Das Richtige tun - Günter Müller-Stewens - E-Book

Das Richtige tun E-Book

Günter Müller-Stewens

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Beschreibung

Vielen ist bewusst, dass wir dringend eine humanere Wirtschaft brauchen. Eine Wirtschaft, die sich nicht allein dem ökonomischen Fortschritt verpflichtet fühlt, sondern auch dem menschlichen. Nicht nur das profitable, sondern auch das menschlich «Richtige» tun, lautet die Devise. Doch einfach ist das nicht. Je komplexer unsere Welt, desto herausfordernder ist es, ökonomisch und menschlich «richtig» zu handeln. Entscheidungen werden oft zum Dilemma. Das kann ernüchternd sein. Dieses Buch zeigt Wege auf, sich diesem Werte- und Interessenskonflikt in Unternehmen mutig zu stellen. Angesichts der drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen wird der Frage nachgegangen, wie in Unternehmen eine ökonomische und menschlich-ethische Ausrichtung Hand in Hand gehen können. Dabei wird die grundlegende Denk- und Bewertungslogik der Unternehmensführung auf den Prüfstand gestellt. Günter Müller-Stewens und Eva Bilhuber wollen mit ihren eingebrachten, bewusst unterschiedlichen Perspektiven einer vielseitigen Betrachtung Raum schenken und zum Reflektieren ohne Schlusspunkt inspirieren. Das Buch soll all jenen Mut zum Weiterdenken und Handeln stiften, die ebenfalls daran glauben, dass eine menschlichere Form des Wirtschaftens und ökonomischer Erfolg sich nicht ausschliessen. Link zum Buchtrailor: https://youtu.be/K-I2yqpBuH8

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Günter Müller-Stewens und Eva Bilhuber Galli

Das Richtige tun

Aufbruch zu einer menschlicheren Wirtschaft

NZZ Libro

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2022 (ISBN 978-3-907291-82-5)

© 2022 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

Lektorat: Karin Schneuwly, Zürich

Gestaltung, Satz: 3w+p, Rimpar

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN Druckausgabe 978-3-907291-82-5

ISBN E-Book 978-3-907291-83-2

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

Inhalt

Zum Geleit

Einführung: Unternehmen und Menschlichkeit

Wirtschaft menschlich denken

Plädoyer für eine humane Unternehmensphilosophie

Menschliche Aspekte in die Unternehmensgestaltung integrieren

Die Zeitenwende als Chance sehen und nutzen

Gesellschaft im Umbruch

Dem Vertrauensverlust der Wirtschaft entgegentreten

Quellen gesellschaftlichen Unmuts

Umfassend menschliche Verantwortung übernehmen

Neue Spielräume nutzen

Sinnstiftung vor Finanzzielen

Typen mentaler Einstellungen zur Unternehmensführung

Zeit für eine Neuausrichtung

Purposegetrieben handeln

Menschliches Leistungsverständnis

Was ist menschliche Leistung?

Omnipräsentes quantifiziertes Leistungsverständnis

Unbewusste Bewertungsmechanismen

Zurück zum «menschlichen» Kern unserer Leistung

Unser Leistungsverständnis innovieren

Mehr Beziehung wagen

Verloren in der Interaktionsflut und -wut

Zunehmender Vertrauensverlust

Weniger Marketing, mehr Dialog

Auf den Wert menschlichen Austauschs setzen

Gesucht wird eine «Beziehungs»-Governance

Verteilungsgerechtigkeit mit Augenmass

Wachsende Komplexität

Das richtige Mass finden

Ausgewogen und ethisch vertretbar handeln

Multilaterale Partnerschaften führen

Was kann man heute noch allein erreichen?

Partnerschaftliche Zusammenarbeit ist nicht trivial

Grade menschlicher Zusammenarbeit differenzieren

Keine Frage des Gelds

Menschenwürdige Digitalisierung

Wo bleibt der Fortschritt für das Gemeinwohl?

Technologie per se macht die Welt nicht besser

Nicht die Technik, sondern die Geschäftsmodelle sind das Problem

Technologischer Fortschritt braucht menschlich-ethischen Fortschritt

Gesucht wird eine digitale Gemeinwohlbewegung

Menschwürdige Digitalisierung

Wollen wir eine Welt, in der die Technik uns bestimmt oder wir die Technik?

Sich der Zukunft offen stellen

Management bei hoher Unsicherheit

Verfangen in einer Kontrollillusion

Rigiditäten

Chance Handlungsdruck

Gekonnter Umgang mit hoher Unsicherheit

Multiple Prozessmodelle vorsehen

Das Entdecken der Freude am Entdecken

Schluss: Das Richtige tun

Das Richtige «tun»

Das «Richtige» tun

Ein herausfordernder Balanceakt

Mut zu mehr Menschlichkeit in der Wirtschaft

Nachwort und Dank

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Zu den Autoren

Zum Geleit

Wir spüren mehr oder weniger bewusst, dass unser Wirtschaftssystem in einer Sackgasse steckt. Der Kraftaufwand von Unternehmen, Politik und Gesellschaft, das Funktionieren unserer Wirtschaft und deren breite Akzeptanz zu gewährleisten, erscheint uns von Jahr zu Jahr in ähnlichem Ausmass zuzunehmen, wie die Kollateralschäden, die mit dem Erhalt unseres heutigen Wohlstands einhergehen. Es ist offensichtlich, dass unsere Renten-, Sozialversicherungs- und Gesundheitssysteme am Anschlag sind, dass unsere Lebensressourcen und unser sozialer Friede durch den Klimawandel, eine wachsende soziale Ungleichheit und lebensweltliche Polarisierung bedroht sind. Daran hat auch die Corona-Pandemie nichts geändert, sondern die bestehende Problematik eher verschärft und somit für uns alle noch vehementer sicht- und spürbar gemacht.

Auch wenn die Wirtschaft über die letzten 200 Jahre ganz wesentlich zu unserem Wohlstand und Fortschritt beigetragen hat, so hat sie in den letzten Jahren erheblich an Reputation und Vertrauen in der Gesellschaft eingebüsst, umfassend zur Lösung unserer gesellschaftlichen Problemstellungen beizutragen. Dafür gibt es viele Gründe. Man erinnere sich z. B. an diverse Umweltskandale von grossen Unternehmen, Lohnexzesse in vielen Vorstandsetagen, an die zwielichtige Rolle, die viele Topmanager ungestraft in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 gespielt haben, oder an neuerliche Betrugs- und Korruptionsfälle.

Es ist aber nicht nur das Fehlverhalten einzelner Führungspersönlichkeiten, die diese Zweifel an der Zukunftstauglichkeit unserer heutigen Form des Wirtschaftens säen. Vielmehr sieht man die Gründe auch in einem zunehmend systemischen Versagen. So wird heute deutlich grundsätzlicher gefragt, ob denn eigentlich noch klar ist, dass die Wirtschaft primär der Gesellschaft zu dienen habe – und nicht umgekehrt. Betrachtet man beispielsweise die Ausbeutung und Manipulationen, die Nutzerinnen und Nutzer durch die mächtigen Technologiekonzerne erfahren, sowie deren möglichen Einfluss auf das Verhalten, die Meinungsbildung und Selbstbestimmung, so kann berechtigt gefragt werden, ob dies noch im Sinn einer demokratisch freiheitlichen Gesellschaft sein kann.

