern, in der Hoffnung, dass sich ihre Wut dadurch legen würde.

Matthias schaute zerknirscht drein. »Hm. Wenn sie wirklich zu spät kommt, fliegen wir einfach ohne sie los.«

Dóra las weiter. Es waren insgesamt fünf Schnellhefter, aber sie sah sofort, dass nur zwei davon wichtig waren: der mit den Vertragsbedingungen und die Korrespondenz zwischen Bergtækni und Arctic Mining. In den anderen drei Mappen befanden sich Informationen über geologische Untersuchungen und Wetterverhältnisse sowie verkleinerte Zeichnungen mit so winziger Schrift, dass Dóra überhaupt nichts lesen konnte. Eine Mappe trug die Aufschrift Projektbeschreibung. Darin war aufgeführt, was Bergtækni bei jedem Projektabschnitt leisten musste und wie die entsprechende Vergütung aussah. »Warum kommt eigentlich niemand von dieser Baufirma mit?«, fragte sie ohne aufzuschauen. »Das ist ein ziemlich umfangreicher Vertrag. Es haben doch bestimmt nicht alle Mitarbeiter der Firma vor Ort gearbeitet, oder? Zumindest nicht die Firmenleitung.«

»Die Firma ist nicht sehr groß«, antwortete Matthias, der offensichtlich froh war, dass Dóra das Thema gewechselt hatte. »Sie ist auf geologische Forschungen und damit verbundene Wirtschaftlichkeitseinschätzungen spezialisiert, vor allem auf dem Gebiet der Erdwärme. Der Firmengründer ist gerade mit einem fünfköpfigen Team mit einem anderen Projekt auf den Azoren beschäftigt. Darüber hinaus arbeiten nur die zwölf Leute bei der Firma, die in Grönland waren. Und von denen weigern sich zehn, ins Camp zurückzukehren. Die anderen beiden sind ja …« Er räusperte sich kurz, bevor er weitersprach: »Im Sommer sollten neue Mitarbeiter für den Bau einer Landebahn und weiterer Gebäude eingestellt werden. Aber ob daraus noch was wird, hängt davon ab, ob Bergtækni den Auftrag überhaupt behält. Für so was findet man wesentlich leichter Mitarbeiter als für die Vorbereitungsarbeiten. Wir sind in ständigem E-Mail-Kontakt mit dem Geschäftsführer, aber er kann sich im Moment auf keinen Fall loseisen. Das Letzte, was diese Firma im Moment gebrauchen kann, ist die Gefährdung ihres zweiten Projekts.«

Dóra nickte. Eine Stimme verkündete über den Lautsprecher, das Charterflugzeug nach Grönland sei bereit zum Einstieg. Dóra steckte die Unterlagen in ihre Laptop-Tasche. Es sah ganz so aus, als würde Bella die Maschine verpassen. Manchmal hatte man eben Glück. Sie gingen zusammen mit den anderen zum Gate, wo Dóra eine etwa dreißigjährige Frau bemerkte, die sich zu der Gruppe gesellte. Das musste die Geologin sein. Sie hatte allein in einer Ecke beim Eingang gesessen. Sie war groß, so wie Dóra, aber ansonsten ganz anders. Dóra war blond, während Friðrikka