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Alle Romane von John le Carré jetzt als E-Book! - "Das Russlandhaus" ist die fesselnde Geschichte des englischen Verlegers Barley, der durch ein Buch mit Aphorismen Goethes, in dem geheime Lagepläne versteckt sind, zum Agenten wird. Großartig verfilmt mit Sean Connery und Michelle Pfeiffer! Große TV-Doku "Der Taubentunnel" ab 20. Oktober 2023 auf Apple TV+
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Veröffentlichungsjahr: 2013
Das Buch
Der englische Verleger Bartholomew Scott Blair, genannt Barley, ist regelmäßig in Moskau, wo er jedes Jahr an der Buchmesse teilnimmt. In einer wodkaseligen Nacht lernt er einen gewissen »Goethe« kennen, einen Physiker aus der Rüstungsindustrie. Als Barley später in London ein Paket mit drei dicken Notizbüchern erhält, in denen sich neben Goethe-Aphorismen auch geheime Rüstungspläne befinden, sieht sich der Verleger hineingezogen in die Welt der Agenten und Spione. Plötzlich findet er sich selbst als Agent in der russischen Metropole wieder, mit dem Auftrag, Informationen über »Goethe« zu sammeln.
Das Rußlandhaus, verfilmt mit Sean Connery, gehört zu John le Carrés erfolgreichsten Romanen. In einem neu verfaßten Vorwort berichtet der Autor von seiner ersten Reise nach Moskau, als die Perestroika die russische Gesellschaft veränderte.
Der Autor
John le Carré, am 19. Oktober 1931 in Poole, Dorset, geboren, war nach seinem Studium in Bern und Oxford in den sechziger Jahren in diplomatischen Diensten u. a. in Bonn und Hamburg tätig. Sein Roman Der Spion, der aus der Kälte kam machte ihn 1963 weltbekannt. Zahlreiche seiner Bestseller wurden erfolgreich verfilmt. Der Autor lebt mit seiner Frau in Cornwall.
Von John le Carré sind in unserem Hause bereits erschienen:
Absolute Freunde · Agent in eigener Sache · Dame, König, As, Spion · Das Rußlandhaus · Der ewige Gärtner · Der heimliche Gefährte · Der Nachtmanager · Der Spion, der aus der Kälte kam · Der Schneider von Panama · Der wachsame Träumer · Die Libelle · Ein blendender Spion · Ein guter Soldat · Ein Mord erster Klasse · Eine Art Held · Eine kleine Stadt in Deutschland · Empfindliche Wahrheit · Geheime Melodie · Krieg im Spiegel · Marionetten · Schatten von gestern · Single & Single · Unser Spiel · Verräter wie wir
John le Carré
Das Rußlandhaus
Roman
Aus dem Englischenvon Werner Schmitz
List Taschenbuch
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www.ullstein-buchverlage.de
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ISBN 978-3-8437-0854-8
1. Auflage Mai 2004
© 2004 für die deutsche Ausgabe by Ullstein Buchverlage GmbH, München
© 2001 für die deutsche Ausgabe by
Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München
© 1989 by Authors Workshop
Titel der englischen Originalausgabe: The Russia House
(Hodder and Stoughton, London)
Übersetzung: Werner Schmitz
mit freundlicher Genehmigung des Zsolnay Verlags, München / Wien
Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Für Bob Gottlieb,einen großen Lektorund schwer geprüftenFreund.
Ich glaube in der Tat, die Leute sehnensich so sehr nach Frieden, daß dieRegierungen eines Tages über ihreneigenen Schatten springen und ihnenden Frieden gewähren müssen.
DWIGHT D. EISENHOWER
Man muß schon denken wie ein Held,um wie ein anständiger Menschhandeln zu können.
MAY SARTON
An einer breiten Moskauer Straße, keine zweihundert Meter vom Leningrader Bahnhof entfernt, schleppte sich im Obergeschoß eines scheußlich protzigen Hotels aus der Stalin-Ära, dessen Stil von den Moskowitern Pest-Empire genannt wurde, die vom British Council erstmals veranstaltete Phonomesse für Englischunterricht und Verbreitung der britischen Kultur qualvoll ihrem Ende entgegen. Es war halb sechs, launisches Sommerwetter. Den ganzen Tag waren heftige Regenschauer niedergegangen, jetzt gleißte trügerisches Sonnenlicht in den Pfützen und ließ das Pflaster dampfen. Die jüngeren Passanten trugen Jeans und Turnschuhe, aber die älteren waren noch immer in ihre warmen Mäntel gehüllt.
Der vom Council angemietete Raum war nicht teuer, dem Anlaß aber auch nicht angemessen. Ich habe ihn gesehen. – Als ich vor nicht langer Zeit wegen eines ganz anderen Auftrags in Moskau war, bin ich auf Zehenspitzen die große leere Treppe emporgestiegen und habe, mit meinem Diplomatenpaß in der Tasche, in dem ewigen Dämmer des alten, eingemotteten Ballsaals gestanden. – Mit seinen plumpen braunen Säulen und vergoldeten Spiegeln eignete er sich eher für die letzten Stunden eines sinkenden Schiffs als für die Premiere eines großen Vorhabens. An der Decke drohten wütende Russen in Proletariermützen Lenin mit den Fäusten. Ihr Zorn kontrastierte wenig hilfreich mit den an den Wänden aufgestellten ramponierten grünen Regalen voller Tonkassetten, auf denen Winnie the Pooh und Computerenglisch für Fortgeschrittene in drei Stunden angeboten wurden. Die sackleinenen Hörkabinen, die man an Ort und Stelle beschafft hatte und denen viele der zugesagten Eigenschaften fehlten, verbreiteten die Trübseligkeit von Liegestühlen an einem verregneten Strand. Die Stände der Aussteller waren in den Schatten einer überhängenden Galerie gepfercht und wirkten so blasphemisch wie Wettbuden in einem Tempel.
Dennoch hatte so etwas wie eine Handelsmesse stattgefunden. Leute waren gekommen, wie Moskauer es eben tun, vorausgesetzt, sie verfügen über den Status und die Papiere, um die strengen Burschen in Lederjacken an der Eingangstür zufriedenzustellen. Aus Höflichkeit. Aus Neugier. Um mit Westlern zu sprechen. Weil die Messe nun einmal stattfand. Und nun kam an diesem fünften und letzten Abend die große abschließende Cocktailparty der Aussteller und geladenen Gäste allmählich in Schwung. Eine Handvoll aus der kleinen Kaste der sowjetischen Kultur-Bürokratie versammelte sich unter dem Kronleuchter, die Damen in Bienenkorbfrisuren und geblümten Kleidern, die für grazilere Gestalten entworfen waren, die Herren in schlank machenden französischen Anzügen, die Zugang zu den speziellen Kleidungsgeschäften signalisierten. Nur ihre britischen Gastgeber bewahrten in mutlosen Grautönen die Monotonie sozialistischer Einfachheit. Das Stimmengewirr schwoll an, eine Brigade Schürzen tragender Gouvernanten verteilte wellige Salamibrote und warmen Weißwein. Ein höherer britischer Diplomat, doch noch keineswegs der Botschafter, schüttelte die besseren Hände und sagte, er sei sehr erfreut.
Nur Niki Landau hielt sich den Festivitäten fern. Er beugte sich in seinem leeren Stand über den Tisch, zählte die letzten Bestellungen zusammen und prüfte Lieferscheine und Spesen; denn es war Landaus Grundsatz, sich erst dann dem Vergnügen zu widmen, wenn er seine Tagesgeschäfte abgewickelt hatte.
Und diese Sowjetfrau am Rand seines Blickfeldes – sie war nicht mehr als ein zaudernder blauer Fleck – übersah er mit Bedacht. Ärger, dachte er bei seiner Rechnerei. Vermeiden.
Die festliche Stimmung hatte sich Landau nicht mitgeteilt, so festlich ihm sonst auch oft zumute war. Zum einen hegte er seit jeher eine Abneigung gegen die britische Bürokratie, die seinen Vater gezwungen hatte, nach Polen zurückzukehren. Auf die Briten selbst, erzählte er mir später, ließ er nichts kommen. Er war durch Adoption einer von ihnen geworden und verehrte sie mit der Halsstarrigkeit aller Bekehrten. Etwas ganz anderes war es freilich mit den Laffen vom Außenministerium. Und je stolzer die sich gaben, je höhnischer sie ihn angrinsten und die Augenbrauen hoben, desto mehr haßte er sie und dachte an seinen Vater. Zum andern wäre er, hätte er selbst darüber zu befinden gehabt, nie und nimmer zu dieser Phonomesse erschienen, sondern hätte sich in Brighton mit seiner hübschen neuen kleinen Freundin Lydia in einem hübschen kleinen Privathotel verkrochen, wie er es oft mit kleinen Freundinnen machte.