Natürlich sind wir nicht die Ersten und Einzigen, denen das auffällt und Sorge bereitet. So gibt es bereits eine ganze Reihe bemerkenswerter Publikationen, deren Autoren nach einer menschenfreundlicheren Form des Kapitalismus suchen. Auch gibt es überall auf der Welt erste Initiativen und einzelne Unternehmen, die eindrucksvoll mit Kurskorrekturen experimentieren, oder Führungskräfte, die mit hohem Engagement danach streben, «das Richtige» zu tun. Doch als Ganzes betrachtet, können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass es in Unternehmen nach wie vor eher heisst: «Weiter wie bisher.» Es ist sogar so, dass das Verteidigen des Alt-Zustands durch deren Vertreter oft umso intensiver wird, je bedrohlicher und fragwürdiger sich die aktuelle Situation darstellt.

Was genau lässt uns einfach weitermachen, obwohl wir alle «eigentlich» wissen oder zumindest erahnen, dass dies nicht mehr so funktionieren kann, wird und darf? Wie kann es sein, dass wir dennoch im Bewahren-Wollen erstarren, wissend, dass wir uns damit unserer ökologischen und auch freiheitlich demokratischen Zukunft berauben? Positiv formuliert: Was braucht es, damit wir – in Unternehmen, im Management, in der Wirtschaftspolitik bis hin zur Investorenriege – beginnen, das «Richtige» zu tun und mutiger menschlicher denken und handeln?

Aus unserer Sicht liegt es nicht an mangelndem Wissen. Es gibt genügend Studien, Ideen und einzelne Beispiele, in denen erfolgreich demonstriert wird, wie man menschlicher und nachhaltiger wirtschaften kann. Solange jedoch alle Ideen mit bestehenden Bewertungsmassstäben bewertet werden, haben wir keine Aussicht auf eine durchgreifende Veränderung. In einem Wirtschaftssystem, das allein von monetärer Bewertung lebt, werden menschlich, ökologisch und sozial richtige Entscheidungen und Wertschöpfung nach wie vor der Profitlogik unterstellt und somit als Mittel zum Zweck degradiert.

Der Aufruf zu disruptiven Geschäftsmodellen greift somit zu kurz. Was wir vielmehr brauchen, ist eine Disruption unserer grundlegenden wirtschaftlichen Denkmodelle und Bewertungsmassstäbe. Solange in bestehenden Logiken gedacht und bewertet wird, hat Neues keine Chance zu entstehen und zu wachsen.

Wir haben dem Buch den Titel Das Richtige tun gegeben, aber um es gleich vorweg zu nehmen: Wir nehmen für uns nicht in Anspruch zu wissen, was das «Richtige» im Einzelfall genau ist. Wir wissen auch nicht, worin diese gesuchte Disruption genau besteht und wie der Weg zu einer menschlicheren Wirtschaft aussieht. Wir sind auch nicht der Meinung, dass das Wirtschaften heutzutage grundsätzlich unmenschlich wäre. Dazu sehen wir zu viele Führungskräfte, die sehr um Menschlichkeit in ihren Unternehmen bemüht sind. Doch wir sehen einen Bedarf an einer tiefer gehenden Auseinandersetzung mit unserer derzeitigen Unternehmensführungslogik, sie mutig grundsätzlicher zu hinterfragen, zu reflektieren und nach Alternativen zu suchen.

Mit der Sammlung von Essays, die wir in diesem Buch zur Verfügung stellen, wollen wir Denkanstösse geben, wie und wo angesichts einer sich im Umbruch befindenden Gesellschaft nach zukunftstauglichen Antworten auf die Frage nach dem «Richtigen» im Sinn von mehr Menschlichkeit im unternehmerischen Denken und Handeln gesucht werden kann. Denn wir glauben daran, dass Unternehmen und Wirtschaft zentrale Treiber gesellschaftlicher Entwicklung sind und im positiven Sinn Wandel erzeugen können. Und je mehr Akteurinnen und Akteure in Unternehmen und Wirtschaft den Mut aufbringen, sich täglich immer bewusster die Frage zu stellen, was für sie und ihre Organisation das «Richtige» ist, um nicht nur zu einem ökonomischen, sondern auch zu einem humanen und moralischen Fortschritt unserer Gesellschaft beizutragen, desto mehr haben wir eine Chance, den Wandel zu einer menschlicheren Wirtschaft gemeinsam zu erzeugen.

Auch wenn wir die hier zusammengetragenen Thesen, Gedankengänge, Fragestellungen und Ideen gesamthaft gemeinsam bearbeitet und reflektiert haben, sind die Auswahl und Entstehung der einzelnen Essays massgeblich durch unsere unterschiedlichen biografischen Erfahrungshintergründe und unsere jeweiligen Kerninteressengebiete inspiriert. So hat Eva Bilhuber Galli die Essays «Menschliches Leistungsverständnis», «Mehr Beziehung wagen», «Multilaterale Partnerschaften führen» und «Menschenwürdige Digitalisierung» beigetragen, während die Essays «Gesellschaft im Umbruch», «Sinnstiftung vor Finanzzielen», «Verteilungsgerechtigkeit mit Augenmass» und «Sich der Zukunft offen stellen» primär aus der Feder von Günter Müller-Stewens stammen. Angesichts der Komplexität und Mehrdimensionalität der von uns aufgegriffenen Themen wollen wir damit unserer eigenen Diversität als Autoren Raum schenken, ohne dabei die Integration in einen gemeinsamen konzeptionellen Rahmen zu vernachlässigen. So steht jedes Kapitel gewollt für sich und diskutiert die Aspekte auf unterschiedlichen reflektorischen Ebenen, von eher erklärend, konzeptionell bis hin zu einem Brainstorming praktischer Anregungen, ist aber gleichzeitig Teil eines übergeordneten integrativen Gesamtwerks, das im Kern nach Wegen zu einer menschlicheren Wirtschaftswelt sucht. Wir hoffen, dass dieser orchestrierte bunte Strauss an bewusst gewähltem Facettenreichtum, an Subjektivität und Unvollständigkeit am besten in der Lage ist, zum Weiter- und Vorwärtsdenken einzuladen und auf unterschiedlichsten Ebenen sinnstiftend und inspirierend für eigene Reflexionen und Initiativen wirkt.

Wir wollen mit diesem Buch somit in erster Linie Denkimpulse für alle interessierten Wirtschaftsakteurinnen und -akteure stiften, herkömmliche und oft unbewusste Denk- und Bewertungslogiken in Organisationen zu hinterfragen, Alternativen zu ersinnen und auch experimentierfreudig zu erproben. Unser Anspruch ist ein exploratives Reflektieren ohne Schlusspunkt, das Mut zum Weiterdenken und Handeln inspirieren soll – egal ob im Management, in der Mitarbeiterschaft, in der Politik, im Interessenverband, und egal ob im Grossunternehmen oder Start-up.

Natürlich kann man unseren Ausführungen einen gewissen Idealismus, eine gewisse «Blauäugigkeit» oder gar Realitätsferne unterstellen. Doch dies ist für uns kein Argument, nicht weiter alles zu unternehmen, über Gründe und wünschenswerte Neuerungen der empfundenen Schieflage unserer gegenwärtigen Art und Weise zu wirtschaften nachzudenken, denn wir wissen aus unserer Arbeit, dass viele Führungskräfte selbst nach einem Weg der Veränderung suchen.

So hoffen wir, dass unsere Denkanstösse bei aller Unvollständigkeit dazu inspirieren, «das Richtige» zu tun: gemeinsam eine Wirtschaft zu kreieren, die es sich zur kompromisslosen Kernaufgabe macht, die komplexen sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen unserer Gesellschaft federführend mitzulösen. Wir glauben, dass das, was es für ein menschlicheres Wirtschaften braucht, bereits da ist – doch wir müssen es sehen wollen und den Mut aufbringen, ihm eine Stimme zu geben. Noch heute.

