Das Mysterium auf dem Berg - Theodor Reik - E-Book

Das Mysterium auf dem Berg E-Book

Theodor Reik

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Beschreibung

Im Mittelpunkt dieses Buches stehen die Ereignisse um den Berg Sinai: Die Hebräer als Sklaven in Ägypten, Flucht aus Ägypten und Wüstenwanderung, Gesetzgebung am heiligen Berg, Einwanderung in Kanaan und Stämmebund. Theodor Reik legt dabei besonders Wert auf die Entstehung des jüdischen Monotheismus. Einen zweiten Schwerpunkt bildet die Bildung der Israeliten zu einer Nation.

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Seitenzahl: 399

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Einleitung: Schau und Rückschau

Teil Eins: Die Entfaltung des Dramas

1 Die dramatische Handlung: Die Offenbarung

2 Die Personen des Dramas

3 Mose als Träger der Handlung

4 Die Geburt eines Helden

5 Die Entstehung der Tradition

6 Die Geburt einer Nation

7 Exodus als Genesis

8 Der Schauplatz der Handlung – Die Wanderungen und der Berg

9 Pessach

Teil Zwei: Offenbarung als Initiation

10 Auf dem Weg zu einem Neuanfang: Jenseits der historisch-kritischen Methode und der neuen Archäologie

11 Die Bedeutung der Initiation

12 Die ursprüngliche Initiation ins Mannesalter

13 Tod und Auferstehung

14 Der Schlüssel zu einem unsichtbaren Eingang

15 Menschliche Unterstützung der Offenbarung

16 Der Klang und die Raserei

17 Moses Maske

18 Die zehn Gebote der Wilden

19 Beschneidung und Bund

20 Der Bund

21 Die nächste Aufgabe

Teil Drei: Eine Entdeckungsreise in archäologische Psychoanalyse

22 Versuch einer Rekonstruktion

23 Gedächtnisfeier

24 Der Busch, der brannte und nicht verbrannte

25 Mythos und Mysterium

26 Der Sprung zurück

27 Der Fortschritt im Rückschritt

28 Ein heiliges Volk

29 Der unaussprechliche Name

30 Gottes Gestaltlosigkeit

31 Die Geburt eines kollektiven Über-Ich

32 Die Wiederkehr des Verdrängten

33 Die lebendige Vergangenheit: Rückblick und Ausblick

Anmerkungen

Für Miriam

Schlaf mein Kind, schlaf, es ist spät –

Sieh wie die Sonne zur Ruhe dort geht.

Hinter den Bergen stirbt sie in Rot.

Du weißt nicht von Sonne und Tod.

Wendest die Augen zum Licht und zum Schein.

Schlaf, es sind so viel Sonnen noch dein.

Schlaf mein Kind, mein Kind schlaf ein.

Schlaf mein Kind, der Abendwind weht.

Weiß man woher er kommt, wohin er geht?

Dunkel verborgen die Wege hier sind

Dir und auch mir und uns allen mein Kind.

Blinde so gehen wir und gehen allein.

Keiner kann keinem Gefährte hier sein. Schlaf mein Kind, mein

Kind schlaf ein.

Schlaf mein Kind, und horch nicht auf mich.

Sinn hats für mich nur und Schall ists für dich.

Schall nur wie Windes wehn, Wassergerinn,

Worte vielleicht eines Lebens Gewinn!

Was ich gewonnen gräbt man mit mir ein.

Keiner kann Keinem ein Erbe hier sein.

Schlaf mein Kind, mein Kind schlaf ein.

Schläfst du Mirjam, Mirjam mein Kind?

Ufer nur sind wir und tief in uns rinnt

Blut von Gewesnen, zu Kommenden rollts.

Blut unsrer Väter voll Unruh und Stolz.

In uns sind alle, wer fühlt sich allein?

Du bist ihr Leben, ihr Leben ist dein.

Mirjam mein Leben, mein Kind, schlaf ein.

Richard Beer-Hofmann

Einleitung Schau und Rückschau

Eine ausgezeichnete Anekdote über Anatole France, die nicht lange nach seinem Tod in den Memoiren eines engen Freundes1 veröffentlicht wurde, scheint der beste Weg, die Geschichte der langen Reise, die ich unternommen habe, um dieses gegenwärtige Buch vorzubereiten, einzuleiten. Die Anekdote zeigt den berühmten Autor in einer freundschaftlichen Unterhaltung mit dem Sekretär einer Zeitschrift, der ungeduldig fragt, warum es für einen so erfahrenen Schriftsteller notwendig sei, so lange zu zögern, bevor er die Druckfahnen korrigiere. Der Autor erklärt: „Ich muss zuerst vergessen, was ich geschrieben habe, um es mit neuen Augen zu sehen. Erst dann werde ich mir bewusst, was nicht sofort verständlich ist und was nicht einfach und klar ist.“ Er fügt schließlich hinzu: „Sie sehen, was natürlich ist, kommt erst zum Schluss.“

Die Schicksale des gegenwärtigen Buches und seines Schreibers sind Beweise der Einsicht, wie sie dieses Epigramm gewährt. Im Herbst 1913 begann ich einen Aufsatz über „Die Pubertätsriten der Wilden“2 zu schreiben, in der Hoffnung, in das umfangreiche Material, das von zeitgenössischen Anthropologen und Religionshistorikern gesammelt worden war, Licht zu bringen. Als ich Freuds Totem und Tabu las, das gerade veröffentlicht worden war, hatte sich in meinen Gedanken eine neue Vorstellung über jene periodischen Feste der primitiven Gesellschaft gebildet. Mitten in meinem Bemühen, die Riten in psychologischer Hinsicht zu verstehen, hielten bestimmte, scheinbar irrelevante Angelegenheiten meine Aufmerksamkeit fest.

Diese herumirrenden Gedanken betrafen die Geschichte des Exodus und die Ereignisse am Sinai und schienen auf eine verborgene Ähnlichkeit zwischen den Pubertätsriten der australischen Eingeborenen und der Offenbarung auf jenem berühmten Berg anzuspielen. Jene Eindrücke störten fortwährend meine Gedanken und verzögerten meinen Fortschritt bei der Fertigstellung des vorher erwähnten Aufsatzes. Nichtsdestoweniger erinnerten mich ständig einige Züge in dem „zentralen Geheimnis der primitiven Gesellschaft“ wie Sir James G. Frazer die Initiationsriten nannte, an jenes andere Geheimnis, das die Geburt einer neuen Religion bezeichnet. Jene Ideen tauchten auf und verschwanden wieder. Doch sie tauchten wieder auf. Vergeblich gebot ich ihnen, in der Menge anderer unwichtiger Gedanken zu verschwinden. Warum sollten sie nicht verschwinden wie andere? Vielleicht wären sie in guter Gesellschaft gewesen.

In diesem Stadium, als die Gedanken noch im Zustand von nicht überzeugenden Ahnungen und meine Ideen noch unfertig waren, erwähnte ich sie Freud gegenüber. Er hörte mir zu, stand von seinem Sessel auf und suchte nach der Ausgabe einer Zeitschrift. Falls mich meine Erinnerung nicht trügt, waren es die Mitteilungen der vorderasiatischen Gesellschaft [im Original dt.], die er abonniert hatte. Er zeigte mit darin einen Aufsatz, in dem anscheinend mit Autorität behauptet wurde, dass die hebräischen Stämme während des Exodus höchstwahrscheinlich niemals in der Nähe des Berges Sinai oder des Berges, der heute so genannt wird, gewesen waren. Offenbar muss Freud gefühlt haben, dass es für meine Theorie wesentlich war, darauf zu bestehen, dass die Israeliten am Sinai gelagert hatten und deutete an, dass meine Theorie zu eng mit der Lokalität jenes Berges verbunden war.

