Gebrochene Herzen - Milena Moser - E-Book

Gebrochene Herzen E-Book

Milena Moser

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Milena Moser führt uns Frauen und Mädels vor, die einfach vor nichts zurückschrecken: Sie zerren betrunkene Männer heim, schubsen Französischlehrerinnen vor den Bus, fahren dauerbesetzte Telefonkabinen um, ersticken übelriechende Dicke. Aus nichtigem Anlaß. Wegen eines Mißverständnisses. Aus Liebe. Selbstverständlich sind sie alle bis zur Hysterie sensible Geschöpfe, brechen gern und oft in Tränen aus, wenn ihr Stolz gekränkt oder, schlimmer, ihre Liebe enttäuscht wird. Dann rächen Sie sich trockenen Auges, sie morden mit jener Nonchalance, mit der sie ein Nerzcape abstreifen würden – wenn sie eins hätten. Mit zu starken Gefühlen, zu schwachen Nerven, zu tiefen Ausschnitten und zu hohen Absätzen stöckeln sie durch eine absurde Welt, ständig auf der Suche nach jenem Leim, der ihre gebrochenen Herzen wieder zusammenkleben könnte. Milena Moser läßt sie alle um den Prinzen zappeln.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 148

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Milena Moser

Gebrochene Herzen oder Mein erster bis elfter Mord

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Milena Moser führt uns Frauen und Mädels vor, die einfach vor nichts zurückschrecken: Sie zerren betrunkene Männer heim, schubsen Französischlehrerinnen vor den Bus, fahren dauerbesetzte Telefonkabinen um, ersticken übelriechende Dicke. Aus nichtigem Anlaß. Wegen eines Mißverständnisses. Aus Liebe.

Selbstverständlich sind sie alle bis zur Hysterie sensible Geschöpfe, brechen gern und oft in Tränen aus, wenn ihr Stolz gekränkt oder, schlimmer, ihre Liebe enttäuscht wird. Dann rächen Sie sich trockenen Auges, sie morden mit jener Nonchalance, mit der sie ein Nerzcape abstreifen würden – wenn sie eins hätten. Mit zu starken Gefühlen, zu schwachen Nerven, zu tiefen Ausschnitten und zu hohen Absätzen stöckeln sie durch eine absurde Welt, ständig auf der Suche nach jenem Leim, der ihre gebrochenen Herzen wieder zusammenkleben könnte. Milena Moser läßt sie alle um den Prinzen zappeln.

Über Milena Moser

Milena Moser wurde 1963 in Zürich geboren. Sie absolvierte eine Buchhändlerlehre und schrieb für Schweizer Rundfunkanstalten. 1990 erschienen ihre Kurzgeschichten «Gebrochene Herzen oder Mein erster bis elfter Mord». Ein Jahr später schrieb sie ihren ersten Roman, «Die Putzfraueninsel», der sich schnell zum Bestseller entwickelte und dessen Kino-Verfilmung preisgekrönt wurde. Es folgten weitere erfolgreiche Romane. Seit 2015 lebt Milena Moser in Santa Fe, New Mexico.

Inhaltsübersicht

Dieses Buch ist ...Ich habe einen Mann gefundenMein erster MordAngst vor dem AbwaschenMein zweiter MordSonnenbrandMein dritter MordPlötzlich war meine Hand auf seinem KnieMein vierter MordDie Welt von untenMein fünfter MordKeine Milch heuteMein sechster MordEines Nachts, als ich Vater wurdeMein siebter MordDas große TauchenMein achter MordLetzte PizzaMein neunter MordDer siebte HimmelMein zehnter MordRosenMein elfter Mord

Dieses Buch ist meiner Mutter Marlis Pörtner gewidmet

Ich habe einen Mann gefunden

Ich habe einen Mann gefunden. Nicht daß ich einen gesucht hätte. Ich habe ihn einfach gefunden, wie ich fast täglich etwas finde: Knöpfe, Münzen, verbogene Schlüssel, Spielfiguren, bekritzelte Papierschnipsel, Murmeln, bunte Scherben, zerzauste Dartspfeile, Federn, einmal sogar einen synthetischen Rubin, den ich im Dunkeln für ein Stück Glas gehalten hatte, und dann eben, eines Tages, diesen Mann.

Das war, so weit ich mich erinnere, an einem Sonntag. Es muß ein Sonntag gewesen sein, weil ich sonntags immer früh aufstehe, als einzige im Haus. Ich gehe zwar nicht in die Kirche, aber ich tue immerhin so. Ich ziehe mich ordentlich an: weiße Bluse mit gewaltigem Kragen, dunkler Rock, Strickjacke und natürlich, wichtig! kleiner Hut und Handschuhe. Ich klemme mir meine große Tasche unter den Arm, die ich immer dabeihabe, um meine Funde darin zu verstauen, und verlasse das Haus wie eine ehrbare, ältliche Jungfer – was ich ja auch bin.

