Unser Spiel - John le Carré - E-Book

Unser Spiel E-Book

John Le Carré

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Beschreibung

Alle Romane von John le Carré jetzt als E-Book! - Tim Cranmer, britischer Ex-Agent führt mit seiner jungen Geliebten Emma ein ruhiges Leben auf dem Land. Bis ein ehemaliger Kollege, der Russlandspezialist Larry Pettifer, auftaucht. Sie waren immer schon Rivalen, doch nun steht plötzlich die attraktive Emma zwischen ihnen – eines Tages ist sie mit Larry verschwunden. Die Suche nach den beiden führt Tim quer durchs heutige Russland bis in den krisengeschüttelten Kaukasus. Ein raffiniertes Doppelspiel, in dem Täuschung, Verrat und Verschleierung die Regeln vorgeben. Große TV-Doku "Der Taubentunnel" ab 20. Oktober 2023 auf Apple TV+

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Das Buch

Für Timothy Cranmer ist der Kalte Krieg vorbei. Vom britischen Geheimdienst vorzeitig in den Ruhestand geschickt, lebt er mit seiner jungen Geliebten Emma auf einem Landgut in Sommerset. Da taucht Larry Pettifer auf, ein Rußlandspezialist, den Tim einst selbst als Doppelagent geführt hat. Sie waren immer schon Rivalen, doch nun steht plötzlich die attraktive Emma zwischen ihnen. Eines Tages ist Larry verschwunden – und Emma mit ihm. Tim macht sich auf die Suche nach den Flüchtigen. Auf der gefährlichen Reise, die ihn quer durch Rußland bis in den Kaukasus führt, muß er feststellen, daß er seit Jahren getäuscht wurde.

Der Autor

John le Carré, geboren 1931 in Poole, Dorset, studierte in Bern und Oxford Germanistik, bevor er in diplomatischen Diensten u. a. in Bonn und Hamburg tätig war. Der Spion, der aus der Kälte kam begründete seinen Weltruhm als Bestsellerautor. Der Autor lebt mit seiner Frau in Cornwall und London.

Von John le Carré sind in unserem Hause bereits erschienen:

Absolute Freunde · Agent in eigener Sache · Dame, König, As, Spion · Das Rußlandhaus · Der ewige Gärtner · Der heimliche Gefährte · Der Nachtmanager · Der Spion, der aus der Kälte kam · Der Schneider von Panama · Der wachsame Träumer · Die Libelle · Ein blendender Spion · Ein guter Soldat · Ein Mord erster Klasse · Eine Art Held · Eine kleine Stadt in Deutschland · Empfindliche Wahrheit · Geheime Melodie · Krieg im Spiegel · Marionetten · Schatten von gestern · Single & Single · Unser Spiel · Verräter wie wir

John le Carré

Unser Spiel

Roman

Aus dem Englischenvon Werner Schmitz

List Taschenbuch

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www.ullstein-buchverlage.de

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ISBN 978-3-8437-0850-0

1. Auflage Mai 2007

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH,

Berlin 2006/List Verlag

© 1995 by David Cornwell

Titel der englischen Originalausgabe:

Our Game (Hodder and Stoughton, London)

Übersetzung von Werner Schmitz

mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Kiepenheuer & Witsch, Köln

Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Wer an die Folgen denkt,kann nicht tapfer sein.

Sprichwort der Inguschen

Mehrt man das Wissen, mehrt man den Schmerz.

Kohelet

Lebte ich im Kaukasus,

1

Larrys Verschwinden fiel offiziell zum erstenmal am zweiten Montag des Oktober auf, um zehn nach elf, als er nicht zu seiner Eröffnungsvorlesung des neuen Studienjahres erschien.

Ich kann den Schauplatz der Handlung exakt beschreiben, denn vor noch gar nicht langer Zeit habe ich Larry bei dem gleichen trübseligen Wetter nach Bath gelockt und mit diesem erbärmlichen Ort bekanntgemacht. Noch heute erinnere ich mich mit äußerst schlechtem Gewissen an die scheußlichen Plattenbauten, die ihn einschlossen wie die Mauern einer neuen Zelle. Und ich erinnere mich an seinen noch immer jugendlichen Rücken, als Larry sich vorwurfsvoll von mir abwandte und in der Betonschlucht verschwand wie ein Mann, der seinem Schicksal entgegengeht. Ich starrte ihm nach und dachte, hätte ich einen Sohn, dann wüßte ich jetzt, wie man sich fühlt, wenn man ihn zum erstenmal im Internat abliefert.

»He, Timbo«, flüstert er über die Schulter, wie nur Larry aus weiter Ferne zu einem sprechen kann.

»Ja, Larry.«

»Das ist es also, ja?«

»Was denn?«

»Die Zukunft. Wo alles aufhört. Der Rest des Lebens.«

»Es ist ein neuer Anfang«, sage ich loyal.

Aber wem gegenüber loyal? Ihm? Mir? Der Firma?

»Wir müssen bescheidener werden«, sage ich. »Wir beide.«

Der Tag seines Verschwindens muß allen Berichten zufolge genauso deprimierend gewesen sein. Ein widerwärtiger Nebel umhüllt den abscheulich grauen Campus der Universität und haucht einen dunstigen Schleier auf die stahlgerahmten Fenster von Larrys schmutzigem Hörsaal. Zwanzig Studenten sitzen an Pulten vor dem leeren Katheder, das aus dem besonders grellen gelben Holz der Pechkiefer gefertigt und mit Schrammen übersät ist. Das Thema seiner Vorlesung steht bereits mit Kreide an die Tafel geschrieben, von unbekannter Hand, vermutlich der eines vernarrten Schülers. »Karl Marx im Supermarkt: Revolution und moderner Materialismus.« Man hört vereinzeltes Lachen. Studenten sind überall gleich. Am ersten Tag des Semesters lachen sie über alles. Aber allmählich werden sie still und begnügen sich damit, einander anzugrinsen, nach der Tür zu sehen und auf Larrys Schritte zu horchen. Bis sie, nachdem sie ihm die volle Frist von zehn Minuten gewährt haben, verunsichert ihre Bleistifte und Notizhefte zusammenpacken und über den schwankenden Beton zur Mensa poltern.

Die Erstsemester empören sich beim Kaffee gehörig über diese erste Erfahrung mit Larrys Unberechenbarkeit. So etwas haben wir in der Schule nie erlebt! Wie sollen wir das aufholen? Wird man uns benachrichtigen? O Gott! Aber die Abgebrühten, Larrys Fans, lachen nur. Typisch Larry, erklären sie selig: Das nächstemal wird er drei Stunden lang quatschen, und ihr werdet so fasziniert sein, daß ihr das Mittagessen vergeßt. Sie spekulieren darüber, was ihn verhindert haben könnte: ein gewaltiger Kater oder eine der haarsträubenden Liebesaffären, von denen sie ihm jede Menge zutrauen, denn mit Mitte vierzig ist Larry noch durchaus ansehnlich und besitzt den hilflosen Charme eines Dichters, der nie erwachsen geworden ist.

Die Universitätsleitung sah Larrys Fernbleiben ähnlich gelassen. Einige Kollegen hatten, nicht alle aus den freundlichsten Motiven, den Verstoß binnen einer Stunde gemeldet. Gleichwohl wartete die Verwaltung den nächsten Montag und das nächste Nichterscheinen ab, ehe jemand die Energie aufbrachte, seine Vermieterin anzurufen und, als diese keine befriedigende Auskunft geben konnte, die Polizei von Bath. Erst nach weiteren sechs Tagen kam die Polizei zu mir: an einem Sonntag, Sie werden es kaum glauben, um zehn Uhr abends. Hinter mir lag ein anstrengender Nachmittag, an dem ich eine Busladung unserer Dorfsenioren auf einen Ausflug nach Longleat begleitet hatte, und ein frustrierender Abend in der Weinkellerei, wo ich mit einer deutschen Traubenpresse zu kämpfen hatte, die mein verstorbener Onkel Bob »Eingeschnappter Hunne« getauft hatte. Dennoch, als ich das Klingeln hörte, machte mein Herz einen Sprung, während ich mir einzureden versuchte, daß es Larry sei, der mit seinen anklagenden braunen Augen und dem vertrauensvollen Lächeln bei mir vor der Tür stünde: »Los, Timbo, mach uns einen großen Scotch, und überhaupt, wer macht sich schon was aus Frauen?«

Zwei Männer.

Es goß in Strömen, deshalb drängten sie sich, während sie warteten, daß ich aufmachte, unter dem Vordach. Zivilbeamte von der bewußt erkennbaren Sorte. Den Wagen hatten sie in meiner Einfahrt geparkt, Peugeot 306 Diesel, sehr glänzend in dem Wolkenbruch, Aufschrift Polizei, die übliche Ausstattung mit diversen Spiegeln und Antennen. Als ich mir ihre hutlosen Köpfe durch den Spion besah, starrten sie mich an wie aufgedunsene Leichen: der Ältere ein derber Typ mit Schnurrbart, der Jüngere ein Ziegengesicht mit einem Schädel, der länglich und abgeschrägt war wie ein Sarg, und kleinen runden Augen, die wie Einschußlöcher aussahen.

Warte noch, sagte ich mir. Einmal durchatmen. Immer mit der Ruhe. Das ist dein Haus, es ist spätabends. Erst dann ließ ich mich herbei, die Kette aufzuhaken. Die Tür stammt aus dem siebzehnten Jahrhundert, ist mit Eisen beschlagen und wiegt eine Tonne. Unruhiger Nachthimmel. Ein launischer Wind tobt in den Bäumen. Die Krähen klagen und sind trotz der Dunkelheit noch nicht zur Ruhe gekommen. Tagsüber war unverhofft Schnee gefallen. Geisterhaft graue Reste davon lagen auf der Einfahrt.

