Das Lied ist aus - Henny Brenner - E-Book

Das Lied ist aus E-Book

Henny Brenner

4,7

Beschreibung

Mit dem Deportationsbefehl in der Hand: eine jüdische Überlebensgeschichte aus dem zerbombten Dresden. Am 16. Februar 1945 sollte die damals 21-jährige Henny Brenner gemeinsam mit den anderen noch in Dresden lebenden Juden deportiert werden, doch die Luftangriffe auf Dresden vom 13. bis zum 15. Februar und das anschließende Chaos retteten ihr Leben. Als Tochter einer jüdischen Mutter und eines protestantischen Vaters hatte Henny Brenner bis dahin zwar im Vergleich zu ihren – im Sinne der Nürnberger Gesetze als »Volljuden« geltenden – Glaubensgenossen einen gewissen Schutz genossen. Doch Ausgrenzung, Schulverweis, Zwangsarbeitseinsatz und die permanente Angst vor Schlimmerem prägten das Leben des Mädchens bzw. der jungen Frau. Schließlich kam der Deportationsbefehl der Gestapo. Ausgerechnet das Bombeninferno auf Dresden rettete ihr Leben – wenn auch nicht unmittelbar, denn auch nach der völligen Zerstörung der Stadt versuchte die Gestapo, die letzten überlebenden Juden aufzuspüren.

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Henny Brenner

Das Lied ist aus

Ein jüdisches Schicksalin Dresden

Mit einem Vorwort

von Iring Fetscher

und einem Nachwort

von Michael Brenner

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Wallstein Verlag, Göttingen unter Verwendung einer Fotografie des kriegszerstörten Dresden © Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden, Deutsche Fotothek sowie einer Fotografie aus dem Privatbesitz der Autorin

ISBN (Print) 978-3-8353-3132-7

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4181-4

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4182-1

Inhalt

Erinnerungen – ein Vorwort

Vorspiel in der Hölle

Die Mischpoche

Kindheitsimpressionen

Waschtag

Theaterbesuch

Schulwechsel

Ausgegrenzt

Mit Judenstern für die deutsche Rüstung

Zwangsarbeit in der Kartonagenfabrik

Nur ein Angriff kann uns retten

Warten auf das Ende

Befreit – und trotzdem voller Angst

Erneut bedroht

Abermals alles verloren

Ankunft im Westen

Nachwort

Abbildungsnachweise

Erinnerungen – ein Vorwort

Vor zwei Jahren begegnete ich meinem Münchner Kollegen Michael Brenner, der dort einen Lehrstuhl für die Geschichte des Judentums innehat. Von ihm erfuhr ich zum ersten Mal, daß seine Eltern in Dresden Patienten meines Vaters gewesen waren und mein Vater in dem Buch seiner Mutter Henny Brenner »Das Lied ist aus – Ein jüdisches Schicksal in Dresden« vorkomme. Ich wußte zwar, daß mein Vater, von den Nazis als Hochschullehrer entlassen, in seiner Praxis als Arzt vielen Antinazis und Juden geholfen hatte, aber Einzelheiten konnte und wollte er damals seinen Kindern nicht mitteilen, sie hätten versehentlich zu anderen darüber sprechen und ihm große Schwierigkeiten bereiten können. Selbst die treue Sprechstundenhilfe, die ich nach dem Ende der DDR einmal in einem »Feierabendheim« besucht habe, wußte nichts davon. Allen, mit denen mein Vater aus politischen Gründen oder um ihnen zu helfen, Verbindung aufnahm, waren korrekt als Patienten verbucht, zumindest als Bestrahlungspatienten, damit ihre Anwesenheit bei niemandem Verdacht wecken konnte.

