Das Schlampenbuch - Milena Moser - E-Book

Das Schlampenbuch E-Book

Milena Moser

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Beschreibung

Sie zahlen es niederträchtigen Liebhabern und verlogenen Showmastern heim; sie treiben in Boutiquen, Fitness-Studios und Straßenbahnen finstere Dinge, die einer properen Dame nicht im Traum einfielen (– oder nur im Traum?); sie spielen gnadenlos mit Messer, Schere, Gift: Wenn Pippi Langstrumpf und die Rote Zora je erwachsen geworden wären, müßten ihre Leben denen von Milena Mosers Schlampen verflucht ähnlich sein.

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Seitenzahl: 162

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Milena Moser

Das Schlampenbuch

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Über dieses Buch

Sie zahlen es niederträchtigen Liebhabern und verlogenen Showmastern heim; sie treiben in Boutiquen, Fitness-Studios und Straßenbahnen finstere Dinge, die einer properen Dame nicht im Traum einfielen (– oder nur im Traum?); sie spielen gnadenlos mit Messer, Schere, Gift: Wenn Pippi Langstrumpf und die Rote Zora je erwachsen geworden wären, müßten ihre Leben denen von Milena Mosers Schlampen verflucht ähnlich sein.

Über Milena Moser

Milena Moser wurde 1963 in Zürich geboren. Sie absolvierte eine Buchhändlerlehre und schrieb für Schweizer Rundfunkanstalten. 1990 erschienen ihre Kurzgeschichten «Gebrochene Herzen oder Mein erster bis elfter Mord». Ein Jahr später schrieb sie ihren ersten Roman, «Die Putzfraueninsel», der sich schnell zum Bestseller entwickelte und dessen Kino-Verfilmung preisgekrönt wurde. Es folgten weitere erfolgreiche Romane. Seit 2015 lebt Milena Moser in Santa Fe, New Mexico.

Inhaltsübersicht

Katja, dieses Buch ...Die EntführungMonatsbeschwerdenDer HaarschnittDie FitnessfabrikBlondinen haben einfach mehr Spaß …Der junge Mann von gegenüberDer AusflugEin Opfer der HormoneBusiness ClassEine andere FrauDie EinladungDie HochzeitsreiseDie FernsehshowDie BademeisterinDas rosa SeidenkleidDer NachbarAlles gelogen

Katja, dieses Buch ist für Dich

Die Entführung

Es war an der Kreuzung direkt vor dem Bellevue-Platz, nachmittags gegen halb zwei. Die Sonne hatte mich einen Augenblick lang geblendet. Ich sah ihn im allerletzten Moment. Mit langen Schritten lief er über die Straße. Keine zwei Meter von mir entfernt. Der Wind fuhr durch sein Haar. Sein Schritt war leicht. Grüne Hosen flatterten um seine dünnen Beine. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Es ging alles viel zu schnell. Heftig betätigte ich die Klingel. Er drehte sich nicht einmal um. Mein Herz blieb stehen, klopfte dann unregelmäßig weiter. Viel zu laut. Vorsichtiger als sonst fuhr ich die Acht zur Haltestelle und brachte sie sanft zum Stehen.

Ich blickte in den Rückspiegel. Ich wartete. Das Lichtsignal blinkte. Ich beachtete es nicht. Erst kürzlich war wieder einer dieser Leserbriefe im Tagblatt erschienen, ein W.E. aus Z. (woher denn sonst) empörte sich, das Tram sei ihm vor der Nase abgefahren. Und das nicht zum ersten Mal! Man könnte meinen, die Fahrer machten das absichtlich, aus sadistischem Vergnügen. Nun, lieber W.E., das stimmt natürlich nicht, und wären Sie heute hier, würden Sie Ihre Anschuldigungen zurücknehmen müssen.

Ich wartete ungebührlich lange an der Haltestelle. Bis hinter mir die Neun ihr lila Auge zeigte. Widerwillig setzte ich den Tramzug in Bewegung und fuhr los. Ganz langsam nur. Ganz sanft. Und da war er auch schon wieder.