»Hallo«, sagte ich. »Sie müssen nicht draußen frieren. Kommen Sie doch rein.«

Das Vestibül ist ein später Anbau meines Großvaters, ein Kasten aus Mahagoni und Glas wie ein sehr geräumiger Aufzug, der als Vorraum zur großen Eingangshalle dient. Einen Moment lang standen wir alle drei dort unter der Messinglaterne, fuhren weder auf-noch abwärts und musterten einander.

»Das hier ist doch Honeybrook Manor, Sir?« sagte der Schnurrbart, ein Lächler. »Wir haben nur nirgendwo ein Schild gesehen.«

»Heutzutage nennen wir es Weingarten«, sagte ich. »Was kann ich für Sie tun?« Aber mochten meine Worte auch höflich sein, mein Tonfall war es nicht. Ich sprach so, wie ich es mit Störenfrieden zu tun pflege: Entschuldigen Sie. Kann ich Ihnen helfen?

»Dann sind Sie also Mr. Cranmer, ist das richtig, Sir?« fuhr der Schnurrbart fort, noch immer lächelnd. Warum ich »lächelnd« sage, weiß ich nicht, denn seine rein äußerlich zwar freundliche Miene ließ weder Humor noch eine Spur von Gutmütigkeit erkennen.

»Ja, mein Name ist Cranmer«, erwiderte ich, behielt aber den fragenden Tonfall bei.

»Mr. Timothy Cranmer? Nur eine Routinesache, Sir, falls Sie nichts dagegen haben. Wir stören doch hoffentlich nicht?« Sein Schnurrbart verdeckte eine senkrechte weiße Narbe. Ich tippte auf eine operierte Hasenscharte. Oder vielleicht hatte ihm jemand mit einer zerbrochenen Flasche ins Gesicht geschlagen, es wirkte wie zusammengeflickt.

»Routinesache?« wiederholte ich unverhohlen ungläubig. »So spät am Abend? Erzählen Sie mir nicht, meine Autozulassung sei abgelaufen.«

»Nein, Sir, es geht nicht um Ihre Zulassung. Wir ermitteln im Fall eines gewissen Dr. Lawrence Pettifer von der Universität Bath.«

Ich erlaubte mir eine Kunstpause, dann ein Stirnrunzeln zwischen Belustigung und Verärgerung. »Sie meinen Larry? Du lieber Himmel! Was hat er denn nun wieder angestellt?« Und als ich keine Antwort erhielt, sondern bloß angestarrt wurde: »Doch hoffentlich nichts Schlimmes?«

»Man hat uns zu verstehen gegeben, Sie seien mit dem Doktor bekannt, um nicht zu sagen, gut befreundet. Oder ist das nicht richtig?«

Ein wenig zu richtig, dachte ich.

»Gut?« wiederholte ich, als sei mir der Gedanke an Freundschaft noch nie gekommen. »So weit würde ich nicht gehen wollen.«

Wie ein Mann reichten sie mir ihre Mäntel, sahen zu, wie ich sie aufhängte, und sahen dann wieder zu, als ich die Innentür für sie aufmachte. Die meisten Leute, die zum erstenmal nach Honeybrook kommen, legen an dieser Stelle eine ehrfürchtige Pause ein, betrachten staunend die Galerie, den großen Kamin, die Porträts und die Tonnendecke mit den Wappenschilden. Nicht so der Schnurrbart. Und ebensowenig der Sargschädel, der sich, nachdem er bis dahin unseren Wortwechsel nur hinter der Schulter seines älteren Kollegen verfolgt hatte, jetzt dazu entschloß, mich mit dem barschen monotonen Tonfall des Zukurzgekommenen anzureden:

»Wir haben gehört, daß Sie und Pettifer eng befreundet sind«, sagte er mißbilligend. »Unseres Wissen waren Sie gemeinsam auf dem Winchester College, waren Schulkameraden.«

»Wir waren drei Jahre auseinander. Das ist für Schulkinder eine Ewigkeit.«

»Trotzdem, es ist uns nicht unbekannt, daß so etwas unter Besuchern von Eliteschulen Gemeinsamkeiten schafft. Außerdem haben Sie zusammen in Oxford studiert«, fügte er anklagend hinzu.

»Was ist mit Larry?« sagte ich.

Meine Frage entlockte den beiden nur ein anmaßendes Schweigen. Sie schienen zu überlegen, ob ich einer Antwort würdig sei. Dem Älteren, als ihrem offiziellen Sprecher, kam es zu, sie mir zu geben. Seine Methode hatte ich schon durchschaut: Er karikierte sich selbst. Und zwar in Zeitlupe.

»Ja nun, um die Wahrheit zu sagen, Ihr Freund, der Doktor, wird gewissermaßen vermißt, Mr. Cranmer, Sir«, gestand er im Stil eines zögerlichen Inspektor Plod. »Kein Hinweis auf ein Verbrechen, zum jetzigen Zeitpunkt. Aber er ist weder in seiner Wohnung noch an seinem Arbeitsplatz aufgetaucht. Und so weit wir das verifizieren konnten« – wie sehr er das Wort liebte, bekundete sein Stirnrunzeln –, »hat er auch niemandem einen Abschiedsbrief geschrieben. Es sei denn Ihnen natürlich. Er ist doch nicht zufällig hier, Sir? Schläft oben seinen Rausch aus?«

»Selbstverständlich nicht. Machen Sie sich nicht lächerlich.«

Sein narbiger Schnurrbart zog sich abrupt in die Breite und entblößte zornig schlechte Zähne. »Ach? Und was soll daran lächerlich sein, Mr. Cranmer, Sir?«

»Ich hätte es Ihnen sofort gesagt. Er ist oben, hätte ich gesagt. Warum sollte ich Ihre oder meine Zeit verschwenden und so tun, als sei er nicht hier, wenn er hier wäre?«

Wieder blieb die Antwort aus. Er machte das recht klug. Ich begann zu argwöhnen, daß er vielleicht auch sonst recht klug war. Ich hatte Polizisten gegenüber Vorurteile und bemühte mich jetzt sie abzulegen, während er gleichzeitig versuchte, sie gezielt auszunutzen. Das hatte teils mit gesellschaftlichen Dingen zu tun; teils mit meinem früheren Beruf, in dem Polizisten als arme Verwandte betrachtet wurden. Und schließlich agitierte auch Larry in mir, denn, wie wir in der Firma zu sagen pflegten, Larry brauchte nur mit einem Polizisten in derselben Stadt aufzutauchen, um von diesem prompt wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen zu werden.

»Nur, verstehen Sie, Sir, der Doktor hat offensichtlich keine Frau, keine Gefährtin, niemanden sonst von Bedeutung, keinen Menschen«, lamentierte der Schnurrbart. »Bei den Studenten ist er sehr beliebt, die halten ihn für einen Spaßvogel; aber fragen Sie einmal seine Kollegen nach ihm, da stoßen Sie, ich will mal sagen, auf eisige Ablehnung, halb aus Neid, halb aus Verachtung.«

»Er ist ein unabhängiger Geist«, sagte ich. »Das sind Akademiker nicht gewohnt.«

»Wie bitte, Sir?«

»Er pflegt offen seine Meinung zu sagen. Besonders wenn’s um Akademiker geht.«

»Aber der Doktor gehört doch auch zu diesem Verein«, sagte der Schnurrbart und zog großspurig eine Augenbraue hoch.

»Er war der Sohn eines Pastors«, sagte ich unbedacht.

»War, Sir?«

»War. Sein Vater ist tot.«

»Trotzdem ist er noch immer der Sohn seines Vaters, Sir«, bemerkte der Schnurrbart tadelnd.

Sein falsches Pathos kam mir langsam beleidigend vor. So hättest du uns beschränkte Polypen wohl gern, gab er mir zu verstehen, also bitte, dann bin ich eben so.

Zu meinem Salon geht es durch einen langen Gang, in dem Aquarelle aus dem neunzehnten Jahrhundert hängen. Ich ging voran und hörte hinter mir das Klappen ihrer Schuhe. Vorhin hatte ich auf meiner Stereoanlage Schostakowitsch gehört, jedoch ohne Überzeugung. Jetzt schaltete ich sie aus und schenkte in demonstrativer Gastfreundlichkeit drei Gläser mit Honeybrook Rouge ein. Der Schnurrbart brummte »Zum Wohl«, trank und sagte, es sei eine erstaunliche Vorstellung, daß der hier in diesem Haus gewachsen sei, wie man doch sagen könnte, Sir. Sein linkischer Partner hingegen hielt sein Glas vors Kaminfeuer, um die Farbe zu prüfen. Schob die lange Nase hinein und schnüffelte. Nahm endlich einen fachmännischen Schluck und kaute darauf herum, während er den exquisiten kleinen Bechstein begutachtete, den ich in meinem Wahnsinn für Emma gekauft hatte.

»Schmecke ich hier nicht irgendwie eine Spur von Pinot?« wollte er wissen. »Auf jeden Fall ist eine Menge Gerbsäure drin.«

»Das ist Pinot«, antwortete ich zähneknirschend.