Im Rückblick wird mir klar, dass das Lesen jenes Aufsatzes und die skeptischen Bemerkungen Freuds einen großen Eindruck auf mich gemacht haben mussten. Sie spornten mich an, den ganzen Gedankenweg oder Forschungsplan, der auf einen Vergleich zwischen Offenbarung und primitiver Initiation gerichtet war, aufzugeben. Ich war halb überzeugt, dass ich von einem Irrlicht vom rechten Wege weggeführt worden war. Die Kritik Freuds, die mit dem Zeigen des Artikels in der Zeitschrift verbunden war, hatte mich vollständig eingeschüchtert.

Ich möchte jedoch hinzufügen, dass Freud einige Monate später zu meinem Erstaunen auf den Gegenstand unseres Gesprächs zurückkam und sagte: „In Ihrer Idee stecken weitreichende Möglichkeiten.“ In den folgenden Jahren erwähnte er den Plan mehrere Male – einmal in der Form eines sanften Vorwurfs für mein Zaudern – aber ich hatte das Projekt links liegen gelassen und mein Interesse anderen Gegenständen zugewandt. Das Interesse, das Freud meinen Forschungen gegenüber später gezeigt hatte, blieb jedoch nicht ohne Ergebnis. Während ich jenen vorher erwähnten Aufsatz über Pubertätsriten vervollständigte, verfehlte ich nicht die Bemerkung einzufügen, dass der Bericht vom Bund der Hebräer mit ihrem Gott „ein verherrlichter und verbesserter Bericht einer Initiationszeremonie war“. Ich erklärte ferner, dass die „Psychoanalyse es uns ermöglicht, in dem Sinai-Abschnitt ein historisches Gegenstück zu den bedeutenden gegenwärtigen Initiationsriten, die im Busch stattfinden, zu erkennen“3. Falls, sagte ich dort, „die Verbote und Befehle in den Pubertätsriten der australischen Schwarzen insbesondere mit der jüdischen Geschichte des Exodus, dem Dekalog und dem Bundesbuch verglichen werden, wird eine auffallende und bisher unberücksichtigte Ähnlichkeit offenbar“. Dann folgt die Bemerkung, dass ich hoffe, „auf dieses Thema in einem anderen Werk einiges Licht zu werfen“. In verschiedenen Aufsätzen, die in den folgenden Jahren geschrieben wurden4, habe ich einige wenige Elemente der Forschung, die in diesem Buch präsentiert werden, vorweggenommen, doch jene Hoffnung, den größeren Plan zu vollenden, blieb bisher unerfüllt.

Als ich von der Front des 1. Weltkriegs zurückkehrte, war ich angezogen von verschiedenen Problemen der allgemeinen Psychologie und Psychopathologie und von Fragen der psychoanalytischen Technik. Bücher über diese Themen waren zuerst in meinen Gedanken und verlangten dann auch danach geschrieben zu werden. Auf einem langen Umweg kehrte ich später zu dem wissenschaftlichen Interesse in vergleichender Religionswissenschaft zurück, das mich als jungen Psychoanalytiker ganz in Anspruch genommen hatte. Sogar als das Projekt des gegenwärtigen Buches wiedererschien und wieder Priorität in meinen Gedanken gewann, führten meine Widerstände ein verzweifeltes Rückzugsgefecht, als ob diese Abhandlung sich noch immer dagegen sträubte geschrieben zu werden.

Nun, nach diesen vielen Jahren betritt das lange aufgeschobene Werk die Welt, nachdem der Autor die Grenze des biblischen Alters von 70 Jahren überschritten hat. Macht es irgend jemandem außer dem Autor etwas aus, dass es vor fast einem halben Jahrhundert empfangen wurde, als sein Autor 25 Jahre alt war?

Übereinstimmend mit der Forderung nach psychologischer Aufrichtigkeit will ich nicht verschweigen, dass ich während dieser langen Pause die einschlägige Literatur mit gemischten Gefühlen von Hoffnung und Sorge verfolgt habe. Würde jemand anders den Gedankengang entdecken, der so viel vom Geheimnis der biblischen Offenbarungsgeschichte erklärte? Doch ich begegnete vergeblich einer ähnlichen Deutung. Einige Gelehrte schienen meinem Weg, das Problem darzustellen, nahe zu kommen, aber niemand erreichte ganz meine Lösung. Unter den psychoanalytischen Forschern trug der späte Geza Roheim einige bedeutende Analogien zwischen der Offenbarungserzählung und Berichten über australische Initiation bei, doch wagte er kaum mehr als eine schulmäßige Erforschung von Details. Es war für mich eine Bestätigung, als ich entdeckte, dass Roheim mit hoher Achtung über die Bedeutung meiner frühen Forschung dachte, indem er erklärte, dass ich „der erste war, der gezeigt habe, dass die semitische Religion auf dem Pubertätsritus aufbaut“5.

In den 45 Jahren seit meinem schicksalhaften Gespräch mit Freud bin ich in meinen Gedanken mehr als einmal zu meinem alten Plan zurückgekehrt. Daran zu denken war immer von einer Art Unbehagen oder beunruhigendem Bewusstsein begleitet, obwohl ich Freud kein Versprechen gegeben hatte. Ich hatte weder Freud oder sonst jemandem, selbst mir, versprochen, ein Buch über die Sinai-Exodus-Ereignisse zu schreiben. Die Verpflichtung, die ich eingegangen war, bestand unausgesprochen und stillschweigend. Als ich mich nach einer Unterbrechung von mehr als vier Jahrzehnten von neuem in das Studium der Materialien, die jetzt dank der neuen Entdeckungen der Archäologie zu gigantischen Dimensionen angewachsen waren, vertiefte, hatte ich das Gefühl wieder nach Hause gekommen zu sein. Meine zentralen Ideen waren intakt und frisch geblieben, obwohl sie mehr als 40 Jahre überwintert hatten.

Ich begann dieses Buch mit dem Gefühl eines Läufers, der in der Nähe der Ziellinie bemerkt, dass er zurückgefallen ist und fürchtet, er würde nicht genug Zeit haben aufzuholen und das Rennen verlieren, zu schreiben. Ich musste die Stimme in mir selbst beruhigen, die murmelte: „So wenig Zeit!“

Zweifellos war es mangelnder moralischer Mut, der mich davon abhielt, jenes frühe Konzept zuende zu führen. Freud pflegte uns, seinen Wiener Studenten, zu sagen, dass viele psychologische Talente hätten, mit denen sie gute Psychiater werden könnten, aber was sich immer bei der Berufswahl als entscheidend herausstellte sei der Charakter. Im Bereich des Charakters spielt der moralische Mut die Hauptrolle. Moralischer Mut gibt uns Kraft, unerfreulichen Wahrheiten bei uns selbst und anderen ins Gesicht zu sehen, verschafft uns die Stärke, auf Ideen zu beharren, die zuerst absurd oder abstoßend, übermäßig oder phantastisch erscheinen. In jeder Forschung ist es moralischer Mut, der einen überkommt, was Freud einst „Gedankenschreck“ (im Original deutsch!) nannte, die Furcht, eine Idee sich zu eigen zu machen und zu untersuchen, die einem anfänglich als bizarr oder gefährlich erscheint. Mit seinen Ideen gegen seine inneren Widerstände zu Ende zu kommen läuft auf das hinaus, was man im Krieg „Tapferkeit vor dem Feind“ nennt.

