Krieg im Spiegel - John le Carré - E-Book

Krieg im Spiegel E-Book

John Le Carré

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Beschreibung

Alle Romane von John le Carré jetzt als E-Book! - Der britische Geheimdienst will einen Mann in die DDR schleusen, um Erkenntnisse über Raketenstationierungen zu gewinnen. Mit einem altertümlichen Morseapparat soll der Agent seine Informationen nach England senden. Doch nach der ersten Meldung schweigt das Gerät ... Große TV-Doku "Der Taubentunnel" ab 20. Oktober 2023 auf Apple TV+

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Das Buch

In Finnland wird ein britischer Spion ermordet; der brisante Film, den er abholen sollte, ist spurlos verschwunden. Nach dem vergeblichen Versuch, das Material doch noch zu retten, beschließt der britische Geheimdienst, einen Mann hinter den Eisernen Vorhang zu schmuggeln. Er soll die verlorenen Informationen ersetzen und seine Erkenntnisse mit einem Morseapparat nach England melden. Doch bald bricht der Kontakt ab. Verzweifelt wartet die Einsatzgruppe auf Nachricht. Während die Nerven zum Zerreißen gespannt sind, beginnt die Suche nach einem Schuldigen …

Krieg im Spiegel ist John le Carrés vielleicht realistischster Roman über die Zeit des Kalten Kriegs, in dem Europa ein Schlachtfeld der Geheimdienste und jeder Einsatz ein Spiel um Leben und Tod war – und in dem hinter dem Mißerfolg oft ein Verrat in den eigenen Reihen steckte.

Der Autor

John le Carré, am 19. Oktober 1931 in Poole, Dorset, geboren, war nach seinem Studium in Bern und Oxford in den sechziger Jahren in diplomatischen Diensten u. a. in Bonn und Hamburg tätig. Sein Roman Der Spion, der aus der Kälte kam machte ihn 1963 weltbekannt. Zahlreiche seiner Bestseller wurden erfolgreich verfilmt. Der Autor lebt mit seiner Frau in Cornwall.

Von John le Carré sind in unserem Hause bereits erschienen:

Absolute Freunde · Agent in eigener Sache · Dame, König, As, Spion · Das Rußlandhaus · Der ewige Gärtner · Der heimliche Gefährte · Der Nachtmanager · Der Spion, der aus der Kälte kam · Der Schneider von Panama · Der wachsame Träumer · Die Libelle · Ein blendender Spion · Ein guter Soldat · Ein Mord erster Klasse · Eine Art Held · Eine kleine Stadt in Deutschland · Empfindliche Wahrheit · Geheime Melodie · Krieg im Spiegel · Marionetten · Schatten von gestern · Single & Single · Unser Spiel · Verräter wie wir

John le Carré

Krieg im Spiegel

Roman

Aus dem Englischen von Manfred von Conta

List Taschenbuch

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www.ullstein-buchverlage.de

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ISBN 978-3-8437-0848-7

1. Auflage Dezember 2005

2. Auflage 2005

© der deutschen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH,

Berlin 2004/List Verlag

© 1965 le Carré Productions

Übersetzung von Manfred von Conta mit freundlicher Genehmigung des

Paul Zsolnay Verlages, Wien–München

Titel der englischen Originalausgabe: The Looking Glass War

(William Heinemann, London)

Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

»I wouldn’t mind being a Pawn,if only I might join.«

»Wenn ich doch auch mitvon der Partie sein könnte!Und wenn’s als Bauer wäre.Hauptsache, ich könnte dabeisein.«

L

EWIS

C

ARROLL

Alice hinter den Spiegeln

»Durch das Tragen einer schweren Last, wie zum Beispiel eines Koffers etc., kurz vor Beginn einer praktischen Sendetätigkeit, werden Handgelenke sowie Arm- und Fingermuskulatur zu gefühllos, um noch einwandfrei morsen zu können.«

Aus: Vollständiger Morsekurs

ERSTER TEIL

Taylors Einsatz

»Hier liegt ein Narr,der glaubt, voll Ungeduldden Osten drängen zu können.«

K

IPLING

1

Schnee bedeckte den Flugplatz.

Vom Nachtwind getrieben, war er im Nebel zusammen mit dem Geruch der See aus dem Norden gekommen. Nun würde er den ganzen Winter als eisiger, scharfer Staub auf der grauen Erde liegenbleiben, ohne zu tauen oder zu frieren, sondern gleichbleibend schäbig wie ein Jahr ohne Jahreszeiten. Über ihm, wie der Rauch des Krieges, die dahintreibenden Nebelschwaden, die einmal einen Hangar verschlucken, dann den Radarschuppen, dann eine der Maschinen, um sie Stück für Stück, aller Farben beraubt, wieder auszuspeien; schwarzes Aas in einer weißen Wüste.

Es war ein Bild ohne Tiefe, ohne Perspektive und ohne Schatten. Himmel und Erde verschwammen ineinander, und die Gebäude schienen in der Kälte eingeschlossen wie Leichen in einem Gletscher.

Jenseits des Rollfeldes war nichts mehr – kein Haus, kein Hügel, keine Straße. Nicht einmal ein Zaun oder ein Baum. Nur der Himmel, der auf den Dünen lastete, und der ziehende Nebel, der über der sumpfigen Ostseeküste emporstieg. Irgendwo landeinwärts waren die Berge.

An dem langen Aussichtsfenster drängte sich eine schnatternde Schar deutscher Schulkinder mit warmen Mützen. Einige trugen Skikleidung. Taylor hatte die Handschuhe nicht ausgezogen. Er hielt ein Glas in der Hand und blickte schläfrig zu den Kindern hinüber. Ein Junge wandte sich um, starrte ihn an und errötete. Dann flüsterte er mit den anderen Kindern. Sie wurden still.