»Ich wußte gar nicht, daß man Pinot in England zur Reife bringen kann.«

»Das kann man auch nicht. Es sei denn, man hat eine ungewöhnlich gute Lage.«

»Ist Ihre Lage ungewöhnlich gut?«

»Nein.«

»Warum pflanzen Sie ihn dann an?«

»Das tue ich nicht. Mein Vorgänger hat es getan. Er war ein unverbesserlicher Optimist.«

»Wie kommen Sie zu dieser Behauptung?«

Ich konnte kaum noch an mich halten. »Aus verschiedenen Gründen. Der Boden hier ist zu fett, außerdem schlecht bewässert und zu hoch über dem Meeresspiegel. Mein Onkel war entschlossen, diese Schwierigkeiten zu ignorieren. Als andere Weingärten hier in der Gegend gediehen und nur seiner nicht, schob er das auf sein Pech und versuchte es im nächsten Jahr wieder.« Ich wandte mich an den Schnurrbart. »Darf ich vielleicht Ihre Namen erfahren?«

Mit vorschriftsmäßig gespielter Verlegenheit hielten sie mir ihre Ausweise hin, aber ich winkte sie weg. Auch ich hatte zu meiner Zeit Ausweise geschwenkt, von denen die meisten gefälscht waren. Der Schnurrbart sagte, er habe versucht, mich vorher anzurufen, aber feststellen müssen, daß ich nicht mehr im Telefonbuch stehe. Da sie sich zufällig in einer anderen Sache hier in der Gegend aufhielten, Sir, hätten sie sich erlaubt, gleich bei mir anzuläuten. Ich glaubte ihnen nicht. Ihr Peugeot hatte ein Londoner Kennzeichen. Sie trugen städtische Schuhe. Ihre Gesichter waren nicht von der Landluft gerötet. Sie hießen, sagten sie, Oliver Luck und Percy Bryant. Luck, der Sargschädel, war Sergeant. Bryant, der Schnurrbart, war Inspektor.

Luck registrierte die Einrichtung meines Salons: die Miniaturen meiner Familie, meine düsteren Möbel aus dem achtzehnten Jahrhundert, meine Bücher – Herzens Erinnerungen, Clausewitz’ Vom Kriege.

»Sie lesen wohl viel«, sagte er.

»Wenn ich Zeit habe.«

»Die Sprachen, sind die kein Hindernis?«

»Manche sind es, manche nicht.«

»Welche sind es nicht?«

»Ich kann ein wenig Deutsch. Russisch.«

»Französisch?«

»Nur lesen.«

Die ganze Zeit ihre Augen auf mir, alle vier. Sehen Polizisten uns als das, was wir sind? Erkennen sie etwas in uns, das sie an sie selbst erinnert? Die Monate meiner Pensionierung fielen von mir ab. Ich befand mich wieder im Einsatz und fragte mich, ob man mir das ansah und inwieweit die Firma dahintersteckte. Emma, dachte ich, haben sie dich gefunden? Dich ausgequetscht? Dich zum Reden gebracht?

Es ist vier Uhr morgens. Sie sitzt in ihrem Dachstudio an dem Schreibtisch aus Rosenholz, auch so ein kostspieliges Geschenk, das ich ihr gemacht habe. Sie tippt. Sie hat schon die ganze Nacht getippt, eine Pianistin, die süchtig nach der Schreibmaschine ist.

»Emma«, flehe ich sie von der Tür aus an. »Was soll das alles?« Keine Antwort. »Du machst dich kaputt. Leg dich jetzt schlafen, bitte.«

Inspektor Bryant rieb die Hände zwischen den Knien auf und ab, wie jemand, der Weizen schält. »Also, Mr. Cranmer, Sir«, sagte er, das Lächeln in Lauerstellung, »wann haben Sie, wenn ich fragen darf, unseren Freund, den Doktor, das letztemal gesehen oder von ihm gehört?«

Und das war genau die Frage, auf die ich mich in den letzten fünf Wochen Tag und Nacht vorbereitet hatte.

Aber ich antwortete nicht. Noch nicht. Entschlossen, ihn aus dem Rhythmus seines Verhörs zu bringen, entschied ich mich lieber für einen behaglichen Tonfall, der unserer Runde am Kamin angemessen war.

»Sie sagten eben, er habe keine Gefährtin«, wandte ich ein.

»Ja, Sir?«

»Nun, also wirklich« – ich lachte –, »irgend jemanden hat Larry immer gehabt, da können Sie sicher sein.«

Luck unterbrach mich. Grob. Er kannte nur Bremse oder Vollgas, nichts dazwischen. »Reden Sie von einer Frau?« platzte er heraus.

»Solange ich ihn gekannt habe, hatte er immer einen ganzen Stall davon«, sagte ich. »Wollen Sie mir weismachen, er sei im Alter zölibatär geworden?«

Bryant wog meine Worte sorgsam ab.

»Dieser Ruf ist ihm nach Bath vorausgeeilt, Mr. Cranmer, Sir. Aber die Wahrheit sieht, wie wir herausgefunden haben, ein wenig anders aus, stimmt’s, Oliver?« Luck starrte noch immer finster in den Kamin. »Wir haben seine Vermieterin gründlich befragt, und wir haben seine Kollegen von der Universität befragt. Selbstredend vertraulich. Wir wollten schließlich in diesem frühen Stadium unserer Ermittlungen kein ungereimtes Zeug in Umlauf bringen.« Er holte Luft, und ich fragte mich, wie viel von seinem grämlichen Betragen er wohl seinen absurd erfolgreichen Fernsehkollegen abgeschaut haben mochte. »Anfangs, unmittelbar nach Antritt seiner Stellung in Bath, war er tatsächlich genau so, wie Sie sagen. Er hatte seine Stammlokale, er hatte eine Schwäche für hübsche Studentinnen, von denen auch anscheinend einige schwach geworden sind. Dann aber tritt allmählich eine Veränderung ein. Er wird seriös. Er geht nicht mehr auf Partys. Viele Abende verbringt er auf seiner Bude. Manchmal ganze Nächte. Er trinkt weniger. Beherrscht ist ein Ausdruck, der ziemlich oft auftaucht. Zielstrebig ein anderer. Um es einmal nicht so feinfühlig auszudrücken, der Doktor umgibt sich in letzter Zeit mit Geheimnissen, die wir noch nicht haben knacken können.«

So was nennt man Handwerk, dachte ich. »Vielleicht ist er endlich erwachsen geworden«, bemerkte ich leichthin, offenbar aber erregter als beabsichtigt; denn Lucks länglicher Schädel wandte sich zu mir um, und er starrte mich an, während der Schein des Kaminfeuers rot und orange über seine Halssehnen glitt.

»In den letzten zwölf Monaten hatte er unseres Wissens nur gelegentlich von einem Gentleman aus Übersee Besuch, genannt der Professor«, fuhr Bryant fort. »Professor wofür oder wo, bleibt vorerst rätselhaft. Der Professor ist nie lange geblieben und anscheinend stets unangemeldet aufgetaucht, aber der Doktor hat sich immer über seinen Besuch gefreut. Meist ließen sie sich ein Curry kommen und tranken Bier dazu, auch Scotch wurde nicht verschmäht, und Zeugen haben sie lachen gehört. Der Professor war unserer Quelle zufolge offensichtlich selber ein geistreicher Kopf. Er schlief auf dem Sofa und ist am nächsten Tag wieder abgereist. Hatte nur eine leichte Tasche dabei, ganz autark. Selbständig wie eine Katze, so hat sie ihn genannt. Einen Namen hat er nicht gehabt, jedenfalls nicht für die Vermieterin, nur Professor, das ist der Professor. Außerdem haben er und der Doktor in einer gänzlich unbekannten Sprache gesprochen, ziemlich oft bis in die frühen Morgenstunden.«

Ich nickte, versuchte Interesse zu bekunden und mir nichts von der Faszination anmerken zu lassen, die er in mir weckte.

»Russisch war es nicht, das hätte die Vermieterin erkannt. Ihr verstorbener Mann war Marineoffizier und hatte Russisch gelernt, daher weiß sie, wie diese Sprache sich anhört. Wir haben bei der Universität nachgefragt. Keiner der offiziellen Gäste paßt auf die Beschreibung. Der Professor ist privat gekommen und privat wieder abgereist.«

Ich spaziere durch Hampstead Heath, Larry neben mir; fünf Jahre ist das her. Wir gehen zu schnell. Beide, immer. Ob in den Parks von London oder bei unseren Wochenendaufenthalten im sicheren Haus der Firma in Norfolk, wir gehen wie zwei Sportler, die selbst noch in ihrer Freizeit Wettkämpfe miteinander austragen.

»Tschetschejew hat sich zum Curry bekehrt«, verkündet Larry. »Sechs Monate lang liegt er mir in den Ohren, Lamm ist Lamm, und Saucen sind dekadent. Gestern Abend beim Viceroy of India verschlingt er Chicken vindaloo und findet zu Gott.«

»Anscheinend war er klein und stämmig«, sagte Bryant gerade. »Sie schätzt ihn auf Ende vierzig, Haarfarbe schwarz, nach hinten gekämmt. Koteletten, dicker Schnauzbart, der über die Mundwinkel hängt. Trug meistens eine Bomberjacke und Laufschuhe. Hautfarbe bräunlich, aber noch weiß, sagt sie. Voller Narben. Hat früher wohl Pickel gehabt. Trockener Humor, Schalk im Nacken. Nicht so wie andere Professoren, die sie kennt. Klingelt da vielleicht was bei Ihnen?«

»Leider nein«, sagte ich. Ich versuchte die Klingel zu unterdrücken – oder, genauer, ihr betäubendes Schrillen zu überhören.