Nun erfuhr ich aus dem Buch Henny Brenners, daß sie – Tochter einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters – unter den Bestimmungen der Nazigesetze den Judenstern tragen mußte, weil sie – auf Wunsch ihrer Mutter – die zu erwartenden Kinder jüdisch zu erziehen entschlossen war. Ihr liebevoller Vater hatte sich einverstanden erklärt. Wie in allen »Mischehen« hing das Schicksal des jüdischen Elternteils wie der Kinder davon ab, daß der nichtjüdische Partner treu zu seinem Gatten / seiner Gattin stand und am Leben blieb. Wie zynisch bürokratisch dabei verfahren wurde, zeigt der Fall eines Berliner Juristen, der, nach dem Tod seiner nichtjüdischen Frau durch einen Bombenangriff, nach Auschwitz deportiert und umgebracht wurde. Bei dem Partner und am Leben zu bleiben war für das Schicksal solcher Familien die Voraussetzung für das (wahrscheinliche) Überleben. Durch alle möglichen Schikanen versuchten die Behörden, den nichtjüdischen Partner zur Scheidung zu drängen. Hätte Henny Brenners Vater sich von seiner Frau getrennt, wäre ihm sein Filmtheater nicht weggenommen worden! Als er schließlich zum Arbeitseinsatz der Organisation Todt einberufen werden sollte, hat ihn mein Vater vor diesem lebensgefährlichen Schicksal auf Grund eines medizinischen Gutachtens bewahrt – einer der vielen, denen er als Arzt auf ungewöhnliche Weise helfen konnte. Zwar hat er beim Mittagessen in Anwesenheit seiner Frau und der Kinder davon nicht gesprochen, wohl aber davon, daß er fanatischen und feigen Nazis, die Kränklichkeit simulierten, Atteste gerne verweigert hatte, begründet mit linientreuen Nazi-Argumenten: »Sie wollen doch unseren Führer und das Vaterland nicht im Stich lassen!« oder so ähnlich.

Wir wohnten einige Zeit in Blasewitz in der Schubertstraße 4, einem Haus, von dem heute kein einziger Stein mehr steht. Damals war ich nicht sehr weit von Henny Brenner entfernt, wir dürften sogar einige Male auf der Eisbahn in der Mitte des nahegelegenen Waldparks Schlittschuh gelaufen sein, wobei ich eher das junge Mädchen als sie den ungeschickten Eisläufer bewundert haben dürfte. Nach der Entlassung meines Vaters zogen wir 1935 in die Innenstadt, wo unsere Wohnung im gleichen Haus wie die Praxis in der Christianstraße 9 gelegen war. Von dort aus konnte ich oft die geliebte Altstadt – vor allem die Straßen rund um die Frauenkirche und den Altmarkt – durchstreifen, gelegentlich auch antiquarische Bücher entdecken.

An meinem Gymnasium, das den Namen eines sächsischen Königs (König Georg) trug, gab es vier jüdische Klassenkameraden. Als ich 1932 in die Sexta kam, waren die Lehrer zu allen gleichmäßig freundlich, zwei Jahre später änderten einige spürbar den Ton und machten sich auf gemeine Weise über den Namen des einen Juden, der Pfingst hieß, lustig. Die meisten von uns waren sprachlos und wußten nicht, warum dieser Zeichenlehrer, der bis 1933 als fortschrittlicher Anhänger der modernen Malerei angesehen worden war, sich auf einmal so verändert hatte. Bewundert haben wir ihn jedenfalls nicht. Im Unterschied zu ihm blieben übrigens konservative deutschnationale Studienräte eher sachlich und insgeheim kritisch gegenüber der »neuen Zeit«. Im Laufe der Jahre verließ einer der jüdischen Mitschüler nach dem anderen die Schule. Als der erste mit seiner Familie nach England reiste, beneideten ihn nicht nur seine jüdischen Kameraden.

Am meisten Freude hatten wir an einem alten Religionslehrer, der uns sarkastisch die barbarischen Gestalten der germanischen Frühzeit schilderte und von der humanen Größe antiker Göttergestalten unterschied. Mit meinem Klassennachbarn Wasser unterhielt ich mich im Sommer 1934 über die Gefahren, die wir mit dem bevorstehenden Tod des Reichspräsidenten Hindenburg heraufziehen sahen. Zwar überschätzten wir die korrigierende Einflußmöglichkeit des »alten Herren«, aber unsere Befürchtungen waren nicht ganz unbegründet.

Henny Brenner und ihre Eltern (nur der Vater brauchte den Judenstern nicht zu tragen) trafen unter ihren Mitbürgern meist auf Gleichgültigkeit, gelegentlich auch auf Feindseligkeit und – nur zu selten – auf hilfsbereite Anteilnahme. Unter der schrittweise zunehmenden Beengung – Verbot des Theater- und Kinobesuchs, des Sitzens auf Parkbänken, der Benutzung der Straßenbahn – und unter meist zu schwerer Arbeit haben sie jahrelang gelitten. Am meisten während der Jahre nach dem November 1938 und im Krieg.

Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 haben meine Eltern und die Kinder als einen weiteren Schritt in Richtung auf den totalen Unrechtsstaat erlebt. Diesmal konnte sich mein Vater auch der Familie gegenüber nicht zurückhalten. Empörend und zynisch nannte er die Behauptung des Reichspropagandaministers Goebbels, überall im Land hätten Deutsche spontan Synagogen angezündet, jüdische Geschäfte zerstört und geplündert, und zahlreiche Juden seien daraufhin von der Polizei (oder der SA?) verhaftet worden. Jeder, der halbwegs bei Verstand war, mußte erkennen, daß es sich um Gewalttaten handelte, die von »oben« angeordnet, geplant und koordiniert worden waren. Zum Vorwand diente die Verzweiflungstat eines jungen Juden, Herschel Grynszpan, der aus Protest gegen die Abschiebung seiner Eltern nach Polen in Paris auf den Diplomaten vom Rath geschossen hatte. Um die Tat gewichtiger zu machen, beförderte man den Getöteten posthum.

Die Dresdner Synagoge war ein architektonisches Kleinod, von dem gleichen Architekten wie die Oper – Gottfried Semper –, erbaut. Ein beherzter Feuerwehrmann hat den Stern vom Turm der Synagoge damals gerettet und in Sicherheit gebracht. An der Stelle der alten Synagoge steht jetzt ein moderner Bau, den Henny Brenner mir bei einer gemeinsamen Fahrt durch Dresden zeigen konnte. Viele Dresdner haben für den Aufbau der Frauenkirche aber auch für die neue Synagoge gespendet.

Zwischen 1941 und dem Kriegsende war ich immer nur für ein, zwei Wochen besuchsweise in Dresden, deshalb habe ich auch die berüchtigten Judensterne zum ersten Mal in Holland gesehen. Als ich das Rembrandt-Haus in Amsterdam aufsuchte, stellte sich heraus, daß es im »Judenviertel« lag. In einem Antiquariat beriet mich damals ein mit dem Davidstern gekennzeichneter Jude freundlich. Als ich drei Tage später wieder hinkam, war er verschwunden. »Man hat ihn in ein Arbeitslager nach Polen geschickt«, sagte mir der Inhaber und fragte, ob ich ihm nicht seine Adresse besorgen könne, er würde ihm gern etwas schicken. Ich zweifelte zwar an einer solchen Möglichkeit, versprach aber, mich zu erkundigen. Wie zu erwarten gab es keine Auskunft.

Im Sommer 1943 kam ich in einem Rigaer Hotel mit jüdischen Personen in Berührung, die als dienstbare Helfer angestellt waren. Einer bat darum, meinen Koffer aufs Zimmer tragen zu dürfen. So peinlich es mir auch war, von einem älteren Herrn bedient zu werden, ich mußte es zulassen. Vielleicht handelte es sich um einen der Dresdner Juden, von denen Henny Brenner schreibt, daß sie nach Riga deportiert wurden. Unmöglich, einem würdigen älteren Herrn ein Trinkgeld zu geben. Verlegen reichte ich ihm zum Abschied die Hand. Zu spät fiel mir ein, daß ein größeres Geldgeschenk – und als Soldat brauchten wir kaum Bargeld – ihm vielleicht geholfen hätte.

Ende 1944 wurde meine Einheit vom Baltikum nach Ostpreußen verlegt. Dort hörte ich am 14. Februar 1945 über eines unserer Funkgeräte, mit denen man Radiosendungen empfangen konnte, von dem Großangriff der Royal Air Force auf Dresden. Die Nazipropaganda sprach von »Terrorangriffen«, verschwieg aber genaue Opferzahlen. Bald schwirrten entsprechend übertreibende Gerüchte umher, und ich hatte natürlich Angst um das Leben meiner Eltern und Geschwister. Erst zwei Wochen nach dem Angriff erhielt ich endlich die Gewißheit, daß sie den Angriff – in unserem schwer beschädigten Wohnhaus – überstanden hatten, während die Praxis in der Innenstadt völlig unter Trümmern begraben lag.

Unter den vielen Toten, über die mein Vater berichtete, war auch einer seiner engsten Freunde, mit dem er offen über politische Dinge hatte sprechen können. In einem von Flammen erleuchteten Haus hatte Dr. Ruprecht noch mit seinen Angehörigen sprechen und ihnen Trost spenden können, bis er schließlich gestorben war.

Durch die Zerstörung bürokratischen Materials und das Chaos, das die Flucht ausgebombter Familien verursacht hatte, konnten einige, von den Nazis schon für die Deportation Vorgesehene im letzten Moment der Gefahr entrinnen. Zu ihnen gehörten auch Henny Brenners Familie und Victor Klemperer. Einige politische Häftlinge konnten entkommen, weil ein Gefängnis getroffen worden war.