Es war fehlender moralischer Mut, der mich jenen Plan meiner Jugend hatte verlassen lassen und der mich daran hinderte, dem Weg, den ich zu seinen endgültigen Lösungen betreten hatte, zu folgen. Diese Art von Mut wächst manchmal mit zunehmendem Alter. Vor fast 400 Jahren schrieb Michel Eyquem de Montaigne: „Ich spreche die Wahrheit, nicht so viel, wie ich darf, doch wage ich etwas mehr, so wie ich älter werde.“ Auch ich werde mutiger mit fortgeschrittenem Alter, wie hoffentlich dieses Buch erweisen wird.

Der Autor selbst muss sich nun, so bescheiden, wie er es vermag, von der Mitte der Bühne zurückziehen und den Platz dem Erzähler übergeben, der das Thema dieses Buches vortragen wird. Ich möchte Mrs. Jane Waters, Dr. A. B. Feldman und Dr. Benjamin Nelson für konstruktive Kritik und editorische Hilfe danken.

Die vorliegende Abhandlung versucht, die Hauptzüge der biblischen Tradition freizulegen und die Forschung über die geschichtliche Bedeutung und die vorhersehbare Zukunft des Judentums zu beginnen. Meine Bemerkungen zum letzteren Thema werden hier vorsichtig angedeutet, sie werden aber in einer Fortsetzung dieses Buches, das bereits in Vorbereitung ist, genauer dargestellt.

Hier begnügen wir uns Fragen zu stellen: Können wir das Geheimnis lösen, das noch immer die Ereignisse des Auszugs aus Ägypten, die Wanderung der hebräischen Stämme in die „große und furchtbare Wüste“ und, vor allem, die Offenbarung umgibt? Können wir die Nebel durchdringen, die noch immer den Gipfel des Heiligen Berges umhüllen?

Ich schlage vor, dass wir zuerst eine arg vernachlässigte Tatsache betrachten. Die Exodus-Erzählung entfaltet sich als ein Drama, das auf historische Ereignisse gegründet ist und im Abstieg Jahwes vom Berg Sinai kulminiert. Warum sollen wir unsere Arbeit deshalb nicht mit einer Untersuchung der Struktur und Symbolik des Dramas beginnen? In diesem Geist wird Teil I die Entfaltung des Inhalts der Aktion, die Personen des Spiels, die sorgfältige Ausarbeitung des Stoffs und so weiter bedenken. Es wird deshalb nicht seltsam erscheinen, dass ich gelegentlich „hinter den Vorhang“ schaue, um zu sehen, was sich auf der „Hinterbühne“ tut.

Wie unter den Zeilen eines Psalimpsestes werden Spuren von alten radierten Schriften sichtbar, können die Umrisse eines Initiationsfestes der hebräischen Stämme unter der biblischen Erzählung wahrgenommen werden. Die Tradition solcher semitischer Riten, die schon sehr früh geleugnet wurde, wurde mit der Geschichte des Auszugs aus Ägypten und der hebräischen Wanderung verschmolzen. Das Drama, wie es in der Heiligen Schrift erscheint, ist eine Komposition, die geschaffen und mehrere Male aus diesen zwei Elementen erneuert wurde: einer Episode aus den Wechselfällen einiger halbnomadischer Stämme und einem früheren Initiationsritual, das weltgeschichtliche Bedeutung erlangte, als die Tradition es in den erhabenen Rang göttlicher Offenbarung erhob. Am Ende einer sehr weltlichen Notsituation und eines tiefen, den Stamm betreffenden Elends erscheint das Heiligste der Geheimnisse Gottes.

Während der 45 Jahre, seit mir der Plan zu diesem Buch zuerst einfiel, ist eine Fülle von einschlägiger Literatur aus den Gebieten Archäologie und Exegese, Geschichte und Theologie erschienen, die von mir leider nur ungenügend studiert wurde. An dieser Stelle halte ich es für notwendig, meine Beziehung zu zwei Werken zu erklären, die, obwohl sie jenen gelehrten Untersuchungen, die für meine Forschung wichtig wurden, fernstehen und weil sie einander gegensätzlich sind: Sigmund Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ und Martin Bubers „Moses“6. Obwohl sie in ihren Absichten und Methoden unterschiedlich und oft gegensätzlich sind, stimmen beide Bücher in einem entscheidenden Punkt überein: sie sind konzentriert auf die turmhohe, doch problematische Gestalt des Mose. Freud sieht in dem Propheten einen Ägypter, dessen unvergänglicher Beitrag es war, den Juden eine neu entdeckte Religion seiner Heimat mitzuteilen, den Monotheismus. Ich sehe mich gezwungen, meinem großen Lehrer in zwei Punkten zu widersprechen: (1) Ich bin nicht überzeugt, dass Mose ein Ägypter war. Es scheint mir sicher, dass er ein Hebräer gewesen ist. (2) Meiner Meinung nach scheint es zumindest fragwürdig, die Ursprünge des historischen Monotheismus den Ägyptern zuzuschreiben.

Insofern stimme ich mit Freud überein, dem ich 30 Jahre lang eng verbunden war, und stehe weiterhin loyal zu ihm im Streben nach einem gemeinsamen Weg, die Natur und die Kultur der Menschheit zu verstehen. Wie er habe ich versucht, die Bedeutungen und Mannigfaltigkeiten religiöser Erfahrung zu enträtseln und besonders in die nicht so manifesten Bedeutungen des jüdisch-christlichen Erbes einzudringen. Wie er finde ich es hilfreich, ja notwendig, die Ursprünge zu untersuchen, um die Bedeutungen abgeleiteter Formen vollständig zu verstehen. So wage ich mich in dem gegenwärtigen Zusammenhang in das Labyrinth der frühen Geschichte der Hebräer, um nach Hinweisen für die Faszination zu suchen, die der Dekalog und das Bundesbuch auf die Gemüter der Menschen im Westen ausüben. Schließlich bleibe ich loyal zu Freud in der Überzeugung, dass psychoanalytische Forschung in vernachlässigten Ecken geschichtlicher Überlieferung der Königsweg zur Entdeckung vergessener Bedeutungen und verwickelter Gefühle im Kulturleben ist.

Martin Bubers Moses gehört zu einem anderen Genre als das von Freud. Treu seinem Glauben, eine Art Neuzeitprophet eigenen Rechts, steht Buber gleichgültig und sogar kritisch der Psychoanalyse gegenüber. Versunken in Geschichte und Tradition versucht Buber eine verwegen frische Wiedergabe der Ereignisse des Exodus, wie sie wie in einem Schmelztiegel in den Glauben des Menschen und seine religiöse Vorstellung umgeformt wurden. Der Held von Bubers Buch ist die monumentale Gestalt von Mose, dem Propheten, Gesetzgeber und Staatsmann.

Der Leser soll sich bewusst machen, dass meine Versuche zur Lösung der großen Probleme, wie sie Buber erwogen hat, ihren Ursprung in unterschiedlichen Fragen haben und auf grundsätzlich unterschiedlicher Interpretation beruhen. Doch wenn ich nicht durch lebenslange Überzeugungen in die Irre geführt worden bin, wird man finden, dass meine Entdeckungen dem Bild, das Buber schildert, eine neue Dimension hinzufügen, zumindest eine Ergänzung zu seinem Werk liefern. In meiner eigenen Abhandlung hoffe ich, dass die Ereignisse des Exodus und der Sinaioffenbarung aus der Sicht der Tiefenpsychologie verständlich werden.

In beiden Büchern, dem von Freud als auch von Buber, beherrscht die gigantische Gestalt von Mose das Zentrum der Bühne und erhebt sich über die Köpfe des hebräischen Volkes. Im Gegensatz dazu erscheint Mose in meinem Buch nur als eine Gestalt im Vordergrund ähnlich der in einem alten Basrelief, in dem ein dominantes Subjekt sich nur leicht vom Hintergrund abhebt. Im Mittelpunkt steht die Offenbarung, in deren Geheimnis ich gerne eindringen möchte. Der Held des Dramas, zu dem sich der Vorhang öffnet, ist das jüdische Volk, eine Gemeinschaft und eine Religion im Werden.