Günter Müller-Stewens und Eva Bilhuber Galli

Einführung: Unternehmen und Menschlichkeit

Wirtschaft und Gesellschaft sind seit je eng miteinander verflochten. Unternehmen sind Treiber gesellschaftlicher Entwicklung, entwickeln neue Technologien, schaffen Arbeitsplätze und befriedigen die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen. Umgekehrt definiert die Gesellschaft die Rahmenbedingungen für jegliche unternehmerischen Leistungen. Sie schafft damit die Voraussetzungen, dass Unternehmen ihre Möglichkeiten ausschöpfen und für das Gemeinwohl der Menschheit wirken können. Das heisst: Für eine fortschrittliche Weiterentwicklung brauchen beide einander.

Über die letzten Jahrzehnte hat dieses Zusammenspiel auch weitgehend funktioniert. Unsere kapitalistische Wirtschaftsordnung hat im Verbund mit einer demokratischen Staatsform prosperierendes Unternehmertum ermöglicht, das unsere gesellschaftliche Wohlstandsentwicklung und die Entwicklung unserer modernen Lebensbedingungen vorangetrieben hat. Viele der Errungenschaften und Innovationen unserer heutigen modernen Zivilisation – sei es in der Medizin, der Technologie oder im Sozialen – verdanken wir unternehmerischer Energie und Leistung. Man denke hier beispielsweise daran, dass die Entwicklung und Herstellung von aktiven Immuntherapien auf mRNA-Basis, die innert kurzer Zeit auch zur Zulassung des Covid-19-Impfstoffes führte, weniger staatlichen Einrichtungen oder Grossunternehmen als vielmehr einem mittelständischen Unternehmen wie Biontec zuzuordnen sind bzw. dem Unternehmergeist, der wissenschaftlichen Kompetenz und Einsatzbereitschaft seines Gründerehepaars.

Der wachsende materielle Wohlstand hat unsere menschlichen Lebensbedingungen und Lebensqualität ohne Frage gegenüber früheren Jahrhunderten massgeblich verbessert, was wir auch daran ablesen können, dass global gesehen Armut und Hunger auf dieser Welt reduziert werden konnten.1

Heute müssen wir allerdings konsterniert feststellen, dass dieser wachsende materielle Wohlstand und Fortschritt nicht nachhaltig sind, bei Weitem nicht alle davon profitieren und wir für den Erhalt einen immer höheren Preis zahlen. Unternehmen und Länder verkünden zwar nach wie vor regelmässig ihre Wachstumszahlen, doch darin sind die erzeugten Kollateralschäden dieses Wachstums, wie beispielsweise der des Klimawandels – der wohl grössten Krise unserer Zeit überhaupt –, nicht miteingerechnet. Genauso wenig wie die gesellschaftlichen Kosten einer zunehmenden sozialen Ungleichheit und die zunehmenden physischen und psychischen Leiden,2 die den Konsum- und Lebensgewohnheiten unserer Wohlstandsgesellschaft zuzuschreiben sind.

Wirtschaft menschlich denken

Unsere Tendenz, im «Weiter wie bisher» zu verharren, ist enorm – als Gesellschaft, als Politikerin und Politiker genauso wie als Unternehmerin und Unternehmer oder Konsumentin und Konsument. Es brauchte offenbar ein 15-jähriges Mädchen aus Schweden, um uns zumindest ein wenig aufzurütteln, dass wir unser Verständnis von einer primär auf materiellem Wachstum abgestellten Wirtschaft und deren politische Rahmenbedingungen auf den Prüfstand stellen müssen. Wenn wir uns ernsthaft mit der heutigen Wirklichkeit konfrontieren, dann kommen wir sehr schnell zu dem Schluss, dass wir unser Wunschbild des «Weiter wie bisher» loslassen und uns mit Blick auf eine globale Gesamtrechnung kritisch hinterfragen müssen, ob die Art, wie wir heute wirtschaften, nicht mehr Schaden als Nutzen erzeugt. Es scheint, dass Wirtschaft und Unternehmen mit ihrem «Weiter wie bisher» eher aktiv die Verschlimmerung der grossen gesellschaftlichen Problemstellungen als deren Lösung vorantreiben.

Was also braucht es, damit Unternehmen wieder vermehrt zum positiven Treiber gesellschaftlicher Entwicklung werden? Dass sie Teil der Lösung werden, nicht Teil des Problems bleiben? Wie können Unternehmen wieder zu nachhaltig besseren und gerechteren Lebensbedingungen beitragen und nicht die Waage zum Vorteil einiger weniger kippen, mit schädlichen Nebenwirkungen für alle anderen?

Junge Unternehmen, die frei von «Altlasten» sind, suchen hier gleich von Grund auf nach anderen Wegen, auf welche Art und Weise sie ihr Geld verdienen wollen. Ein Beispiel ist das Outdoor-Unternehmen Cotopaxi. Dessen Mission lautet: «Gear For Good. Unser Versprechen ist es, langlebige Ausrüstung auf möglichst ethisch nachhaltige Weise herzustellen und unsere Einnahmen für die Entwicklung und Verbesserung von Communitys zu verwenden. Kurz gesagt, wir stellen Produkte her, die langlebig sind und eine nachhaltige Wirkung haben.»3Cotopaxi ist auch eine sogenannte Benefit Corporation. Dies ist ein Rechtstatus und auch eine Unternehmensform aus den USA, über die Gemeinwohl und privatwirtschaftlicher Nutzen gesamthaft bedient werden sollen.4 Es erscheint dringend geboten, unsere heutige Form des Kapitalismus und der sozialen Marktwirtschaft nicht nur ökonomisch, sondern auch ethisch weiterzudenken. In einer Weise, dass er nicht einseitig nur den rein materiellen Wohlstand, sondern vermehrt auch das menschliche Wohlergehen im Blick hat. Denn nach was die meisten Menschen streben, ist ein menschenwürdiges, gelungenes, d. h. auch glückliches Leben. Auch wenn sich die damit verbundenen Gefühle nicht einfach von aussen herstellen lassen, so sollte sich der Auftrag einer Gesellschaft – und folglich auch jener von Wirtschaft und Unternehmen – ganz zentral nicht nur dem ökonomischen, sondern auch einem menschlich-ethischen Fortschritt verschreiben.

Wir glauben, dass eine bewusst auf menschlich-ethischen Fortschritt ausgerichtete Form des Kapitalismus eine humanere Form der Marktwirtschaft möglich machen würde, die in der Lage wäre, viele unserer heutigen gesellschaftlichen Probleme zu lösen.5

Unternehmen würden ihr Selbstverständnis darauf aufbauen, die Welt um sie herum nicht nur materiell, sondern auch menschlich gesehen besser zu machen, also primär dem Gemeinwohl zu dienen. In einer solchen Welt würde man Menschen – entsprechend der Humanitätsregel – menschlich behandeln. Das Management würde sich um menschwürdigere Arbeitsbedingungen, eine faire Entlohnung und Verteilung der Gewinne sowie um den Erhalt unserer natürlichen Ressourcen und des sozialen Friedens kümmern. Die Achtung der Würde des Menschen wäre dabei prägend für den Umgang miteinander. Auf Augenhöhe würde man nach einem fairen Ausgleich mit den Interessen seiner wichtigsten Anspruchsgruppen suchen. Das Topmanagement brächte den Mut auf, auch einen ethischen Standpunkt einzunehmen, wenn das Unternehmen in Konflikt mit der Gesellschaft gerät.