Taylor sah auf seine Armbanduhr, wobei er mit dem Arm einen weit ausholenden Kreis beschrieb, teils, um den Ärmel seines Wettermantels zurückzuziehen, teils, weil das seine Art war. Er wollte, daß man ihn für einen Offizier hielt, für einen alten Haudegen, der im Krieg viel mitgemacht hatte, einem angesehenen Regiment und einem angesehenen Club angehörte.

Zehn vor vier. Die Maschine war schon eine Stunde verspätet. Sie würden den Grund dafür bald über den Lautsprecher bekanntgeben müssen. Er fragte sich, was sie durchsagen würden: Nebel vielleicht, oder verzögerter Start. Daß die Maschine an die dreihundert Kilometer vom Kurs abgekommen und südlich von Rostock war, wußten sie womöglich gar nicht. Auf keinen Fall würden sie es zugeben. Er leerte sein Glas und drehte sich zur Theke, um es abzustellen. Er mußte zugeben, daß manche dieser ausländischen Schnäpse, wenn man sie in ihrem eigenen Land trank, keineswegs schlecht schmeckten. Im Augenblick jedenfalls, mit ein paar Stunden, die man sich noch um die Ohren schlagen mußte, und mit zehn Grad unter Null auf der anderen Seite des Fensters, hätte es auch wesentlich Unangenehmeres geben können als Steinhäger. Sobald er zurück war, würde er im Alias-Club veranlassen, daß man diesen Schnaps beschaffte. Das würde Aufsehen erregen!

Der Lautsprecher brummte, brüllte plötzlich los und verstummte wieder. Dann begann er noch einmal in der richtig eingestellten Lautstärke. Die Kinder starrten erwartungsvoll zu ihm hinauf. Die Ankündigung kam zuerst in Finnisch, dann in Schwedisch, schließlich auf englisch. Northern Air Services entschuldigten sich für die Verspätung ihres Charterfluges zwo-neun-null aus Düsseldorf. Kein Hinweis auf die Dauer der Verspätung, nichts von einer Begründung. Möglicherweise wußten sie es selbst nicht.

Taylor dagegen wußte den Grund. Er fragte sich, was wohl passieren würde, wenn er jetzt zu dieser naseweisen Hosteß in ihrem Glaskasten hinüberginge und ihr erklärte: Zwo-neunnull wird schon noch ’ne Weile dauern, meine Liebe, ist nämlich im steifen Nordwest über der Ostsee vom Kurs abgekommen; die Position ist beim Teufel. Natürlich würde das Mädchen ihm nicht glauben, hielt ihn womöglich noch für einen Spinner. Später freilich würde sie dann eines Besseren belehrt. Dann würde sie ihn für einen ziemlich ungewöhnlichen Mann halten, für etwas Besonderes.

Draußen wurde es langsam dunkel. Die Schneefläche wirkte heller als der Himmel, und die geräumten Rollbahnen zogen sich durch das Weiß wie Dämme, deren Ränder von dem bunten Schimmer der Markierungsleuchten gesäumt waren. Im nächstgelegenen Hangar gossen Neonröhren ihr fahles Licht über Menschen und Maschinen. Der Platz davor wurde kurz aus der Dunkelheit gerissen, als ein greller Scheinwerferstrahl vom Kontrollturm darüberzuckte. Ein Feuerwehrauto war bei den Werkstattgebäuden auf der linken Seite abgefahren und gesellte sich nun zu den drei Ambulanzwagen, die bereits neben der Landebahn standen. Gleichzeitig flammte auf den Fahrzeugen das Blaulicht auf. Sie standen in einer Reihe und blitzten unentwegt ihr bläuliches Warnsignal hinaus. Die Kinder deuteten darauf und schwatzten aufgeregt durcheinander.

Wieder kam aus dem Lautsprecher die Stimme des Mädchens. Seit der letzten Durchsage konnten nur ein paar Minuten vergangen sein. Wieder wurden die Kinder still, um zuzuhören. Die Ankunft der Kursmaschine zwo-neun-null werde sich um mindestens eine weitere Stunde verzögern. Nähere Informationen werde man sogleich nach ihrem Eintreffen geben. In der Stimme des Mädchens schwang etwas mit, das teils Überraschung, teils Sorge sein mochte und sich auf das halbe Dutzend Menschen übertrug, die am anderen Ende des Warteraums saßen. Eine alte Dame sagte etwas zu ihrem Mann, nahm ihre Handtasche und ging zu der Gruppe von Kindern hinüber. Einige Zeit starrte sie dümmlich ins Zwielicht hinaus. Als sie dabei keine Beruhigung fand, wandte sie sich an Taylor und sagte auf englisch: »Was ist mit dem Flugzeug aus Düsseldorf passiert?« Nach dem kehligen, ungehaltenen Unterton ihrer Stimme zu urteilen, war sie Holländerin.

Taylor schüttelte den Kopf. »Wohl der Schnee«, sagte er. Er war ein forscher Mann, das gehörte zu seinem militärischen Auftreten.

Taylor ging durch die Schwingtür in die Empfangshalle hinunter. Neben dem Haupteingang entdeckte er die gelbe Flagge der Northern Air Services. Das Mädchen hinter dem Schalter war sehr hübsch.

»Was ist denn mit der Maschine aus Düsseldorf?« fragte er in seiner vertraulichen Art. Man sagte ihm nach, daß er es verstand, mit kleinen Mädchen umzugehen.

Sie lächelte und zuckte mit den Schultern.