»Hat ihn sogar bezaubernd genannt, richtig, Oliver? Kam uns fast so vor, als ob sie in ihn verknallt war.«

Anstatt ihm zu antworten, wandte Luck sich brüsk an mich. »Welche Sprachen genau spricht Pettifer, außer Russisch?«

»Keine Ahnung, welche genau« – das gefiel ihm nicht –, »er ist Slawist. Sprachen sind seine Stärke, insbesondere die Sprachen von Minderheiten. Ich hatte den Eindruck, daß er sie regelrecht sammelte. Außerdem ist er Philologe, glaube ich.«

»Liegt ihm im Blut, wie?«

»Das kann ich nicht sagen. Er ist einfach begabt.«

»So wie Sie.«

»Bei mir ist es Fleiß.«

»Bei Pettifer nicht?«

»Das hat er nicht nötig. Wie gesagt. Er ist begabt.«

»Wann ist er Ihres Wissens das letztemal ins Ausland gereist?«

»Gereist? Du liebe Zeit, er ist ständig gereist. Früher. Das war seine Leidenschaft. Am meisten angetan haben es ihm möglichst unangenehme Orte.«

»Wann war das letzte Mal?«

18. September, dachte ich. Wann sonst? Das letzte Mal, sein letztes heimliches Treffen, sein absolut letztes Wort. »Sie meinen, wann er das letztemal gereist ist?« fragte ich. »Das weiß ich leider wirklich nicht. Ich könnte spekulieren, aber das führt Sie womöglich in die Irre. Warum überprüfen Sie nicht Passagierlisten und so was? Solche Informationen sind doch heutzutage alle in Computern gespeichert, oder?«

Luck warf Bryant einen Blick zu. Bryant sah mich an, mit einem Lächeln, das kaum noch geduldig zu nennen war.

»Ja, also, Mr. Cranmer, Sir, wenn ich auf meine ursprüngliche Frage zurückkommen dürfte«, sagte er mit vernichtender Höflichkeit. »Das Problem ist: wann, und nichts anderes. Und es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie uns endlich verraten würden, wann Sie das letztemal Kontakt mit dem Vermißten hatten.«

Zum zweitenmal drängte sich beinahe die Wahrheit auf. Kontakt? wollte ich sagen. Kontakt, Mr. Bryant? Vor fünf Wochen, am 18. September am Weiher in Priddy, Mr. Bryant! Kontakt in einer Weise, von der Sie sich nichts träumen lassen!

»Ich schätze, kurz nachdem ihm die Universität eine Dauerstellung angeboten hatte«, antwortete ich. »Er war völlig begeistert. Hatte es satt, immer nur kurzfristige Lehraufträge zu erhalten und sich nebenher als Journalist durchs Leben zu schlagen. Bath hat ihm die Sicherheit geboten, die er brauchte. Er hat mit beiden Händen zugegriffen.«

»Und?« sagte Luck, für den Schroffheit ein Zeichen von Tugend war.

»Und er hat mir geschrieben. War ein zwanghafter Briefeschreiber. Das war unser letzter Kontakt.«

»Was genau hat er geschrieben?« wollte Luck wissen.

Daß die Universität von Bath genau so war, wie sie war, als ich ihn hierher brachte: grau, verdammt kalt und nach Katzenpisse stinkend, gab ich im Geiste zurück, als die Wahrheit schon wieder in mir hochstieg. Daß er in einer Welt ohne Glauben oder Nichtglauben vom Kopf aufwärts verwese. Daß die Universität von Bath das gleiche wie die Lubjanka sei, nur werde hier nicht gelacht, und daß ich wie immer persönlich schuld daran sei. Unterschrift Larry.

»Daß er seine offizielle Ernennungsurkunde erhalten habe, daß er überglücklich sei und daß wir alle an seinem Glück teilhaben sollten«, antwortete ich verbindlich.

»Wann genau war das?«

»Mit Daten habe ich’s leider nicht so. Wie schon mehrmals gesagt. Es sei denn, es handelt sich um Jahrgänge.«

»Haben Sie seinen Brief noch?«

»Ich bewahre keine alten Briefe auf.«

»Aber Sie haben ihm geantwortet.«

»Umgehend. Bei Privatbriefen mach ich das immer. Ich kann es nicht leiden, wenn meine Post unerledigt ist.«

»Das ist noch der Beamte in Ihnen, nehme ich an.«

»Schon möglich.«

»Aber jetzt sind Sie im Ruhestand.«

»Von Ruhestand kann wahrlich keine Rede sein, Mr. Luck. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so beschäftigt gewesen.«

Bryant übernahm nun wieder, mit seinem Lächeln und seinem vernarbten Schnurrbart. »Damit spielen Sie wohl auf ihre vielfältige und nützliche Arbeit in der Gemeinde an. Wie ich höre, wird Mr. Cranmer hier in der Gegend geradezu als Heiliger verehrt.«

»Nicht Gegend. Nur hier im Dorf«, erwiderte ich gleichmütig.

»Die Kirche retten. Den Alten helfen. Landurlaub für unsere benachteiligten Kinder aus den Innenstädten. Haus und Grundstück den Kleinbauern öffnen, zum Wohl des örtlichen Einkehrhauses. Hat mich beeindruckt, stimmt’s, Oliver?«

»Sehr«, sagte Luck.

»Vergessen wir mal die zwanghafte Briefschreiberei. – Wann also haben wir den Doktor das letztemal gesehen, Sir, von Angesicht zu Angesicht?« fuhr Bryant fort.

Ich zögerte. Absichtlich. »Vor drei Monaten? Vier? Fünf?« Er sollte sich was aussuchen.

»War das hier, Sir? In Honeybrook?«

»Er ist hier gewesen, ja.«

»Wie oft, was schätzen Sie?«

»Meine Güte – ich habe darüber nicht Buch geführt. Larry schneit herein, man fertigt ihn in der Küche mit einem Ei ab und wirft ihn wieder raus – in den letzten beiden Jahren, na ja, ein halbes dutzendmal. Sagen wir achtmal.«

»Und das allerletzte Mal, Sir?«

»Ich habe darüber nachgedacht. Wahrscheinlich im Juli. Wir wollten schon mal die Weinfässer schrubben. Larry wird man am besten los, wenn man ihm was zu arbeiten gibt. Er hat eine Stunde lang mitgemacht, dann etwas Brot und Käse gegessen, vier Gin Tonic getrunken, und dann ist er weg.«

»Also im Juli«, sagte Bryant.

»Wie gesagt. Juli.«

»Wissen Sie noch das Datum? Vielleicht den Wochentag? War’s am Wochenende?«

»Ja, muß es gewesen sein.«

»Warum?«

»Keine Angestellten da.«

»Haben Sie nicht eben ›wir‹ gesagt, Sir?«

»Ein paar Kinder aus der Siedlung haben mir geholfen, für ein Pfund die Stunde«, antwortete ich und vermied wieder einmal behutsam, Emmas Namen zu erwähnen.

»Reden wir hier von Mitte Juli, von Anfang oder eher Ende Juli?«

»Mitte. Muß es gewesen sein.« Ich stand auf, vielleicht um zu zeigen, wie entspannt ich war, und studierte demonstrativ den Kalender eines Flaschenherstellers, den Emma neben das Telefon gehängt hatte. »Da haben wir’s ja. Tante Madeline, zwölfter bis neunzehnter. Ich hatte meine alte Tante zu Besuch. An diesem Wochenende muß Larry vorbeigekommen sein. Er hat ihr die Ohren vollgequatscht.«

Ich hatte Tante Madeline seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Aber falls sie vorhatten, Zeugen aufzusuchen, war es mir lieber, sie suchten Tante Madeline als Emma.

»Nun sagt man aber, Mr. Cranmer, Sir«, erklärte Bryant durchtrieben, »Dr. Pettifer habe ausgiebig Gebrauch von seinem Telefon gemacht.«

Ich lachte belustigt auf. Jetzt betraten wir ein anderes dunkles Gebiet, und ich brauchte alle Selbstsicherheit, die ich aufbringen konnte. »Das sagt man bestimmt. Und nicht ohne Grund.«

»Ihnen ist etwas eingefallen, hab ich recht, Sir?«

»Na ja, du liebe Zeit, ja, das wird es sein. Wenn Larry ein Telefon hatte, konnte er einem das Leben schier zur Hölle machen. Anrufe zu jeder Tages- und Nachtzeit. Nicht daß er jemand Bestimmten angerufen hat, sondern jede Nummer in seinem Notizbuch.«

Ich lachte noch einmal, und Bryant lachte mit, während der Puritaner Luck weiter mürrisch in die Flammen starrte.

»Solche Typen kennt jeder von uns, Sir«, sagte Bryant. »Kalamitätenkrämer heißen die bei mir, nicht böse gemeint. Haben irgendein Problem – Streit mit Freund oder Freundin –, sollen sie dieses unglaubliche Haus kaufen, das sie vorhin oben vom Bus aus gesehen haben? – und sind erst glücklich, wenn sie einen da mit reingezogen haben. Wenn ich ehrlich sein soll, bei mir zu Hause ist es meine Frau, die solche Leute anzieht. Ich selbst habe dazu nicht die Geduld. Wann ist Dr. Pettifer das letztemal mit so was angekommen, Sir?«

»Mit was?«

»Mit so einem Anruf, Sir. Oder Notruf, wie ich zu sagen pflege.«

»Ach, das ist lange her.«

»Monate?«

Wieder tat ich so, als kramte ich in meinem Gedächtnis. Für Verhöre gibt es zwei goldene Regeln, und ich hatte bereits gegen beide verstoßen. Die erste lautet: niemals freiwillig unwesentliche Einzelheiten ausplaudern. Die zweite lautet: niemals eine direkte Lüge auftischen, es sei denn, man kann sie bis zum bitteren Ende durchhalten.

»Wenn Sie uns vielleicht den Grund des Anrufs schildern würden, Sir? Das könnte uns bei der Datierung helfen«, schlug er vor, als ob es sich um ein Spiel im Familienkreis handelte.

Jetzt saß ich in der Klemme. In meinem früheren Leben wurde allgemein davon ausgegangen, daß die Polizei, im Gegensatz zu uns, nur selten Wanzen verlegte und Telefone anzapfte. Bei ihren zu Unrecht so genannten diskreten Nachforschungen beschränkte sie sich darauf, Nachbarn, Ladeninhaber und Bankdirektoren zu belästigen, verzichtete aber auf die uns vorbehaltenen Mittel elektronischer Überwachung. Jedenfalls glaubten wir das. Ich beschloß, mich in die ferne Vergangenheit zu retten.