Oder etwa nicht?

An diesem Sonntag jedenfalls kam ich nicht weit. Ich wohne im Erdgeschoß, zu meiner Wohnung gehört ein winziger, staubiger Garten, um den ich mich aber nie kümmere, nicht einmal zum Schein. Der Schuh fiel mir sofort auf. Er lag unter einem struppigen Strauch direkt an der Hausmauer.

Ein Schuh, dachte ich, wie interessant! Einen Schuh habe ich noch nie gefunden!

Neugierig trat ich näher. Der Schuh sah nicht schlecht aus, schwarz und spitz, wie die Herrenschuhe früher aussahen, und sauber geputzt. Erst als ich mich über meinen Fund beugte, sah ich, daß ein Fuß in dem Schuh steckte und überhaupt der ganze Besitzer dieses Schuhs und auch des Gegenstücks in meinem Garten lag.

Ein wenig ratlos ließ ich den Verschluß meiner Tasche zuschnappen. Was sollte ich jetzt tun? In die Tasche stecken, wie ich das bei einem einzelnen herrenlosen Schuh getan hätte, konnte ich ihn ganz offensichtlich nicht. Um ehrlich zu sein, fühlte ich eine unbestimmte Enttäuschung in mir aufsteigen. So ein wunderbarer Fund! Und so selten heutzutage, nach dem was man so hört. Ich bückte mich und sah ihn etwas genauer an. Es war ein jüngeres, gut erhaltenes Exemplar und nur leicht beschädigt. Meine Nase sagte mir, daß es sich höchstens um eine mittlere Alkoholvergiftung handeln konnte (ganz unerfahren bin ich nun doch nicht). Die Enttäuschung wandelte sich zu Trotz. Mutwillig griff ich nach den Knöcheln des Mannes und zerrte daran. Und siehe! Er bewegte sich!

Ächzend, keuchend und betend schleifte ich den Mann zur Haustür. Dort blieb ich einen Moment stehen, um zu verschnaufen. Mit dem Handrücken strich ich mir die Haare aus der Stirn. Zum Glück bin ich ziemlich kräftig, was seine guten Gründe hat, auf die ich aber nicht weiter eingehen möchte. Ich öffnete die Haustür und blockierte sie. Zur Sicherheit lauschte ich mit einem Ohr in den Flur hinein, aber wie erwartet schlief alles noch.

Der frühe Vogel findet das … findet den … wie ging das noch … jedenfalls schien mir das passend: der frühe Vogel. Ich unterdrückte ein Kichern, dann gab ich mir einen kleinen Ruck und faßte den Mann diesmal an seinen Handgelenken, um ihn rückwärts bis zu meiner Wohnung zu schleppen. Irgendwie fühlte ich mich nicht ganz sicher dabei: Es ist ungleich persönlicher, jemanden an den Händen zu fassen als an den Füßen, vor allem, wenn er Socken trägt.

Der Mann wurde mit jeder Sekunde schwerer, aber wie gesagt, ich bin ziemlich kräftig, und nicht nur das, sondern auch ziemlich stur. Und schließlich hatte ich es geschafft. Mit einem Fußtritt schlug ich die Wohnungstür zu, dann ließ ich mich erschöpft auf den Teppich sinken. Eine Weile lang hörte ich mir selbst beim Atmen zu, dann hörte ich plötzlich ein leises Stöhnen, das eindeutig nicht aus meinem Mund kam und fuhr auf. Mein Herz hämmerte wie irr gegen meine Lippen … äh, Rippen. Mein Gott! Heiliger Jesus! Heitschi Bumbeitschi! Da lag ich auf dem Teppich, mit einem wildfremden und offensichtlich betrunkenen Mann, der erst noch vor sich hin stöhnte! Wenn das …! Mit einer Hand preßte ich meinen Busen, um das Herz, das dahinterlag zu beruhigen.

Ruhig, ruhig, sagte ich mir, erstens sieht dich niemand, zweitens ist er bewußtlos, und drittens hast du ihn gefunden. Er gehört dir, ganz wie der andere Krimskrams im Sekretär. Den Rubin hast du schließlich auch behalten, und der war ungleich wertvoller. So.