»Bis zur Moskauer Buchmesse im September sollten wir unser Pulver lieber trocken halten«, hatte Landau seinen Kunden in deren Hauptquartier an der westlichen Umgehungsstraße geraten. »Der Iwan liebt Bücher, Bernard, das wissen Sie, aber der Phonomarkt macht ihm angst, und er ist gar nicht darauf eingerichtet. Wenn wir mit der Buchmesse anfangen, können wir absahnen. Wenn wir mit der Phonomesse anfangen, sind wir so gut wie tot.«
Doch Landaus Kunden waren jung und reich und glaubten nicht an den Tod. »Niki, Junge«, sagte Bernard, trat hinter ihn und legte ihm seine Hand auf die Schulter, was Landau nicht mochte, »man muß doch heutzutage Flagge zeigen. Sind wir nicht Patrioten, Niki? So wie Sie. Gerade deshalb haben wir unseren Sitz im Ausland. Jetzt mit Glasnost ist die Sowjetunion der Mount Everest des Phonomarkts. Und Sie werden uns auf den Gipfel führen, Niki. Und wenn Sie’s nicht tun, finden wir jemand anderen. Einen jüngeren, Niki, klar? Einen, der Schwung und Klasse hat.«
Schwung hatte Landau noch. Aber Klasse, wie er selbst als erster eingestand, Klasse fehlte ihm. Er war ein Sonderling, und mehr wollte er nicht sein. Ein dreister, verschrobener polnischer Kümmerling, und er war stolz darauf. Er war der alte Nik, der Frechdachs unter den im Osten reisenden Klinkenputzern, und imstande, wie er gerne prahlte, einem georgischen Kloster schmutzige Bilder oder einer rumänischen Billardkugel Haarwasser zu verkaufen. Er war Landau, der kleinwüchsige Schlafzimmerathlet, der, um seinem Slawenkörper das von ihm so bewunderte englische Maß zu geben, höhere Absätze trug und knallige Anzüge bevorzugte, die »Hier komme ich« pfiffen. Wenn der alte Nik seinen Stand aufbaute, versicherten seine reisenden Kollegen unseren geheimen Ermittlern, konnte man die Glocke an seinem polnischen Krämerkarren klingeln hören.
Und der kleine Landau lachte mit ihnen, beteiligte sich an ihren Späßen: »Leute, ich bin ein Pole, den man nicht so schnell umpolt«, pflegte er stolz zu verkünden, wenn er die nächste Runde bestellte. Auf diese Art brachte er sie dazu, mit ihm zu lachen. Und nicht über ihn. Und dann zog er zur Demonstration seiner Behauptung oft einen Kamm aus der Brusttasche und ging in die Hocke. Und mit Hilfe eines Bildes an der Wand oder irgendeiner anderen polierten Fläche strich er sein allzu schwarzes Haar zurück, zwang es mit beiden kleinen Händen in männliche Fassung, um eine neue Eroberung vorzubereiten. »Wer ist denn die Hübsche da drüben in der Ecke?« sagte er dann in seiner gottlosen Mischung aus Ghetto-Polnisch und East End Cockney. »Hallo, Schätzchen! Warum so traurig und allein heute abend?« Und in einem von fünf Fällen bekam er sie ins Bett, was für Landaus Geschmack eine annehmbare Erfolgsquote war, immer vorausgesetzt, man blieb hartnäckig am Ball.
An diesem Abend aber dachte Landau nicht daran, eine Frau in sein Bett zu bekommen oder die entsprechenden Fragen zu stellen. Er dachte, daß er sich wieder einmal eine ganze Woche für einen Hungerlohn abgeschuftet hatte: oder, wie er sich mir gegenüber anschaulicher äußerte – für einen Nuttenkuß. Und daß ihm in letzter Zeit jede Messe, sei es eine Buchmesse, eine Phonomesse oder sonst etwas dergleichen, genau übrigens wie jede Frau, ein wenig mehr abverlangte, als er sich eingestehen mochte. Und ihm etwas zu wenig dafür zurückgab. Und daß das Flugzeug morgen nach London gar nicht früh genug sein konnte. Und daß er, wenn diese Russin in Blau da nicht bald aufhörte, um ihn herumzuscharwenzeln, während er doch nur seine Bücher abschließen, sein Partylächeln aufsetzen und sich in die jubelnde Menge stürzen wollte, ihr höchstwahrscheinlich etwas in ihrer eigenen Sprache sagen würde, was sie beide ihr Leben lang zu bereuen hätten.
Daß sie Russin war, stand außer Frage. Nur eine Russin würde mit einer Schnäppchentasche aus Plastik am Arm herumlaufen, allzeit bereit für den Zufallskauf, den Triumph des Alltags, auch wenn sonst die meisten Schnäppchentaschen Netze waren. Nur eine Russin wäre so neugierig, daß sie einem beim Rechnen fast über die Schulter sah. Und nur jemand aus Rußland würde seine Störung mit einem solchen kapriziösen Grunzen einleiten; bei einem Mann erinnerte dieses Grunzen Landau immer an seinen Vater, wenn der seine Schuhe schnürte, bei einer Frau ans Bett, Harry.
»Entschuldigen Sie, Sir. Sind Sie der Herr von Abercrombie & Blair?« fragte sie.
»Nicht hier, meine Liebe«, sagte Landau, ohne den Kopf zu heben. Sie hatte englisch gesprochen, also hatte er ihr auf englisch geantwortet; so ging er immer vor.
»Mr. Barley?«
»Nicht Barley, meine Liebe. Landau.«
»Aber das ist Mr. Barleys Stand.«
»Das ist nicht Mr. Barleys Stand. Das ist mein Stand. Abercrombie & Blair ist nebenan.«
Noch immer ohne aufzusehen, wies Landau mit dem Bleistiftende nach links auf den leeren Stand hinter der Trennwand; dort hing eine grüngoldene Tafel mit dem Namen des alten Verlagshauses Abercrombie & Blair, Norfolk Street, Strand.
»Aber der Stand ist leer. Dort ist niemand«, widersprach die Frau. »Gestern war er auch schon nicht besetzt.«
»Stimmt. Nur weiter so«, erwiderte Landau in einem Ton, den jeder nur als abschließend deuten konnte. Ostentativ bückte er sich dann noch tiefer über sein Geschäftsbuch und wartete, daß der blaue Fleck sich entfernte. Was unhöflich von ihm war, das wußte er, und da sie blieb, kam er sich noch unhöflicher vor.
»Aber wo ist Scott Blair? Wo ist der Mann, der Barley genannt wird? Ich muß ihn sprechen. Es ist ganz dringend.«
Inzwischen haßte Landau die Frau aus tiefster Seele.
»Mister Scott Blair«, begann er, ruckte den Kopf hoch und starrte ihr voll ins Gesicht, »von seinen Vertrauten im allgemeinen eher Barley genannt, ist n.e., Madam. Soll heißen, nicht erschienen. Ja – seine Firma hat einen Stand gebucht. Und Mr. Scott Blair ist Vorsitzender, Präsident, Generalgouverneur und, soweit ich weiß, Diktator auf Lebenszeit bei dieser Firma. Aber seinen Stand hat er nicht bezogen –« Er sah ihr in die Augen und verlor allmählich die Fassung. »Hören Sie, meine Liebe, zufällig versuche ich hier meine Brötchen zu verdienen, ja? Und nicht die von Mr. Barley Scott Blair, so sehr ich ihn auch mag.«
Er unterbrach sich, da ritterliche Besorgnis an die Stelle seines flüchtigen Zornes trat. Die Frau zitterte. Nicht nur mit den Händen, die die braune Schnäppchentasche hielten, sondern auch am Hals, denn ihr braves blaues Kleid war mit einem Kragen aus alter Spitze herausgeputzt, und Landau konnte sehen, wie er auf ihrer Haut bebte, die noch weißer war als die Spitzen. Mund und Kinn aber wirkten entschlossen, und ihre Miene beeindruckte ihn.
»Bitte, Sir, haben Sie die Güte und helfen Sie mir«, sagte sie, als bliebe ihr keine andere Wahl.
Landau rühmte sich gern als Frauenkenner. Auch so eine seiner lästigen Prahlereien, jedoch nicht ganz ohne Grund. »Frauen sind mein Hobby, mein ständiges Studienobjekt und meine verzehrende Leidenschaft, Harry«, vertraute er mir an, und er sprach dabei mit der feierlichen Überzeugung eines Freimaurers beim Gelöbnis. Wie viele er gehabt habe, wisse er nicht mehr zu sagen, doch gehe ihre Zahl, wie er mit Freuden vermelde, in die Hunderte; und nicht eine von ihnen habe Anlaß, diese Erfahrung zu bereuen. »Ich spiele mit offenen Karten, wähle mit Bedacht, Harry«, beteuerte er mir, wobei er sich mit dem Zeigefinger an den Nasenflügel tippte. »Keine aufgeschnittenen Pulsadern, keine Ehedramen, keine bösen Worte hinterher.« Wie sehr dies der Wahrheit entsprach, war nie in Erfahrung zu bringen, auch von mir nicht; zweifellos aber kam ihm der Instinkt, der ihn bei seinen Liebschaften geleitet hatte, sehr zustatten, als er sich sein Urteil über die Frau bildete.
Sie war ernst. Sie war intelligent. Sie war entschlossen. Sie hatte Angst, auch wenn ihre dunklen Augen lustig blitzten. Und sie verfügte über jene seltene Eigenschaft, die Landau auf seine blumige Art gern als jene Art von Klasse bezeichnete, die allein die Natur verleihen kann. Anders gesagt, die Frau besaß Format und Kraft. Und da unsere Gedanken in kritischen Momenten nicht einer auf den anderen folgen, sondern eher in Wogen der Erfahrung und Intuition über uns hinwegrauschen, nahm er all dies auf einmal wahr und hatte sich bereits darauf eingelassen, als sie ihn wieder ansprach.
»Ein sowjetischer Freund von mir hat ein bedeutendes literarisches Werk geschrieben«, sagte sie, nachdem sie tief Luft geholt hatte. »Einen Roman. Einen großen Roman. Er ist für die ganze Menschheit von Bedeutung.«
Sie war steckengeblieben.
»Einen Roman«, soufflierte Landau. Und dann, für ihn selbst später unerklärlich: »Wie lautet denn der Titel, meine Liebe?«
Ihre Kraft, stellte er fest, hatte nichts mit Dreistigkeit oder Wahnsinn zu tun, sondern mit Überzeugung.