Außer Atem, zerzaust, bewegte er sich durch den Mittelgang auf mich zu. Ich blickte in den Rückspiegel und in seine Augen. Sie lagen dunkel hinter einer lächerlich kleinen Brille. Warm. Er war nicht mehr ganz jung, sehr dünn. Unter dem Arm trug er mehrere lange Papprollen. Ungeschickt balancierte er auf einen freien Sitzplatz zu. Er setzte sich umständlich auf einen der letzten Plätze vor der Fahrerkabine und war dann aus meinem Rückspiegel verschwunden. Ich richtete meinen Blick geradeaus und stellte entsetzt fest, daß ich beinahe am Bürkliplatz vorbeigefahren wäre. Ich bremste hart. Die Fahrgäste wurden geschüttelt und gegeneinander geworfen und ließen ihr übliches Maulen hören. Was bilden die sich eigentlich ein. Glauben sie, ich höre sie nicht? Ich räusperte mich und entschuldigte mich höflich durchs Mikrophon. Das Maulen wurde nicht etwa leiser. Sehr viele Leute können sich nicht daran gewöhnen, daß eine Frau ein Tram fahren kann. Dabei gibt es nichts Einfacheres. Nach kurzer Zeit schon fährt man wie im Schlaf, gewissenhaft wie ein Automat, aber in Gedanken weit weg.

Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Nein, ausgestiegen war er nicht. Außerdem würde er die Türe direkt hinter mir benutzen, ich würde ihn sehen. Er käme nicht so einfach an mir vorbei … Ich holte tief Luft und konzentrierte mich wie am ersten Tag auf die Strecke, die vor mir lag.

Bis zur nächsten Haltestelle zwang ich mich, geradeaus zu blicken und mich auf den Schienenstrang zu konzentrieren. Doch dann, als ich das Tram gerade wieder zum Stehen gebracht hatte, klopfte es an die Scheibe, ich drehte mich um, und er war es. Unsicher blickte er mich an. Rückte seine Brille zurecht.

Entschuldigen Sie, wenn ich nach Lochergut muß, bin ich da richtig?

Seine Stimme klang leise und höflich. Er sprach mit starkem Akzent. Ein Fremder. Einer, der wieder abreisen würde. Einer, der morgen nicht mehr hier wäre. Lochergut, da war er falsch. Ganz falsch. Ich hätte es ihm sagen können, und er wäre ausgestiegen und hätte die Nummer zwei abgewartet und mich im selben Augenblick vergessen. Ich fragte mich, wer wohl im Moment auf der Zwei war. Meine Kollegin Annemarie mit den langen dunklen Haaren? Eine Welle der Eifersucht schlug über mir zusammen. Ich fühlte, wie ich rot wurde. Dann fiel mir ein, daß Annemarie in den Ferien war. Ich fuhr weiter, drehte mich dabei halb zu ihm um und lächelte. Zu allem entschlossen, zeigte ich ihm meine kleinen Zähne. Lochergut ist richtig, ich sage Ihnen Bescheid.

Danke, vielen Dank.

Er setzte sich wieder. Diesmal auf den allerletzten Platz, direkt hinter mir. Durch die Scheibe fühlte ich seine Anwesenheit in meinem Rücken. Gemächlich fuhr ich auf den Paradeplatz zu. Meine Hände waren kühl, aber mein Herz raste, meine Wangen brannten, Schweißtropfen bildeten sich auf meiner Stirn. Was tust du, flüsterte ich, was tust du da? Bist du verrückt?

Endlich holte ich tief Luft. Ein Grinsen flog über mein Gesicht. Dabei hatte ich noch Glück gehabt, daß sich keiner von diesen pensionierten Freizeitfahrern eingemischt hatte, die immer alles besser wissen.

Aber Fräulein, das stimmt doch nicht, fürs Lochergut muß der Herr doch … und so weiter.

Gut, ich war verrückt.