»Ich nehme an, es ist der Schnee. Im Herbst haben wir öfters Verspätungen.«

»Warum fragen Sie nicht den Chef?« schlug er mit einem Kopfnicken in Richtung des Telefons vor.

»Man wird es über den Lautsprecher bekanntgeben«, sagte sie. »Sobald man etwas Näheres weiß.«

»Wer ist der Skipper, Schätzchen?«

»Bitte?«

»Wer der Skipper ist, der Captain, der Flugkapitän!«

»Kapitän Lansen.«

»Taugt er was?«

Das Mädchen war entrüstet. »Kapitän Lansen ist ein außerordentlich erfahrener Pilot.«

Taylor betrachtete sie grinsend. »Zumindest ist er ein sehr glücklicher Pilot, mein Schatz.« Man sagte, der alte Taylor kenne sich aus. Man sagte es im Alias-Club, an den Freitagabenden.

Lansen. Es war seltsam, diesen Namen so offen ausgesprochen zu hören. In der Gruppe wurde so etwas einfach nicht gemacht. Dort zogen sie Umschreibungen vor, Decknamen, irgend etwas anderes als den wirklichen Namen: Archie-boy, unser fliegender Freund, unser Freund im Norden, der Junge, der die Fotos macht. Man verwendete sogar die geheimnisvollen Zusammenstellungen von Ziffern und Zeichen, unter denen der Mann in den Akten geführt wurde – aber unter gar keinen Umständen jemals seinen Namen.

Lansen. Leclerc hatte ihm in London ein Foto gezeigt: ein jungenhafter Fünfunddreißiger, blond und gutaussehend. Er hätte wetten mögen, daß diese Hostessen ganz verrückt nach ihm waren. Sie waren ohnedies kaum etwas anderes als Kanonenfutter für die Piloten. Jemand anderer kam da niemals zum Zuge. Taylor strich schnell mit der rechten Hand über die Außentasche seines Mantels, um sich zu vergewissern, ob das Kuvert noch da war. Diese Art Geld hatte er bisher noch nie transportiert. Fünftausend Dollar für einen Flug. Zwanzigtausend Mark steuerfrei für ein Abweichen vom Kurs über die Ostsee. Lansen machte so etwas nicht alle Tage, natürlich. Das war etwas Besonderes, wie Leclerc gesagt hatte. Er fragte sich, wie die Hosteß reagieren würde, wenn er sich jetzt über die Theke beugte und ihr erzählte, wer er war, und ihr das Geld in dem Umschlag zeigte. Er hatte noch nie ein Mädchen wie sie gehabt, das heißt, ein wirkliches Mädchen, hochgewachsen und jung.

Er ging wieder hinauf in die Bar. Der Barkeeper kannte ihn schon. Taylor deutete auf die Steinhägerflasche auf dem mittleren Bord und sagte: »Geben Sie mir noch so einen, bitte. Ja, aus diesem Kerl direkt hinter Ihnen, euer hiesiges Gift.«

»Das ist aus Deutschland«, sagte der Barkeeper.

Taylor zog seine Brieftasche und nahm eine Banknote heraus. Hinter Zellophan steckte das Bild eines ungefähr neunjährigen Mädchens. Es trug eine Brille und hielt eine Puppe im Arm. »Meine Tochter«, erklärte er dem Barkeeper, und der Barkeeper zeigte ein wäßriges Lächeln.

Taylor konnte den Klang seiner Stimme ganz der jeweiligen Gelegenheit anpassen. Seine unaufrichtige, affektierte Sprechweise nahm einen überspannten Ton an, wenn er zu Leuten seiner Klasse sprach und es ihm darauf ankam, einen Rangunterschied zu betonen, den es nicht gab. Oder wenn er nervös war wie jetzt gerade.

Er mußte zugeben, daß er aufgeregt war. Für einen Mann seines Alters war es eine unheimliche Situation, statt routinemäßigen Kurierdiensten die Arbeit eines Agenten verrichten zu müssen. Das wäre eher ein Geschäft für diese Schweine im Rondell gewesen. Für Leute seiner Organisation war es jedenfalls nichts. Im Vergleich zu seiner gewohnten Tätigkeit war das hier eine schöne Bescherung. Hier draußen im Nichts sich selbst überlassen zu sein. Er begriff nicht, wie man einen Flugplatz an einem solchen Fleck errichten konnte. Im allgemeinen hatte er Auslandsreisen ja recht gern. Zum Beispiel den alten Jimmy Gorton in Hamburg zu besuchen, oder eine Nacht lang das Pflaster von Madrid zu treten. Er empfand es als angenehm, von Joanie wegzukommen. Ein paarmal hatte er auch die türkische Route gemacht. Obwohl er wirklich nichts für die Balkanesen übrig hatte, war es immer noch ein Honiglecken im Vergleich zu dieser Arbeit hier: mit Fahrkarte erster Klasse und die Koffer auf dem Sitz neben sich, in der Brusttasche einen Alliierten-Paß. Ein Mann, der diese Tätigkeit ausübte, der war schon was, fast so wie die Jungs aus dem diplomatischen Dienst. Das hier aber war anders, und es behagte ihm gar nicht.

Leclerc hatte gesagt, es sei eine große Angelegenheit, und Taylor glaubte ihm. Man hatte ihm einen Paß auf einen anderen Namen gegeben. Malherbe. Ausgesprochen wurde es Mällabi – hatten sie jedenfalls gesagt. Weiß Gott, wer den ausgesucht hatte. Taylor war nicht mal in der Lage, ihn zu buchstabieren. Als er heute morgen sein Hotelzimmer nahm, gab’s beim Unterschreiben des Meldezettels eine richtige Schmiererei. Der Spesensatz war freilich enorm: hundertfünfzig Eier pro Einsatztag, ohne Beleg. Im Rondell sollte es sogar hundertsiebzig geben, hatte er gehört. Da würde ganz schön was übrigbleiben, er könnte was für Joanie kaufen. Wahrscheinlich wär’ ihr das Bargeld sogar noch lieber.