Ich gebe freimütig zu, dass meine Abhandlung den Charakter zu haben scheint, was einst der berühmte Schotte Dugald Stewart „conjectural history“ zu nennen pflegte, um Erzählungen zu beschreiben, die auf möglichen Schlussfolgerungen beruhten, die die entfernte Vergangenheit betrafen. Diejenigen, die eine Rekonstruktion der Anfänge von Israels Geschichte und Religion versuchen, werden dieser Unbestimmtheit nicht entkommen. Auf jedem Gebiet liegen die Alternativen nicht zwischen perfekter Darstellung oder totaler Unfähigkeit, sondern zwischen „conjectural histories“ verschiedener Grade von Plausibilität und Signifikanz, d. h. zwischen „conjectural histories“ im eigentlichen Sinn und unnützen und fruchtlosen Konjekturen. Wir werden uns nicht in die Dickichte der Ignoranz begeben, wenn wir unser Augenmerk nur auf das richten, was wir mit genauen Kenntnissen wissen. Forscher auf der Suche nach verborgenen Wahrheiten in der biblischen Tradition werden, wie die Soldaten Napoleons, sich der Tatsache bewusst bleiben, dass von den Pyramiden 40 Jahrhunderte auf sie blicken. Ich werde zufrieden sein, wenn die Rekonstruktion der Natur der Wirklichkeit, die im biblischen Bericht verborgen und geoffenbart ist, nahe kommt.

Das Ziel dieser Untersuchung liegt jedoch jenseits neuer Einsichten in den Beginn jüdischer Geschichte und Religion. Es gibt eine alte Überlieferung, dass das Wort Gottes, das vom Berg Sinai ausging, gleichzeitig in allen Sprachen der Erde gesprochen wurde. Beim Versuch, in das Geheimnis der Sinaitradition einzudringen, versucht dieses Buch seine Bedeutung für die Evolution der Zivilisation zu bestimmen. Was immer es war, das auf jener Halbinsel vor mehr als drei Jahrtausenden stattfand, es war, gemäß Winston Churchill „der entscheidendste Sprung vorwärts, der je in der Geschichte der Menschheit gemacht wurde“.7

New York

Mai 1959

Theodor Reik

Teil Eins Die Entfaltung des Dramas

1. Die dramatische Handlung: Die Offenbarung

Gelehrte unterscheiden gerne zwischen Natur- und Offenbarungsreligionen – eine Einteilung, über die man offen diskutieren kann wie über jede wissenschaftliche und „begriffliche“ Unterscheidung. Wenn wir sie auch für nützlich halten, bleiben wir uns doch der Tatsache bewusst, dass es dabei veränderliche Grenzen und rätselhafte Übergänge gibt. Die Geschichte folgt jenen zwei Sichtweisen ultimativer religiöser Orientierung so weit es möglich ist, indem sie in der ersten Gruppe durch die „animalistische“ und die „animistische“ Phase zu den Stufen, als die Götter menschlich und schließlich übermenschlich wurden, gelangt. Die zweite Gruppe, zu der die hebräische Religion, das Christentum und der Islam gehören, basiert angeblich auf historischen Ereignissen, durch die sich die Gottheit selbst und ihren Willen dem Menschen bekannt machte. Diese Ereignisse nennt man Offenbarung.

Das Wort „Offenbarung“ hat zwei Bedeutungen. Es bezeichnet den Prozess, durch den Gott die Wahrheit, die er beansprucht, bekannt macht und es bedeutet das Wesen der Wahrheit, durch das Gott bekannt geworden ist. Offenbarung ist immer göttlich – d. h. es ist immer seine Initiative. Die Aktion der Selbstenthüllung hängt von seinem Willen ab. Es ist seine Art, Erleuchtung zu bringen. Die Empfänger der Offenbarung befördern seinen Zweck, indem sie seine Botschaft ausrufen und verkünden. Wir haben also zu unterscheiden zwischen Gottes Freude und der Antwort des Menschen. Was ist der Inhalt der Offenbarung? Zuerst ist es Gott selbst und sein Zweck. Geoffenbarte Wahrheit kontrastiert deutlich mit anderen Wegen, auf denen Menschen Wissen von Göttern und göttlichen Dingen erlangt haben. Es ist eine direkte Kommunikation, die von Gott selbst ausgeht.

Der hl. Thomas von Aquin (1226 – 1274) unterscheidet genau zwischen einem „Aufstieg vom natürlichen Licht der Vernunft durch die geschaffenen Dinge zum Wissen von Gott“ und einen „Abstieg durch die Art der Offenbarung von göttlicher Wahrheit, die den menschlichen Intellekt übersteigt“ und uns zum Glauben führt. „Alle Offenbarung ist Selbstoffenbarung von Gott.1

Theologen weisen häufig darauf hin, dass das, was uns offenbart worden ist, keine „Information über verschiedene Dinge ist, über die wir sonst nichts wissen könnten. Falls es eine allgemeine Information ist, ist es eine Information, die die Natur, den Geist und den Zweck von Gott enthält – dies und sonst nichts“2. Die Authentizität solcher Information lässt sich nicht bezweifeln. Nach Ansicht der Theologen ist Gottes Wissen über sich selbst die endgültige Norm. Erzbischof Trench (1807 – 1886) bemerkt mit vorbildlicher Klarheit, dass Gottes Selbstoffenbarung „ein Wegziehen des Schleiers oder Vorhangs ist, der ihn vor den Menschen verbirgt. Nicht der Mensch sucht Gott, sondern Gott selbst offenbart sich dem Menschen“3.

Offenbarungen erreichen die Gläubigen auf unterschiedlichen Wegen und durch verschiedene Medien. Die Griechen erkannten die Worte Gottes in den Aussprüchen des Orakels von Delphi. Zoroaster erklärte, dass er die Botschaft von Ahura Mazda empfing und Mohammed legte seine Visionen als Vermächtnis der Wahrheit durch Allah aus. Göttliche Worte wurden den Propheten in Israel mitgeteilt, die verkündeten: „Spruch des Herrn.“ Im Gegensatz zu dieser Art von Offenbarung steht der andere und seltene Fall, in dem die Identität und der Wille Gottes durch ihn selbst einem ganzen Volk, zum Beispiel in der Theophanie am Berg Sinai, erklärt werden. Eine solche kollektive Erfahrung scheint die Feststellung Kierkegaards einzuschränken, dass die Beziehung des Menschen zu Gott wie der Hohlweg bei den Thermopylen ist, wo jeweils nur eine Person durchkommen kann.

Die Theologie berücksichtigt bei der vermittelten Botschaft die intellektuelle Aufnahmefähigkeit. Ein Lehrer, der einem Kind im Kindergarten etwas erklären will, muss eine andere Sprache verwenden und andere Wege der Kommunikation suchen als der Lehrer, der einen Hochschüler unterrichtet. Das göttliche Licht bleibt dasselbe. Aber die Formen der Erleuchtung ändern sich.

Die sogenannte fortschrittliche Theologie besteht jedoch darauf, dass Offenbarung „weder Buch noch Lehre, sondern Gott selbst in seiner geschichtlichen Selbstbezeugung ist. Offenbarung ist Ereignis“4. Anders gesagt ist Offenbarung nicht in der Form von direkt vermitteltem Wissen gegeben, sondern durch Ereignisse, die in der geschichtlichen Erfahrung der Menschheit geschehen. Jene Ereignisse werden als „mächtige Taten“ Gottes empfangen und erzeugen im Gedächtnis des Menschen zurückstrahlendes Wissen seiner Macht.