»Wenn ich mich recht erinnere, war es die Zeit, als Larry sich gewissermaßen öffentlich von radikalen Positionen des Sozialismus distanzierte und seine Freunde daran teilhaben lassen wollte«, sagte ich.

Luck, der noch immer vor dem Kamin saß, legte sich eine lange Hand an die Wange, als hätte er dort Nervenschmerzen.

»Reden wir hier vom russischen Sozialismus?« fragte er mit seiner mißmutigen Stimme.

»Von welchem Sie wollen. Er hat sich ent-radikalisiert – so seine eigene Formulierung –, und er wollte, daß seine Freunde das miterlebten.«

»Wann genau soll das gewesen sein, Mr. Cranmer, Sir?« fragte Bryant von der andern Seite.

»Vor etwa zwei Jahren. Nein, mehr. Zu der Zeit, als er seine Akte in Ordnung brachte, um sich für die Stelle an der Universität zu bewerben.«

»November ’92«, sagte Luck.

»Wie bitte?«

»Falls Sie von seiner öffentlichen Abkehr vom radikalen Sozialismus reden, geht es doch wohl um seinen Artikel ›Tod eines Experiments‹ in der Sozialistischen Rundschau vom November 92. Der Doktor begründet da seine Entscheidung mit einer Analyse dessen, was er als heimliches Kontinuum des russischen Expansionismus bezeichnet, der unter zaristischer, kommunistischer oder, wie heute, föderalistischer Flagge stets gleichgeblieben sei. Dabei verweist er auch auf die vom Westen neuentdeckte moralisch orthodoxe Haltung, die er mit der Frühphase der kommunistischen Gesellschaftslehre vergleicht, nur ohne deren fundamentalen Idealismus. Einige seiner linken akademischen Kollegen haben diesen Artikel als ziemlich schweren Verrat betrachtet. Und Sie?«

»Ich hatte dazu keine Meinung.«

»Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?«

»Nein. Ich habe ihm gratuliert.«

»Wieso?«

»Weil ihm daran gelegen war.«

»Reden Sie den Leuten immer nach dem Mund?«

»Wenn ich jemandem seinen Willen lasse, der mir auf die Nerven geht, Mr. Luck, und wenn ich endlich wieder zu was anderem kommen will, ja, dann tue ich das in der Tat«, sagte ich und riskierte einen Blick auf meine französische Schlaguhr in ihrer gläsernen Kuppel. Aber so einfach ließ Luck sich nicht abfertigen.

»Und November 1992 – als Pettifer diesen famosen Artikel schrieb –, das war doch etwa die Zeit, als Sie sich von dem, was auch immer Sie in London getan haben, zurückgezogen haben, wenn ich nicht irre?«

Es gefiel mir nicht, wie Luck zwischen unseren Leben Parallelen zog, und sein anmaßender Ton war mir zuwider.

»Kann sein.«

»Waren Sie mit seiner Abkehr vom Sozialismus einverstanden?«

»Erwarten Sie von mir, daß ich Ihnen meine politische Einstellung darlege, Mr. Luck?«

Ich dachte nur, es muß für Sie doch einigermaßen riskant gewesen sein, daß Sie ihn zur Zeit des Kalten Kriegs gekannt haben. Sie waren Beamter, und er war damals, wie Sie gerade noch gesagt haben, ein sozialistischer Revolutionär.«

»Ich habe aus meiner Bekanntschaft mit Dr. Pettifer nie ein Geheimnis gemacht. Daß wir zur gleichen Zeit die Universität besucht haben und auf dieselbe Schule gegangen sind, war schließlich kein Verbrechen, auch wenn Sie das offensichtlich anders sehen. In meiner Dienststelle jedenfalls ist das nie ein Thema gewesen.«

»Jemals irgendwelche seiner Freunde aus dem Sowjetblock kennengelernt? Diese Russen, Polen, Tschechen und so weiter, mit denen er sich rumgetrieben hat?«

Ich sitze im oberen Zimmer unseres sicheren Hauses in Shepherd Market und trinke ein letztes Glas mit dem Rechtskonsulenten (für Wirtschaftsfragen) Wolodja Zorin, der in Wirklichkeit leitender Resident des wiederbelebten russischen Nachrichtendienstes in London ist. Es ist unser letzter halbamtlicher Meinungsaustausch. In drei Wochen werde ich mich von der geheimen Welt und allen ihren Aktivitäten verabschieden. Zorin ist ein ergrauter Kalter Krieger im geheimen Rang eines Obersten. Der Abschied von ihm kommt einem Abschied von meiner eigenen Vergangenheit gleich.

»Und was werden Sie mit dem Rest Ihres Lebens anfangen, Freund Timothy?« fragt er.

»Mich beschränken«, antworte ich. »A la Rousseau. Großen Projekten den Rücken zukehren, Reben züchten und gute Werke im Kleinen tun.«

»Sie wollen sich mit einer Berliner Mauer umgeben?«

»Das ist leider bereits geschehen, Wolodja. Mein Onkel Bob hat seinen Weingarten innerhalb eines ummauerten Gartens aus dem achtzehnten Jahrhundert angelegt. Eine Frostfalle und eine Brutstätte für Krankheiten.«

»Nein, Dr. Pettifer hat mich nie mit solchen Leuten bekanntgemacht«, antwortete ich.

»Hat er Ihnen von diesen Leuten erzählt? Wer sie waren? Was er mit ihnen getrieben hat? Was für Geschäfte er mit ihnen ausgeheckt hat? Gegenseitige Gefälligkeiten, irgend etwas dieser Art?«

»Geschäfte? Natürlich nicht.«

»Geschäfte. Gegenseitige Gefälligkeiten. Transaktionen«, fügte Luck drohend mit Nachdruck hinzu.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Nein, er hat nichts dergleichen mit mir besprochen. Nein, ich weiß nicht, was er mit ihnen getrieben hat. Wahrscheinlich viel leeres Stroh gedroschen. Die Probleme der Welt lässig in drei Flaschen gelöst.«

»Sie mögen Pettifer nicht, stimmt’s?«

»Er ist mir weder sympathisch noch unsympathisch, Mr. Luck. Ich habe, offenbar im Gegensatz zu Ihnen, keine Vorurteile. Er ist ein alter Bekannter von mir. In hinreichend kleinen Dosen genossen, ist er ganz amüsant. Und danach habe ich mich immer gerichtet.«

»Gab’s jemals ernsthaften Streit mit ihm?«

»Weder ernsthaften Streit noch ernsthafte Freundschaft.«

»Hat Pettifer jemals angeboten, Ihnen ein Stück vom Kuchen abzugeben, im Gegenzug für irgendwelche Gefälligkeiten? Sie sind schließlich Beamter. Oder waren jedenfalls einer. Da konnten Sie ihm doch Wege ebnen, Tips geben, Empfehlungen für ihn aussprechen?«

Falls Luck vorhatte, mich in Rage zu bringen, machte er seine Sache ausgezeichnet. »Das ist eine absolut ungebührliche Unterstellung«, gab ich zurück. »Ebensogut könnte ich Sie fragen, ob Sie Bestechungsgelder nehmen.«

Wieder einmal legte Bryant sich mit wohlkalkulierter Plumpheit, die mich wütend machen sollte, ins Mittel. »Verzeihen Sie ihm, Mr. Cranmer, Sir, Oliver ist noch jung.« Er faltete die Hände wie zum Gebet. »Mr. Cranmer, Sir – bitte – dürfte ich vielleicht, Sir …«

»Ja, Mr. Bryant?«

»Ich denke, wir sind mal wieder vom Thema abgekommen, Sir. Darin sind wir ziemlich gut, wie ich feststelle. Wir reden vom Telefon, und auf einmal sind wir mitten in einer zwei Jahre alten Geschichte. Was ist denn mit jetzt, Sir? Wann hat Ihr letztes Telefongespräch mit Dr. Pettifer stattgefunden, um es einmal so auszudrücken. Inhalt oder Thema interessieren mich nicht, sagen Sie nur: wann. Nur das will ich wissen, und es kommt mir allmählich so vor, als ob Sie mir aus irgendeinem Grund keine klare Antwort geben wollen; und deshalb ist der junge Oliver eben ein wenig unwirsch geworden. Sir?«

»Ich denke nach.«

»Lassen Sie sich nur Zeit, soviel Sie wollen.«

»Das ist wie mit seinen Besuchen. Man vergißt sie einfach. Er ruft immer an, wenn man gerade schwer beschäftigt ist.« Zum Beispiel, wenn man mit Emma schläft, damals, als es wirklich noch Liebe war. »Habe ich diesen oder jenen Artikel in der Zeitung gelesen – habe ich diesen oder jenen Dummkopf im Fernsehen das Blaue vom Himmel runterlügen hören? So ist das nun mal mit Studentenfreundschaften. Was vor fünfundzwanzig Jahren reizvoll war, ist heute eine Plage. Man wird erwachsen. Die Freunde werden es nicht. Man paßt sich an. Sie bleiben sich immer gleich. Sie werden alte Kinder, die nur noch langweilen. Und dann schaltet man ab.«

Lucks finsteres Gesicht gefiel mir ebenso wenig wie Bryants anzügliches Schnurrbartgrinsen.

»Ist das wörtlich zu nehmen, Sir?« fragte Bryant. »Das Telefon? Man läßt das Telefon abstellen? Ich glaube nämlich, genau das haben wir am vorigen 1. August getan, Mr. Cranmer, Sir, und erst volle drei Wochen später den Kontakt zur Außenwelt wiederhergestellt. Und zwar mit einer neuen Nummer.«

Ich muß darauf gefaßt gewesen sein, denn ich parierte den Angriff sofort nach beiden Seiten.