Er hatte ihr natürlich von der Reise erzählt. Eigentlich hätte er das nicht tun sollen, aber Leclerc kannte Joanie nicht. Er zündete sich eine Zigarette an und hielt sie, nachdem er inhaliert hatte, in der hohlen Hand – wie ein Posten, der auf Wache raucht. Wie, zum Teufel, konnte man von ihm erwarten, daß er sich nach Skandinavien auf die Socken machte, ohne seiner Frau etwas davon zu sagen?

Er fragte sich, was die Kinder dazu treiben mochte, die ganze Zeit derart am Fenster zu kleben. Erstaunlich, wie sie mit dieser fremden Sprache zurechtkamen. Wieder schaute er auf die Uhr, fast ohne die Zeiger zu sehen. Er berührte den Umschlag in seiner Tasche. Besser, er trank nicht mehr. Er mußte einen klaren Kopf behalten. Er versuchte sich vorzustellen, was Joanie jetzt gerade tat. Wahrscheinlich saß sie bei einem Gin und irgendwas. Die Arme – den ganzen Tag Arbeit.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß alle sehr still geworden waren. Der Barkeeper stand reglos und lauschte. Das am Tisch sitzende alte Paar lauschte auch mit dümmlichen Gesichtern, die sie dem Fenster zugekehrt hatten. Dann hörte er ganz deutlich das Geräusch. Es war ein Flugzeug – noch weit entfernt, aber im Anflug auf das Rollfeld. Er steuerte schnell auf das Fenster zu und war halbwegs dort, als der Lautsprecher begann. Nach den ersten auf deutsch gesprochenen Worten schwirrten die Kinder wie ein Schwarm Tauben in Richtung auf die Empfangshalle davon. Die Leute am Tisch waren aufgestanden, die Frauen griffen nach ihren Handtaschen, die Männer nach ihren Mänteln und Aktentaschen. Endlich kam die englische Durchsage: Lansen war im Landeanflug.

Taylor starrte in die Nacht hinaus. Von der Maschine war nichts zu sehen. Er wartete, während seine Angst wuchs. Es war wie der Weltuntergang, dachte er, da draußen schien die verdammte Welt unterzugehen. Angenommen, Lansen machte Bruch. Angenommen, sie fanden die Kameras. Jetzt wünschte er, ein anderer hätte die Sache übernommen. Woodford zum Beispiel. Ja, warum hatte es nicht Woodford selbst übernommen? Oder wenigstens den überschlauen Universitätsknaben Avery geschickt? Der Wind wehte kräftiger. Er hätte schwören können, daß der Wind viel stärker geworden war. Taylor sah es an der Art, wie er den Schnee aufwirbelte und über die Landebahn trieb, wie er an den Signallampen rüttelte, weiße Schneefahnen in die Höhe trieb und sie wie verhaßte Gebilde wieder beiseite fegte. Eine Sturmbö schlug plötzlich gegen das Fenster und ließ ihn erschrocken zurückfahren. Eiskörner prasselten gegen die Scheibe, und das Holz des Fensterrahmens knarrte. Wieder sah er auf die Uhr. Diese Geste war Taylor zur Gewohnheit geworden. Es schien ihm das Warten leichter zu machen.

Unter diesen Umständen würde Lansen es nie schaffen, nie im Leben.

Sein Herzschlag stockte. Er hörte die Sirenen, die sich von einem sanften Wimmern zu klagendem Geheul steigerten – alle vier Wagen ließen ihre Sirenen gemeinsam über das gottverlassene Flugfeld heulen; es klang wie der Schrei verhungernder Tiere. Feuer! Das Flugzeug mußte in Flammen stehen. Lansen hatte Feuer an Bord und war im Begriff, einen Landeversuch zu unternehmen. Taylor blickte voll Entsetzen um sich, ob es nicht jemanden gab, der ihm Näheres hätte sagen können.

Neben ihm stand der Barkeeper und polierte ein Glas, während er durch die Scheibe hinaussah.

»Was ist los?« schrie Taylor ihn an. »Wozu die Sirenen?«

»Bei schlechtem Wetter stellen sie die Sirenen immer an«, sagte der Barkeeper. »Vorschrift.«

»Wieso geben sie ihm Landeerlaubnis?« fragte Taylor. »Sie könnten ihn doch weiterschicken, nach Süden! Der Platz hier ist viel zu klein, warum schicken sie ihn nicht zu einem größeren Flugplatz?«

Der Barkeeper schüttelte unbeteiligt den Kopf. »So schlecht ist der Platz gar nicht«, sagte er mit einer Kopfbewegung in Richtung zum Rollfeld. »Außerdem ist er spät dran. Vielleicht hat er keinen Sprit mehr.«

Dann sahen sie die Maschine. Sie kam tief auf den Platz zu, und ihre Positionslampen leuchteten abwechselnd über der Kette der Markierungsfeuer auf, während ihre Scheinwerfer grelle Lichtstreifen auf die Rollbahn warfen. Dann war sie auf dem Boden und sicher gelandet, und sie hörten das Dröhnen ihrer gedrosselten Motoren, als die Maschine über die lange Landebahn bis zum Standplatz vor dem Gebäude heranzurollen begann.