Falls jene Ereignisse Teil der Geschichte sind, können sie nicht wie andere Geschehnisse behandelt werden. Sie müssen in ihrer transzendenten Bedeutung gesehen werden. „Der wesentliche Gegenstand der Geschichte“, schreibt der bedeutende Rechtshistoriker Frederick Maitland, „ist nicht was geschehen ist, sondern was Leute dachten oder darüber sagten“5. Das gilt natürlich besonders in Hinsicht auf die geschichtlichen Ereignisse, die man für Offenbarung hielt.

Wir wollen noch einen anderen Blick auf das Wort „Offenbarung“ werfen. Wörtlich bedeutet es eine Enthüllung, das Hinwegziehen einer Decke, das Aufdecken von etwas, das versteckt gewesen war. Den Unterschied zwischen enthüllen und entdecken darf man hier nicht übersehen. Ich mag etwas entdecken, aber das ist nicht damit identisch, wenn ich einem anderen etwas verrate. Ich könnte es vorziehen, es für mich zu behalten, es geheim zu halten. In der Heiligen Schrift wird der Begriff „Offenbarung“ immer nur im Sinn von Aufdeckung, Enthüllung eines Geheimnisses verwendet.

In gewissen mystischen Formen der Religion erscheint Gott selbstgenügsam und still. Er ist ein verborgener Gott (deus absconditus). In den prophetischen Religionen ist er aktiv und spricht und redet in der ersten Person. Die vergleichende Religionsgeschichte bestätigt, dass Gott zu vielen Zeiten und zu vielen Menschen sprach. In der Tat mag es interessant sein, alle Aussagen zu sammeln und zusammenzufassen, die er in Jahrtausenden an verschiedenen Orten auf der Erde kundgetan haben soll. Einige von ihnen würden sich von den Predigten, die heutzutage in seinem Namen gehalten werden, stark unterscheiden. Er war nie geschwätzig, und was er verkündete, war immer wichtig – was man nicht immer über die Reden seiner eingesetzten Diener verschiedener Glaubensrichtungen sagen kann. Im Gegensatz zu einer großen Anzahl von Rabbinern und Pastoren erscheint er beredt, aber nicht geschwätzig. Seine Sprache ist bündig und knapp. Er sagt nicht alles. Voltaire, der die Heilige Schrift gut kannte, muss diesen Kontrast in Erinnerung gehabt haben, als er bemerkte, dass der Weg zur Langeweile ist, alles zu sagen. („Le secret d’ennuyer est ... de tout dire. »)

Die Bibel ist nicht Gottes Offenbarung, sondern der Bericht über sie – oder eher die Berichte über sie, weil es viele Berichterstatter waren, die unterschiedliche Geschichten erzählten, deren Berichte manchmal verdreht, geschwätzig und auf Missverständnissen gegründet sind. Diese Berichte zeigen ihn – in Renans Worten – „empörend parteiisch“ für ein bestimmtes Volk. Toynbee hat kürzlich darauf aufmerksam gemacht6, dass es mit dem Standpunkt eines Historikers nicht unvereinbar ist, anzunehmen, dass sich Gott dem Menschen geoffenbart hat, aber ein Historiker wird bei jeder Darstellung misstrauisch werden, die behauptet, „dass eine einzigartige und endgültige Offenbarung von Gott gegeben worden ist für mein Volk zu meiner Zeit auf meinem Planeten von meiner Sonne in meiner Galaxie“. Toynbee kann keine logisch notwendige Verbindung finden zwischen dem Glauben, dass sich Gott selbst seinen Geschöpfen offenbart und dem Glauben, dass er „als Empfänger dieser Offenbarung ein Geschöpf gewählt hat, das zufällig genau ich selbst bin. ...“ Nichts könnte einen Juden daran hindern „in Übereinstimmung mit der Theorie der Wahrscheinlichkeit daran zu glauben, dass, falls es irgendein auserwähltes Volk gibt, es nicht Israel wäre, sondern sagen wir die Chinesen oder ... die Marsmenschen.“ Wie man sehen kann, ist es das alte Problem der Erwählung, das den Historiker verwirrt. Fromme Menschen würden gewiss argumentieren, dass sein Zweifel unehrerbietig sei und dass Toynbee nicht die Wege des Herrn, die dunkel sind, ausspähen dürfe.

Einige mögen sich wundern, warum Toynbee nicht ein Problem bevorzugte, das intellektuell lohnender schien und dessen weltlicher Charakter der wissenschaftlichen Forschung zugänglicher ist. Wie gelangten die hebräischen Stämme zu der Überzeugung, dass sie das auserwählte Volk sind? Welche historischen, soziologischen und psychologischen Fakten waren für diese nationale Überzeugung verantwortlich? Fragen dieser Art können vorgebracht werden ohne taktlos, unklug und unverschämt in Jahwes Geheimnisse zu spähen.

Selbst diese Fragen können jedoch nicht gelöst werden ohne eine Untersuchung der Natur der Ereignisse, die die hebräischen Stämme zu dem Glauben führten, dass Gott selbst sich ihnen am Berg Sinai offenbarte. Das erste Ziel unserer Forschung muss sein, zu entwirren und aufzuklären, was auf der Sinaihalbinsel vor etwa 3000 oder mehr Jahren geschah.

Die Klärung dieser zentralen Frage würde gleichzeitig den Weg andeuten, das Wesen der Offenbarung zu beschreiben. Die Theophanie am Berg Sinai ist nicht nur eine der frühesten, sondern vielleicht die bedeutendste der Erscheinungen Gottes. Falls jene hebräischen Nomaden nicht Ägypten verlassen und nicht auf die Stimme vom heiligen Berg gehört hätten, würde unsere westliche Zivilisation vielleicht nicht existieren oder sie würde ganz anders aussehen. Wir hätten eine andere Art von Religion und wir würden Rücksicht nehmen auf eine andere Art eines menschlichen Kodex, wir würden ein anderes „Muster von Kultur“ erhalten.

Naive Gläubige erkennen hier kein Problem. Sie akzeptieren den biblischen Bericht und sehen in ihm Gottes Wahrheit. Hier gibt es ebenfalls kein Problem für Freidenker. Sie halten die Geschichte vom Exodus und Sinai für ein Märchen und für nichts weiter. Wir sollten vielleicht den Horizont ihres „freien“ Denkens neu in den Blick bekommen.

2. Die Personen des Dramas

Die Historiker, die äußerst gewissenhaft versuchen präzise zu berichten, was in ihrer eigenen Zeit geschieht, bemerken oft alle zusammen nicht die zeitgenössischen Ereignisse, welche zukünftige Generationen als die eindrucksvollsten ihrer Zeit in Betracht ziehen werden. Kein römischer Geschichtsschreiber erkannte die Bedeutung der Kreuzigung eines gewissen Rabbi, der ebenso wie viele Tausende anderer während der Regierung von Tiberius in einer der unbedeutendsten der römischen Provinzen hingerichtet wurde. Keine ägyptische Inschrift berichtet darüber, dass einige verachtete hebräische Stämme ein Grenzland des pharaonischen Weltreichs verließen. Wer kümmerte sich um die Auswanderung eines jener barbarischen Nomadenvölker, die die Ägypter verachteten? Es gibt keinen zeitgenössischen Erweis oder Beweis jener Wanderung, kein Zeugnis außer dem Alten Testament. Es war ein welterschütterndes Ereignis, von dem die öffentliche Welt keine Notiz nahm.

Die großen Religionen unserer westlichen Zivilisation, das Judentum, das Christentum und der Islam führen ihren Ursprung auf die Reihe jener Ereignisse zurück. Doch niemand kann genau sagen, welche es waren, oder wann und wo sie geschahen. Wir wissen nur, dass in jenem Zeitraum zwischen dem Exodus einiger hebräischer Stämme aus Ägypten und ihrem Einzug in Kanaan etwas von solcher Bedeutung geschah, dass eine neue Phase der Weltgeschichte von diesem Ereignis her datiert werden muss.