Und tatsächlich wird der gesellschaftliche Druck auf Unternehmen grösser, sich lösungsorientiert für den menschlichen Fortschritt in die Gesellschaft einzubringen. Mehr denn je wird von Management und Führungskräften erwartet, dass sie aktiv und auch wahrnehmbarer Verantwortung übernehmen und nach Wegen suchen, nicht nur ökonomisch, sondern auch menschlich-ethisch betrachtet das «Richtige» zu tun, um wirkungsvoller den grossen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Gelingt ihnen dies nicht überzeugend, wird die Gesellschaft der Wirtschaft ihre notwendige Unterstützung versagen, und die sozialen Konflikte wachsen auch zum Schaden der Wirtschaft.

Und wäre es nicht tatsächlich begrüssenswert, wenn Unternehmen ihre Wandelkräfte nicht nur auf den ökonomischen, sondern auch auf den menschlichen Fortschritt richten? Wenn sie zu mehr partnerschaftlicher Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Institutionen beitragen? Zu mehr digitaler Selbstbestimmtheit, zu nachhaltigen Lebensbedingungen für alle, zu einer fairen Verteilung von Wertschöpfung? Kämen wir so den Träumen grosser Teile der Zivilgesellschaft von sozialem Frieden und einem treuhänderisch-sorgsamen Umgang mit der Umwelt bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Prosperität näher?

In der Unternehmenspraxis gibt es bereits einige Führungskräfte, die spüren, dass ein «Weiter wie bisher» keine Option ist, die nach Auswegen suchen und mit Alternativen experimentieren. Stellvertretend sei hier Saori Dubourg genannt, die seit 2017 Mitglied des BASF-Vorstands ist. Sie geht davon aus, dass die nächsten 25 Jahre uns einen fundamentalen Wandel bringen werden: «Wir sind mitten in einem Paradigmenwechsel – vom Zeitalter der Globalisierung in eine Zeit der klugen Ressourcennutzung. Die neue Dekade bedeutet eine Transformation von Mengenwachstum in Richtung eines ganzheitlichen Wertbeitrags. Hier liegt die enorme Chance, wenn wir unseren Wertbeitrag für Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft auf allen Ebenen durchdenken. … Wir können nicht mit der Betriebswirtschaft des letzten Jahrhunderts die Herausforderungen der nächsten Dekade lösen, sondern müssen über den Tellerrand blicken und neu über Impact nachdenken … Werte werden zu unserer neuen Währung.»6 Dazu hat sie 2019 mit anderen die Value Balancing Alliance ins Leben gerufen. Deren Ziel ist es, tatsächlich alle gesellschaftlichen und ökologischen Werte – oder Kosten –, die einem Unternehmen zuzuordnen sind, in die Gesamtleistung des Unternehmens aufzunehmen, messbar und damit vergleichbar zu machen und womöglich auch zu monetarisieren. Auch wenn bedeutsame Werte, wie etwa das Respektieren der Würde des Menschen, nach wie vor nicht monetarisierbar sind und auch nicht monetarisiert werden sollten, sind solche Initiativen, die einen ganzheitlichen Reporting-Standard, der die Bilanzierung aller Wertschöpfungen eines Unternehmens für die Gesellschaft abbildet und Vergleichbarkeit bringt, begrüssenswert.7

Plädoyer für eine humane Unternehmensphilosophie

Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Herausforderungen und Veränderungen müssen wir uns fragen, ob unser dominantes betriebswirtschaftliches Denkmodell, was ein Unternehmen ist und wofür es da ist, und an dem wir unser Entscheiden und Handeln ausrichten, der heutigen gesellschaftlichen Situation überhaupt noch gerecht zu werden vermag.

Was benötigt wird, ist eine ganzheitliche Unternehmensphilosophie, die Ökonomie und Menschlichkeit, das Ich und Wir, Verstand und Herz, Gesellschaft und Wirtschaft, integrativ zukunftsfähig vereinen mag. Eine solche Unternehmensphilosophie kann nicht mehr allein vom kognitiv-verstandsorientierten Homo oeconomicus – also von einem rein rationalen Entscheidungsverständnis – getragen werden, sondern muss auch die nichtökonomischen, menschlichen Quellen und Resultate von Wertschaffung in Organisationen berücksichtigen. Jeder weiss, dass sich beim Entscheiden der Verstand nicht von Emotionen, Einstellungen und Gewissen trennen lässt. So sind manche Bedürfnisse wie etwa Integrität, Zuverlässigkeit, Fairness oder Mitgefühl kaum über eine klassische Produktionsfunktion zu befriedigen und schon gar nicht herzustellen. Das heisst, die neue gesuchte Denkweise geht über die neoklassischen Ansätze hinaus und bezieht auch das ein, was uns Menschen erst zu Menschen macht.

Die ökonomisch-menschliche Unternehmensphilosophie, nach der wir hier suchen, soll dem grundsätzlichen Justieren des Denkens und Handelns aller Akteure und Anspruchsgruppen eines Unternehmens dienen. Sie besagt, welche Art von Welt wir uns wünschen. Sie hilft uns zu erkennen, was «das Richtige» ist. Damit wird eine solche Unternehmensphilosophie zwangsläufig eine normative, also eine wertbehaftete sein. Sie beinhaltet eine Grundaussage dazu, wofür Unternehmen grundsätzlich da sein sollten und auf welcher Wertbasis dies geschehen sollte. Das im Management vorherrschende Verständnis vom Zweck des Unternehmens wirkt sich auf seine Vorstellung von der zu tragenden Verantwortung und der damit verbundenen gebotenen Rechenschaftspflicht aus.

Im Sinn einer solch normativen Unternehmensphilosophie schlagen wir vor, den grundlegenden Zweck von Unternehmen als human zu definieren: Der gesellschaftliche Grundauftrag von Unternehmen besteht darin, die Welt, in der sie operieren dürfen, noch menschendienlicher zu machen.8 Sie sind in und für die Gesellschaft tätig, durch Menschen für Menschen geschaffen. Dies entspricht auch der im deutschen Grundgesetz Art. 14 (Abs. 2) festgehaltenen Gemeinwohlbindung: «Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.»

Mit solch einer normativen Unternehmensphilosophie ist auch eine Aussage verbunden, von welchen grundlegenden Einstellungen beim Verfolgen dieses übergeordneten Zwecks ausgegangen werden kann. Sie besagt auf einer ganz grundsätzlichen Ebene, welches Verhalten akzeptabel bzw. «das richtige» ist und welches nicht. Damit werden die Geschäftsoptionen und -aktivitäten, die ein Management und Führungskräfte abzuwägen haben und für die sie sich entscheiden, bewusst nicht von den Werten getrennt, auf deren Basis sie gefällt werden. Letztlich geben Entscheidungen auch immer Aufschluss über die Werte, auf denen sie – ob bewusst oder unbewusst – gründen. Die Ökonomen Thomas Donaldson und James Walsh schlagen hierfür als übergeordneten Leitwert die Menschenwürde vor. Es gelte, ein zu definierendes Minimalniveau an Respekt gegenüber allen Beteiligten und Betroffenen einzuhalten. Die Würde des Menschen ist hier Zentrum und Ziel, auf die sich auch die wirtschaftlichen Aktivitäten zweckdienlich auszurichten haben.9

Dieses Minimalniveau bildet somit das normative Fundament der Aktivitäten und Verhaltensweisen eines Unternehmens. Missachten wir es, dann unterlaufen wir damit die Menschlichkeit in uns selbst. Dazu sei beispielsweise auf die vom UNO-Menschenrechtsrat erarbeiteten Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verwiesen, die auch eine Pflicht der Unternehmen beinhalten, die Menschenrechte zu respektieren.10

Die Leitidee, die eine humane Unternehmensphilosophie beinhaltet, ist folglich eine menschenfreundliche, auf den Menschen, dessen soziale Beziehungen und Gemeinschaft ausgerichtete Denkhaltung auf der Basis des Grundwerts einer universal verstandenen Menschenwürde.11 Das bedeutet, dass Unternehmen sich aktiv und gesamtgesellschaftlich für die Förderung der Entfaltung des Menschen zur selbstbestimmten Persönlichkeit einzusetzen haben.