Und wie um mir meine Gelassenheit zu beweisen, ging ich langsam in die Knie, um den Mann einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Er roch ziemlich unappetitlich, und unwillkürlich rümpfte ich die Nase. Seine Kleidung war relativ sauber, beziehungsweise, sie war es gewesen, bevor ich ihn durch den Garten geschleift hatte, und einfach. Sein Körper war gedrungen, er hatte halblanges, etwas zottiges, braunes Haar und einen dicken Schnurrbart – eben so ein etwas ordinärer Typ Mann, der mir im allgemeinen nicht gerade angenehm ist. Aber bei einer Fundsache ist das etwas anderes. Das sucht man sich ja nicht aus … Oder?

Wer sucht, der findet.

Wer sucht, der findet.

Das sagt man doch so, oder? Aber auf mich trifft das nicht zu. Ich habe noch nie ernsthaft nach irgend etwas gesucht und schon so viele wunderbare Dinge gefunden! Und ausgerechnet einen Mann zu suchen, wäre mir schon gar nicht in den Sinn gekommen!

Beruhige dich! Mit gerunzelter Stirn setzte ich meine Untersuchung fort, unbestimmt verärgert über mich selbst. Ich benahm mich ja wirklich wie die Karikatur einer alten Jungfer! Was ist schon ein Mann? Nichts!

Na also! Mit ruhiger Hand und ohne auch nur ein bißchen zu zittern, knöpfte ich sein Hemd auf. Sein Herz schien noch zu schlagen, jedenfalls hörte ich so etwas, als ich mein Ohr auf seine Brust legte. Seine Brust war, wie erwartet, sehr behaart. Wie erwartet? Nun, das ist wohl etwas übertrieben. «Behaarte Brust», das ist so ein Ausdruck, den man häufig liest, aber unter dem man sich nichts Rechtes vorstellen kann. Mir jedenfalls ging es so, und so war ich gegen meinen Willen fast ein wenig beeindruckt. Von den Haaren ging ein scharfer Geruch aus, aber ich war beruhigt, daß er noch lebte.

Ich klopfte ihm wohlwollend mit der flachen Hand auf den Bauch. Er bewegte sich leicht und gab auch einen Laut von sich, ohne aber das Bewußtsein wiederzuerlangen. Ich löste seinen Gürtel.

Das erwies sich als gar nicht so einfach. Mit Herrengürteln verhält es sich nämlich so, daß sie in die umgekehrte Richtung geschnallt werden als die Damengürtel. Ich mühte mich ungeschickt und zugegebenermaßen auch etwas nervös ab. Dabei fühlte ich, wie sich meine Frisur auflöste. Aber darum konnte ich mich jetzt nicht auch noch kümmern. Schließlich gab der Gürtel nach, und ich zog den Reißverschluß hinunter. Das hingegen war einfach.

Scharf zog ich die Luft ein und hielt den Atem an. Mein Gott! So etwas hatte ich noch nie gesehen! Der Mann trug gelbe Unterhosen mit kleinen roten Flugzeugen darauf! Ich hatte überhaupt nicht gewußt, ja, ich hätte mir nicht einmal träumen lassen, daß es so etwas gibt!

Ich preßte meine Lippen aufeinander und beugte mich etwas tiefer (meine Augen sind nicht die besten). Flugzeuge! Tatsächlich! Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Zudem waren die Unterhosen irgendwie beschichtet, so daß sie wie Badehosen schimmerten, und ziemlich knapp bemessen. Prüfend schob ich den Zeigefinger unter den Bund und ließ das Gummiband ein paarmal schnappen.

Wirklich!!

Unentschieden kaute ich auf meiner Lippe herum. Dann gab ich mir einen Ruck und riß gleichzeitig am Elastik. Im nächsten Moment lag ich flach auf dem Rücken, als ob mich jemand gestoßen hätte. Es hatte mich jemand gestoßen!

Verwirrt richtete ich mich auf und stützte mich auf meinen Ellbogen. Der Mann war offensichtlich zu sich gekommen (man könnte sagen, der Moment sei ungünstig gewesen!). Noch unsicher und schwankend stand er da und versuchte, wieder in seine Kleider zu kommen. Seine Haare standen jetzt vom Kopf ab, als ob er verzweifelt daran gezerrt hätte. Seine Augen waren starr und glasig. Etwas ungläubige Panik lag in ihnen. Mit fliegenden Händen knöpfte er sein Hemd zu, das übrigens auch gelb war, jetzt war mir natürlich klar, daß er das abgestimmt hatte. Bei dem Gedanken mußte ich leise prusten. Der Blick, den er mir zuwarf, ließ mich sofort wieder verstummen.