Der Forscher, der die Eigenart jener Ereignisse verstehen will, muss sich entscheiden, wie er den besten Zugang zum Kern des Problems finden kann. Nachdem er seine Forschung begonnen hat, wird er sich überlegen, wie er das zu seiner Verfügung stehende Material und die Schlussfolgerungen, zu denen er gelangt ist, am besten präsentieren kann. Die Form dieser Präsentation ist nicht nur eine Frage der Struktur, nicht nur ein Problem der Form oder des Stils. Jeder Denker, der auch ein Schriftsteller ist, wird verstehen, dass eine höchst intime Verbindung zwischen dem Gegenstand und der Art seiner Präsentation besteht. „Sein Ziel“, sagt der Dichter, „liegt in seinem Anfang“.

Aber ist der Ausgangspunkt nicht schon festgelegt? Jahwe offenbarte sich selbst den Hebräern und gab ihnen die zehn Gebote. Ein neuer Gott erschien. Eine neue Religion wurde gegründet und eine neue Nation wurde geboren. Die meisten Historiker, die uns mit ihrer Forschung vorausgingen, haben begonnen Fragen zu stellen, die die Identität und das Wesen des Gottes, der sich selbst Mose und den Kindern Israels geoffenbart hat, betrafen.

Für meine Untersuchung ist das Problem der Identifizierung Jahwes nicht der meistversprechendste Zugang. Warum ich diesen Standpunkt einnehme kann vielleicht am besten der Vergleich, der vorher in den einleitenden Bemerkungen dieses Buches schon angedeutet worden ist, erklären. Der Exodus und die Ereignisse auf der Sinaihalbinsel sind gewiss von dramatischer Natur. Der schriftliche Bericht zeigt manchmal sogar einen theatralischen Charakter. Nicht zufällig haben so viele Dramatiker den alttestamentlichen Bericht als Rohmaterial verwendet.

Es erscheint daher nicht willkürlich, wenn die Kapitel unserer eigenen Abhandlung Stufen in der Untersuchung der Struktur und Entwicklung eines Theaterstücks bilden. Wir beginnen also mit der Annahme, dass unser Thema ein Stück ist, das nicht einmalig ist in seinem zugrunde liegenden Stoff, obwohl es sicher ohne Parallele in seinem Ergebnis, der Offenbarung und der sie umgebenden Ereignisse dasteht. Auf den ersten Blick scheint Jahwe zweifellos die Hauptperson zu sein, aber wir stoßen auf unsere erste Schwierigkeit in dem Moment, in dem wir fragen: Welche Rolle spielt Jahwe in diesem Stück? Die Hebräer werden vom Pharao unterdrückt. Jahwe befreit sie vom Tyrannen. Mose hat einen Ägypter getötet und flieht nach Midian. Jahwe erscheint ihm und befiehlt ihm nach Ägypten zurückzukehren. Nachdem er sie vor den sie verfolgenden Ägyptern gerettet hat, offenbart sich Jahwe selbst dem Volk und verspricht ihnen die Eroberung von Kanaan.

Hierbei handelt es sich gewiss um hochdramatische Ereignisse. So gibt es Konflikte zwischen den Ägyptern und den Hebräern, zwischen Aaron und Mose, unter den Hebräern, die sich gegen ihren Führer erheben. Aber welche Rolle spielt Jahwe? Er erscheint immer dann, wenn sich das Stück hoffnungslos verwickelt hat, klärt alle Schwierigkeiten und rettet das Volk und seinen Führer. Er ist ein „Deus ex machina“. Sein Erscheinen in allen Arten von Nöten, am Hof des Pharao, in der Wüste und in Kanaan würde das moderne Publikum beeindrucken wie der theatralische Trick des Euripides, der eine Gottheit einführte, die von oben herunterschwebte, um am Ende zu einer zufriedenstellenden Lösung zu kommen. Nein, Jahwe kann nicht als die Hauptfigur des Dramas erscheinen. Er kann bestenfalls – unsichtbar – den letzten Satz sprechen.

Sogar im biblischen Bericht wird Jahwe nicht immer als der Herr über Himmel und Erde dargestellt. Man kann ihn sich nicht als untätig vorstellen, als einen Gott der Ruhe und Zurückgezogenheit („ein gemütlicher Gott“). Wenn wir ihm zuerst in Genesis begegnen, ist er vollkommen damit beschäftigt, die Welt zu erschaffen. Er scheint nur in jenem Moment wahrlich übermenschlicher Bescheidenheit auszuruhen, als er seine Schöpfung betrachtet und sie gut findet. Seine Geschichte, wie sie in der autobiographischen Heiligen Schrift erzählt wird, zeigt ihn von da an in unaufhörlicher Betriebsamkeit. Wenn es nicht die Weltsituation insgesamt ist, ist es sein auserwähltes Volk, das ihn beschäftigt. Doch wir hören nur von seinen Tätigkeiten. Man hat ihn niemals handelnd gesehen.

Es gibt weitere Argumente, die den Suchenden entmutigen, seine Forschung mit der Charakterisierung des Gottes, der sich selbst den Hebräern offenbarte, zu beginnen. Es erscheint auf den ersten Blick leicht, diesen Gott von den anderen zu unterscheiden. Es gibt Zeus und Ra, Marduk und Osiris, Attis und Adonis – jeder mit verschiedenen Attributen, jeder von dem anderen unterschieden. Es gibt die Götter der Phönizier und die Baale der Kanaaniter – von denen jeder von ihnen als Schöpfer der Welt zu der einen oder einer anderen Zeit vorgestellt wird. Wie Skeptiker bemerkt haben, hat es alle möglichen Arten von Göttern gegeben, um die Welt zu erschaffen.

Eine sorgfältigere Untersuchung beweist jedoch, dass Jahwe – was er wo auch immer wurde – sich nicht sehr von den Göttern anderer Nomadenstämme unterschied, als er zuerst in das Leben der Hebräer mit seiner Erscheinung auf der Weltbühne trat. Er war roh und sehr irdisch. Er glich in vieler Hinsicht den Göttern anderer Völker des Nahen Ostens. Der einzige unterscheidbare Zug war vielleicht seine Unterstützung der Semiten. Er hat ihn immer beibehalten, zum ewigen Schrecken der Feinde der Juden.

Es ist jedoch absurd zu vermuten, dass „Jahwe“ in den vergangenen 4000 Jahren derselbe geblieben ist. Angenommen er ist ewig, müssen wir verlangen, dass er ewig derselbe ist, dass er war wie er ist? Aber erschien er den Hebräern in Kanaan in derselben Form wie für seine jüngeren Nachkommen in einer vornehmen Synagoge in einer Großstadt? Ein Kind und der alte Mann, der einst dieses Kind gewesen ist, sind dieselbe Person. Sie behalten dieselbe Identität, aber niemand wird ernsthaft behaupten, dass ihre Erscheinung unveränderlich ist.