Damit erfüllen Unternehmen nicht nur den Wunsch nach materiellem Wohlstand, sondern verpflichten sich auch, dem jeden Menschen innewohnenden Verlangen nach Würde und nach Gleichwertigkeit genauso nachzukommen. Ein Unternehmen, das engagierte Mitarbeitende, selbstbestimmte Kundinnen und Kunden, vertrauensvolle Lieferanten- und Investorenbeziehungen sowie nachhaltige Umweltbedingungen möchte, sollte im Denken und Handeln aller umfassend von der Haltung getragen werden, dass es dazu da ist, den Menschen bzw. der Menschlichkeit und Menschheit zu dienen. Wir alle sind Treuhänder dieser Welt in der Zeit, in der wir ein Teil von ihr sind.

Solch eine übergeordnete Zwecksetzung und Denkhaltung, verbunden mit dem in alle Beziehungen einzubringenden Grundwert der Menschenwürde, gibt Orientierung und kann helfen, Zielkonflikte zwischen Interessen und Interessengruppen zu lösen. Erst wenn klar ist, auf welchen übergeordneten Zweck ein Unternehmen ausgerichtet ist, macht es überhaupt Sinn, über die einzelnen Aktivitäten und beschreibenden Elemente zu sprechen.

Uns ist bewusst, dass vieles, was in der Unternehmensrealität heute stattfindet, an der bisherigen rein ökonomischen Wettbewerbslogik ausgerichtet wurde und somit unter einem solch integrativen menschlich-ökonomischen Wirtschaftsimperativ neu zu bewerten und auch zu ordnen ist. Gleiches gilt auf der Ebene politischer und wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen. Vermutlich braucht es sogar einen erneuerten Gesellschaftsvertrag, um unter den veränderten Rahmenbedingungen neu zu klären, was uns zusammenhält.12

Unternehmen können – wie schon in früheren Zeiten bewiesen – durchaus Treiber positiven gesellschaftlichen Wandels sein. Warum also nicht auch in Bezug auf die Entwicklung und Umsetzung eines integrativen menschlich-ökonomischen gesellschaftlichen Fortschritts? Denn von ganz vorn müssten sie dabei gar nicht beginnen. Der bereits in den 1990er-Jahren entwickelte Ansatz eines Stakeholder Managements kommt dieser humanitären, auf die Erwartungen aller Anspruchsgruppen ausgerichteten, ausgewogenen nachhaltigen und auch ethisch-menschlich fortschrittlichen Entwicklung als Leitidee konzeptionell bereits sehr nahe.13

Hier sehen wir Unternehmen als ein Ökosystem bestehend aus einem Netzwerk verschiedener Anspruchsgruppen, die insbesondere durch wirtschaftliche Interessen miteinander verbunden sind. Diese erwarten im Gegenzug zu ihren eingebrachten Ressourcen und Leistungen an das Unternehmen, dass sie einen angemessenen Anteil an der gemeinsamen Wertschöpfung erhalten. Es geht also im Kern darum, zu möglichst ausgewogenen Beziehungen mit und zwischen den relevanten Anspruchsgruppen zu gelangen. Zur Verstärkung sollte dies – soweit in der lokalen Gesetzgebung möglich – als Verpflichtung an das Management in die Governance-Richtlinien des Unternehmens aufgenommen werden.

Da die Erwartungen, Motive und Interessen der Anspruchsgruppen im Allgemeinen nicht gleichgerichtet sind und es Interessens- und Wertkonflikte gibt, bedarf es dazu wirkungsvoller Moderationsprozesse pluralistischen Austarierens und Ausgleichens. So muss eine Geschäftsführung z. B. zu einer Entscheidung finden, welche Ansprüche eventuell vorrangig zu behandeln sind. Die Herausforderung dabei ist, dass das Gesamte ein Netzwerk, d. h. mehr als eine Summe dyadischer Beziehungen zwischen dem Unternehmen und den einzelnen Anspruchsgruppen ist. Da viele Stakeholder oft verschiedene Rollen gleichzeitig einnehmen, sind auch die Wechselwirkungen zwischen ihnen mit zu berücksichtigen. Um in einem dynamischen Stakeholder-Netzwerk «richtig» zu entscheiden, muss nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein menschlich-ethisch angemessenes Urteilsvermögen unter Beweis gestellt werden. Damit wird deutlich, dass Entscheidungsträger auf allen Ebenen die ihrem Handeln zugrunde liegenden Werte und wünschenswerten ethischen Konzepte und Normen aktiv reflektieren, zur Diskussion stellen und dazu auch explizit Position beziehen müssen, wollen sie ein besseres Verstehen verschiedener Sichtweisen und Orientierung schaffen und die Zusammenarbeit in Führungsgremien stärken.14 Getragen werden solche Moderationsprozesse von einem Grundrespekt gegenüber unserer heutigen demokratischen Gesellschaft, die sich genau durch Diversität und Wertevielfalt und durch eine ganze Reihe unterschiedlicher und teils widersprüchlicher Denk- und Sichtweisen auszeichnet.

Gegenüber all diesen vernetzten Anspruchsgruppen ist das Unternehmen bzw. sind seine Entscheidungsträger verantwortlich. Diese Verantwortung gilt zudem in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, denn nachhaltiger Erfolg resultiert aus dem harmonischen Zusammenwirken der Verantwortung für alle drei.15 Gegenüber der Zukunft, weil es unser menschlich verantwortungsvolles Streben und Vermächtnis sein sollte, dass wir die Welt für die zukünftigen Generationen besser verlassen, als wir sie angetreten haben. Das heisst weiter, dass wir die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation nur insoweit berücksichtigen, als wir dadurch die Möglichkeiten der zukünftigen Generationen nicht beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.16 Und schliesslich – bezogen auf die Vergangenheit – sollten wir danach streben, die Welt, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben, wertzuschätzen und menschlich weiter zu veredeln, denn eines Tages gehören wir selbst dieser Vergangenheit an. Auf diese Weise verpflichten sich Unternehmen zu einem zyklischen Denken, in dem Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit immer wieder ineinandergreifen.

Menschliche Aspekte in die Unternehmensgestaltung integrieren

Wie können sich nun einzelne Unternehmen bei der Ausgestaltung ihrer Organisation an dieser humanitären Unternehmensphilosophie ausrichten? Wie kann diese bereits umfassender in der Kultur von Unternehmen verankert werden? Dazu müssen derzeitige, oft unhinterfragte Denk-, Handlungs- und Bewertungsmodelle eines Unternehmens auf ihre Gültigkeit und Nützlichkeit überprüft werden. Dies beginnt bei der Zwecksetzung der Unternehmung: Verfügt man über eine Orientierung, Sinn und Inspiration vermittelnde Mission? Falls ja: Ist dies nur ein Lippenbekenntnis oder ist man eine «purpose-driven organization» in all ihren Facetten: in den Beziehungen zu den wichtigsten Anspruchsgruppen, im Einsatz von Technologien und Digitalisierung (menschenunwürdig oder rücksichtsvoll), in der Strategiebildung und Planungslogik (autoritär oder inklusiv), in der Kommunikation und Zusammenarbeit (respektlos oder wertschätzend), in der Verteilung von Wertschöpfung (selbstoptimierend oder fair) usw.? Je nach Sachverhalt gilt es zu fragen: Wie könnten menschlichere Alternativen dazu aussehen?