Seit zwei Jahren saß ich in dieser Kabine. Die Einsamkeit der Tramfahrerin kennt keine Grenzen. Man verbringt ganze Schichten, ohne ein Wort mit jemandem zu wechseln, und an jeder Haltestelle wundert man sich, daß die eigene Stimme noch funktioniert. Man kauft sich an jeder Endstation einen Schokoladestengel, nur um ein bißchen mit den Kioskverkäufern zu plaudern, und wird in kürzester Zeit dick und fett. Man läßt sich von den Fahrgästen anschnauzen, weil man zu schnell fährt oder zu langsam. Hausfrauen sammeln die herumliegenden Tageszeitungen auf und bringen sie sauber gebündelt in die Fahrerkabine, dabei beschweren sie sich, daß ich den Wagen nicht in Ordnung halte, als handle es sich um mein Wohnzimmer. Jugendliche fangen an zu kreischen, wenn sie eine Ansage nicht verstanden haben oder einen obszönen Hintersinn darin entdecken, der nur ihnen verständlich ist. Hin und wieder sagt eine alte Oma «Danke vielmals», während sie sich zur vorderen Türe hereinschleppt, und man könnte ihr dafür die Hände küssen. Man arbeitet sehr früh morgens oder sehr spät abends, und irgendwann kommt der Tag, an dem man mit einem Kollegen die Schicht tauscht und drei Stunden früher als vorgesehen nach Hause kommt. Dieser Tag kommt für alle einmal. Bei mir war es Frau Hess, die Lehrerin meiner Tochter Marianne. Frau Hess lag auf meinem halbweißen Wohnzimmerteppich, nackt um meinen Mann geschlungen. Ich stand in der Tür, müde, verschwitzt, in dieser furchtbaren Uniform, die auch schon zu eng wurde, ich stand da und bekam den Schluckauf. Ich konnte nichts sagen. Es war lächerlich. Ich wunderte mich auch nicht sehr, als ich bei der Scheidung leer ausging und Marianne bei ihrem Vater bleiben wollte. Und Frau Hess natürlich, die zu diesem Zeitpunkt schon schwanger war. Die Wohnung immerhin konnte ich behalten. Ich ließ als erstes den Teppich auswechseln.

Sanft fuhr ich wieder an und warf dabei aus den Augenwinkeln einen Blick auf meinen Gast. Er saß ein bißchen gekrümmt, die Arme um seine Papprollen gekrampft. Er sah aus dem Fenster. Seine Blicke schweiften suchend über die Fassaden.

Paradeplatz, sagte ich leise ins Mikrophon. Es war eine Liebeserklärung. Und er blickte auf und legte den Kopf leicht schief. Er hatte es verstanden.

Der Augenblick verging, weil er vergehen mußte. Ich überlegte fieberhaft. Ewig konnte ich hier nicht stehenbleiben. Ich kaute unentschlossen auf meiner Unterlippe. Dann mußte ich unwillkürlich kichern. Ich könnte ihn entführen.

Schmeiß die anderen Idioten raus. Fahr mit ihm durch die Stadt. Das ganze Schienennetz entlang. Die Türen natürlich verriegelt. In den Kurven ein bißchen zu schnell, damit er schon nach Atem ringt, wenn ich dann endlich anhalte, an einem dieser ruhigen, schattigen Plätze, an denen man ganz sicher ungestört ist … Aber solche Plätze gibt es nicht im Zürcher Tramnetz. Natürlich nicht.

Ich schüttelte leise den Kopf und fuhr ganz langsam an. Wenn ich schon dabei war, konnte ich ihn auch gleich zum Lochergut bringen. Ich spähte nach einer Weiche, bereit, rechts abzubiegen, statt, wie es dem Kurs entsprach, geradeaus weiterzufahren. In meinem Kopf war ein helles Licht. Ich fühlte mich glasklar und kalt. Einen Augenblick lang hielt ich mich für einen Engel. Viel zu schnell schoß ich auf die Kreuzung zu. Die Metallräder quietschten vorwurfsvoll.

Hinter mir hörte ich einstimmiges Seufzen. Kollektives Luftanhalten. Plötzlich ging alles ganz langsam. Mitten auf der Kreuzung hob sich der schwere Wagen ächzend aus den Schienen und kippte zur Seite. Immer noch ganz langsam. Aus dem Fenster sah ich die aufgerissenen Mäuler der Passanten. Der Wagen kippte, es krachte, Metall kreischte, Funken sprühten. Dann war alles schwarz.

Ich hörte die Sirenen der Krankenwagen. Ich hörte kleine spitze Schreie hinter mir. Ich hörte ein Stöhnen, das mein eigenes war. Ich lag hinter meinem Sitz eingeklemmt und konnte mich nicht bewegen. Ich hatte keine Schmerzen. Keine Gedanken.