»Er handelt von Taten, die Worten vorangehen. Er ist gegen eine stufenweise Verwirklichung von Perestroika. Er fordert Taten und lehnt bloß kosmetische Veränderungen ab.«
»Schön«, sagte Landau beeindruckt.
Sie redete wie früher meine Mutter, Harry: mit erhobenem Kinn und dir direkt ins Gesicht.
»Trotz Glasnost und der angeblichen Liberalität der neuen Richtlinien kann der Roman meines Freundes in der Sowjetunion noch nicht erscheinen«, fuhr sie fort. »Mr. Scott Blair hat zugesagt, ihn diskret zu veröffentlichen.«
»Lady«, sagte Landau freundlich, sein Gesicht jetzt nah an ihrem, »wenn der Roman Ihres Freundes von dem großen Haus Abercrombie & Blair verlegt wird, dürfen Sie absoluter Geheimhaltung gewiß sein.«
Er sagte dies teils als Scherz, dem er nicht widerstehen konnte; teils aber auch, weil sein Instinkt ihm riet, dem Gespräch das Steife zu nehmen und es etwaigen Beobachtern weniger verdächtig erscheinen zu lassen. Ob sie den Scherz nun verstand oder nicht, die Frau lächelte zurück, ein rasches warmes Lächeln der Selbstermunterung, als hätte sie ihre Ängste besiegt.
»Nun, Mr. Landau, wenn Sie den Frieden lieben, nehmen Sie das Manuskript bitte mit nach England und geben es unverzüglich an Mr. Scott Blair weiter. Und nur an Mr. Scott Blair. Es ist ein Geschenk zu treuen Händen.«
Danach ging alles sehr schnell: Transaktion an einer Straßenecke, williger Händler und williger Kunde. Zunächst blickte Landau hinter sie, an ihrer Schulter vorbei. Er tat dies zu seinem und auch zu ihrem Schutz. Seiner Erfahrung nach hatten die Rußkis, wenn sie etwas im Schilde führten, immer noch mehr Leute in der Nähe. Doch dieser Teil des Versammlungsraums war leer, der Bereich mit den Ständen unter der Galerie war dunkel, und die Gesellschaft in der Mitte des Raums redete laut durcheinander. Die drei Kerle in Lederjacken an der Eingangstür sprachen schläfrig miteinander.
Nachdem er rundherum alles gecheckt hatte, las er den Namen der Frau auf dem Plastikschild an ihrem Revers, was er normalerweise schon früher getan hätte, aber ihre schwarzbraunen Augen hatten ihn abgelenkt. »Jekaterina Orlowa« stand da. Und darunter das Wort »Oktober« in englischer und russischer Schreibweise, das war der Name von einem der kleineren Moskauer Staatsverlage, die auf Übersetzungen sowjetischer Bücher für den Export spezialisiert waren, hauptsächlich in andere sozialistische Länder, was ihn, wie ich fürchte, zu einem ziemlichen Schattendasein verurteilte.
Als nächstes sagte er ihr, was zu tun sei, oder vielleicht sagte er dies auch schon, während er ihr Namensschild las. Landau war ein Straßenjunge, mit allen Wassern gewaschen. Die Frau mochte tapfer sein wie sechs Löwen, und so, wie sie aussah, war sie das wohl auch. Aber eine Verschwörerin war sie nicht. Deshalb nahm er sie, ohne zu zögern, unter seine Fittiche. Und dabei sprach er zu ihr wie zu jeder anderen Frau, die seines höchst wichtigen Rates bedurfte: etwa, wo sein Hotelzimmer zu finden war oder was sie ihrem Alten erzählen sollte, wenn sie nach Hause kam.
»Sie haben es doch bei sich, meine Liebe?« fragte er, schielte nach der Schnäppchentasche und lächelte wie ein Freund.
»Ja.«
»Da drin, oder?«
»Ja.«
»Dann geben Sie mir unauffällig die ganze Tasche«, sagte Landau und redete weiter, während sie das tat. »So ist’s recht. Nun geben Sie mir einen freundschaftlichen russischen Kuß. Ganz formell. Schön. Sie haben mir einfach am letzten Abend der Messe ein offizielles Abschiedsgeschenk überreicht. Etwas, das die englisch-sowjetischen Beziehungen festigt und mir für den Rückflug Übergewicht einbringt, falls ich das Paket nicht am Flughafen in den Papierkorb werfe. Völlig normaler Vorgang. Ich dürfte heute bereits ein halbes Dutzend solcher Geschenke erhalten haben.«
Einiges davon sagte er, während er ihr den Rücken zuwandte und in die Hocke ging. Denn er hatte in die Tasche gegriffen, das in Packpapier gewickelte Paket bereits daraus hervorgezogen und ließ es jetzt geschickt in seine Aktentasche fallen, die ein Erzeugnis aus der Heimat war, sehr geräumig und mit vielen auseinanderklappenden Fächern.
»Wir sind doch verheiratet, Katja?«
Keine Antwort. Vielleicht hatte sie ihn nicht gehört. Oder sie war zu sehr damit beschäftigt, ihm zuzusehen.
»Ihr Mann hat also diesen Roman geschrieben?« sagte Landau, von ihrem Schweigen unbeeindruckt.
»Es ist gefährlich für Sie«, flüsterte sie. »Sie müssen an das glauben, was sie tun. Dann geht alles gut.«
Als hätte er diese Warnung völlig überhört, wählte Landau aus einem Stapel Muster, die er zum Verschenken für diesen Abend bereitgelegt hatte, einen Viererpack mit der eigens in Auftrag gegebenen Sommernachtstraum-Lesung der Royal Shakespeare Company, legte die Plastikbox demonstrativ auf den Tisch und signierte sie mit einem Filzstift: »Von Niki für Katja, Frieden«, und das Datum. Dann verstaute er die Schachtel feierlich in der Schnäppchentasche, klappte die Henkel zusammen und drückte ihr die Tasche in die Hand; Katja wurde nämlich ganz teilnahmslos, und er fürchtete, sie könnte zusammenbrechen oder aus ihrer Rolle fallen. Während er ihre Hand festhielt, die kalt, aber hübsch war, wie er mir erzählte, gab er ihr jetzt erst die Versicherung, um die es ihr zu gehen schien.
»Wir alle müssen ab und zu mal was riskieren, nicht wahr, meine Liebe?« sagte Landau leichthin. »Wollen wir der Party noch die Ehre geben?«
»Nein.«
»Vielleicht irgendwo schön essen gehen?«
»Das wäre nicht günstig.«
»Soll ich Sie zur Tür bringen?«
»Nicht nötig.«
»Ich denke, wir sollten lächeln, meine Liebe«, sagte er, noch immer in Englisch, als er sie durch den Saal begleitete, und schwatzte auf sie ein, wieder ganz der alte Verkäufer.
An der breiten Treppe schüttelte er ihr die Hand. »Sehen wir uns auf der Buchmesse? September. Und danke für die Warnung, ja? Werd’s beherzigen. Aber die Hauptsache ist doch, wir haben ein gutes Geschäft gemacht. Das ist immer was Feines, stimmt’s?«
Sie nahm seine Hand und schien daraus Mut zu schöpfen, denn sie lächelte wieder, benommen, aber dankbar und mit fast unwiderstehlicher Wärme.
»Mein Freund hat eine große Geste gemacht«, erklärte sie, während sie eine widerspenstige Locke zurückschob. »Bitte sehen Sie zu, daß Mr. Barley sich dessen bewußt ist.«
»Ich sag’s ihm. Keine Sorge«, sagte Landau unbekümmert.
Er hätte gern noch ein Lächeln nur für sich allein gehabt, aber sie hatte jedes Interesse an ihm verloren. Sie wühlte in der Tasche nach ihrer Karte, die sie bis dahin, wie er bemerkt hatte, vergessen hatte. ORLOWA, Jekaterina Borisowna, stand darauf; auf der einen Seite in kyrillischer, auf der anderen in lateinischer Schrift, auch der Name Oktober wieder in beiden Schriftarten. Sie gab ihm die Karte und schritt dann steif die pompöse Treppe hinab, mit erhobenem Kopf und einer Hand auf dem breiten Marmorgeländer, in der anderen hielt sie die Schnäppchentasche. Die Burschen in Lederjacken verfolgten sie mit den Blicken bis hinunter ins Foyer. Während Landau die Karte zu dem halben Dutzend anderer, die er in den letzten zwei Stunden gesammelt hatte, in seine Brusttasche steckte, beobachtete er die Kerle dabei und zwinkerte ihnen zu. Und nach reiflicher Überlegung zwinkerten sie zurück, denn im Zeichen der neuen Offenheit durfte ein guter russischer Hüftschwung für das angesehen werden, was er war, selbst von einem Ausländer.
Für die verbleibenden fünfzig Minuten widmete sich Landau voll und ganz der Party. Sang und tanzte für eine verbiesterte schottische Bibliothekarin mit Perlenkette. Gab zwei blassen Zuhörern von der Staatlichen Copyright-Agentur VAAP eine politische Anekdote über Mrs. Thatcher zum besten, bis sie plötzlich in wildes Gelächter ausbrachen. Hofierte drei Damen vom Verlag Fortschritt und beschenkte sie nach drei raschen Abstechern zu seiner Aktentasche nacheinander mit einem Andenken an seinen Aufenthalt; denn Landau war der geborene Schenker und erinnerte sich an Namen und Versprechen, wie an so manches andere, so klar und deutlich, wie nur ein unbeschwerter Geist es kann. Aber die ganze Zeit über behielt er seine Aktentasche unauffällig im Blick und hatte sie, noch ehe die Gäste gingen und während er sich von ihnen verabschiedete, in der freien Hand. Und als er in dem Privatbus saß, der die Vertreter in ihr Hotel zurückbrachte, lag sie auf seinen Knien; Spikey Morgan stimmte wie üblich ein paar melodische Rugbysongs an, und Landau sang mit.