Ich glaub es nicht, murmelte er, ich glaub es einfach nicht.

Dann war er weg.

Mit leisem Bedauern stand ich auf und schloß die Wohnungstür ab, die der Mann beim Gehen offengelassen hatte. An diesem Tag ging ich nicht mehr aus.

Seither habe ich natürlich alle möglichen Funde gemacht, auch ein paar interessante Dinge waren darunter, ein Plastikskelett zum Beispiel, das man als Schlüsselanhänger gebrauchen kann, aber bei weitem nichts so Interessantes wie damals dieser Mann …

Mein erster Mord

Meinen ersten Mord beging ich mit dreizehn.

Es war so ein Tag, an dem mir der Himmel auf den Kopf fiel. Das passierte mir immer wieder, regelmäßig. Nicht gerade Mord, natürlich, aber Tage, an denen ich morgens als erstes aus dem Bett fiel und mir den Fuß verstauchte, meine Lieblingsbluse nicht fand, dafür einen neuen Pickel entdeckte, mit meiner Mutter stritt und mit dem Kamm in meinen Haaren hängenblieb. Ich schien das geradezu anzuziehen.

Dabei hatte ich an diesem speziellen Morgen nicht unbedingt vor, einen Mord zu begehen. Der Tag begann in der oben beschriebenen Weise, mit dem zusätzlichen Vergnügen, daß ich den Wecker nicht gehört hatte. Es war ein Mittwoch im Juni, das Wetter war wunderbar, ich würde zu spät zur Schule kommen. Das kümmerte mich nicht weiter. Ich haßte die Schule. Ich haßte die ganze Welt. Ich haßte mich selbst.

Es ist eigentlich erstaunlich, daß nicht mehr Morde von unglücklichen Dreizehnjährigen begangen werden. Vielleicht tun sie es ja heimlich, unentdeckt, so wie ich. Das beste Alter für einen perfekten Mord! Mir jedenfalls muß niemand mit goldener Jugend und for ever young kommen. Der bloße Gedanke, für immer dreizehn oder fünfzehn oder siebzehn zu bleiben, erfüllt mich mit nackter Panik. Nur das nicht! Bitte nicht!

Allerdings gibt es auch Dreizehn- und Vierzehnjährige, die geradezu unerträglich glücklich und zufrieden sind. Wie zum Beispiel meine Freundin Barbara. Sie wohnte ein Stück weiter unten in derselben Straße und wartete meistens an der Ecke auf mich. Wir radelten nebeneinander her, und sie erzählte mir von ihren Brüdern, Büstenhaltern, Küssen, Handballturnieren, hygienischen Binden und heimlichen Zigaretten. Lauter Dinge, die mir völlig fremd waren. Dafür gab es in meinem Leben vieles, wovon Barbara wiederum keine Ahnung hatte: abendliches Radiohören im Wohnzimmer, geschwollene Pickel, handgestrickte Wollhöschen, ein angeborener Sprachfehler, Hüften, die immer dicker wurden, meine Mutter. So ergänzten wir uns, Barbara und ich. Nicht, daß ich sie besonders gern gehabt hätte – wie könnte ich –, aber immerhin sprach sie mit mir. Sie war ein Jahr älter als ich, und manchmal redete ich mir ein, es sei alles nur eine Frage der Zeit. Nächstes Jahr, dachte ich, während ich mit gesenktem Kopf neben Barbara herradelte, schweigend, glühend vor Neid, nächstes Jahr bin ich der Star sämtlicher Sportvereine, und Alfred holt mich jeden Morgen ab. (Alfred war neu in der Gegend. Anfangs hatte er mich oft nach Hause begleitet. Wie ich bald gemerkt hatte, hoffte er nur, über mich einen Weg zu Barbaras Herzen zu finden.)

Aber Barbara hat mit der ganzen Geschichte wenig zu tun. Jedenfalls lebt sie noch. Ich habe sie kürzlich im Einkaufszentrum getroffen. Sie hat sich die Haare kupferblond gefärbt, sie sieht furchtbar aus. So viel zu Barbara.

An diesem Morgen radelte ich sowieso allein, den Blick auf meine dicken, rotweiß geringelten Waden gesenkt. Meine Mutter hatte die Strümpfe ausgesucht. Meine Mutter war schon ziemlich alt. Sie hatte einen Sohn gehabt, der mit zwölf an Lungenentzündung gestorben war. Das wäre also mein Bruder gewesen. Das erklärt auch, warum sich meine Mutter immer so viel Sorgen machte. Ich blickte auf meine Waden, die sich regelmäßig hoben und senkten, ich dachte an den Lehrer, der mich haßte, an die regelmäßigen Lacher, die mein Stottern auslöste, und daran, daß ich zu spät kommen würde und allein unter den Blicken und der drückenden Stille zu meinem Platz gehen müßte. Ich beschloß, nicht zur Schule zu fahren, sondern geradeaus weiter und in den Wald.