»Inspektor Bryant. Sergeant Luck. Jetzt reicht es mir aber langsam. Erst erkundigen Sie sich nach einem Vermißten. Und plötzlich kommen Sie mir mit irgendwelchem irrelevanten Unsinn von wegen zweifelhafter Kontakte, die ich als Beamter gehabt haben soll, fragen nach meiner politischen Einstellung, ob ich ein Sicherheitsrisiko bin und warum ich nicht mehr im Telefonbuch stehe.«

»Und? Warum?« sagte Luck.

»Weil ich belästigt wurde.«

»Von wem?«

»Jemand, der für Sie nicht die geringste Bedeutung hat.«

Bryant übernimmt wieder. »Nun, wenn das so war, Sir, warum haben Sie dann nicht die Polizei verständigt? Sie sind doch sonst kein so scheues Wesen? Bei Telefonterror helfen wir sehr gern, gleichgültig, ob es sich um Drohungen oder Obszönitäten handelt. Selbstverständlich in Zusammenarbeit mit der britischen Telecom. Sie hätten nicht drei Wochen lang die Verbindung zur Außenwelt abschneiden müssen.«

»Die Anrufe waren mir unerwünscht, aber es waren keine Drohungen oder Obszönitäten.«

»Ach? Was denn dann, Sir, wenn ich fragen darf?«

»Das war kein Fall für Sie. Und ist es auch jetzt nicht.« Ich fügte eine zweite Rechtfertigung hinzu, wo eine durchaus genügt hätte: »Außerdem sind drei Wochen ohne Telefon die reinste Erholung.«

Bryant griff in eine Innentasche. Er zog einen schwarzen Notizblock hervor, entfernte das Gummiband und schlug ihn auf dem Schoß auf.

»Nur, verstehen Sie, Sir, ich und Oliver, wir haben uns mit den Telefonaten des Doktors gründlich beschäftigt und zwar während der gesamten Zeit seines Aufenthalts in Bath«, erklärte er. »Wobei uns überaus hilfreich war, daß der Doktor eine durch und durch schottische Vermieterin hat, die den Anschluß mit ihm teilt. Jedes von dort geführte Gespräch wurde mit genauer Zeitangabe notiert. Begründet hat diese Tradition ihr verstorbener Mann, der Marinekommandant. Mrs. Macarthur führt sie fort.«

Bryant feuchtete den Daumen an und schlug eine Seite um.

»Angerufen wurde der Doktor zahllose Male, oft von weit entfernten Orten, dem Klang nach zu urteilen, und nicht selten wurde das Gespräch mittendrin abgebrochen. Ziemlich häufig hat der Doktor dabei auch diese Sprache benutzt, mit der sie nichts anfangen kann. Aber wenn er selbst jemand angerufen hat, war es anders. In diesen Fällen waren nach Aussage von Mrs. Macarthur bis zum 1. August dieses Jahres Sie sein Hauptgesprächspartner. Allein im Mai und Juni hat der Doktor es mit Ihnen auf insgesamt sechs Stunden zwanzig Minuten gebracht.«

Er schwieg, aber ich unterbrach ihn noch immer nicht. Ich hatte ein unmögliches Spiel gewagt und verloren. Ich hatte mich hin und her gewunden und gehofft, sie mit Halbwahrheiten abspeisen zu können. Aber gegen einen so gut geplanten Angriff hatte ich keine Verteidigung. Auf der Suche nach einem Sündenbock fiel mir die Firma ein. Wenn die Idioten in der Firma von Larrys Verschwinden wußten, warum zum Teufel hatten sie mich nicht vorgewarnt? Die mußten doch wissen, daß die Polizei nach ihm suchte. Warum also hatten sie das nicht unterbunden? Und wenn sie es nicht unterbinden konnten, warum ließen sie mich im Regen stehen und sagten mir nicht, wer was wußte und warum?

Ich habe meine letzte Besprechung mit Jake Merriman, dem Leiter der Personalabteilung. Er sitzt in seinen mit Teppichen ausgelegten Räumen am Berkeley Square, zerknackt einen Rich-Tea-Keks und stöhnt über das Rad der Geschichte. Merriman spielt schon so lange den englischen Volltrottel, daß weder er noch sonst irgend jemand mehr weiß, ob er das nun wirklich auch ist oder nicht.

»Ihre Arbeit getan, Tim, alter Junge«, klagt er mit seiner schleppenden, echolosen Stimme. »Für die Leidenschaft Ihrer Zeit gelebt. Was mehr kann man tun?«

Ich sage, ja was wohl. Aber Merriman ist taub für Ironie, wenn es nicht die eigene ist.

»Es war da, es war böse, Sie haben es ausspioniert und jetzt ist es weg. Aber daß wir gewonnen haben, kann doch nicht heißen, daß der Kampf sinnlos gewesen ist, oder? Warum rufen wir nicht hurra, wir haben sie niedergemacht, der rote Hund ist tot und begraben, Zeit für die nächste Party.« Ihm gelingt ein leises belustigtes Wiehern. »Keine großartige Party. Was Bescheideneres.« Dann zerbricht er eine der Kekshälften noch einmal und tunkt die Spitze in seinen Kaffee.

»Aber ich bin zu der neuen Party nicht eingeladen?« sage ich.

Merriman spricht schlechte Nachrichten nie selber aus. Er zieht es vor, sie aus einem herauszukitzeln.

»Ich glaube kaum, Tim«, stimmt er zu und dreht bedauernd den dicken Kopf zur Seite. »Fünfundzwanzig Jahre hinterlassen deutliche Spuren im Denken. Ich meine, es wäre viel besser für Sie, sich damit abzufinden, daß Sie Ihr Pensum geleistet haben und jetzt die Zeit gekommen ist, sich nach neuen Wirkungsfeldern umzusehen. Sie sind ja schließlich kein armer Mann. Sie besitzen ein schönes Anwesen auf dem Land und können von den Zinsen leben. Ihr verehrter Onkel Robert war so freundlich, das Zeitliche zu segnen, was wir von manch anderen reichen Onkeln selten behaupten können.«

In der Firma heißt es, bei Merriman solle man eher aus Versehen selber kündigen als darauf warten, daß er einen an die Luft setzt.

»Ich glaube nicht, daß ich zu alt bin, neue Aufgaben zu übernehmen«, sage ich.

»Kalte Krieger von siebenundvierzig kann man nicht recyceln, Tim. Sie sind viel zu nett. Sie haben zu viele Rücksichten zu nehmen. Das werden Sie Pettifer doch sagen? Es ist am besten, wenn es von Ihnen kommt.«

»Was genau soll ich ihm sagen?«

»Nun ja, dasselbe, was ich Ihnen gesagt habe. Sie glauben doch nicht, daß wir ihn auf Terroristen ansetzen können? Wissen Sie, was der Mann mich kostet? Allein die Vorschüsse? Ganz zu schweigen von den Spesen, die geradezu lachhaft sind.«

»Das weiß ich. Schließlich ist meine Sektion für seine Bezahlung zuständig.«

»Nur frage ich Sie: wofür denn noch? Zum Henker damit, wenn ich jemand überreden will, daß er sich für mich in Bagdad irgendeiner Bande anschließt, dann brauche ich jeden Penny, den ich kriegen kann. Die Pettifers dieser Welt sind ausgestorben. Geben Sie’s zu, sage ich.«

Zu spät, wie üblich, beginne ich die Geduld zu verlieren. »Das war nicht die Linie der Oberen Etage, als sein Fall zuletzt zur Debatte stand. Alle Seiten waren sich einig, daß wir abwarten sollten, ob Moskau sich eine neue Rolle für ihn ausdenkt.«

»Wir haben gewartet, und die Zeit ist uns zu lang geworden.« Er schiebt mir einen Ausschnitt aus dem Guardian über den Schreibtisch hin. »Pettifer braucht ein Umfeld, sonst macht er Schwierigkeiten. Reden Sie mit der Abteilung Deaktivierung. Die Universität Bath sucht einen Sprachwissenschaftler, der auch über globale Sicherheit lesen kann, wie die das nennen; ich nenne es das schärfste Oxymoron aller Zeiten. Befristet, könnte aber dauerhaft werden. Der Oberbonze dort war früher bei uns und ist positiv eingestellt, vorausgesetzt, Pettifer läßt sich nichts zuschulden kommen. Ich wußte gar nicht, daß Bath eine Universität hat«, fügt er griesgrämig hinzu, als ob ihm niemand je etwas sagen würde. »Bestimmt nur so eine aufgemotzte TH.«

Es ist der schlimmste Moment unserer über zwanzigjährigen Zusammenarbeit. Das Leben will es nun einmal so, daß wir auf irgendwelchen Hügeln in geparkten Autos sitzen müssen. Diesmal ist es ein Rastplatz auf einem Hügel in der Nähe von Bath. Larry sitzt neben mir, das Gesicht in den Händen vergraben. Über den Bäumen erkenne ich die grauen Umrisse der Universität, die wir eben besichtigt haben, und die beiden schmutzigen Metallschlote, die ihr bedrohliches Wahrzeichen sind.

»Woran glauben wir also jetzt, Timbo? An Sherry beim Dekan und schmucklose Kiefernmöbel?«

»Sag doch, an den Frieden, für den du gekämpft hast«, rate ich ihm lahm.

Er schweigt, und das ist jedesmal schlimmer, als wenn er flucht. Er greift mit den Händen nach oben, gelangt aber nicht ins Freie, sondern stößt ans Wagendach.