Derartigen Fragen gilt das Hauptaugenmerk unserer Essay-Sammlung in diesem Buch. Wir wollen insbesondere Unternehmensführungen ermuntern, ihr unternehmerisches Gestalten im Hinblick auf einen menschlich-ethischen Fortschritt unserer Gesellschaft zu reflektieren und Ideen entwickeln, wie diese vor dem Hintergrund des eigenen Kontexts bewusst hinterfragt und ausdifferenziert werden können. Wir wollen anregen, alle Gestaltungsfelder einer Organisation systematisch zu durchleuchten und sie auf ihren bisherigen Beitrag zu einem menschlicheren und ethischen Unternehmen zu hinterfragen. Ohne Anmassung auf Vollständigkeit oder völlige Durchdringung der Komplexität dieser Themen wollen wir für diese Grundpfeiler unternehmerischen Handelns in einer freien Gesellschaft unsere Gedanken dazu teilen und damit Denkanstösse und Mut für jene stiften, denen es ebenfalls am Herzen liegt, nach einer menschlicheren Form des Wirtschaftens zu suchen.

Gesellschaft im Umbruch: Um eine bessere, menschenwürdigere und anschlussfähige Wirtschaftsordnung zu ersinnen, die tatsächlich an der Wurzel der heutigen gesellschaftlichen Problemstellungen ansetzt, braucht es zunächst ein möglichst vielgestaltiges Verständnis der heutigen Problemstellungen und deren Einordnung in den historischen Kontext. Ansonsten laufen wir Gefahr, Flickschusterei auf der Oberfläche zu betreiben, uns nur noch in unserem eigenen «Echoraum» zu bewegen und nicht zu den eigentlichen Treibern der Herausforderungen unserer Gesellschaft und unseres Wirtschaftssystems durchzudringen. Diese Analyse schliesst auch die selbstkritische Reflektion der Rolle von Unternehmen und des Managements mit ein. Nur wenn unbewusste Denk- und Verhaltensmodelle angesprochen werden dürfen, können diese verstehbar und kann der tatsächlich benötigte Wechsel des zugrundeliegenden Paradigmas angegangen werden. Folglich wird in diesem Essay ausgeleuchtet, was dazu beigetragen hat, dass der Kapitalismus uns in seiner jetzigen Form wohl mehr Schaden als Nutzen zufügt. Wir wollen der Frage nachgehen, in welchen Bereichen Weiterentwicklungen nötig und möglich sind, um nicht nur einen technologisch-ökonomischen Fortschritt in unserer Gesellschaft zu gewährleisten, sondern auch einen menschlich-ethischen.

Sinnstiftung vor Finanzzielen: Vision und Ziele sowie Mission und Werte bilden den normativen Rahmen eines Unternehmens. Zu entwickelnde Strategien haben sich innerhalb dieses Rahmens zu bewegen. Von primärer Bedeutung ist dabei die Vorgabe einer sinnstiftenden Mission, eines «meaningful purpose». Diese gibt Antwort auf die Frage, warum genau es eine bestimmte Organisation überhaupt braucht und was ihr Beitrag für die Gesellschaft sein kann. Was ist der übergeordnete Zweck des Unternehmens? Welchen Nutzen können Kunden und im weiteren Sinn die Gesellschaft daraus erwarten?

Aus dem Purpose sollen alle Anspruchsgruppen, eine kollektive Sinnstiftung erfahren können, aus der heraus dann die Kreativität, das Vertrauen und das Commitment erwachsen, eine auch kollektiv getragene Vision abzuleiten und einen fairen Wertbeitrag für alle Stakeholder zu realisieren. Im Purpose soll insbesondere die humanitäre Philosophie des Unternehmens erkennbar sein. In diesem Essay wird versucht einzuordnen, welche Arten von Purpose in heutigen Organisationen beschrieben werden und zu hinterfragen, inwiefern diese tatsächlich auch menschlich sinnstiftend für Mitarbeitende und wesentliche Stakeholdergruppen sind. Was zeichnet einen humanitären Purpose aus, der auch den menschlich-ethischen Fortschritt im Blick hat, authentisch gelebt und nicht durch oberste Finanzziele überlagert wird?

Menschliches Leistungsverständnis: Was genau verstehen wir heute unter menschlicher Leistung? Ist nur das Ergebnis entscheidend, zum Beispiel einen Kunden zu gewinnen, oder ist es auch relevant, ob es besonders viel Anstrengung, Geduld und Ausdauer gebraucht hat, ihn zu gewinnen? Unser bisheriges Leistungsverständnis – insbesondere im wirtschaftlichen Kontext – stammt noch aus dem Industriezeitalter, und so machen wir menschliche Leistung nach wie vor meistens an rein quantitativen und sichtbaren Aspekten fest, auf individueller sowie auf Unternehmensebene. Nach dieser Logik haben in unseren Augen folglich nur jene etwas geleistet, die quantitativ etwas vorzuweisen haben, wie beispielsweise wer viel Geld verdient, wer viele Kunden oder Follower hat, viele 5-Sterne-Reviews im Internet oder viel publiziert hat usw.

Das wahre Problem ist, dass wir uns dieser rein quantitativen und ergebnisorientierten Bewertungen von Leistung mehrheitlich gar nicht mehr bewusst sind. Sie haben sich unmerklich in alle unsere Lebensbereiche, von der Schule, über unsere Freizeit bis hin zu unserem sozialen Engagement, eingeschlichen und beeinflussen massgeblich unsere Entscheidungen und unser Verhalten. Je mehr unsere Wirtschaftsleistung aber vernetzt-kollektiv, digital und teilweise automatisiert entsteht, müssen wir uns neu fragen, was denn wirklich sinnvolle Indikatoren menschlicher oder somit auch unternehmerischer Leistung sind. Wie sieht eine Leistung aus, die sich um den menschlich-ethischen Fortschritt unserer Gesellschaft bemüht? Wie müssten wir Lebensläufe von Führungskräften dann lesen, und was bedeutet das für das Performance Management in Unternehmen? Dieser Essay will eine bewusste Auseinandersetzung und Weiterentwicklung unseres Leistungsverständnisses anregen, mit Hinblick auf ein Unternehmensverständnis, das sich auch einem menschlich-ethischen Fortschritt verschreibt.

Mehr Beziehung wagen: In einer vernetzten, digitalen Wirtschaftswelt sind Unternehmen heute einer zunehmenden Stakeholder-Komplexität ausgesetzt. Über digitale Kanäle sind sie mit all ihren Anspruchsgruppen – von den Kundinnen und Kunden bis zu den Investorinnen und Investoren – verbunden, was sich auch an der zunehmenden Social-Media-Präsenz und -Aktivität von Unternehmen ablesen lässt. Die sozialen Interaktionen zwischen Unternehmen und der Öffentlichkeit haben im Sinn eines Stakeholder Relation Managements begrüssenswerterweise deutlich zugenommen, was auch an steigenden Marketingbudgets abzulesen ist. Allerdings ist gleichzeitig das Vertrauen in die Wirtschaftswelt gesellschaftlich gesehen mittlerweile an einem Tiefpunkt angekommen. Führungskräfte stehen heute häufig unter Generalverdacht: Sie wollen nur in die eigene Tasche wirtschaften, dominieren die Politik über Lobbyismus, betreiben Greenwashing usw. Was ist nötig, um diesen erodierenden Vertrauensverlust aufzuhalten? Wenn Unternehmen einen menschlich-ethischen Fortschritt für die Gesellschaft leisten wollen, dann dürfen Beziehungen – egal mit welchen Stakeholdern – nicht mehr nur als «Mittel zum Zweck» begriffen werden, sondern benötigen einen Eigenwert.