Die Bar hatte sich geleert. Taylor war der einzige Gast. Er bestellte einen Drink. Er kannte seine Rolle: Einfach in der Bar sitzen bleiben, hatte Leclerc gesagt. Lansen werde ihn an der Bar treffen. Er würde einige Zeit brauchen, mußte ja seinen Papierkram erledigen, die Kameras wegräumen. Taylor hörte, wie die Kinder unten sangen. Eine Frauenstimme führte sie. Warum, zum Teufel, mußten Kinder und Weiber um ihn sein? Was er hier gerade tun wollte, war schließlich Männersache. Oder nicht? Mit fünftausend Dollar und einem falschen Paß in der Tasche.

»Jetzt gibt es keine Flüge mehr«, sagte der Barkeeper. »Sie haben den Flugplatz für heute gesperrt.«

Taylor nickte. »Ich weiß. Es ist verdammt scheußlich da draußen. Scheußlich.«

Der Barkeeper räumte gerade die Flaschen weg. »Es bestand keine Gefahr«, sagte er besänftigend. »Kapitän Lansen ist ein ausgezeichneter Pilot.«

Er zögerte, weil er nicht wußte, ob er auch den Steinhäger wegräumen sollte.

»Natürlich war es ganz ungefährlich«, brauste Taylor auf. »Wer hat was von Gefahr gesagt?«

»Noch einen Drink?« fragte der Barkeeper.

»Nein, aber nehmen Sie sich einen. Nur zu, gießen Sie sich einen ein.«

Der Barkeeper füllte sich widerstrebend ein Glas und sperrte die Flasche weg.

»Trotzdem, wie machen sie das?« fragte Taylor. Er hatte einen versöhnlichen Ton angeschlagen, um mit dem Barkeeper wieder Frieden zu schließen. »Bei einem solchen Wetter können sie doch nicht die Hand vor den Augen sehen.« Er zeigte das Lächeln des Kenners. »Du sitzt in der Führerkanzel und könntest deine Augen genausogut zumachen – soviel helfen sie dir. Ich hab’s erlebt«, sagte Taylor, wobei er seine Hände locker vor sich hielt, als lägen sie um den Steuerknüppel. »Ich kenn’ mich da aus. In der Kanzel ist man der erste, der’s abbekommt, wenn mal wirklich was schiefgeht.« Er schüttelte den Kopf. »Die Jungs sind nicht zu beneiden«, erklärte er. »Ich gönn’ ihnen jeden Pfennig, den sie verdienen. Besonders in einem derartigen Drachen: Diese Dinger sind ja mit Draht zusammengebunden. Mit Draht.«

Der Barkeeper nickte zerstreut, leerte sein Glas, wusch es aus, trocknete es ab und stellte es in das Regal unter der Theke. Er knöpfte seine weiße Jacke auf.

Taylor rührte sich nicht.

»Tja«, sagte der Barkeeper mit freudlosem Lächeln, »jetzt müssen wir nach Hause gehen.«

Taylor riß die Augen auf und warf den Kopf zurück. »Wieso wir? Was soll das heißen?« Jetzt hätte er es mit jedem aufgenommen: Lansen war gelandet.

»Ich muß schließen.«

»Nach Hause ist gut. Gießen Sie uns noch einen ein, kommen Sie. Sie können nach Hause, wenn Sie wollen. Aber ich lebe in London.« Seine Stimme klang jetzt streitlustig, halb im Scherz, halb ärgerlich, mit steigender Lautstärke. »Und solange Ihre Gesellschaften nicht in der Lage sind, mich vor morgen früh nach London oder zu irgendeinem anderen verdammten Ort zu bringen, ist Ihr Vorschlag, dorthin zu gehen, ziemlich dumm. Oder nicht, alter Junge?« Er lächelte noch, aber es war das dünne, ärgerliche Lächeln eines nervösen Mannes, der im Begriff war, die Beherrschung zu verlieren. »Und wenn Sie sich das nächstemal einen Drink von mir bezahlen lassen, Freundchen, werde ich von Ihnen soviel Höflichkeit …«

Die Tür öffnete sich, und Lansen kam herein.

So war es nicht geplant gewesen. Dies war alles andere als der Vorgang, den man ihm beschrieben hatte. Leclerc hatte ihm gesagt: Bleibe in der Bar an einem Ecktisch sitzen, bestell einen Drink, lege Hut und Mantel auf den anderen Stuhl, als würdest du auf jemanden warten. Lansen geht immer noch auf ein Bier, wenn er Feierabend hat. Er ist gern unter Leuten; so ist er eben. Die Bar wird sehr voll sein. Es ist zwar ein kleiner Ort, aber auf diesen Flugplätzen ist immer was los. Er wird sich nach einem Platz umsehen – ganz offen und unverhohlen –, dann wird er zu dir kommen und dich fragen, ob der Stuhl besetzt ist. Du antwortest, daß du einen Freund erwartest, der noch nicht erschienen sei. Lansen wird fragen, ob er Platz nehmen darf. Er wird ein Bier bestellen und dann fragen: »Freund – oder Freundin?« Du wirst darauf sagen, er solle nicht so indiskret sein. Ihr werdet beide lachen und ins Gespräch kommen. Frage ihn nach zwei Dingen: Höhe und Fluggeschwindigkeit. Die Jungs von der Auswertung müssen Höhe und Fluggeschwindigkeit wissen. Steck das Geld in die Außentasche deines Mantels. Er wird deinen Mantel aufheben, den seinen daneben legen und ganz ruhig, ohne das geringste Aufsehen zu erregen, hineinfassen, den Umschlag herausnehmen und den Film in eine Manteltasche gleiten lassen. Du trinkst dann aus, gibst ihm die Hand – die Geschichte ist erledigt. Am Morgen fliegst du nach Hause. So einfach hatte es Leclerc dargestellt.