Psst! Psst!

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Atem streifte mein Ohr. Ein Gesicht schwebte langsam in mein Blickfeld, hoch über mir. Dunkle Augen, die besorgt blickten. Die dünne Brille baumelte verdreht von seinem Ohr. Er!

Sind Sie ganz? Alles in Ordnung? flüsterte er. Ich schloß die Augen, öffnete sie wieder, seine Hand lag warm auf meiner Schulter.

Er lächelte leicht. Ich konnte den Blick nicht mehr von ihm abwenden.

Mein Name ist Henri, sagte er, und ich möchte Sie gerne kennenlernen.

Monatsbeschwerden

Das Wartezimmer der Frauenärztin war hoffnungslos überfüllt. Seit vierzig Minuten saß Ruth auf dem harten weißen Plastikstuhl. Und wartete. Kein Wort wurde gesprochen, nur das Rascheln der glatten Illustriertenseiten war zu hören und hin und wieder ein unterdrückter Seufzer. Ruth rutschte unbehaglich auf dem Stuhl nach vorn. Die anderen Frauen schienen alle mehr oder weniger schwanger zu sein. Verstohlen musterte sie die unterschiedlich gewölbten Bäuche. Sie schloß die Augen.

Bitte nicht, dachte sie, bitte nicht.

Die Türe wurde vorsichtig geöffnet, die Sprechstundenhilfe streckte ihr hübsches, sauberes Gesicht herein. Die Köpfe der wartenden Frauen hoben sich erwartungsvoll. Ruth versuchte, aus dem Lächeln der Sprechstundenhilfe zu lesen, wie ihre Tests ausgefallen waren.

Frau Huber, bitte.

Eine der schwangeren Frauen erhob sich schwerfällig und folgte der Sprechstundenhilfe, in diesem typisch watschelnden Gang, das Becken vorgeschoben, mit einer Hand das Kreuz stützend.

Bitte nicht, dachte Ruth noch einmal.

Unkonzentriert blätterte sie in ihrer Illustrierten. Es schien ihr schon seit Tagen, als handelten alle Artikel, die sie las, nur noch von Kindern. Kleinen Kindern. Babies. Schwangeren. Sie blätterte noch eine Seite um, und ihr Blick fiel auf eine Anzeige für einen neuen Schwangerschaftstest. Ich habe es gleich gewußt, lächelte die junge Frau auf dem Bild und drückte ihr Baby an sich.

Ruth preßte eine Hand auf die Lippen, um das saure Aufstoßen zu unterdrücken, das sie seit Tagen schon quälte. Sie legte die Illustrierte zurück auf den kleinen Tisch und nahm sich eine Tageszeitung. Umständlich faltete sie die großformatigen Blätter auseinander und wieder neu zusammen.

Neues Opfer in unheimlicher Mordserie, las sie auf der letzten Seite.

Vorgestern abend, Mittwoch, den 14., wurde die Leiche einer 54jährigen Schalterbeamtin der PTT im Hinterhof der Postfiliale aufgefunden. Die Frau wurde offenbar beim Verlassen des Gebäudes überfallen und von hinten niedergestochen. Als Dienstälteste hatte sie die Angewohnheit, das Gebäude als letzte zu verlassen, so daß ihre Leiche erst gegen 20 Uhr 30 vom Putzpersonal gefunden wurde. Erste Ermittlungen schließen einen Raubmord aus. Die Angestellten der Filiale sind bereits überprüft worden und scheiden als Täter aus. Die Ermordete war bei ihren Kolleginnen und Kollegen offenbar sehr beliebt. Auch aus dem direkten Umfeld des Opfers ergeben sich bisher keine Tatmotive. Es scheint vielmehr, als handle es sich hier um ein neues Opfer in einer nun schon seit Tagen andauernden Serie von völlig sinnlos scheinenden Morden …

Furchtbar, nicht wahr, murmelte die Frau, die neben ihr saß, und deutete mit dem Finger auf die aufgeschlagene Seite.

Ruth nickte.

Mein Mann ist nämlich auch bei der Post, fuhr die andere fort und zog schaudernd die Schultern hoch.