»Wir haben Damen unter uns, Leute«, mahnte Landau, stand auf und gebot Schweigen an den Stellen, die er für vulgär hielt. Doch auch während er den großen Dirigenten spielte, brachte er es fertig, die Aktentasche immer gut festzuhalten.
Am Hoteleingang lungerte die übliche Horde von Zuhältern, Drogenhändlern und Schwarztauschern herum und musterte zusammen mit ihren Aufpassern vom KGB die Ankömmlinge. Aber Landau fand ihr Verhalten nicht beunruhigend, weder besonders wachsam noch übertrieben unauffällig. Der verkrüppelte Veteran, der den Durchgang zu den Aufzügen bewachte, wollte wie gewöhnlich seinen Hotelpaß sehen, doch als ihn Landau, der ihm schon hundert Marlboros geschenkt hatte, anklagend auf russisch fragte, wieso er heute abend nicht ausgehe und mit seiner Freundin flirte, lachte er rasselnd auf und schlug ihm kumpelhaft auf die Schulter.
»Wenn die mir was anhängen wollen, sollten sie sich besser beeilen, sonst wird die Spur kalt, dachte ich, Harry«, erzählte er mir und betrachtete die Sache von der Gegenseite aus, nicht von seiner. »Wenn man einem was anhängen will, Harry, muß man schnell machen, solange das Beweisstück noch am Opfer klebt«, erklärte er, als hätte er sein Leben lang anderen Leuten was angehängt.
»Also dann, Nationalbar, neun Uhr«, sagte Spikey Morgan müde zu ihm, als sie sich im vierten Stock hinausgekämpft hatten.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht, Spikey«, gab Landau zurück. »Ehrlich gesagt, ich bin nicht ganz in Form.«
»Na Gott sei Dank«, sagte Spikey gähnend und schlurfte unter den finsteren Blicken der Etagenwärterin in ihrer Pferdebox in seinen dunklen Korridor.
An seiner Zimmertür holte Landau tief Luft, bevor er den Schlüssel ins Schloß steckte. Jetzt müßten sie’s machen, dachte er. Hier und jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt, mich mit dem Manuskript zu schnappen.
Doch als er eintrat, war das Zimmer leer und unberührt, und er kam sich idiotisch vor, daß er etwas anderes erwartet hatte. Bin noch am Leben, dachte er und stellte die Aktentasche aufs Bett.
Dann zog er die taschentuchgroßen Vorhänge so weit zu, wie es ging, das heißt bis etwa zur Hälfte, hängte das nutzlose »Nicht stören«-Schild an die Tür und schloß ab. Er leerte seine Anzugtaschen einschließlich der Tasche, in der er die ihm überreichten Visitenkarten aufbewahrte, legte Jackett und Krawatte ab, dann seine Metallarmbänder und schließlich sein Hemd. Von dem Zitronenwodka aus dem Kühlschrank goß er sich einen Fingerbreit ein und nippte daran. Landau war eigentlich kein Trinker, wie er mir erklärte, aber in Moskau trank er gern mal einen Zitronenwodka, um den Tag zu beschließen. Er nahm das Glas mit ins Badezimmer, stellte sich vor den Spiegel und untersuchte geschlagene zehn Minuten lang seine Haarwurzeln auf weiße Ansätze; anstößige Stellen retuschierte er mit Hilfe eines neuen Mittels, das wahre Wunder wirkte. Nachdem er diese Arbeit zu seiner Zufriedenheit beendet hatte, umwickelte er seinen Schädel kunstvoll mit einem Gummiturban, einer Art Badehaube, stieg unter die Dusche und sang gar nicht so schlecht dazu »I am the very model of a modern major-general«. Dann trocknete er sich seinem Muskeltonus zuliebe kräftig ab, schlüpfte in einen grellgeblümten Bademantel und marschierte, noch immer singend, ins Schlafzimmer zurück.
Teils machte er das alles, weil er es immer so machte und er die beruhigende Vertrautheit solcher Routinehandlungen nötig hatte; teils aber auch, weil er stolz darauf war, daß er ausnahmsweise einmal alle Vorsicht in den Wind geschlagen und sich die Sache nicht mit fünfundzwanzig vernünftigen Gründen ausgeredet hatte, was ohne weiteres hätte geschehen können.
Sie war eine Dame, sie hatte Angst, sie brauchte Hilfe, Harry. Wann hätte Niki Landau einer Dame je etwas abgeschlagen? Und wenn er sich in ihr irrte, nun, dann hatte sie ihn eben furchtbar zum Narren gehalten, und er könnte genausogut gleich seine Zahnbürste einpacken und sich am Eingang der Lubjanka zu einem fünfjährigen Studium der großartigen Graffiti melden. Weil es eher noch zwanzigmal idiotischer gewesen wäre, diese Frau ohne jeden Grund abzuweisen. Und mit diesen Worten, die er freilich nur dachte, da er stets mit versteckten Mikrofonen rechnete, zog Landau ihr Paket aus der Aktentasche und begann, mit einer gewissen Scheu die Kordel aufzuknoten, ohne sie zu zerschneiden, so wie es ihn seine heilig gehaltene Mutter gelehrt hatte, deren Foto auch jetzt getreu in seiner Brieftasche ruhte. Sie strahlen die gleiche Wärme aus, erkannte er erfreut, während er geduldig an dem Knoten nestelte. Das macht die slawische Haut. Die slawischen Augen, das Lächeln. Zwei hübsche Slawinnen. Mit dem einen Unterschied, daß Katja nicht nach Treblinka gekommen war.
Endlich gab der Knoten nach. Landau rollte die Schnur zusammen und legte sie aufs Bett. Ich muß es wissen, meine Liebe, erklärte er Jekaterina Orlowa, die vor seinem geistigen Auge stand. Ich bin kein Schnüffler, ich bin nicht neugierig, aber wenn ich was durch den Moskauer Zoll schmuggeln soll, kann es nur hilfreich sein, wenn ich weiß, was ich vorbeischmuggle.
Behutsam, um es nicht zu zerreißen, zog Landau mit beiden Händen das Packpapier auseinander. Er sah sich nicht als Helden, jedenfalls noch nicht. Was für eine Moskauer Schönheit gefährlich war, brauchte es nicht für ihn zu sein. Er hatte wahrlich eine harte Jugend hinter sich. Das Londoner East End war nicht gerade ein Kurort für einen zwölfjährigen polnischen Einwanderer, und Landau waren aufgeschlagene Lippen, gebrochene Nasen, zerschundene Knöchel und Hunger nicht erspart geblieben. Aber wenn man ihn jetzt oder irgendwann in den letzten dreißig Jahren gefragt hätte, was er sich unter einem Helden vorstellte, hätte er, ohne nachzudenken, geantwortet, ein Held sei derjenige, der als erster durch die Hintertür verschwände, wenn wieder mal nach Freiwilligen gerufen würde.
Eins aber wußte er, als er den Inhalt dieses Packpapiers anstarrte: Er stand unter Strom. Warum das so war, könnte er später klären, wenn es nichts Besseres zu tun gab. Aber wenn es an diesem Abend eine knifflige Aufgabe zu lösen galt, war Niki Landau genau der Richtige dafür. Denn wenn Niki unter Strom steht, Harry, ist er einfach unschlagbar, da kannst du jedes Mädchen fragen.
Als erstes sah er den Briefumschlag. Er registrierte die drei Notizbücher darunter und sah, daß Umschlag und Notizbücher von einem dieser dicken Gummibänder zusammengehalten wurden, wie er sie immer aufbewahrte, aber nie zu verwenden wußte. Doch was ihn stutzen ließ, war der Umschlag, der mit ihrer Handschrift versehen war – einer akkuraten Schönschreibschrift, die sein reines Bild von ihr bestätigte. Ein rechteckiger brauner Umschlag, der ziemlich unsauber zugeklebt war und die Aufschrift trug: »An Mr. Bartholomew Scott Blair persönlich, dringend.«
Landau zog den Umschlag aus dem Gummiband und hielt ihn gegen das Licht, aber er war undurchsichtig und ließ keine Schatten erkennen. Er untersuchte ihn zwischen Finger und Daumen. Ein Blatt dünnes Papier drin, höchstens zwei. Mr. Scott Blair hat zugesagt, ihn diskret zu veröffentlichen, erinnerte er sich. Mr. Landau, wenn Sie den Frieden lieben … geben Sie es unverzüglich an Mr. Scott Blair weiter. Und nur an Mr. Scott Blair, es ist ein Geschenk zu treuen Händen. Mir vertraut sie auch, dachte er. Er drehte den Umschlag um. Die Rückseite war leer.
Und da man einem verschlossenen braunen Umschlag nicht sonderlich viel entnehmen konnte und da es nicht Landaus Art war, die Privatpost von Barley oder sonst irgendwem zu lesen, machte er seinen Aktenkoffer wieder auf, spähte in das Fach mit dem Schreibpapier und zog einen seiner normalen hellbraunen Briefumschläge hervor, auf dessen Verschlußlasche geschmackvoll die Worte gedruckt waren »Überreicht von Mr. Nicholas P. Landau«. Dann schob er den braunen Umschlag in den hellbraunen; diesen verschloß er, kritzelte den Namen »Barley« darauf und steckte ihn in das Fach »Gesellschaftliches«, in dem er Kuriositäten aufbewahrte wie etwa Visitenkarten, die ihm von Fremden aufgedrängt worden waren, oder Notizen über alle möglichen Besorgungen, die er für irgendwelche Leute übernommen hatte – zum Beispiel für die Verlagsdame, die neue Minen für ihren Parker-Kugelschreiber brauchte, oder für den Beamten des Kultusministeriums, der ein Snoopy-T-Shirt für seinen Neffen haben wollte, oder für die Dame von Oktober, die einfach zufällig vorbeikam, als er gerade seinen Stand aufräumte.