Sofort fühlte ich mich wunderbar. Ich würde in den Wald fahren, dort auf einen Baum klettern und meine Pausenbrote essen. Es war plötzlich ein schöner Tag. Ich glaube, ich sang sogar vor mich hin. Dann kam ich in den Wald. Ich sah sie schon von weitem. Die Waldarbeiter standen am Wegrand, auf ihre Schaufeln gelehnt, und sahen mir erwartungsvoll entgegen. Meine Hände krampften sich um die Lenkstange, ich preßte die Lippen aufeinander und blickte starr vor mich hin. Es waren drei. Sie johlten und pfiffen, als ich vorbeifuhr, aber nicht einmal besonders laut. Mehr, als ob sie eine lästige Pflicht erfüllten. Mit hochrotem Gesicht fuhr ich weiter.

Ich fuhr noch ein Stück in den Wald hinein, dann hielt ich an, stieg vom Rad und lehnte mich schweratmend an einen Baum. In dem Moment beschloß ich, den Mord zu begehen, der ja nur deshalb ein Mord war, weil ich ihn vorsätzlich begangen hatte (ich habe mich informiert).

Ganz wie ich es geplant hatte, kletterte ich auf einen Baum und packte meine Pausenbrote aus. Ich war ganz ruhig und ungerührt. Von hier oben hatte ich eine gute Aussicht. Ich sah, wie die Arbeiter ohne große Begeisterung ein Stück Weg ausbesserten, ziemlich bald schon die Schaufeln hinwarfen, sich streckten und reckten und sich dann auf den moosigen Boden fallen ließen. Sie packten ihr Essen aus: ganze Würste und Brotlaibe, Literflaschen Rotwein. Einer zog sich den Hut über das Gesicht, die Flaschen waren leer, und bald schienen alle drei zu schlafen.

Ich kletterte von meinem Baum und ging zu ihnen hinüber. Ich gab mir keine besondere Mühe, leise zu sein. Ich beugte mich über den ersten, der seinen Hut ins Gesicht gezogen hatte. Ich hob einen großen Stein auf, schwang ihn mit beiden Händen über meinen Kopf und ließ ihn auf den Hut fallen. Es gab ein unangenehmes Geräusch, das aber durch den Hut weitgehend gedämpft wurde. Als ich den Stein wieder aufhob, gab die Masse darunter nach wie Brei. Die anderen waren nicht aufgewacht. Ich traute mich nicht, den Hut hochzuheben. Ich hatte Angst vor dem, was ich sehen würde. Ich konnte den schweren Stein kaum mehr halten, meine Arme zitterten und schmerzten. Wahrscheinlich stieß ich einen Seufzer aus, als ich den Stein hochhob, denn der andere Mann, der neben dem ersten lag, schien sich im Schlaf zu bewegen, seine Augen flatterten unter den geschlossenen Lidern. Ich wurde von panischer Angst ergriffen und ließ den Stein fallen. Er landete einen Millimeter neben meinem rechten Fuß. Ich bekam einen Schluckauf. Ich wollte weg. Hick.

Der zweite Mann richtete sich auf, rieb sich die Augen und sah mich an. Ich erstarrte. Hick.

Doch dann begriff ich, daß er gar nichts begriff. Ich meine, er wachte auf, ein pummeliges junges Mädchen stand vor ihm, wie sollte er ahnen, daß es gerade seinen Kumpel erschlagen hatte? Er grinste. Ich grinste zurück. Hick. Er streckte eine Hand aus. Sie war schmutzig. Jetzt wußte ich nicht mehr weiter. Was wollte er von mir? Wollte er, daß ich ihm die Hand gab? Ich wich einen Schritt zurück.

He, wach auf, sagte er und rüttelte seinen Kumpel an der Schulter, schau dir das an!

Das hätte er nicht tun sollen. Der andere sank in sich zusammen, rutschte zur Seite, der Hut glitt auf den Waldboden und ließ ein Gesicht sehen, das keines mehr war. Beim besten Willen nicht. Der Mann stieß einen rauhen Laut aus und faßte sich an die Kehle. Ich schlug sittsam und ein bißchen angewidert die Augen nieder. Jetzt wachte der dritte auf. Auch das noch.

Was ist denn hier los, fragte er verschlafen und vielleicht auch etwas betrunken.