Lansen schlenderte quer durch den leeren Raum auf sie zu – eine hochgewachsene, kräftige Gestalt in einem blauen Regenmantel und einer Kappe. Er sah Taylor kurz an und sagte an ihm vorbei zum Barkeeper: »Jens, gib mir ein Bier.« Zu Taylor gewandt, fragte er: »Was nehmen Sie?«

Taylor lächelte dünn. »Das hiesige Gesöff.«

»Gib ihm, was er haben will. Einen Doppelten.«

Der Barkeeper knöpfte seine Jacke wieder zu, schloß das Regal auf und goß einen doppelten Steinhäger ein. Lansen gab er ein Bier aus dem Kühlschrank.

»Kommen Sie von Leclerc?« erkundigte sich Lansen kurz. Jeder hätte es hören können.

»Ja.« Viel zu spät fügte er matt hinzu: »Leclerc und Company, London.«

Lansen nahm sein Bier und ging damit zum nächsten Tisch hinüber. Seine Hand zitterte. Sie setzten sich.

»Dann verraten Sie mir, welcher verdammte Narr mir diese Anweisungen gab«, sagte er wütend.

»Ich weiß nicht.« Taylor war bestürzt. »Ich weiß nicht einmal, welche Instruktionen Sie bekommen haben. Ich kann nichts dafür. Ich soll den Film abholen, das ist alles. Übrigens ist diese Art Aufträge gar nicht meine Arbeit. Ich bin im ›offenen‹ Dienst. Kurier.«

Lansen beugte sich vor, seine Hand lag auf Taylors Arm. Taylor merkte, wie sie zitterte. »Ich war auch im ›offenen‹ Dienst. Bis heute. In dieser Maschine waren Kinder. Fünfundzwanzig deutsche Schulkinder auf Winterferien. Eine ganze Ladung Kinder.«

»Ja.« Taylor zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, das Empfangskomitee saß im Warteraum.«

Lansen platzte heraus: »Was haben wir gesucht? Das ist es, was ich nicht verstehe. Was ist an Rostock so aufregend?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nichts damit zu tun habe.« Dennoch fügte er hinzu: »Leclerc sagte, daß es sich nicht um Rostock drehte, sondern um das Gebiet südlich davon.«

»Das südlich gelegene Dreieck: Kalkstadt, Langdorn, Wolken. Sie brauchen mir nicht zu sagen, welches Gebiet gemeint war.«

Taylor sah beunruhigt auf den Barkeeper.

»Ich glaube, wir sollten nicht so laut sprechen«, sagte er. »Der Bursche scheint mir verdächtig.« Er trank von seinem Steinhäger.

Lansen machte eine Handbewegung, als wische er etwas vor seinem Gesicht weg. »Es ist Schluß«, sagte er. »Ich will nicht mehr. Es ist Schluß. Es war in Ordnung, solange wir auf dem normalen Kurs blieben und dabei fotografierten, was immer es da gab. Aber, verdammt noch mal, das ist zuviel, verstehen Sie? Das ist verflucht zuviel, alles in allem.« Sein Akzent war schwer und klobig, als hätte er einen Sprachfehler.

»Haben Sie Aufnahmen machen können?« fragte Taylor. Er mußte den Film bekommen. Dann wollte er gehen.

Lansen zuckte mit den Schultern, griff in die Tasche seines Regenmantels und zog – zum Entsetzen Taylors – die Zinkkapsel eines 35-mm-Filmes heraus, die er ihm über den Tisch reichte.

»Wozu das Ganze?« fragte Lansen abermals. »Worauf hatten sie es bloß in diesem Gebiet abgesehen? Ich ging unter die Wolken, flog die ganze Gegend ab. Ich habe keine Atombomben gesehen.«

»Irgend etwas Wichtiges, was anderes hat man mir nicht gesagt. Irgendwas Großes. Es mußte gemacht werden, verstehen Sie das nicht? Man kann über ein solches Gebiet keine illegalen Flüge machen.« Es waren die Worte von jemand anderem, die Taylor einfach wiederholte. »Es mußte eine Fluggesellschaft sein, eine eingetragene Fluggesellschaft. Oder nichts. Es gab keine andere Möglichkeit.«

»Hören Sie: Ich wurde unter Bewachung genommen, sobald ich dort war – zwei MIGs. Möchte wissen, woher die kamen. Sobald ich sie sah, ging ich in die Wolken. Sie folgten mir. Ich ging auf Sprechfunk und fragte nach der Position. Als wir aus den Wolken wieder herauskamen, waren sie immer noch da. Ich dachte, sie würden mich zur Landung zwingen. Ich versuchte, die Kamera abzuwerfen, aber sie klemmte. Die Kinder klebten alle an den Fenstern und winkten den MIGs. Sie flogen eine Zeitlang neben mir her, dann drehten sie ab. Sie kamen nahe, ganz nahe. Es war verdammt gefährlich für die Kinder.« Er hatte sein Bier nicht angerührt. »Was, zum Teufel, wollten sie?« fragte er. »Warum haben sie mich nicht runtergeholt?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt: Ich kann nichts dafür. Für so was bin ich nicht zuständig. Aber worauf auch immer man in London aus war: Sie wissen, was sie tun.« Er schien sich selbst überzeugen zu wollen; er brauchte den Glauben an London. »Dort vergeudet man seine Zeit nicht. Oder Ihre, mein Freund. Die wissen schon, was sie wollen.« Er sah finster drein, um die Stärke seiner Überzeugung auszudrücken, aber Lansen hatte ihm vielleicht nicht zugehört.