»Das ist eine sichere Zuflucht«, sage ich. »Eine Hälfte des Jahres langweilst du dich, die andere Hälfte kannst du tun und lassen, was du willst. Damit hast du’s bei weitem besser als der Durchschnitt der Menschheit.«

»Ich lasse mich nicht zähmen, Timbo.«

»Das verlangt auch niemand von dir.«

»Ich will keine sichere Zuflucht. Das kann mir alles gestohlen bleiben. Sichere Zufluchten! Stillstand! Unidozenten und an den Preisindex gebundene Pensionen! Am Sonntag den Wagen waschen! Und du kannst mir auch gestohlen bleiben.«

»Dir kann noch mehr gestohlen bleiben: die Geschichte, die Firma, das Leben und das Altwerden«, steigere ich noch seine Thesen.

Trotzdem habe ich einen Kloß im Hals, das kann ich nicht leugnen. Am liebsten würde ich ihm eine Hand auf die bebende und verschwitzte Schulter legen, nur daß solche Berührungen zwischen uns nicht üblich sind.

»Paß auf«, sage ich zu ihm. »Hörst du mir zu? Du bist hier dreißig Meilen von Honeybrook entfernt. Du kannst jeden Sonntag zum Lunch und zum Tee kommen und mir erzählen, wie beschissen das alles ist.«

Es ist die schlimmste Einladung, die ich jemals in meinem Leben ausgesprochen habe.

Bryant sprach in seinen Notizblock, den er sich vors Gesicht hielt, während er mir höhnisch die Liste von Larrys Telefongesprächen vorlas.

»Mr. Cranmer taucht ebenfalls unter den Anrufern auf, wie ich sehe. Es sind nicht nur diese komischen Ausländer. Ein gebildeter Gentleman, immer sehr höflich, spricht eher wie jemand von der BBC als wie ein Mensch, um die Vermieterin zu zitieren. Tja, genau so würde ich selbst Sie auch beschreiben, wenn Sie gestatten.« Er feuchtete einen Finger an und blätterte fröhlich um. »Dann machen Sie plötzlich kehrt und brechen jeden Kontakt mit dem Doktor ab. Jaja. Keinerlei Anrufe mehr, weder von Ihrer noch von seiner Seite, volle drei Wochen lang. Könnte man als Funkstille bezeichnen. Haben ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen, Mr. Cranmer, Sir, und ich und Oliver, wir haben uns gefragt, warum Sie ihm das angetan haben. Wir haben uns gefragt, was da gelaufen ist, bevor Sie den Kontakt zu ihm abgebrochen haben, und was dann anschließend aufgehört hat. Stimmt doch, Oliver?«

Er lächelte noch immer. Hätte ich mich auf dem Weg zum Galgen befunden, sein Lächeln würde sich nicht verändert haben. Meine Wut auf Merriman fand jetzt in Bryant ein dankbares Ziel.

»Inspektor«, fing ich an und geriet dann immer mehr in Rage. »Sie nennen sich Freund und Helfer. Trotzdem besitzen Sie die Unverschämtheit, sonntags um zehn Uhr abends unbefugt und unangemeldet in mein Haus einzudringen – Sie, Sie und Ihr …«

Bryant stand bereits. Sein mokantes Verhalten war wie eine Maske von ihm abgefallen. »Sie waren sehr freundlich, Sir, und wir sind schon viel zu lange hier. Vermutlich, weil die Unterhaltung mit Ihnen so anregend war.« Er klatschte eine Karte auf meinen Kaffeetisch. »Rufen Sie uns an, Sir, ja? Was auch immer passiert. Falls er anruft, schreibt, plötzlich vor Ihrer Haustür steht, Sie etwas von dritter Seite hören, das uns helfen könnte, ihn ausfindig zu machen …« Ich hätte ihm sein schmeichlerisches Lächeln in den Schädel schlagen können. »Ach, und für den Fall, daß der Doktor auftaucht, wären Sie bitte so freundlich, uns Ihre neue Telefonnummer zu geben? Vielen Dank.«

Er kritzelte, ich diktierte, Luck sah zu.

»Hübsches Klavier«, sagte Luck. Er war plötzlich zu nah bei mir, und zu groß.

Ich sagte nichts.

»Sie spielen doch selbst?«

»Das ist bekannt.«

»Ihre Frau ist nicht da?«

»Ich habe keine Frau.«

»Genau wie Pettifer. In welcher Abteilung waren Sie noch gleich? Wo im öffentlichen Dienst? Ich hab’s vergessen.«

»Von einer Abteilung habe ich nichts gesagt.«

»Also, was dann?«

»Ich war dem Finanzministerium unterstellt.«

»Als Sprachwissenschaftler?«

»Nicht unbedingt.«

»Und das war Ihnen nicht zu frustrierend? Das Finanzministerium? Öffentliche Ausgaben stutzen, Lohnrunden einfrieren, kein Geld mehr für Krankenhäuser? Ich fände das deprimierend.« Auch darauf verweigerte ich eine Antwort. »Sie sollten sich einen Hund halten, Mr. Cranmer. So ein Haus, das schreit doch förmlich danach.«

Der Wind hatte sich vollständig gelegt. Es regnete nicht mehr, und über dem Boden hingen Nebelschleier, die aus den Rücklichtern des Peugeots herbstliche Feuer machten.

2

Ich gerate nicht so leicht in Panik, aber noch nie war ich so nah daran wie in dieser Nacht. Auf wen von uns hatten sie es abgesehen – auf Larry oder mich? Oder auf uns beide? Wieviel wußten sie von Emma? Warum hatte Tschetschejew Larry in Bath besucht, und vor allem: wann? Wann? Diese Polizisten waren nicht auf der Suche nach irgendeinem linken Dozenten, der mal für ein paar Tage abgetaucht war. Sie verfolgten eine Spur, sie witterten Blut, sie jagten jemanden, der ihre aggressivsten Instinkte weckte.

Aber für wen hielten sie ihn – Larry, meinen Larry, unseren Larry? Was hatte er getan? Dieses Geschwätz von Geld und Russen und Tschetschejew, von mir und Sozialismus und noch einmal von mir – wie konnte Larry irgend etwas anderes sein als das, was wir aus ihm gemacht hatten: ein zielloser englischer Revolutionär aus dem Mittelstand, ein ewiger Dissident, ein Amateur, ein Träumer, ein ständiger Verweigerer; ein zäher, hilfloser, lüsterner, verkommener, halbwegs kreativer Versager, der zu klug war, ein Argument kaputtzumachen, zu störrisch, sich mit einem fehlerhaften zufriedenzugeben?

Und für wen hielten sie mich – diesen alleinstehenden pensionierten Staatsbeamten, der seine Fremdsprachen mit sich selber spricht, Wein produziert und in seinem reizvollen Weingarten in Somerset den guten Samariter spielt? Sie sollten sich einen Hund halten, also wirklich! Wie kamen sie darauf, nur weil ich allein lebte, könnte mir etwas fehlen? Verfolgten sie mich, nur weil sie Larry oder Tschetschejew nicht zu fassen bekamen? Und Emma – meine zarte oder nicht so zarte verschwundene Herrin von Honeybrook –, wie lange noch, bis auch sie den beiden ins Visier geriet? Ich ging nach oben. Nein, falsch. Ich rannte nach oben. Das Telefon stand neben meinem Bett, aber als ich den Hörer abnahm und wählen wollte, wußte ich zu meiner Demütigung plötzlich die Nummer nicht mehr, etwas, das mir selbst bei den heikelsten Operationen meines ganzen geheimen Lebens nie passiert war.

Aber wieso war ich überhaupt nach oben gegangen? Unten im Salon stand ein einwandfrei funktionierendes Telefon, ein weiteres im Arbeitszimmer. Warum war ich nach oben gerannt? Ich erinnerte mich an einen fanatischen Dozenten, der uns während der Ausbildungszeit mit Vorträgen über Fluchtstrategien gelangweilt hatte. Wenn Menschen in Panik geraten, hatte er gesagt, fliehen sie nach oben. Treppen, Aufzüge, Rolltreppen, alles wird benutzt, Hauptsache, es geht rauf und nicht runter. Wenn das Haus gestürmt wird, sind alle, die nicht vor Schreck erstarrt sind, auf dem Dachboden.

Ich setzte mich aufs Bett. Ließ die Schultern sinken und versuchte sie zu lockern. Befolgte den Rat irgendeines Gurus aus einem bunten Prospekt zum Thema Selbstmassage und ließ den Kopf kreisen. Ich spürte keine Erleichterung. Ich ging über die Galerie zu Emmas Seite des Hauses, blieb vor ihrer Tür stehen und horchte, worauf, war mir selbst nicht klar. Das Klappern ihrer Schreibmaschine, wie es wahllos einen hoffnungslosen Fall nach dem anderen erfaßte? Ihr verliebtes Geflüster am Telefon, bis ich es nicht mehr an mich heranließ? Ihre Stammesmusik aus dem tiefsten Afrika – Guinea, Timbuktu? Ich drückte die Klinke. Die Tür war abgeschlossen. Von mir. Ich horchte noch einmal, ging aber nicht hinein. Fürchtete ich mich vor ihrem Geist? Vor ihrem offenen, anklagenden, allzu unschuldigen Blick, mit dem sie mir sagte: Bleib draußen, ich bin gefährlich, ich habe mir selbst angst gemacht, und jetzt mache ich dir angst? Auf dem Rückweg zu meiner Seite blieb ich vor dem hohen Fenster am Treppenabsatz stehen und blickte auf die fernen Umrisse der Gartenmauer, die vom fahlen Licht der Treibhäuser beleuchtet wurde.