Und Landau tat dies, weil sein angeborener Händlerinstinkt ihm sagte, daß er den Umschlag vor allem so weit wie möglich von den Notizbüchern entfernt aufbewahren mußte. Falls die Notizbücher heiß waren, sollten sie durch nichts mit dem Brief in Verbindung gebracht werden können. Und umgekehrt. Und das machte er richtig. Auch unsere vielseitigsten und erfahrensten Ausbilder, die wahrlich auf allen Meeren der Welt unseres Dienstes zu Hause sind, hätten es ihm keinen Deut anders gesagt.
Nun erst nahm er die drei Notizbücher und streifte das Gummiband ab; mit einem Ohr horchte er dabei ständig nach Schritten auf dem Flur. Drei schmuddelige russische Notizbücher, überlegte er, als er das oberste nahm und langsam umdrehte. In grob gemusterte Pappe gebunden, das Leinen am Rücken zerfranst. Zweihundertvierundzwanzig Seiten minderer Qualität, fein liniertes Quartformat, falls Landau sich richtig an die Zeiten erinnerte, als er noch mit Schreibwaren gehandelt hatte, sowjetischer Einzelhandelspreis etwa zwanzig Kopeken, in jeder guten Schreibwarenhandlung zu haben, immer vorausgesetzt, daß die Lieferung angekommen war und man am richtigen Tag in der richtigen Schlange stand.
Schließlich klappte er das Notizbuch auf und starrte die erste Seite an.
Die tickt nicht richtig, dachte er und kämpfte gegen seinen Ekel an.
Die ist in den Händen eines Spinners. Armes Mädchen.
Sinnloses Zeug, von einem Verrückten mit Kartographierstift und Tusche in halsbrecherischem Tempo schief und krumm hingekritzelt. Auf die Ränder, kreuz und quer. Noch mal diagonal über alles wie eine unleserliche Arzthandschrift. Übersät mit affigen Ausrufezeichen und Unterstreichungen. Einiges in Kyrillisch, einiges in Englisch. »Der Schöpfer schöpft Schöpfer«, las er auf englisch. »Sein. Nichtsein. Gegensein.« Gefolgt von einem albernen französischen Erguß über den Krieg der Torheit oder die Torheit des Krieges und einem Stacheldrahtverhau. Na vielen Dank, dachte er und blätterte die nächsten Seiten auf, die mit dem verrückten Zeug so dicht bedeckt waren, daß man kaum noch das Papier sah. »Nachdem wir den Willen des Volkes siebzig Jahre lang unterdrückt haben, können wir nicht erwarten, daß er sich plötzlich erhebt und uns rettet«, las er. Ein Zitat? Ein Nachtgedanke? Unmöglich, das festzustellen. Anspielungen auf Schriftsteller, russische, römische, europäische. Gerede von Nietzsche, Kafka und solchen, die er nicht kannte, geschweige denn gelesen hatte. Dann wieder über den Krieg, diesmal auf englisch: »Die Alten erklären ihn, die Jungen tragen ihn aus, aber heute tragen ihn auch die Säuglinge und Greise aus.« Auf der nächsten Seite war nichts als ein runder brauner Fleck. Er hob das Notizbuch an die Nase und schnüffelte. Alkohol, dachte er voller Verachtung. Stinkt wie eine ganze Brauerei. Kein Wunder, daß er mit Barley Blair befreundet ist. Dann eine Doppelseite mit einer Reihe hysterischer Ausrufe:
– UNSER GRÖSSTER FORTSCHRITT LIEGT AUF DEM FELD DER RÜCKSTÄNDIGKEIT!
– DIE SOWJETISCHE LÄHMUNG IST DIE FORTSCHRITTLICHSTE DER WELT!
– UNSERE RÜCKSTÄNDIGKEIT IST UNSER GRÖSSTES MILITÄRISCHES GEHEIMNIS!
– WENN WIR UNSERE ABSICHTEN UND SCHLAGKRAFT SELBST NICHT KENNEN, WIE KÖNNEN WIR DANN EURE KENNEN?
– DER WAHRE FEIND IST UNSERE EIGENE UNFÄHIGKEIT!
Und auf der nächsten Seite ein Gedicht, sorgfältig von weiß der Himmel woher abgeschrieben:
Er drahtet hin und drahtet herUnd läßt die Leute doch nicht wissen,Ob die Spur der Schlange nunNach Süden oder rückwärts führt.
Landau rappelte sich hoch, trat wütend ans Fenster und sah auf einen finsteren Hof, in dem sich alte Abfälle stapelten.
»Ein verrückter Wortartist, Harry. Das war mein Eindruck. Irgend so ein langhaariges, drogensüchtiges, hemmungsloses Genie, und sie hat sich ihm an den Hals geworfen, wie sie’s alle tun.«
Zum Glück für sie hatte er kein Moskauer Telefonbuch zur Hand, sonst hätte er sie angerufen und ihr den Kopf gewaschen.
Um seinen Zorn noch mehr anzuheizen, nahm er das zweite Buch, befeuchtete die Fingerspitze und blätterte es schnell und verächtlich Seite für Seite durch, wobei er schließlich auf die Zeichnungen stieß. Und da flackerte eine große Leere in ihm auf, wie wenn mitten in einem Film die weiße Leinwand aufblitzt, und er verfluchte sich, daß er ein impulsiver kleiner Slawe war und kein cooler besonnener Engländer. Dann setzte er sich wieder aufs Bett, aber vorsichtig, als ob jemand darauf schliefe, den er mit seiner vorschnellen Verdammung verletzt haben könnte.
Denn so sehr Landau verachtete, was man allzuoft als Literatur gelten ließ, so unbegrenzt konnte er sich an technischen Dingen erfreuen. Eine ordentliche Seite voller Mathematik konnte er tagelang genießen, auch wenn er überhaupt nicht begriff, was er da betrachtete. Und er erkannte auf den ersten Blick, genau wie zuvor bei Katja, daß er hier etwas Solides vor Augen hatte. Gewiß, keine abgezirkelten Zeichnungen. Flüchtige Skizzen, deshalb aber um so besser. Mit freier Hand, ohne Hilfsmittel von jemandem gezeichnet, der mit dem Bleistift denken konnte. Tangenten, Parabeln, Kegel. Und dazwischen Fachausdrücke, wie Architekten oder Ingenieure sie benutzen, Worte wie »Zielpunkt« und »Reichweite«, »Neigungswinkel« und »Schwerkraft« und »Flugbahn« – »einiges in Englisch, Harry, und einiges in Russisch«.
Obwohl Harry nicht mein richtiger Name ist.
Doch als er begann, diese gestochen schön geschriebenen Worte im zweiten Buch mit dem wuchernden Dschungel im ersten zu vergleichen, mußte er zu seinem Erstaunen gewisse unverkennbare Ähnlichkeiten feststellen. So daß er das Gefühl hatte, eine Art schizophrenes Tagebuch zu betrachten, Band 1 verfaßt von Dr. Jekyll, Band 2 von Mr. Hyde.
Er warf einen Blick in das dritte Notizbuch, das ebenso ordentlich und bedeutungsvoll war wie das zweite, nur daß es wie ein mathematisches Tagebuch angelegt war mit Daten und Zahlen und Formeln; dazwischen tauchte wiederholt das Wort »Fehler« auf, oft unterstrichen oder mit einem Ausrufezeichen versehen. Und auf einmal war Landau gefesselt, konnte er den Blick nicht abwenden von dem, was er da las. Denn plötzlich hatte die anheimelnde Unverständlichkeit der technischen Fachsprache des Verfassers aufgehört. Ebenso sein philosophisches Gefasel und die erstklassigen Zeichnungen mit Anmerkungen. Die Worte sprangen mit greller Klarheit vom Blatt.
»Die amerikanischen Strategen können ruhig schlafen. Ihre Alpträume können nicht Realität werden. Der sowjetische Ritter stirbt in seiner Rüstung. Er ist eine untergeordnete Macht wie Ihr Großbritannien. Er kann einen Krieg beginnen, aber nicht führen und gewinnen. Glauben Sie mir.«
Landau sah weg. Ein Gefühl von Respekt, gemischt mit einem starken Selbsterhaltungsinstinkt, sagte ihm, er habe die Grabesruhe nun lange genug gestört. Er legte die drei Notizbücher zusammen, nahm das Gummiband und ließ es wieder darüberschnappen. Das wär’s, dachte er. Von jetzt ab kümmere ich mich um meine Angelegenheiten und erfülle meine Pflicht. Das heißt, das Manuskript in mein adoptiertes England zu bringen und unverzüglich an Mr. Bartholomew Scott Blair alias Barley weiterzugeben.
Barley Blair, dachte er verwundert, als er seinen Schrank öffnete und den großen Aluminium-Handkoffer herauswuchtete, in dem er seine Muster aufbewahrte. Tjaja. Wie oft haben wir uns gefragt, ob wir einen Spion an unserem Busen nährten, und jetzt wissen wir’s.
Landau war vollkommen ruhig, wie er mir versicherte. Wieder einmal hatte der Engländer das Kommando über den Polen übernommen: »Wenn Barley das konnte, konnte ich es auch, Harry, hab ich mir gesagt.« Und mir sagte er das auch, als er mich für kurze Zeit zu seinem Beichtvater ernannte. So was tun die Leute schon mal mit mir. Sie nehmen den unverwirklichten Teil meiner selbst wahr und reden mit ihm, als wäre er wirklich.