»Man hält auch nichts von unnötigen Risiken«, sagte Taylor. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Lansen. Wir müssen alle unser Scherflein beitragen. Risiken auf uns nehmen. Wir tun das alle. Ich habe es im Krieg getan, wissen Sie. Sie sind zu jung, um sich an den Krieg zu erinnern. Es ist die gleiche Arbeit: Wir kämpfen für dieselbe Sache.« Plötzlich fielen ihm die zwei Fragen ein. »Welche Höhe flogen Sie, als Sie die Aufnahmen machten?«

»Verschieden. Über Kalkstadt waren wir bis auf 2ooo Meter herunter.«

»Kalkstadt interessierte sie am meisten«, sagte Taylor voll Anerkennung. »Das ist erstklassige Arbeit, Lansen, erstklassig. Mit welcher Geschwindigkeit?«

»Dreihundert … dreihundertsechzig. So ungefähr. Es gab nichts zu sehen, sage ich Ihnen, nichts.« Lansen zündete sich eine Zigarette an. »Jetzt ist Schluß damit«, wiederholte er. »Wie wichtig das Ziel auch immer sein mag.« Er stand auf. Taylor erhob sich gleichfalls. Er steckte die rechte Hand in die Außentasche seines Mantels. Plötzlich wurde seine Kehle trocken: das Geld – wo war das Geld?

»Sehen Sie in der anderen Tasche nach«, schlug Lansen vor.

Taylor reichte ihm den Umschlag. »Wird es deswegen Schwierigkeiten geben? Wegen der MIGs, meine ich?«

Lansen zuckte die Schultern. »Ich bezweifle es, es ist mir noch nie passiert. Dieses Mal werden sie mir schon glauben. Sie werden glauben, es sei das Wetter gewesen. Ich kam ungefähr auf halber Strecke vom Kurs ab. Es könnte auch die Schuld des Bodendienstes gewesen sein. Beim Übergang von einer Leitstelle zur anderen.«

»Was ist mit dem Navigator? Was ist mit der übrigen Besatzung? Was denken die?«

»Das ist meine Sache«, sagte Lansen mürrisch. »Sie können in London bestellen, daß es das letzte Mal war.«

Taylor sah ihn beunruhigt an. »Sie sind nur durcheinander«, sagte er. »Nach dieser Nervenanspannung.«

»Hol Sie der Teufel«, sagte Lansen leise, »hol Sie der Teufel, verdammt noch mal.« Er drehte sich um, legte eine Münze auf die Theke und ging aus der Bar, wobei er den langen gelben Briefumschlag mit dem Geld achtlos in die Tasche seines Regenmantels stopfte.

Taylor folgte ihm kurz darauf. Der Barkeeper sah ihm zu, wie er durch die Tür ging und die Treppe hinunter verschwand. Ein äußerst widerlicher Mann, dachte er. Aber Engländer hatte er noch nie leiden können.

Taylor wollte zuerst kein Taxi zum Hotel nehmen. Er könnte den Weg in zehn Minuten zurücklegen und etwas vom Spesengeld sparen. Die Bodenhosteß nickte ihm zu, als er auf seinem Weg zum Haupteingang an ihr vorbeiging. In der Empfangshalle war alles aus Teakholz, vom Boden strömte warme Luft herauf. Taylor trat ins Freie. Die Kälte schnitt wie ein Schwert durch seine Kleider; und ihre lähmende Wirkung breitete sich wie vordringendes Gift schnell über sein unbedecktes Gesicht aus, tastete sich zu seinem Nacken und zu den Schultern. Er änderte seinen Plan und sah sich hastig nach einem Taxi um. Er war betrunken. Plötzlich kam es ihm zu Bewußtsein: Die frische Luft hatte ihn betrunken gemacht. Der Taxistandplatz war leer. Ein alter Citroën parkte fünfzig Meter weiter auf der Straße; der Motor lief. Er hat die Heizung an, der glückliche Kerl, dachte Taylor und eilte durch die Flügeltür zurück.

»Ich möchte ein Taxi«, sagte er zu dem Mädchen. »Wissen Sie, wo ich eines bekommen kann?« Er hoffte inbrünstig, daß er nüchtern aussah. Verrückt, soviel zu trinken. Er hätte diesen Drink von Lansen nicht annehmen sollen.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben die Kinder weggebracht«, sagte sie. »Sechs in jedem Wagen. Das war heute die letzte Maschine. Im Winter haben wir hier nicht viele Taxis.« Sie lächelte. »Es ist ein sehr kleiner Flughafen.«

»Was ist das dort oben auf der Straße, dieser alte Wagen? Kein Taxi, oder?« Seine Stimme war undeutlich.

Sie ging zur Tür und sah hinaus. Ihr Gang war behutsam schwingend, ungekünstelt und herausfordernd.

»Ich sehe keinen Wagen«, sagte sie.

Taylor sah an ihr vorbei. »Es stand ein alter Citroën dort. Beleuchtet. Muß weggefahren sein. Es wäre ja möglich gewesen.« Mein Gott, er war an ihm vorbeigefahren, ohne daß er es auch nur gehört hätte.

»Die Taxis sind alle Volvos«, bemerkte das Mädchen. »Vielleicht wird eines zurückkommen, nachdem es die Kinder abgesetzt hat. Warum gehen Sie nicht auf einen Drink?«

»Die Bar ist zu«, antwortete Taylor bissig. »Der Barmann ist fort.«

»Wohnen Sie im Flughafen-Hotel?«

»Im ›Regina‹, ja. Ich bin in Eile, müssen Sie wissen.« Es fiel ihm jetzt leichter. »Ich erwarte einen Anruf aus London.«

Sie betrachtete unschlüssig seinen Wettermantel aus grobem Gewebe.