Ein warmer Spätsommertag auf Honeybrook. Wir sind seit sechs Monaten zusammen. Am Morgen stehen wir als erstes Schulter an Schulter im Abfüllraum, und Cranmer, der große Weinbauexperte, mißt atemlos den Zuckergehalt unserer Madeleine-Anjou-Trauben, auch so eine von Onkel Bobs fragwürdigen Anschaffungen. Die Madeleine ist so kapriziös wie jede andere Frau, hatte mir einmal ein französischer Fachmann unter viel Zwinkern und Kopfnicken versichert: heute reif und willig, morgen alt und ungenießbar. Ein sexistischer Vergleich, den ich Emma wohlweislich verschweige. Ich hoffe inständig auf siebzehn Prozent, aber schon sechzehn würden eine gute Ernte verheißen. Im sagenhaften Weinjahr 1976 kam Onkel Bob auf erstaunliche zwanzig Prozent, bevor die englischen Wespen sich über die Trauben hermachten und der englische Regen den Rest besorgte. Emma sieht zu, wie ich das Refraktometer nervös ans Licht halte. »Knapp achtzehn Prozent«, verkünde ich schließlich mit einer Stimme, die einem berühmten General am Vorabend der Schlacht besser angestanden hätte. »In zwei Wochen beginnen wir mit der Lese.«

Jetzt sitzen wir träge hinter der Gartenmauer zwischen unseren Rebstöcken und reden uns ein, wir könnten durch unsere Anwesenheit auf das letzte Stadium des Reifungsprozesses einwirken. Emma sitzt im Schaukelstuhl und trägt – auf meine Anregung hin – ein Kleid im Watteau-Stil: breiter Hut, langer Rock, die Bluse zum Sonnenbad aufgeknöpft; sie nippt an ihrem Pimm’s und liest Partituren, und ich sehe ihr dabei zu und möchte für den Rest meines Lebens nichts anderes mehr tun. Vorige Nacht haben wir miteinander geschlafen. Heute morgen nach der Zeremonie der Zuckerbestimmung haben wir noch einmal miteinander geschlafen, was ich, wie ich mir einbilde, noch am Glanz ihrer Haut und dem verträumten Ausdruck ihrer Augen erkennen kann.

»Wenn wir eine vernünftige Mannschaft zusammenbekommen, dürften wir das Ganze an einem Tag schaffen«, erkläre ich kühn.

Sie schlägt lächelnd eine Seite um.

»Onkel Bob hat den Fehler gemacht, dazu Freunde einzuladen. Das bringt nichts. Reine Zeitverschwendung. Richtige Landbewohner schaffen sechs Fässer am Tag. Oder sagen wir fünf. Auch wenn wir hier nicht mehr als drei haben, bestenfalls.«

Sie hebt lächelnd den Kopf, sagt aber nichts. Woraus ich schließe, daß sie meine landwirtschaftlichen Hirngespinste mit leisem Spott bedenkt.

»Wir könnten Ted Lanxon und die beiden Toller-Mädchen bekommen, und Mike Ambry, falls er nicht pflügen muß, und vielleicht noch Jack Taplows zwei Söhne aus dem Kirchenchor, falls sie nach dem Gottesdienst Zeit haben – natürlich als Gegenleistung für unsere Hilfe beim Erntefest.«

Ein zerstreuter Ausdruck erscheint auf ihrem jungen Gesicht, und ich fürchte, daß ich sie langweile. Sie furcht die Stirn, sie hebt eine Hand, um die Bluse zu schließen. Gleich darauf bemerke ich erleichtert, es ist bloß irgendein Geräusch, das sie gehört hat und ich nicht, denn ihr Musikergehör ist viel feiner als meins. Dann höre ich es auch: das Quietschen und Rattern eines gräßlichen Autos, das nun auf der Auffahrt anhält. Und ich weiß sofort, wessen Auto das ist. Ich brauche nicht zu warten, bis ich die vertraute Stimme erkenne, die nie laut wird, aber auch nie so leise ist, daß man sie nicht hören kann.

»Timbo. Cranmer, um Gottes willen. Wo zum Teufel steckst du, Mann? Tim?«

Und dann, denn Larry findet einen immer, fliegt die Tür in der Gartenmauer auf und steht er da, schlank wie eine Gerte in seinem nicht sehr weißen Hemd, der ausgebeulten schwarzen Hose und den erbärmlichen Wildlederstiefeln, die Pettifer-Stirnlocke kunstvoll überm rechten Auge. Und ich weiß, daß er, mit fast einem Jahr Verspätung, gerade als ich zu glauben beginne, daß ich ihn niemals wiedersehen werde, gekommen ist, um das erste der von mir versprochenen sonntäglichen Mittagessen einzufordern.

»Larry! Phantastisch! Du liebe Zeit!« rufe ich. Wir schütteln uns die Hände, dann, zu meinem Erstaunen, umarmt er mich und reibt seine Designerstoppeln an meiner frischrasierten Wange. Er hat mich nie umarmt, solange er mein Joe war. »Wunderbar. Endlich hast du’s geschafft. Emma, das ist Larry.« Ich halte ihn jetzt am Arm. Auch das ist für mich etwas Neues. »Gott hat uns beide nach Winchester und dann nach Oxford geschickt und seitdem hab ich ihn nicht mehr loswerden können. Stimmt’s, Larry?«

Zunächst scheint er unfähig, sie offen anzublicken. Er ist bleich wie unter der Guillotine und ein wenig böse: sein finsteres Lubjanka-Gesicht. Seinem Atem nach zu urteilen, ist er noch betrunken, wahrscheinlich hat er mit den Uni-Hausmeistern die ganze Nacht durchgesoffen. Anzusehen ist ihm aber wie üblich nichts davon. Er sieht aus wie ein eifriger empfindsamer Duellant, der allzu jung sterben soll. Er steht vor ihr, legt prüfend den Kopf zurück und mustert sie. Er fährt sich mit den Knöcheln übers Kinn. Er zeigt sein durchtriebenes, selbstkritisches Lächeln. Auch sie lächelt durchtrieben, ihre obere Gesichtshälfte wird vom Schatten des Sonnenhuts in geheimnisvolles Dunkel getaucht, eine Tatsache, deren sie sich vollkommen bewußt ist.

»Mensch, also wirklich!« erklärt er zufrieden. »Was für eine Schönheit. Wer ist das, Timbo? Wo zum Teufel hast du die gefunden?«

»Unter einem Giftpilz«, antworte ich stolz, was, so unbefriedigend es sein mag, bei Larry wesentlich besser ankommt als »an einem verregneten Freitagabend im Wartezimmer eines Physiotherapeuten in Hampstead«.

Dann begegnet sich beider Lächeln und leuchtet einander an – ihres leicht spöttisch, und seins, vielleicht wegen ihrer Schönheit, vorübergehend nicht ganz so seiner Wirkung bewußt wie sonst. Auf jeden Fall aber ein beiderseitiges Lächeln des Erkennens, auch wenn noch nicht klar ist, was da erkannt wird.

Aber mir ist es klar.

Ich bin der Makler, der Mittelsmann der beiden. Über zwanzig Jahre lang habe ich Larrys Suchen geleitet. Jetzt leite ich Emmas Suchen, beschütze sie vor dem, was sie in der Vergangenheit allzu häufig gefunden hat und was sie, wie sie beteuert, nicht noch einmal finden will. Doch als ich meine beiden Schicksalssucher einander in Augenschein nehmen sehe, wird mir klar, daß ich nur aus dem Ring zu gehen brauche, um vergessen zu werden.

»Sie weiß nichts«, erkläre ich Larry in festem Ton, sobald ich ihn in der Küche allein sprechen kann. »Ich bin ein pensionierter Spezialist aus dem Finanzministerium. Du bist du. Und das ist alles. Mehr ist nicht. Klar?«

»Immer noch die alten Lügen, was?«

»Bei dir etwa nicht?«

»Doch, sicher. Andauernd. Und was ist mit ihr?«

»Wie meinst du das?«

»Was macht sie hier? Sie ist halb so alt wie du.«

»Sie ist auch halb so alt wie du. Minus drei Jahre. Sie ist meine Freundin. Was glaubst du denn, was sie hier macht?«

Er hat den Kopf in den Kühlschrank gesteckt und sucht nach Käse. Larry hat immer Hunger. Manchmal frage ich mich, was er in all den Jahren gegessen haben würde, wäre er nicht mein Joe gewesen. Ein Cheddar aus der Gegend weckt sein Interesse.

»Wo hast du das verdammte Brot versteckt? Anschließend ein Bier, falls du nichts dagegen hast. Erst ein Bier, dann was Alkoholisches.«

Er hat sie gewittert, denke ich, während ich das verdammte Brot für ihn suche. Seine Stimmen haben ihm zugeflüstert, daß ich mit einem Mädchen zusammenlebe, und jetzt ist er gekommen, um es sich anzusehen.

»He, neulich hab ich Diana gesehen«, sagt er mit jenem bewußt unbekümmerten Tonfall, den er immer anschlägt, wenn er von meiner ehemaligen Frau redet. »Sieht zehn Jahre jünger aus. Läßt dich grüßen.«

»Mal was Neues«, sage ich.

»Na ja, viel Worte hat sie nicht drum gemacht. Bloß indirekt, sie liebt dich ja noch immer. Jedesmal hat sie diesen schmelzenden Blick in den Augen, wenn dein Name fällt.«

Diana ist schon immer seine letzte Geheimwaffe gegen mich gewesen. Als ich noch mit ihr verheiratet war, hat er sie stets nur mit beißendem Spott behandelt, doch nun trägt er eine brüderliche Verbundenheit mit ihr zur Schau, die er jedesmal dann aufs Tapet bringt, wenn er mir eins auswischen will.

»Von ihm gehört?« protestiert Emma an diesem Abend, empört darüber, daß ich überhaupt gefragt habe. »Darling, ich habe seit frühester Kindheit zu Lawrence Pettifers Füßen gesessen. Na ja, nicht buchstäblich. Aber metaphorisch gesprochen ist er ein Gott.«