Der Eindruck des schrecklichen Bombardements auf Dresdner Antinazis war zweideutig: einerseits trauerten sie um die vielen Toten (heute nimmt man an, daß es 35.000 waren) und die Zerstörung historischer Gebäude, andererseits machte der Erfolg des Angriffs klar, daß der Krieg definitiv verloren war und das Ende der Naziherrschaft unmittelbar bevorstand. Die, denen es unter diesen Umständen gelang, sich der Gefahr der Verfolgung zu entziehen, hatten sogar Grund, dankbar zu sein. Mein Vater, der zwar »wehrunwürdig« erklärt worden war, aber als Leiter einer Luftschutz-Rettungsstelle vorbildlich gearbeitet hatte, berichtete mir nicht ohne leise Befriedigung, daß er 24 Stunden lang als Arzt gearbeitet und etwa 800 Verletzte und Rauchgeschädigte versorgt hatte. Während der Gauleiter Mutschmann sich in Sicherheit gebracht hatte, machte sich mein Vater, sobald die Bombardierung aufhörte, auf den Weg, um zu helfen.

Als ich zusammen mit Henny Brenner im vergangenen Jahr – auf Einladung des Deutschlandradios – durch unsere Stadt gezogen (gefahren) bin, kamen für uns beide die unterschiedlichen Erinnerungen wieder hoch: Hennys frühere Schule, in der jetzt Volksschüler ahnungslos herumspringen; der – an diesem Tag leider verschlossene – jüdische Friedhof, auf dem die Namen ihrer Großeltern auf einem Grabstein stehen; das Hauptgebäude meines Gymnasiums, das jetzt zum Klinikkomplex gehört und in dem ich den Platz entdeckte, an dem einmal eine Gedenktafel für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs hing. Das im Stil von George Groz gehaltene Gemälde hatte der neue, 1934 eingesetzte Rektor entfernen und durch ein kitschiges Bild ersetzen lassen, das die »Frontgemeinschaft« herausstellen sollte. Ich fürchte, uns war damals noch nicht klar, was diese offizielle Verherrlichung des Krieges, durch die ein realistisches Kriegsbild verdrängt wurde, für uns bedeuten sollte. 1939 war der erste Mitschüler aus meiner Klasse in Polen gefallen. Meine Mutter brach anläßlich der Kriegsmeldungen in Tränen aus. Auf meinen Einwand, es seien ja doch nur relativ wenige Deutsche gefallen, meinte sie: »Ich trauere auch um die vielen toten Polen.« Eine gute Freundin meiner Eltern, die als Ärztin in Ludwigsburg lebte, hatte sich kurz vor dem Krieg mit einem polnischen Kollegen verlobt.

Wenn man heute vom Neustädter Ufer aus die Silhouette Dresdens erblickt, sieht es beinahe so aus wie vor dem Krieg. Bei näherer Betrachtung fehlen aber vor allem die schönen alten Wohnhäuser in den engen Gassen der Altstadt, die durch einen viel zu groß gewordenen Altmarkt verdrängt worden sind und nie wieder hergestellt werden können. Trauriger ist aber, daß die menschliche Seele der Stadt unter dem Verschwinden großer Teile des Bildungsbürgertums und vor allem seiner Juden gelitten hat. Erst unlängst traf ich in Berlin auf einen Angehörigen der Bankiersfamilie Arnhold, deren Mäzenatentum Dresden viel zu verdanken hatte. Ich erinnerte ihn daran, daß ich 1932 noch im Arnhold-Bad geschwommen bin, das dann durch die Nazis in Günzwiesenbad umgetauft wurde und seit 1947 wieder Arnhold-Bad heißt. Mein Vater berichtete einmal von den anregenden Vortragsveranstaltungen im Hause Arnhold und davon, welche interessanten Begegnungen er dort gehabt habe.

Das Bankhaus Arnhold-Bleichröder – jetzt in New York – weiß sich seiner Dresdner Herkunft verbunden und hat zum Wiederaufbau nicht nur der Synagoge beigetragen. Aber die neue jüdische Gemeinde besteht fast ausschließlich aus Kontingentflüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion. Es wird noch einige Zeit dauern, bis die schwere Last der Vergangenheit nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich abgetragen sein wird. Henny Brenners Geschichte erinnert an die Verluste.

Januar 2005

Iring Fetscher

Vorspiel in der Hölle

Den Bomben, die in jener denkwürdigen Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 die Stadt Dresden dem Erdboden gleichmachten, verdanke ich mein Überleben. Was alles mußte passiert sein, daß ein Mensch im Angesicht des verheerendsten Untergangs, den eine deutsche Stadt je erlebte, innerlich aufatmen konnte? Was mußte im Kopf eines zwanzigjährigen Mädchens vorgehen, das die Zerstörung ihrer von Kindheit an vertrauten Umgebung als ihr eigenes Überlebenswunder betrachtete? Dies zu erzählen, will ich versuchen, beginnend mit jener Nacht, die für uns wie für alle Dresdner eine entscheidende Wende markierte.