Ruth versuchte, aufmunternd zu lächeln, obwohl sie eine Art dumpfer Übelkeit gegen die Stuhllehne zurückwarf. Die Frau neben ihr verströmte einen leichten, süßlichen Schweißgeruch, kaum überdeckt von billigem Parfüm. Ruth schluckte. Diese Empfindlichkeit schon seit Tagen.

Lieber Gott, betete sie, bitte mach, daß ich nicht schwanger bin, und ich werde es nie wieder tun. Nie, nie wieder.

Tatsächlich ließ die Übelkeit ein bißchen nach, und Ruth brachte das Lächeln zustande. Es gelang ihr sogar, eine Hand auf den Arm der Nachbarin zu legen.

Ich glaube nicht, daß Ihr Mann in Gefahr ist, sagte sie freundlich. Es trifft ja schließlich nicht nur Postbeamte. Hören Sie doch – sie hob die Zeitung und las den nächsten Abschnitt halblaut vor:

Die Opfer scheinen in keinerlei Beziehung zueinander zu stehen. Fest steht nur, daß alle mit demselben Messer erstochen wurden. Es handelt sich dabei um ein besonders scharfes Küchenmesser, wie es zum Filetieren verwendet wird.

Erinnern wir uns, daß in der Nacht von Montag, dem 11., auf Dienstag, den 12., ein Kellner einer sogenannten Singles-Bar auf dem Nachhauseweg erstochen wurde. Der Mann trug die gesamten Einnahmen des Abends auf sich. Ein Raubmord kann also ausgeschlossen werden. Am Dienstag sank eine 23 jährige Kosmetikerin in der Schlange vor der Kasse eines Supermarktes zusammen. Da man erst eine Ohnmacht vermutete, hatte der Täter oder die Täterin schon fliehen können, bis man die Stichwunde entdeckte. Auch diese junge Frau war von hinten erstochen worden, der Täter oder die Täterin muß also direkt hinter ihr in der Schlange gestanden haben. Als einzigen Hinweis fand man einen liegengelassenen Einkaufskorb, dessen Inhalt aber wenig über die Person aussagt, außer, daß es sich um jemand Alleinstehenden handeln muß. Am Mittwoch, dem 14., fand man eine 83 jährige Rentnerin erstochen im Tram. Die alte Frau mußte gemäß gerichtsmedizinischer Untersuchung bereits am frühen Morgen ermordet worden sein. Die Leiche wurde jedoch erst beim Schichtwechsel gegen Mittag entdeckt. Der Tramfahrer sagte aus, er habe jeden Tag alte Leute im Wagen, die von Endstation zu Endstation mitfahren, und könne sich nicht um jeden einzelnen kümmern. Am Abend desselben Tages traf es dann diese Postbeamtin, die …

Sehen Sie, sagte Ruth, nur eine einzige Postbeamtin.

Das macht es aber auch nicht besser, warf nun eine andere Frau mit scharfer Stimme ein.

Nein, natürlich nicht … Ruth begann, leicht zu stottern, das wollte ich doch gar nicht sagen, ich meinte nur …

Dann kam die Sprechstundenhilfe und rief einen Namen, und die Frau mit der scharfen Stimme stand auf. Auch sie ging leicht breitbeinig und nach hinten geneigt. Ruth sah ihr nach. Auf ihrer Stirn begannen sich Schweißperlen zu bilden. Ihre Haare klebten. Ich bin nicht mehr ich selbst, dachte sie.

Na, hoffentlich kriegen sie ihn bald, seufzte die Frau des Postbeamten abschließend.

Es könnte doch auch eine Frau sein, gab Ruth zu bedenken.

Die andere Frau kicherte, so daß ihr hoher Bauch schaukelte.

Ja, da haben Sie allerdings recht, wir Frauen halten ja viel mehr aus als die Männer. Wenn ich da an meine Geburten denke … das ist mein viertes … Und Sie? Ist es das erste Mal?

Ruth öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Sah man es ihr also schon an? Ihre Zunge klebte irgendwo fest, sie konnte nichts sagen. Verlegen senkte sie den Blick wieder auf die Zeitung.