Er hob den Koffer aufs Bett, ließ die Schlösser aufspringen und nahm zwei audiovisuelle Einheiten heraus, die er auf Anordnung der sowjetischen Behörden aus seiner Auslage entfernt hatte – eine bebilderte Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts mit gesprochenem Kommentar, der willkürlich als anti-sowjetisch eingestuft worden war, und ein Handbuch des menschlichen Körpers mit Übungsbildern und Trimm-dich-Kassette, das die Beamten, nachdem sie die gelenkige Göttin in der Gymnastikhose verlangend angestiert hatten, für pornographisch erklärten.
Die Geschichts-Einheit war auf Glanzpapier gedruckt, wie ein Bildband aufgemacht und enthielt etliche Fächer für Kassetten, Begleittexte, fortlaufende Vokabelkarten und Notizen. Nachdem Landau diese Fächer geleert hatte, versuchte er, die Notizbücher darin unterzubringen, doch sie paßten nicht. Er beschloß, zwei Fächer in eins umzuwandeln; holte eine Nagelschere aus seinem Kulturbeutel, machte sich mit ruhiger Hand an die Arbeit und löste behutsam die Stahlklammern aus dem Falz in der Mitte.
Barley Blair, dachte er wieder, als er die Spitze der Nagelschere hineinbohrte. Ich hätt’s mir denken können, und wenn auch nur, weil du der einzige warst, der es eigentlich nicht sein konnte. Mr. Bartholomew Scott Blair, letzter Sproß von Abercrombie & Blair – Spion. Die erste Klammer hatte sich gelockert. Er zog sie vorsichtig heraus. Barley Blair, der nicht mal einem reichen Pferd Heu verkaufen konnte, wenn es darum ging, seine sterbende Mutter an ihrem Geburtstag zu retten, wie wir zu sagen pflegten: ein Spion. Er begann nun, die zweite Klammer umzubiegen. Der seinen Ruhm hauptsächlich darauf gründete, daß er vor zwei Jahren auf der Belgrader Buchmesse Spikey Morgan mit Wodka pur unter den Tisch getrunken und dann die Band so wunderbar auf dem Tenorsaxophon begleitet hatte, daß sogar die Polizei applaudierte. Ein Spion. Ein Gentleman-Spion. Na, hier ist ein Brief von deiner Lady, wie es im Kinderlied heißt.
Er nahm die Notizbücher und versuchte, sie in den entstandenen Raum einzupassen, aber der reichte immer noch nicht. Er würde ein drittes Fach hinzunehmen müssen.
Den Säufer spielen; Landau kam mit seinen Gedanken nicht von Barley los. Den Narren spielen und uns zum Narren halten. Den Rest deines Familienvermögens verpulvern, das Ende der alten Firma noch schneller herbeiführen. O ja. Nur daß du es irgendwie immer geschafft hast, dir von einem dieser smarten City-Banker gerade noch aus der Patsche helfen zu lassen, war’s nicht so? Und wie paßt deine Schachspielerei dazu? Das hätte ein Hinweis sein können, wenn Landau nur Augen dafür gehabt hätte! Wie kann ein Mann, der sich um den Verstand gesoffen hat, jeden X-beliebigen im Schach schlagen, Harry – ohne Schmu –, es sei denn, er ist ein ausgebildeter Spion?
Die drei Fächer waren jetzt ein Fach, die Notizbücher paßten halbwegs hinein, darüber stand noch der Aufdruck »Notizen«.
»Notizen«, erklärte Landau in Gedanken dem wißbegierigen jungen Zollbeamten am Scheremetjewo-Flughafen. »Notizen, mein Sohn, dort steht’s ja. In diesem Fach kann der Schüler seine Notizen unterbringen. Und die Notizen, die Sie da in der Hand halten, stammen von einem Teilnehmer an diesem Kurs. Ich habe sie zu Demonstrationszwecken mitgenommen, verstehen Sie? Und diese Zeichnungen, die beziehen sich auf –«
Auf sozioökonomische Strukturen, mein Sohn. Auf demographische Verschiebungen. Auf Bevölkerungsstatistiken, von denen ihr Rußkis doch nie genug bekommen könnt, oder? Hier schon mal reingesehen? Das ist ein Aerobic-Buch.
Womit Landau seine Haut unter Umständen retten könnte, was davon abhinge, wie clever der Junge wäre und wieviel sie bereits wußten und wie sie an diesem Tag mit ihren Frauen klargekommen waren.
Doch in der langen Nacht, die vor ihm lag, und bei der Razzia im Morgengrauen, wenn sie die Tür eintreten und mit gezückten Pistolen hereinplatzen und brüllen würden: »Also, Landau, her mit den Notizbüchern!« – in diesem glücklichen Augenblick würde ihm die Sache mit dem Geschichtswerk herzlich wenig nützen. »Notizbücher, Wachtmeister? Notizbücher? Ach, Sie meinen diesen Haufen Müll, den mir irgendeine russische Schönheit gestern abend aufgedrängt hat. Die werden Sie wohl noch im Papierkorb finden, Wachtmeister, falls das Mädchen ihn nicht ausnahmsweise geleert haben sollte.«
Auch für diesen Fall bereitete Landau sorgfältig alles vor. Er nahm die Notizbücher wieder aus dem Fach und arrangierte sie kunstvoll im Papierkorb, so, als hätte er sie in seiner spontanen Wut nach dem ersten flüchtigen Blick dort hineingeschleudert. Damit sie nicht so allein dort lägen, warf er auch noch sein übriggebliebenes Informationsmaterial und Prospekte dazu und schließlich ein paar nutzlose Abschiedsgeschenke, die er erhalten hatte: den schmalen Band eines weiteren russischen Dichters, einen Tintenlöscher mit Blechrücken. Als letzten Touch fügte er ein paar ungestopfte Socken bei, wie nur ein reicher Westler sie wegwirft.
Wieder einmal muß ich, wie wir alle später, Landaus ungeschulten Einfallsreichtum bewundern.
Landau ging in dieser Nacht nicht zum Spielen aus. Er ertrug die vertraute Gefangenschaft seines Moskauer Hotelzimmers. Vom Fenster aus sah er die lange Dämmerung zur Nacht werden und die trüben Lichter der Stadt widerstrebend aufstrahlen. Er machte sich Tee in seinem kleinen Reisekocher und aß ein paar Fruchtriegel aus seiner eisernen Ration. Er dachte dankbar an die vollkommenste seiner Eroberungen. Lächelte wehmütig über andere. Er wappnete sich gegen Schmerzen und Einsamkeit und rief sich zur Unterstützung seine harte Kindheit ins Gedächtnis. Er ging Brieftasche, Aktenkoffer und Anzugtaschen durch und nahm alles heraus, was für ihn von besonderem persönlichem Wert war und wofür er sich nicht an einem kahlen Tisch verantworten wollte – einen scharfen Brief, den eine kleine Freundin ihm vor Jahren geschickt hatte und der ihm auch heute noch Appetit machen konnte; die Mitgliedskarte eines gewissen Videoversandklubs, dem er angehörte. Zunächst wollte er »die Sachen wie im Film verbrennen«, doch hielt ihn der Anblick der Rauchmelder an der Decke davon ab, obwohl er jeden Betrag gewettet hätte, daß sie nicht funktionierten.
Also riß er alles in winzige Schnipsel, steckte diese in eine Papiertüte und ließ sie aus dem Fenster zu dem anderen Müll im Hof fallen. Danach streckte er sich auf dem Bett aus und sah der Dunkelheit zu. Manchmal kam er sich mutig vor, dann wieder hatte er solche Angst, daß er die Fingernägel in die Handflächen grub, so sehr mußte er an sich halten. Einmal schaltete er den Fernseher an in der Hoffnung auf gutgebaute kleine Turnerinnen, die er gern anschaute. Aber statt dessen bekam er den Imperator selbst zu sehen, wie er seinen bestürzten Kindern zum zigsten Mal erklärte, daß die alte Ordnung keine Kleider habe. Und als Spikey Morgan, bestenfalls halb betrunken, von der Bar des National bei ihm anrief, hielt Landau ihn zur Gesellschaft am Apparat, bis der alte Spikey eingeschlafen war.
Nur einmal, als seine Stimmung auf dem Tiefpunkt war, kam es Landau in den Sinn, sich bei der Britischen Botschaft zu melden und sein Problem mit Hilfe der Diplomatenpost zu lösen. Seine vorübergehende Schwäche machte ihn wütend. »Diese Lakaien?« fragte er sich höhnisch. »Die meinen Vater nach Polen zurückgeschickt haben? Denen würde ich nicht mal eine Ansichtskarte vom Eiffelturm anvertrauen, Harry.«
Im übrigen war es nicht das, worum sie ihn gebeten hatte.
Am Morgen zog er sich zu seiner Hinrichtung an, den besten Anzug, und steckte sich das Foto seiner Mutter unters Hemd.
Und so sehe ich Niki Landau noch immer vor mir, wenn ich mir seine Akte anschaue oder ihn zu unserer halbjährlichen sogenannten Auffrischung in Empfang nehme, wo er dann gern noch einmal von seiner glorreichen Stunde erzählt, bevor er ein weiteres Mal seine Unterschrift unter die Erklärung zur Schweigepflicht setzt: Ich sehe ihn unbekümmert mit seinem Metallkoffer auf jene Moskauer Straße treten, ohne die geringste Ahnung, was er da bei sich trägt, aber fest entschlossen, seinen tapferen kleinen Hals dafür zu riskieren.