»Sie könnten zu Fuß gehen«, schlug sie vor. »Zehn Minuten, immer die Straße hinunter. Das Gepäck kann Ihnen später nachgebracht werden.«

Taylor sah mit der gewohnten weit ausholenden Handbewegung auf seine Uhr.

»Gepäck ist schon dort. Kam heute morgen an.«

Er hatte das zerknitterte, besorgte Gesicht eines Clowns, lächerlich und doch unendlich traurig; ein Gesicht, in dem die Augen blasser waren als ihre Umgebung. Von den Nasenflügeln führten tiefe Falten zum Mund hinunter. Vielleicht hatte sich Taylor deswegen einen unansehnlichen Schnurrbart wachsen lassen, der sein Gesicht wie die Kritzelei auf einer Fotografie vollends verunstaltete, ohne seine Unzulänglichkeit zu überdecken. Das Ergebnis war, daß Taylors Erscheinung Mißtrauen einflößte, nicht etwa, weil er ein Halunke gewesen wäre, sondern allein deshalb, weil ihm jegliches Talent zur Verstellung fehlte. Außerdem hatte er sich gewisse, einem längst vergessenen Original abgeschaute Gesten zugelegt, wie zum Beispiel die verwirrende Gewohnheit, plötzlich den Rücken nach Soldatenart zu straffen, als habe er sich in einer unziemlichen Haltung überrascht. Dazu gehörte es auch, wenn er durch Bewegungen der Knie und Ellbogen vage andeutete, daß er den Umgang mit Pferden gewohnt war. Dennoch hatte sein Auftreten eine gewisse schmerzliche Würde, als kämpfe sein kleiner Körper gegen einen grausamen Sturm.

»Wenn Sie schnell gehen«, sagte sie, »sind es nicht einmal zehn Minuten.«

Taylor haßte es zu warten. Er glaubte, daß Leute, die warten, kein Rückgrat besäßen. Er empfand es als Schande, beim Warten gesehen zu werden. Er schürzte die Lippen, schüttelte den Kopf und schritt mit einem verdrießlichen »Gute Nacht, meine Dame« geradewegs in die eisige Kälte hinaus.

Taylor hatte noch nie einen Himmel wie diesen gesehen. Er wölbte sich ohne Begrenzung zu den schneebedeckten Feldern herunter, und seine Unerbittlichkeit wurde nur hie und da von einzelnen Nebelschleiern unterbrochen, die einen Hof um den weißen Mond legten und das Licht der Sterne vereisten. Taylor empfand die gleiche Angst, die einen Binnenländer beim Anblick der See befällt. Er beschleunigte seinen unsicheren, schwankenden Schritt.

Er war ungefähr fünf Minuten gegangen, als das Auto ihn einholte. Es gab keinen Fußweg neben der Fahrbahn. Zuerst bemerkte er nur die Scheinwerfer, weil der Schnee das Geräusch des Motors verschluckte, und er begriff nur, daß die Gegend vor ihm beleuchtet war, ohne zu wissen, woher das Licht kam. Der matte Schein wanderte gemächlich über die Schneelandschaft, und eine Zeitlang glaubte Taylor, es sei der Scheinwerfer vom Flughafen. Dann sah er, daß sich sein eigener Schatten auf der Straße verkürzte; das Licht wurde plötzlich heller, und er begriff, daß es ein Auto sein mußte. Er ging auf der rechten Seite und schritt rasch am vereisten Straßenrand entlang. Er stellte fest, daß das Licht ungewöhnlich gelb war, und vermutete, daß es französische Scheinwerfer waren. Diese kleine Schlußfolgerung erfüllte ihn mit großer Genugtuung: Sein Verstand war trotz allem noch ziemlich klar.

Er blickte nicht über die Schulter, weil er auf seine Art schüchtern war und nicht den Eindruck erwecken wollte, er wünsche mitgenommen zu werden. Aber ihm fiel ein, vielleicht ein bißchen spät, daß man auf dem Kontinent rechts fuhr und er genaugenommen auf der falschen Straßenseite ging, und daß er etwas dagegen tun müßte.

Das Auto erfaßte ihn von hinten; es brach ihm das Rückgrat. Einen fürchterlichen Augenblick lang verkörperte Taylor den klassischen Ausdruck des Schmerzes: Kopf und Schultern gewaltsam nach hinten geworfen, die Finger gespreizt. Er schrie nicht. Es hatte den Anschein, als konzentrierten sich Körper und Seele auf diese letzte Darstellung des Schmerzes, die im Tode ausdrucksvoller war als irgendein Laut, den er im Leben je von sich gegeben hatte.

Das Auto schleifte ihn einige Meter weit mit und warf ihn dann zur Seite, tot auf die leere Straße: ein steifer, zerstörter Körper am Rande der Einöde. Dann erfaßte ein plötzlicher Windstoß den neben ihm liegenden Hut und trug ihn über den Schnee. Die Fetzen seines Wettermantels flatterten im Wind und haschten vergeblich nach der Zinkkapsel, während sie langsam zum gefrorenen Straßenrand rollte, um dann müde über die Kante des Abhanges zu verschwinden.

ZWEITER TEIL

Averys Einsatz

»Es gibt Dinge,die von einem weißen Mannzu verlangenniemand das Recht hat.«

J

OHN

B

UCHAN

,

Mr. Standfast

2

VORSPIEL

Es war drei Uhr morgens.

Avery legte den Hörer auf, weckte Sarah und sagte: »Taylor ist tot.« Er hätte es ihr natürlich nicht sagen dürfen.

»Wer ist Taylor?«

Ein langweiliger Kerl, dachte er; er erinnerte sich seiner nur undeutlich. Ein jämmerlicher, langweiliger Engländer.

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