Vor ungefähr fünf Wochen gab es bereits eine ganz ähnliche Serie von bisher unaufgeklärten Morden: eine Kioskverkäuferin und ein Jogger sind an aufeinanderfolgenden Tagen niedergestochen worden. Der Sprecher der Polizei bestätigte nun, daß auch bei diesen unheimlichen und absurden Morden dasselbe Filetiermesser benutzt wurde …

Ruth mußte erneut aufstoßen und preßte sich die Hand vor den Mund. Vor fünf Wochen hatte sie ihre letzte Periode gehabt, das wußte sie ganz bestimmt. In den letzten Tagen hatte sie stundenlang auf die kleinen Kreuze in ihrer Agenda gestarrt, als könnte sie sie durch bloßes Starren an den richtigen Ort schieben. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie sich damals auch ganz komisch gefühlt hatte. Ohne daß sie hätte schwanger sein können. Aber jetzt … Sie legte die Zeitung auf den Tisch und rutschte tiefer in ihren Stuhl. Nein. Sie durfte sich keine falschen Hoffnungen machen. Morgens war ihr übel, ihre Haut spannte, ihre Brüste hingen schwer und schmerzten, und dann dieses Aufstoßen. Es konnte gar nichts anderes sein. Sie war schwanger.

Das erklärte dann sicher auch ihre unheimlichen Stimmungsschwankungen und die unverhofften Tränengüsse, die Art, wie sich ihr Hals zuschnürte, wenn sie sich eine Zigarette anzündete und sie dem Erbrechen plötzlich genauso nahe war wie dem Weinen.

Fräulein Meier, rief die Sprechstundenhilfe.

Ruth zuckte zusammen. Sie stand auf, bückte sich ungeschickt nach ihrer Tasche, die sich mit dem Riemen am Stuhlbein verfangen hatte, und folgte der Sprechstundenhilfe.

Die Ärztin quetschte ihre Hand, wie sie das immer tat, und bat sie in den Behandlungsraum. Ruth zog sich hinter dem Vorhang aus. Sie hörte, wie die Ärztin sich die Hände wusch.

Ich glaube, ich bin schwanger, flüsterte Ruth durch den Vorhang.

Die Untersuchung war kurz und sachlich. Die Ärztin trug Gummihandschuhe. Ihre Miene war undurchdringlich.

Bitte, ziehen Sie sich wieder an, sagte sie, und kommen Sie dann ins Sprechzimmer.

Ruth wagte nicht, nach dem Ergebnis zu fragen. Sie würde es ja sowieso gleich erfahren, und sie war gar nicht mehr sicher, ob sie es wirklich wissen wollte. Sie betrat das Sprechzimmer. Die Ärztin bat sie mit einer knappen Geste, Platz zu nehmen. Sie drehte einen Bleistift zwischen den Fingern und blickte mit gerunzelter Stirn auf die Karteikarte. Sie fragte noch einmal nach den Symptomen und nach dem Datum der letzten Blutung. Dann verlangte sie durch die Gegensprechanlage die Ergebnisse der Laboruntersuchung.

Ruth hielt den Atem an.

Es ist nichts, sagte die Ärztin und lächelte breit. Auf ihren Schneidezähnen klebte ein Rest von rosa Lippenstift.

Was soll das heißen, es ist nichts?

Sie sind nicht schwanger.

Das kann nicht sein. Ruth zog nervös an ihren Fingern, bis sie knackten. Immerhin habe ich alle Symptome: die Brüste tun mir weh, morgens ist mir schlecht, und zwischendurch fange ich an zu heulen. Machen Sie den Test noch einmal.

Sie sind nicht schwanger, wiederholte die Ärztin, Sie leiden ganz einfach unter dem Prämenstruellen Syndrom. Das ist eine relativ neue Erscheinung, aber weit verbreitet. Gerade die starken Stimmungsschwankungen sind typisch dafür. Sicher reagieren Sie manchmal auch überempfindlich, übertrieben vielleicht?

Ruth nickte beschämt.

Sie erinnerte sich, wie sie in den letzten Tagen mit völlig Unbekannten in Streit geraten war, gestern zum Beispiel mit einer Schalterbeamtin, die sich geweigert hatte, ihren Brief abzustempeln, weil die Zäckchen der Briefmarke zum Teil abgerissen waren. Ruth wurde noch bei der Erinnerung rot. Auch diese Überempfindlichkeit auf Gerüche und Geräusche … deshalb dachte ich doch …

Ruth brach ab.