Götter waren vor 4000 Jahren im allgemeinen nicht so personalisiert und individualisiert wie heute. Individualität ist das Ergebnis einer weit fortgeschrittenen Zivilisation. Dies gilt auch für die Individualität von Göttern. Die Götter eines primitiven Stammes gleichen sich wie die Mitglieder einer Gruppe. Die Individualisierung und Differenzierung der Götter entwickeln sich langsam. Hätte es nicht so viele Ähnlichkeiten zwischen den Gottheiten verschiedener Völker gegeben, könnten wir nicht verstehen, wie es möglich war, dass die antike Welt einen so weitverbreiteten Synkretismus kannte. Es war nicht schwer, in den Gottheiten einer anderen Gruppe ein Ebenbild des eigenen Gottes zu erkennen. Die Propheten in Israel hatten große Mühe, die Hebräer davor zu bewahren, Jahwe mit den Baalen der Nachbarstämme zu verwechseln. Die frühen christlichen Väter protestierten verzweifelt, aber oft vergeblich gegen Griechen und Römer, die in Jesus Christus ein Ebenbild der jungen Götter ihres Pantheons erkannten, die starben und wiedergeboren wurden. Die Grundzüge der nationalen Götter und ihre Kulte hatten so viel gemeinsam, dass sie gelegentlich sogar untereinander ersetzt werden konnten.

Es scheint daher nicht vielversprechend zu sein, sich dem Problem der Sinaioffenbarung auf dem Weg einer Auseinandersetzung mit dem hebräischen Gott in seiner primitiven Gestalt zu nähern. Aber es ist noch viel schwieriger, die Erkundung mit der Einführung der Erscheinung von Jahwe zu beginnen, wie er den Juden später in seinem höchsten und erhabenen Charakter erschien. Er ist jetzt unsichtbar und unsagbar erhaben. Sein Name darf nicht ausgesprochen werden. Er ist unerreichbar und man weiß nichts über ihn. Was kann man über einen Gott, dessen Natur ist, dass man nichts über ihn wissen kann, schon sagen oder feststellen? In den alten Zeiten, die keineswegs gute Zeiten waren, wohnte er auf dem Gipfel des Berges Sinai oder des Berges Horeb. Aber nach und nach erhob er sich immer weiter. Der Himmel bildet nicht länger eine Grenze. „Der Himmel ist mein Thron und die Erde mein Schemel.“

Nein, Jahwes Natur trägt nicht den gewinnbringendsten Ausgangspunkt für unsere Forschung der Ereignisse am Sinai bei. Um zu unserem Vergleich zurückzukehren: Seine Erscheinung auf jenem Gipfel, obwohl sie sehr beeindruckend war, wäre in einem Theaterstück nicht zufriedenstellend. Sie würde einfach verschwinden wie in einem schlechten Film – oder eher wie in einem Hollywood Spektakel. Jahwes Offenbarungen wären, für sich genommen, eine wunderbare Heldentat, aber nicht das einzigartige Wunder, das es vor Jahrtausenden war.

Kurz gesagt: Jahwe ist nicht nur allmächtig, er ist auch „allunsichtbar“. Er erscheint, aber er zeigt sich nicht selbst. Er offenbart sich selbst, aber man kann ihn nicht sehen. Es gibt keine göttliche Erscheinung: dem Publikum bleibt keine Erinnerung. Ein Mensch, der das Welttheater der Geschichte, die dramatische Geschichte der Menschheit überblickt, kann nicht das Erscheinen des Herrn in einem Bild wiedererschaffen. Wer ist der Dramatiker, der weiß, wie man sich den Herrn als Träger der Handlung vorzustellen hat?

3. Mose als Träger der Handlung

Der Vergleich der Offenbarung mit einem Drama soll die Gläubigen nicht stören. Sagt nicht der Dichter: „Die ganze Welt ist Bühne. Und alle Fraun und Männer bloße Spieler“? [Shakespeare, Was ihr wollt, I. Akt, 7.Szene, übersetzt von August Wilhelm Schlegel] Wer aber ist der Autor dieses Spiels? Jean-Louis Balzac (1597 – 1654), fast ein Zeitgenosse von Shakespeare, schrieb, dass Gott der Autor des Schauspiels sei und die Menschen nur seine Schauspieler: „Die großen Dramen, die auf dieser Erde gespielt werden, sind im Himmel verfasst worden.“1

Sehen wir uns dann wieder den Sinaibericht als den möglichen Entwurf eines Stückes an, wird uns bald klar, wer die Hauptrolle hat. Es ist Mose, eine Gestalt von solch monumentaler Größe, dass der Berg Sinai in Heinrich Heines Augen, verglichen mit ihm, „gering“ erscheint.

Eine ergreifende Einsicht in die Wirkung von Mose auf die Vorstellungskraft befindet sich in Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron, die zum ersten Mal während der Festwochen im Züricher Stadttheater am 6. Mai 1957 aufgeführt worden ist. Schönberg, der sich mehr als zwanzig Jahre mit diesem Werk beschäftigte, starb, bevor er den letzten Akt vollendet hatte. Jeder, der sein Werk kennt – einschließlich jener, die seine Musik nicht mögen – wird erkennen, dass es das Ergebnis eines machtvollen und tiefgründigen Brütens über der biblischen Geschichte ist. Der Komponist, der sein eigener Librettist war, bringt Aron in Kontrast und Konflikt mit Moses, den er als den älteren Bruder präsentiert. Aron, der extrovertierter ist und verständlicher redet als Moses ist überzeugt, dass es gerechtfertigt ist, seinem Volk, das er liebt, das Bild eines Goldenen Kalbes als ihren Gott zu geben. Als Moses zu lange auf dem Berg bleibt, wird das Volk widerspenstig, es beginnt zu murren und fordert einen Gott: „Was ihr verlangt, sind Götter einer gegenwärtigen, alltäglichen Art!“ Während Aron die Idee Gottes durch ein verständliches Bild ausdrücken möchte, verlangt Moses bedingungslose Ergebung an die allmächtige, unsichtbare Gottheit. Aron ist überzeugt, dass das Volk nicht an einen Gott glauben wird, den es nicht sehen kann. „Der brennende Dornbusch und die Tafeln sind auch Bilder“, sagt Aron. Am Ende des zweiten Akts bleibt Moses allein in seiner Verzweiflung. Der Prophet Jahwes ist enttäuscht. „Du unvorstellbarer Gott“, sagt er, „unnennbarer, verwirrender Gott! Erlaubst du diese Interpretation? ... Dass alles, was ich dachte sinnlos war und kann und darf nicht gesagt werden ...?“

Schönberg lebte nicht lange genug, um den dritten Akt zu vollenden. Nach seinem Tod lag die Partitur unvollendet auf seinem Pult, aber Sätze, die in seiner Handschrift geschrieben worden waren, zeigen, dass er sich vorstellte, dass Moses, obwohl besiegt, am Ende triumphieren würde. Die Älteren warnen das Volk: „Wann immer du die Wildnis der Wüste verlässt und wenn deine Fähigkeiten dich auf die Höhen geführt haben, sollst du immer zurückgeworfen werden vom Missbrauch des Erfolgs in die Wüste. Aber in der Wüste wirst du unbesiegbar sein und dort wirst du deine Bestimmung erhalten: vereint mit Gott.“ Hier ist ein Echo der Stimme des Propheten, die Israels Rettung in der Flucht von der städtischen Zivilisation zu den Zelten der Nomaden sahen.

In diese grandiose und inspirierte Vision des Konflikts zwischen den beiden Brüdern legte Schönberg den Widerstreit zwischen dem Bild, das die Masse zur Verehrung braucht und der reinen Idee der Gottheit – die Kollision zwischen Körper und Geist. Das Zentrum des Kampfes wird durch den Gegensatz zwischen Aron und Moses versinnbildlicht. Aron weiß, dass für das Volk Glauben Sehen bedeutet. Moses dagegen hofft, dass sein Volk, wenn es die Botschaft, die zuerst von außen und dann von innen kommt, hört, an den bildlosen Gott glaubt. In der Vorstellung des eigenwilligen und tiefgründigen Komponisten ist die große Tat des Moses nicht die Schöpfung des reinen Monotheismus, sondern jene des unsichtbaren Gottes.