Wie er mich sieht, falls er je an mich denkt, wage ich mir gar nicht vorzustellen. Hannah, die ich geliebt, aber enttäuscht habe, würde keinerlei Zweifel darüber hegen. »Als einen dieser Engländer halt, die nach außen hin Hoffnung ausstrahlen, aber keine im Herzen haben«, würde sie sagen, zornrot im Gesicht. Denn ich fürchte, heute spricht sie alles aus, was ihr einfällt. Viel von ihrer alten Nachsicht ist dahin.
Ganz Whitehall war sich einig, daß keine Geschichte jemals wieder so beginnen dürfe. Unterrichtete Minister gerieten in Harnisch. Sie setzten einen furchtbar geheimen Untersuchungsausschuß ein, der ermitteln sollte, was da falsch gelaufen war: Zeugen sollten vernommen, Namen genannt, niemand verschont, Schwachstellen aufgezeigt, Lücken geschlossen, einer Wiederholung vorgebeugt, ich zum Vorsitzenden ernannt und ein Bericht entworfen werden. Ob und zu welchen Schlüssen unser Ausschuß kam, bleibt das höchste Geheimnis aller, besonders der Ausschußmitglieder. Denn wie wir alle wissen, besteht die Funktion solcher Ausschüsse darin, mit großem Ernst daherzureden, bis der Staub sich gelegt hat, und sich dann selbst wieder in Staub aufzulösen. Und genau das tat auch unser Ausschuß vorschriftsmäßig, wie die verstimmte Cheshire Cat in Alices Wunderland; wir hinterließen nichts als unser furchtbar geheimes Stirnrunzeln, einen bedeutungslosen Zwischenbericht und einen Haufen geheimer Anhänge dazu in den Archiven des Schatzministeriums.
Gleich am Anfang wurde, um mich der weniger rücksichtsvollen Ausdrucksweise von Ned und seinen Kollegen im Rußlandhaus zu bedienen, ein ganz gewaltiger Scheiß gebaut, als zwischen fünf und halb neun an einem warmen Sonntagabend ein gewisser Nicholas P. Landau, Handelsvertreter und Steuerzahler in guten Verhältnissen, polnischer Abstammung, aber unbescholten, am Eingang von nicht weniger als vier verschiedenen Ministerien in Whitehall vorsprach und um ein dringendes Gespräch mit einem Beamten der, wie er sich auszudrücken beliebte, britischen Geheimdienstbranche ersuchte, nur um ausgelacht, abgewimmelt und in einem Fall physisch mißhandelt zu werden. Ob die beiden Aushilfspförtner des Verteidigungsministeriums allerdings so weit gingen, Landau an Kragen und Hosenboden zu packen, wie er behauptete, und so vor die Tür schleppten, oder ob sie ihm, wie sie es formulierten, bloß auf die Straße zurückhalfen, ist eine Frage, in der wir keine Übereinstimmung erzielen konnten.
Aber wieso, fragte unser Ausschuß streng, fühlten sich die beiden Pförtner überhaupt verpflichtet, ihm diese Hilfe angedeihen zu lassen?
Mr. Landau verweigerte uns einen Blick in seine Aktentasche, Sir. Ja, er bot an, wir könnten die Tasche in Verwahrung nehmen, während er wartete, vorausgesetzt, er behielt so lange den Schlüssel, Sir. Aber das war gegen die Vorschrift. Und, ja, er schüttelte sie vor unseren Augen, klopfte sie ab, schaukelte sie hin und her, offenbar, um uns zu demonstrieren, daß nichts darin sei, wovor wir Angst zu haben brauchten. Aber auch das war gegen die Vorschrift. Und als wir versuchten, ihm besagte Aktentasche mit einem Minimum an Gewalt abzunehmen, widersetzte sich dieser Gentleman – wozu Landau während ihrer Aussage verspätet geworden war – unseren Bemühungen, Sir, und begann laut und ruhestörend mit ausländischem Akzent herumzubrüllen.
Aber was brüllte er denn? fragten wir, entsetzt von der Vorstellung, daß jemand an einem Sonntag in Whitehall herumbrüllte.
Nun, Sir, soweit wir ihn in seinem erregten Zustand verstehen konnten, schrie er, diese seine Aktentasche enthalte hochgeheime Papiere, Sir. Die ihm von einem Russen anvertraut worden seien, Sir, in Moskau.
War doch bloß ein wildgewordener kleiner Pole, Sir, hätten sie noch hinzufügen können. An einem warmen Kricket-Sonntag in London, Sir, und wir sahen im Hinterzimmer das Wiederholungsspiel der Pakistanis gegen Botham.
Selbst im Außenministerium, diesem eiskalten Herd der offiziellen britischen Gastfreundlichkeit, wo der verzweifelte Landau endlich und höchst widerstrebend vorstellig wurde, gelang es ihm nur mit Hilfe von flehentlichen Appellen und einigen waschechten Slawentränen, das exklusive Gehör des Ehrenwerten Palmer Wellow zu finden, Verfasser einer anspruchsvollen Liszt-Monographie.
Und ohne eine neue Taktik hätten Landau wohl auch die Slawentränen nichts geholfen. Denn diesmal stellte er die Aktentasche offen auf den Schalter, so daß der Pförtner, ein junger, aber skeptischer Mann, seinen Pomadenkopf an das kürzlich installierte Panzerglas recken, mißmutig einen trägen Blick hineinwerfen und sich selbst davon überzeugen konnte, daß sie keine Bomben, sondern lediglich ein Bündel schmutziger alter Notizbücher und einen braunen Umschlag enthielt.
»Kommen-Sie-Montag-um-zehn-vor-fünf-wieder«, sagte der Pförtner über den wunderbar neuen Lautsprecher, als riefe er eine walisische Bahnstation aus, und verschwand wieder im Dunkel seiner Loge.
Das Tor stand halb offen. Landau sah den jungen Mann an, sah an ihm vorbei und erblickte die große Säulenhalle, die man vor hundert Jahren gebaut hatte, um die aufsässigen Radschas einzuschüchtern. Und schon hatte er seine Tasche geschnappt und wetzte, sämtliche scheinbar undurchdringlichen, zur Abwehr genau solcher Attacken errichteten Verteidigungsanlagen überwindend, mit einem Affenzahn – »wie ein verflixter Springbock, Sir« – über den geheiligten Hof und die Treppe zu der gewaltigen Vorhalle hinauf. Und er hatte Glück. Palmer Wellow, was immer er sonst sein mochte, gehörte zur Beschwichtigungsabteilung des Außenministeriums. Und Palmer hatte an diesem Tag Dienst.
»Hallo, hallo«, brummte Palmer, als er die breite Treppe hinunterkam und Landaus zerzauste Gestalt zwischen zwei kräftigen Sicherheitsbeamten keuchen sah. »Sie sind ja ganz schön aufgelöst. Mein Name ist Wellow. Ich bin der Sekretär vom Dienst.« Er hielt die linke Faust an seiner Schulter, als ob er Hunde verabscheute. Aber seine rechte Hand war zur Begrüßung vorgestreckt.
»Ich will keinen Sekretär«, sagte Landau. »Sondern einen hohen Beamten oder gar nichts.«
»Ein Sekretär ist schon ziemlich hoch«, versicherte ihm Palmer bescheiden. »Sie lassen sich von dem Ausdruck irritieren.«
Es wurde zu Recht vermerkt – auch von unserem Ausschuß –, daß an Palmer Wellows Aufführung bis dahin nichts auszusetzen war. Er war drollig, aber effektvoll. Er machte keinen falschen Schritt mit seinen gewichsten Schuhen. Er führte Landau in ein Besucherzimmer und bat ihn sehr höflich, Platz zu nehmen. Er bestellte ihm auf den Schrecken eine Tasse Tee mit Zucker und bot ihm einen Keks an. Mit einem teuren Füllfederhalter, dem Geschenk eines Freundes, notierte er sich Landaus Namen und Adresse und die der Firmen, die seine Dienste in Anspruch nahmen. Des weiteren die Nummer von Landaus britischem Paß sowie Ort und Jahr seiner Geburt, Warschau 1930. Er erklärte mit entwaffnender Aufrichtigkeit, daß er mit Geheimdienstsachen nichts zu tun habe, nahm es aber auf sich, Landaus Material an »kompetente Leute« weiterzuleiten, die ihm zweifellos die verdiente Aufmerksamkeit zuteil werden lassen würden. Und da Landau wiederholt darauf bestand, improvisierte er auf einem blauen Bogen Konzeptpapier des Außenministeriums eine Quittung für ihn, unterzeichnete sie und ließ den Pförtner Zeit und Datum dazustempeln. Er sagte ihm, falls noch etwas zu besprechen wäre, würden sich die zuständigen Stellen sehr wahrscheinlich, wohl per Telefon, mit ihm in Verbindung setzen.
Jetzt erst reichte Landau sein schmuddeliges Päckchen über den Tisch und sah es mit anhaltendem Bedauern in Palmers träger Hand verschwinden.
»Aber warum geben Sie es nicht einfach Mr. Scott Blair?« fragte Palmer, nachdem er den Namen auf dem Umschlag studiert hatte.
»Herrgott, ich hab’s ja versucht!« platzte Landau in erneuter Verzweiflung heraus. »Wie gesagt. Ich habe überall nach ihm telefoniert. Ich habe nach ihm rumtelefoniert, bis ich ganz blau im Gesicht war, das sag ich Ihnen. Er ist nicht zu Hause, er ist nicht in seiner Firma, er ist nicht in seinem Club, er ist nicht nirgendwo«, beteuerte Landau, dem in seiner Frustration die Grammatik durcheinandergeriet. »Ich hab’s vom Flughafen aus versucht. Naja, an einem Samstag.«
»Aber heute ist Sonntag«, wandte Palmer mit nachsichtigem Lächeln ein.