Für meine Familie und die noch etwa hundertsiebzig in Dresden lebenden Juden sah diese Wende jedoch ein wenig anders aus als für die hunderttausend Menschen um uns herum. Für uns war es bereits seit zwölf Jahren Nacht, und zum ersten Mal sahen wir nun, inmitten des ungeheuerlichen Leids und Elends, den Tag heranbrechen. Wie alle in jenen Stunden dachte ich: Das ist Dantes Inferno auf Erden. Und doch wußte ich: Nur durch dieses Inferno können wir uns retten. Während die ganze Stadt weinte, jubelten wir. Auch unser Haus war ausgebombt, auch wir fürchteten, vom Flammenmeer eingeschlossen zu werden, auch wir erstarrten innerlich angesichts der verkohlten Leichenberge am Wegrand. Und dennoch, zum ersten Mal seit Jahren waren wir frei.

Auch wir liefen, die letzten Habseligkeiten in einen kleinen Rucksack gepackt, durch das brennende Häusermeer. Nur, daß in unserem Rucksack neben den persönlichen Dokumenten und Photographien, den wenigen Wertsachen und den mit einem großen »J« entwerteten Lebensmittelmarken noch etwas Zusätzliches verborgen war: ein von der Kleidung gerissener gelber Stern und ein grauer Deportationsbefehl. Zum ersten Mal nach über tausend Tagen prangte der gelbe Stern, der Passanten immer wieder zum Anspucken und Beschimpfen eingeladen hatte, nicht mehr auf unserer Brust. Neben ihm im Rucksack lag ein Dokument, datiert vom 12. Februar 1945, dem Vortag also. Absender war »Der Vertrauensmann der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland für den Bezirk Dresden«. Neben meinem Vornamen Henny standen der obligatorische Zusatz Sara und dann die folgenden Worte: »Auf Anweisung der vorgesetzten Dienststelle, der Geheimen Staatspolizei Dresden, fordere ich Sie auf, sich Freitag, den 16. Februar 1945, früh 6.45 Uhr pünktlich im Grundstück Zeughausstr. 1, Erdgeschoß rechts, einzufinden. Sie haben damit zu rechnen, daß Sie außerhalb Dresdens zum Arbeitseinsatz kommen.« Natürlich wußten wir, daß Arbeitseinsatz KZ bedeutete. Und wir wußten, daß wir diesem Aufruf nicht Folge leisten würden. Gepäck und Marschverpflegung, hieß es weiter, solle man mitnehmen: »Es darf 1 Koffer oder 1 Rucksack (nicht beides) mitgenommen werden. Größe und Gewicht des Koffers oder Rucksacks dürfen die Maße eines Handgepäckstücks nicht übersteigen. Sie müssen damit rechnen, daß Sie das Gepäck eine größere Strecke Weges selbst tragen müssen.« Einpacken durfte man Bekleidung, Schuhwerk und Decke, nicht mitnehmen dagegen durfte man: »Wertpapiere, Devisen, Sparkassenbücher, Streichhölzer, Kerzen«.

»Nur ein Angriff kann uns retten«, sagte mein Vater. Wir waren fest entschlossen unterzutauchen. Doch hätte dies wenig Aussichten gehabt ohne das große Chaos, das der Angriff auslöste. Was mein Vater als letzte verzweifelte Hoffnung ausgesprochen hatte, sollte sich bewahrheiten. Allerdings viel schlimmer, als es irgend jemand von uns sich hätte vorstellen können. Einige der wenigen Juden, die von der einst stattlichen Gemeinde mit 6000 Mitgliedern in Dresden verblieben waren, konnten sich nicht mehr freuen. Denn auch eines der sogenannten Judenhäuser, in dem sie untergebracht waren, fiel dem Angriff zum Opfer; sie erstickten im Keller des Hauses. Das wußten wir noch nicht, als wir uns weiter durch die Straßen kämpften, vorbei an zerbombten Brücken, uns an den Elbwiesen niederwarfen. Wir hörten, daß die Gestapo brannte und jubelten: »Nun sind alle unsere Akten vernichtet!« Wir konnten nicht ahnen, daß die Gestapobeamten unsere Akten vorher ausgelagert und in Sicherheit gebracht hatten. Auch in diesen Stunden, in denen unzählige Menschen verbrannten, hatten sie nichts Besseres zu tun, als die letzten Juden aufzuspüren. Zwölf Jahre des Schreckens waren vorbei, doch die schlimmsten drei Monate sollten uns noch bevorstehen.

Die Mischpoche