Hier wird man unvermeidlich an die Leitidee in Freuds Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion2 erinnert, auf das wir uns schon auf den einleitenden Seiten bezogen haben. Freud war überzeugt, dass Mose ein Ägypter von vornehmer Abstammung war, ein Bewunderer und Anhänger des Pharao Echnaton, den die Geschichte den ersten Monotheisten genannt hat, weil er die Verehrung nur eines einzigen Gottes verkündet hat, dessen Symbol die Sonne und dessen Name Aton war. Echnaton versuchte den Kult aller anderen Götter zu beseitigen und verlangte von den Anhängern des einen Gottes einen hohen ethischen Standard. Nach Echnatons Tod setzte eine allgemeine Reaktion gegen seine religiöse Reform ein. Mose, so stellte es Freud dar, wählte enttäuscht von der Zurückweisung der hohen und reinen Religion des Pharao, die Israeliten von Goschen als Volk, das das Ideal des Monotheismus adoptieren sollte. Freuds Theorie von Moses Treue zu Echnatons Glauben könnte bestätigt werden, falls neuere Ausgrabungen unzweideutig auf die Möglichkeit hinweisen würden, dass eine Gruppe von Anhängern Echnatons zur Zeit des Mose um den Berg Sinai lebten, wo sie rigide und intolerant den Kult von Aton fortsetzten.

Viele Gelehrte lehnen es energisch ab, dass ein reiner Monotheismus, wie wir ihn heute verstehen, zur Zeit des Mose möglich war. Sie behaupten, dass diese Form des Glaubens das Ergebnis der Arbeit von Propheten ist, die viele Jahrhunderte nach Mose lebten. Sogar dann noch wurde der Glaube von den Israeliten, die in Kanaan lebten, oft zurückgewiesen und verlassen.

Es ist weiterhin sehr zweifelhaft, dass Echnatons Glaube das war, was wir Monotheismus nennen würden. Was man als eine Tendenz in Richtung einer monotheistischen Idee verstehen kann, den Henotheismus, muss man als eine Phase der religiösen Entwicklung sehen, die in Westasien zwischen 1500 und 1250 v. Chr. allgemein verbreitet war. Wie W. F. Albright nachdrücklich betont hat3, gab es eine bestimmte Bewegung in jene Richtung, die durch die Vermischung verschiedener Zivilisationen begünstigt und durch ihre Beziehungen gefördert worden war. Die unterschiedlichen Götter waren austauschbar – besonders wenn sie ähnliche Funktionen besaßen. Mit Coleridges Worten aus der Ballade vom Alten Seemann zieht Synkretismus dieser Art „wie die Nacht, von Land zu Land“ und „hat fremde Macht über die Sprache“. Die großen Reiche der Ägypter, der Griechen und der Römer bevorzugten die Universalität eines Gottes, dem andere lokale Gottheiten untergeordnet waren oder mit dem sie einfach verschmolzen wurden. Jahwe war zur Zeit des Mose der Gott Israels und sie waren sein Volk wie Marduk der Gott der Babylonier war. Die Religion der frühen Israeliten war henotheistisch, nicht monotheistisch. Das berühmte Glaubensbekenntnis „Höre Israel, Gott unser Gott ist ein einziger“ hat seinen Ursprung in einer späteren Phase.

Die Bedeutung von Moses befreiender Tat und religiöser Erneuerung kann nicht in der Gründung des Monotheismus liegen, wie Freud dachte. Die Idee, der Schönberg eine künstlerische Gestalt gab, nämlich die Vorstellung eines unsichtbaren Gottes, einer bildlosen Gottheit kommt gewiss dem Charakter von Moses religiöser Revolution näher. In einem späteren Kapitel werde ich auf den unermesslichen Einfluss von Moses Leistung für die kulturelle Entwicklung der Menschheit eingehen.

Wer war Mose? Die biblische Geschichte erzählt von Moses Geburt, von seinem Aussetzen im Nil und von seiner Adoption durch die königliche Familie. Auch einige antike Schriftsteller erzählen die Geschichte von Mose. Philo von Alexandria, der zur Zeit Jesu lebte – Philo wurde etwa 20 – 10 v. Chr. geboren – schreibt, dass Mose am ägyptischen Hof alle Aufmerksamkeit „die einem König gebührte“ empfing und als ein Thronfolger in Betracht gezogen und regulär der „junge König“ genannt wurde4. Der jüdische Historiker Flavius Josephus (37 – 100 n. Chr.), dessen Jüdische Altertümer5 auf hebräischen Aufzeichnungen basierten, hielt Mose ebenfalls für den Erben des Thrones von Ägypten. Dieser Autor des ersten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung schreibt weiter, dass Mose ein General war, der die ägyptischen Heere befehligte, die Äthiopien besiegten. Von Mose wird berichtet, dass er am Ende des Feldzuges eine äthiopische Frau genommen habe. Diese Erzählung würde mit der biblischen Geschichte übereinstimmen, in der Miriam und Aaron sich über Mose „wegen der kuschitischen (äthiopischen) Frau, die er geheiratet hatte“ (Num 12,1), beschweren. Auch die frühen Kirchenväter, zum Beispiel Eusebius von Caesarea (der um 340 starb) und der antike Autoren zitiert, behaupten, dass Mose eine ägyptische Armee befehligte, die über die Äthiopier siegreich war.6

4. Die Geburt eines Helden

Der berühmte Orientalist James Henry Breasted berichtet, dass er bei all seinen Wanderungen durch die antiken Länder des Nahen Ostens immer sehr beeindruckt war von der hervorstechenden Tatsache, dass die Monumente, die bis heute überlebt haben, in erster Linie der Ausdruck menschlicher Macht gewesen sind. Wenn man eines der einsamen Täler des Sinai betritt, wird man plötzlich mit der riesigen Figur eines ägyptischen Pharao konfrontiert, der in die Vorderseite einer Felswand in Relief geschnitten worden ist. Dieses Monument steht dort seit 34 Jahrhunderten vor der Geburt des Erlösers. Der Pharao ist mit erhobener Waffe dargestellt, mit der er dabei ist, den Schädel eines asiatischen Gefangenen zu zertrümmern, der vor ihm kniet. Dieses Monument ist nach Breasted „ein Manifest für den Besitz durch das Recht der Eroberung, verbunden mit einer gebieterischen Botschaft an die Bevölkerung Asiens, dass der König von Ägypten von Afrika nach Asien gezogen ist und von den in der Gegend vorhandenen Kupfer- und Türkisminen Besitz ergriffen hat“1.

Mose, der „Mann aus Granit“, wie er genannt wurde, erweckt denselben Eindruck von Macht und Gewalt. Seine Gestalt scheint in einen Felsen gemeißelt, als ob sie eine der Kolossalstatuen des Pharao wäre.

Freuds Hypothesen sind energischem Widerspruch begegnet. Die Argumente gegen sie sind manchmal emotionaler gewesen als üblich bei der Behandlung von sogar der strittigsten biblischen Themen. Der bedeutende Archäologe William Foxwell Albright hält Freuds Buch „bar jeder seriösen historischen Methode“2. Der Psychoanalytiker Nandor Fodor betrachtet Freuds Schlüsse als nicht beweiskräftig und sieht in Mose einen Hebräer, der sich selbst zum Führer „seines verzweifelten Volkes“3 machte. Der bekannte Philosoph und Gelehrte Morris Raphael Cohen hielt Freuds Schlussfolgerungen für „weit hergeholt und phantastisch“4. Die jüdische Schriftstellerin Trude Weiss-Rosmarin drückte die Hoffnung aus, dass Freud den Mut haben würde, „den einzig möglichen, den einzig richtigen und den einzig anständigen Schritt zu tun“5, nämlich seine Hypothese zurückzuziehen. Sie sieht in Freuds Theorie einen typischen Ausdruck des jüdischen Selbsthasses.