»Also war gestern Samstag, oder? Ich versuch’s bei seiner Firma. Bloß ein elektronischer Pfeifton. Ich seh ins Telefonbuch. In Hammersmith gibt’s einen. Nicht komplett, aber immerhin einen Scott Blair. Meldet sich eine wütende Lady und sagt, ich soll mich zum Teufel scheren. Ich kenne einen Vertreter, Archie Parr, bereist für ihn Westengland. Ich frage Archie: ›Archie, um Himmels willen, wie komm ich schnell an Barley ran?‹ – ›Der ist getürmt, Niki. Wieder mal verduftet. Ist seit Wochen nicht mehr im Laden gesichtet worden.‹ Ich versuch’s mit der Auskunft. London, die Home Counties. Kein Bartholomew verzeichnet. Wäre ja auch seltsam, wenn er wirklich ein –«
»Wenn er ein was?« sagte Palmer interessiert.
»Sehen Sie, er ist verschwunden, ja? Er ist auch früher schon mal verschwunden. Dafür könnte es doch Gründe geben. Gründe, von denen Sie nichts wissen, weil Sie dazu nicht befugt sind. Könnte sein, daß Menschenleben auf dem Spiel stehen. Und nicht nur seins. Es ist absolut dringend, hat sie mir gesagt. Und streng geheim. Nun machen Sie schon. Bitte.«
Am selben Abend – abgesehen von einer langweiligen Krise am Golf und einem elenden Fernsehskandal über Geld und Soldaten in Washington war es ziemlich still an der Weltfront – ging Palmer zu einer ganz netten Party am Montpellier Place, die von einer Gruppe ehemaliger Mitstudenten in Cambridge veranstaltet wurde – Junggesellen wie er selbst, aber recht lustig. Auch davon bekam unser Ausschuß zu hören.
»Kennt übrigens einer von euch einen gewissen Scott Blair?« fragte Wellow sie zu später Stunde, als Landau ihm, während er ein paar Takte Chopin auf dem Klavier spielte, zufällig wieder ins Gedächtnis kam. »Hatten wir damals nicht einen Scott Blair dabei?« fragte er noch einmal, da es ihm nicht gelungen war, den Lärm zu übertönen.
»War ein paar Jahre über uns. Am Trinity«, drang verschwommen eine Antwort durch den Raum. »Hat Geschichte studiert. Jazzfanatiker. Wollte sein Geld mit Saxophonspielen verdienen. Sein Alter war dagegen. Barley Blair. War schon morgens immer stockvoll.«
Palmer Wellow spielte einen donnernden Akkord, der die geschwätzige Gesellschaft verblüfft zum Schweigen brachte. »Ich sagte: Ist er ein subversiver Spion?« fragte er laut.
»Der Vater? Ist tot.«
»Der Sohn, du Trottel. Barley.«
Wie jemand, der hinter einem Vorhang hervortritt, tauchte sein Informant aus dem Gewühl junger und weniger junger Männer auf und stand dann mit einem Glas in der Hand vor ihm. Und Palmer erkannte ihn erfreut als einen lieben Kumpel vom Trinity vor ewigen Zeiten.
»Ich fürchte, ich weiß wirklich nicht, ob Barley ein subversiver Spion ist oder nicht«, sagte Palmers Kumpel mit seiner notorischen Heiserkeit, während das Stimmengewirr im Hintergrund zu seiner vorherigen Lautstärke anschwoll. »Auf jeden Fall ist er ein Versager, falls das die Voraussetzung sein sollte.«
Nun doch neugieriger geworden, begab Palmer sich wieder in sein geräumiges Zimmer im Foreign Office und zu Landaus Umschlag und Notizbüchern, die er dem Hausmeister zur Aufbewahrung gegeben hatte. Und genau von da an nahmen seine Handlungen, wie es in unserem Zwischenbericht heißt, einen wenig hilfreichen Verlauf. Oder, wie Ned und seine Kollegen im Rußlandhaus es drastischer ausdrückten, jetzt hätte man P. Wellow in jedem zivilisierten Land an den Daumen an einer hohen Stelle der Stadt aufgehängt und dort in aller Ruhe über seine Qualifikation nachdenken lassen.
Denn was machte Palmer? Zwei Nächte und anderthalb Tage lang amüsierte er sich mit den Notizbüchern. Weil er sie unterhaltsam fand. Den hellbraunen Umschlag – auf den Landau inzwischen »Streng vertraulich, zu Händen von Mr. B. Scott Blair oder einem hohen Sicherheitsbeamten« geschrieben hatte – ließ er verschlossen, da er wie Landau einer Schule angehörte, die es für unschicklich hielt, anderer Leute Post zu lesen. Auf alle Fälle war der Umschlag an beiden Seiten zugeklebt, und Palmer war nicht der Mann, der sich mit handfesten Hindernissen herumschlug. Das eine Notizbuch aber – mit seinen verrückten Aphorismen und Zitaten, dem umfassenden Abscheu vor Politikern und Militärs, den willkürlichen Verweisen auf Puschkin, den reinen Renaissancemenschen, und Kleist, den reinen Selbstmörder – faszinierte ihn.
Dringend kam ihm die Sache kaum vor, Verantwortung spürte er überhaupt nicht. Er war Diplomat und kein Freund, wie man die Spione nannte. Und Freunde waren in Palmers Zoologie Leute ohne die geistige Pferdestärke für das, was Palmer war. Er machte auch gar keinen Hehl aus seinem Groll darüber, daß das orthodoxe Foreign Office, dem er angehörte, immer mehr einer bloßen Deckorganisation für die skandalösen Aktivitäten der Freunde glich. Denn Palmer war auch ein Mann von eindrucksvoller, wenn auch etwas arbiträrer Bildung. Er hatte Arabisch studiert und moderne Geschichte mit Eins abgeschlossen. In seiner Freizeit hatte er sich mit Russisch und Sanskrit beschäftigt. Nichts war ihm fremd, außer Mathematik und gesundem Menschenverstand, was erklärt, warum er die faden Seiten voller algebraischer Formeln, Gleichungen und Diagramme der beiden anderen Notizbücher, die im Gegensatz zu dem philosophischen Gefasel des Verfassers einen langweilig disziplinierten Eindruck machten, nur durchblätterte. Und was ebenfalls erklärt – obwohl der Ausschuß Schwierigkeiten hatte, eine solche Erklärung hinzunehmen –, warum Palmer sich über die Geschäftsordnung für Diensthabende Sekretäre in bezug auf Überläufer und kontaktsuchende Agenten, ob angeworbene oder freiwillige, einfach hinwegsetzte und auf eigene Faust handelte.
»Er stellt völlig pauschal die verrücktesten Zusammenhänge her, Tig«, erzählte er am Dienstag einem wesentlich ranghöheren Kollegen von der Forschungsabteilung, nachdem er endlich beschlossen hatte, von seiner Errungenschaft Mitteilung zu machen. »Sie müssen ihn einfach mal lesen.«
»Aber woher wissen wir, daß es ein Er ist, Palms?«
Palmer hatte das im Gespür, Tig. Schwingungen.
Palmers ranghöherer Kollege besah sich das erste Notizbuch, dann das zweite; dann setzte er sich und starrte das dritte an. Dann musterte er die Zeichnungen im zweiten. Und dann schaltete sich alarmiert sein professionelles Ich ein.
»An Ihrer Stelle, Palms, würde ich denen dieses Zeug so schnell wie möglich zugehen lassen«, sagte er. Aber dann entschied er sich, es ihnen selber zuzuleiten, und zwar wirklich schnell, nachdem er Ned über die grüne Leitung angerufen und gebeten hatte, sich bereit zu halten.
Woraufhin dann, zwei Tage zu spät, die Hölle losbrach. Um vier Uhr am Mittwochmorgen brannten im Obergeschoß von Neds Außenstation in Victoria, einem gedrungenen Ziegelbau mit Namen Rußlandhaus, noch immer hell die Lichter, als die erste betäubte Versammlung des späteren Bluebird-Teams ihrem Ende zuging. Fünf Stunden später, nachdem er zwei weitere Versammlungen im Hauptquartier des Geheimdienstes in einem prächtigen neuen Hochhausblock am Embankment durchgestanden hatte, saß Ned wieder an seinem Schreibtisch, und die Akten türmten sich in so atemberaubendem Tempo vor ihm auf, als ob die Sekretärinnen beschlossen hätten, eine Straßensperre daraus zu errichten.
»Gottes Ratschlüsse mögen ja dunkel sein«, soll Ned in einer Pause zwischen zwei Lieferungen zu seinem rothaarigen Assistenten Brock gesagt haben, »aber das ist noch gar nichts gegen sein Vorgehen bei der Auswahl seiner Joes.«
Joe nennen wir bei uns eine lebende Informationsquelle, und die wiederum ist schlicht ein Spion. Spielte Ned auf Landau an, als er von »Joes« sprach? Auf Katja? Auf den namenlosen Verfasser der Notizbücher? Oder waren seine Gedanken bereits auf die nebulösen Umrisse dieses großen britischen Gentleman-Spions fixiert, auf Mr. Bartholomew Scott Blair? Brock wußte es nicht und fragte auch nicht. Er stammte aus Glasgow, aber von litauischen Eltern, und abstrakte Begriffe waren ihm ein Greuel.
Ich selbst mußte noch eine weitere Woche warten, ehe Ned nach gehörigem Widerstreben entschied, daß es Zeit sei, den alten Palfrey hinzuzuziehen. Der alte Palfrey bin ich, solange ich denken kann. Bis zum heutigen Tag habe ich nicht begriffen, was aus meinen Vornamen geworden ist. »Wo steckt der alte Palfrey?« sagen sie. »Wo ist der sündige Syndikus? Holt mal den alten Rechtsverdreher her! Das drück mal lieber Palfrey aufs Auge!«
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