In diesem Sinn müssen sich Unternehmen zunehmend als Vertrauensstifter und womöglich sogar Brückenbauer in einem Stakeholder-Netzwerk begreifen, auch unabhängig von ihrer Geschäftstätigkeit. Damit rückt nicht nur die Konnektivität, sondern vielmehr die Beziehungsqualität ins Zentrum managerieller Aufmerksamkeit und Gestaltung. Dieser Essay geht der Frage nach, wie sich die Unternehmenskommunikation verändern muss, wenn es zur obersten Maxime von Unternehmen zählen würde, Vertrauen und menschliche Verbindlichkeit vor Profitmaximierung zu ermöglichen. Mit welcher Art von Kommunikation könnte man das Vertrauen der breiten Gesellschaft zurückgewinnen? Denn nachhaltig vertrauensvolle und integer gelebte Beziehungen im Stakeholder-Netzwerk sind in einer vernetzten digitalen Ökosystemwirtschaft wohl das wichtigste Kapital für Unternehmen als auch eine funktionierende demokratische Gesellschaft.

Verteilungsgerechtigkeit mit Augenmass: Um den heutigen Anforderungen gerecht zu werden, findet Wertschöpfung immer mehr in Kooperation mit den Stakeholdern statt. Seien dies die Herstellung eines neuen Lösungsangebots mit den Kunden oder mit externen Entwicklern oder auch die Ausgestaltung einer Wachstumsphase mit den Investoren. Für ihren Beitrag zur Wertschöpfung des Unternehmens erwarten diese primären Stakeholder aber auch einen angemessenen Anteil an der Wertschöpfung. Aber auch sekundäre Stakeholder, wie z. B. Klimaaktivisten, haben Erwartungen an Unternehmen und fordern, dass ein Teil der Wertschöpfung als Investitionen in die Bewältigung des Klimawandels fliesst. Auch in den Jahren der Corona-Pandemie galt es, Verteilungsentscheide zwischen den Anspruchsgruppen neu zu treffen. So entschied der CEO der Wohnbaugesellschaft Vonovia, den rechtlichen Anspruch auf die in den vergangenen Monaten zu wenig bezahlte Miete nicht einzutreiben, obwohl das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel kippte. Um des sozialen Friedens willen wurde ein zweistelliger Millionenbetrag, der rechtlich eigentlich den Aktionären zustünde, zugunsten der Mieter umverteilt. Wie und nach welchen Massstäben es zu dieser Verteilung kommt, ist weitgehend unklar, obgleich hier ein dringender Bedarf nach Transparenz und gesellschaftlicher Legitimation besteht.

Was kritisch auffällt ist, dass, wenn es zu solchen Abwägungsentscheiden kommt, diese meist nur auf der Basis klassischer ökonomischer Kriterien getroffen und begründet werden. Ausgeblendet bleiben – zumindest auf der kommunikativen Oberfläche – ethisch-menschliche Erwägungen. Doch wie können solche Verteilungsentscheide auch vermehrt nach menschlich-ethischen Kriterien getroffen werden? Was können wir beobachten und lernen von Unternehmen, die Wege zu einer solchen «Quadratur des Kreises» gefunden haben, um zu einer stets ausgewogenen Verteilung der Wertschöpfung zu gelangen? Als Leitgrössen dienen ihnen ganz offensichtlich menschliche Aspekte wie Augenmass, organisationale Gerechtigkeit bzw. Fairness.

Multilaterale Partnerschaften führen: Blicken wir auf die tiefgreifenden gesellschaftlichen Herausforderungen und umfassenden humanitären Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, so wird schnell klar, dass zu deren Bewältigung umfassende Formen menschlicher interinstitutioneller Zusammenarbeit erforderlich sind. Die hohe Komplexität heutiger Herausforderungen zeigt sich damit nicht nur in einem reichhaltigen und diversen Stakeholder-Umfeld, sondern auch in der Notwendigkeit zur interdisziplinären Zusammenarbeit – oft über interne Struktur-, Unternehmens-, Branchen- oder Ländergrenzen hinweg. Dabei geht es um weit mehr als nur die Bündelung oder Koordination von Fähigkeiten, Erkenntnissen und Ressourcen zur Bereitstellung von Lösungen. Komplexe Problemstellungen können nicht mehr rein koordinativ in einem gut organisierten Nebeneinander bewältigt werden.

Dort wo Neues unter Unsicherheit gemeinsam ersonnen und entstehen soll, braucht es interdisziplinäre Co-Kreativität, die von einem tiefgehenden gegenseitigen Vertrauen und einer ausgeprägten Identifikation mit dem gemeinsamen Ziel und «purpose» geprägt ist. Die übliche Wettbewerbs- und Eigeninteressenorientierung ist für co-kreative Settings meist hinderlich. Dieser Essay geht somit der Frage nach, wie Unternehmen inter-institutionelle Zusammenarbeit heute dynamischer, kollektiver und partnerschaftlicher denken, leben und führen können. Was kann man von gescheiterten als auch gelungenen komplexen Zusammenarbeitsprojekten lernen? Welche notwendigen menschlichen Erfahrungen müssen bei gelungener partnerschaftlicher Zusammenarbeit im Zentrum stehen?

Menschenwürdige Digitalisierung: Vor über 30Jahren wurde das Internet erfunden. Inzwischen wird die Welt von einer Digitalisierungswelle überrollt. Natürlich hat uns das Internet ohne Frage einiges an Fortschritt und Vorteilen beschert. Doch neben all dem Nutzen, den es geschaffen hat, befördert es auch gewaltige Schattenseiten zutage, die auch an den Grundfesten unserer demokratischen und liberalen Gesellschaftsordnung rütteln und uns drohen, in ungeahnte Abhängigkeiten zu stürzen. Daten sind zum Rohstoff des 21. Jahrhunderts geworden. Produzenten dieses Rohstoffs sind wir Menschen. Die Weiterverarbeitung der Daten geschieht über Verfahren der künstlichen Intelligenz und der Herleitung von Algorithmen, als Handlungsvorschriften zur automatisierten Lösung eines Problems. Mittlerweile haben wir Menschen aber weitgehend die Selbstbestimmung und Kontrolle über diesen Rohstoff «Daten» verloren bzw. den Technologieanbietern freiwillig und kostenlos übergeben. Die meist intransparenten, rein an kommerziellen Zwecken ausgerichteten Algorithmen multiplizieren häufig noch die existierenden Verzerrungen und sozialen Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft. Es sei hier exemplarisch an den Fall der früheren Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen erinnert, die 2019 in ihrer Funktion als Teamleiterin «Civic Integrity» ihrem Ex-Arbeitgeber vorgeworfen hat, eigene Gewinne über die Sicherheit von Menschen zu stellen. «Ich glaube, dass die Produkte von Facebook Kindern schaden, Spaltung anheizen und unsere Demokratie schwächen», sagte sie Anfang Oktober 2021 bei einer Anhörung im US-Kongress.17

Auf diese Weise beginnen die technologische Entwicklung, und insbesondere die digitalen Geschäftsmodelle, unser Zusammenleben und die Freiheitsrechte unserer demokratischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung schneller zu unterwandern, als wir das bemerken oder die Politik und der Regulator dieser Geschwindigkeit folgen könnten. Somit fordern viele namhafte Vertreter wie beispielsweise der Schriftsteller Ferdinand von Schirach angepasste neue Grund- bzw. Freiheitsrechte für Europa, die insbesondere auch die fortschreitende Digitalisierung betreffen: «Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten» sowie «Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und frei sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.»18 So geht dieser Essay der Frage nach, wie Unternehmen ihre digitalen Geschäftsmodelle kompromisslos in den Dienst der Menschheit stellen können und aktive Verantwortung für die Gefährdungen übernehmen, die aus der Nutzung ihrer Dienste entstehen. Wie könnte die Selbstbestimmtheit von Nutzerinnen und Nutzern erhöht werden? Und welche digitale Infrastruktur müsste dazu zum Gemeingut werden?

Sich der Zukunft offen stellen: Auch wenn die Häufigkeit von Extremereignissen seit Jahren zunimmt, verharren die meisten Organisationen in einer Art Kontrollillusion: Man verhält sich so, als ob die Zukunft mehr oder minder eine Fortschreibung der Gegenwart sei und damit planbar wäre. Doch immer wieder müssen wir erfahren, so auch in der Corona-Pandemie oder angesichts des Krieges in der Ukraine, wie unerwartete Extremereignisse oder gänzlich neue Entwicklungen unser Leben und auch den Markt bestimmen. Die Bewältigung solcher Transformationsprozesse bei hoher Unsicherheit stellt für Unternehmen ökonomisch, aber auch menschlich eine grosse Herausforderung dar. Wie können Unternehmen sich einer zunehmenden unbekannten Zukunft offen stellen? Wie können sie ihr Betriebsmodell so gestalten, dass Unsicherheit positiv gewendet für sie zum Tor für Veränderung und Weiterentwicklung wird und damit nicht allein zur Antizipation, sondern auch zur kreativen Imagination von Neuem beiträgt? Was können Unternehmen dabei von humanitären Organisationen und Krisenmanagement-Organisationen lernen?

Die Zeitenwende als Chance sehen und nutzen

Wir gehen in diesem Buch davon aus, dass wir uns in einer Zeitenwende befinden, in einer Gesellschaft im Umbruch. Was uns diese Zeitenwende bringen wird, ist vieldeutig, unklar, liegt «im Dunkeln». Amanda Gorman (2021) weist uns in ihrem Gedichtband poetisch daraufhin, dass das, was wir aus dunklen Zeiten machen, uns zeigt, wer wir sind: «Who are we, if not, what we make of the dark.» Hier wird sich erweisen, ob wir in der Lage sind, diese Übergangsphase als Chance zu nutzen, wie wir wieder den Weg ins Helle finden.

Denn die heutige Form des Kapitalismus scheint an einem systemkritischen Punkt angekommen zu sein. Er ist zwar nach wie vor Treiber von materiellem Wohlstand und ökonomischem Fortschritt, aber er sorgt nicht in gleichem Ausmass für die Weiterentwicklung wesentlicher menschlich-ethischer Kräfte in unserer Gesellschaft wie beispielsweise Solidarität, Mitmenschlichkeit, Fairness, Respekt und Mitgefühl. Aufgrund dieser Einseitigkeit sehen wir uns heute wesentlichen Bedrohungen, wie beispielsweise dem Klimawandel, der sozialen Ungleichheit, gesellschaftlicher Polarisierung oder Migration gegenüber, die sich zunehmend gegen uns selbst als Menschheit und unserem friedvollen Zusammenleben richten. Schon jetzt werden ökologische und soziale Lebensgrundlagen durch unser dominantes Wirtschaftssystem zerstört; man denke z. B. an versinkende Inselstaaten, die wegen des ansteigenden Meeresspiegels und der Küstenerosion kontinuierlich an Landmasse verlieren.

Der Weg aus der Dunkelheit ins Licht einer humaneren Wirtschaft führt somit aus unserer Sicht zu einem neu auszubalancierenden Verhältnis zwischen persönlichen Freiheiten und Gemeinwohl-Entwicklung. Ob dies gelingt, wird im Kern davon abhängen, inwieweit wir in der Lage sind, dieses Verhältnis zwischen «ich» und «wir» in Wirtschaft und Gesellschaft neu zu justieren, und wie ausgewogen wir die gewonnenen Freiheiten auch zur gemeinsamen Ausgestaltung unserer im Umbruch befindlichen Welt nutzen. Dies beinhaltet vor allem, auch jene gesellschaftlichen Themen anzugehen, die für uns alle relevant sind, auch wenn wir deren Effekte vermutlich selbst nicht mehr erleben werden. Unternehmen und Wirtschaft haben bereits bewiesen, dass sie Treiber positiver gesellschaftlicher Entwicklung sein können, weshalb wir sie ermuntern wollen, die Chance zu ergreifen und diese Rolle wieder bewusster einzunehmen. Wir plädieren hier dafür, dass Unternehmen sich in diesem Sinn einer explizit humanen Unternehmensphilosophie verschreiben. Dies wäre eine auf den Menschen und unser friedvolles, co-kreatives, soziales Miteinander ausgerichtete Philosophie auf der Basis des Grundwerts einer universal verstandenen Menschenwürde.19 Damit würden wir Unternehmen nicht nur in den Dienst eines ökonomischen, sondern auch eines menschlich-ethischen Fortschritts stellen.

Wir sind uns bewusst, dass es in unserer heutigen Welt kein leichtes Unterfangen ist für den menschlichen Fortschritt und das Ausbalancieren und Ausgleichen von Interessen einzutreten. Wie z. B. müssen wir menschlich gesehen den Einsatz einer Controlling-Software beurteilen, die die individuelle Leistung der Mitarbeitenden für alle transparent macht? Oder: Soll man die Geschäftstätigkeit in und mit Ländern, in denen die Bevölkerung nachweislich unter Menschenrechtsverletzungen leidet – wie z. B. China oder Katar –, aus der menschlichen Optik bewerten? Will man mit und in solchen Ländern überhaupt Geschäfte machen? Zu welchen Geschäften sagt man ja, zu welchen nein?

Siemens hat hierzu seine ganz eigenen Erfahrungen gemacht. So kam es auf der Aktionärsversammlung 2020 zu Turbulenzen, als eine Gruppe von Aktivisten dem Topmanagement vorwarf, man hätte die Verantwortung für das Klima nicht ausreichend wahrgenommen. Aufsichtsrat und Management zeigten sich überrascht, da man eigentlich stolz darauf war, was man seit 2015 in Richtung Klimawandel alles unternommen hat mit dem klar gesetzten Ziel, bis zum Jahr 2030 der weltweit erste klimaneutrale Grosskonzern zu sein. Auslöser des Unmuts war eine Vereinbarung mit dem indischen Rohstoffkonzern Adani zur Lieferung von Signaltechnik im Wert von 18Mio. Euro für die Züge der geplanten Kohlemine Carmichael in Australien. Carmichael ist umstritten, da sie internationale Bemühungen für mehr Klimaschutz in mehrfacher Form unterläuft. So sollen Frachtschiffe entlang des wegen der Ozeanerwärmung bereits stark geschädigten Great Barrier Reef, ein UNESCO-Welterbe, nach Indien verkehren. Dafür muss auch ein tiefer Kanal vom Verladehafen durch das Korallenriff in den Meeresboden gebaggert werden. Zudem werden durch den Kohleabbau Kultstätten der Aborigines zerstört. Das Management hat den Fehler eingesehen. «Das hätten wir nie machen dürfen», sagte der Vorstandsvorsitzende Joe Käser, Unternehmen müssten «der Gesellschaft dienen».20