Das Schwarze Gold - Daniel Neufang - E-Book

Das Schwarze Gold E-Book

Daniel Neufang

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Beschreibung

Merchweiler 1882. Der fünfzehnjährige Robert Müller, Sohn eines ansässigen Bauern, will der Armut entkommen und sich nicht mehr auf eine gute Ernte verlassen müssen. Als er eines Tages die Rede eines Werbers für die Grubenarbeit in Camphausen hört, beschließt er ein neues Leben zu beginnen. Sein Ziel ist es den Beruf des Bergmanns zu erlernen und so einen sicheren Lohn zu erhalten. Für dieses Vorhaben bricht Robert sogar mit seiner Familie. Schon wenige Jahre später soll ein einschneidendes Ereignis einen anderen Menschen aus ihm machen. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges brechen noch härtere Zeiten an, die alles auf den Kopf stellen. Schließlich nimmt das Schicksal seinen Lauf. Ist das angestrebte, sichere Leben nur eine Utopie?

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Merchweiler 1882. Der fünfzehnjährige Robert Müller, Sohn eines ansässigen Bauern, will der Armut entkommen und sich nicht mehr auf eine gute Ernte verlassen müssen. Als er eines Tages die Rede eines Werbers für die Grubenarbeit in Camphausen hört, beschließt er ein neues Leben zu beginnen. Sein Ziel ist es den Beruf des Bergmanns zu erlernen und so einen sicheren Lohn zu erhalten. Für dieses Vorhaben bricht Robert sogar mit seiner Familie. Schon wenige Jahre später soll ein einschneidendes Ereignis einen anderen Menschen aus ihm machen. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges brechen noch härtere Zeiten an, die alles auf den Kopf stellen. Schließlich nimmt das Schicksal seinen Lauf.

Ist das angestrebte, sichere Leben nur eine Utopie?

Dieser Roman ist all den Arbeitern der Deutschen

Steinkohlereviere und den Opfern der Schlagwetterexplosion am 17. März 1885 auf der Grube Camphausen Quierschied gewidmet.

„Glück auf“

Des Weiteren möchte ich Jerome Kiefer für die Unterstützung bei den Recherchen und seine fachmännische Meinung danken.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1. Kapitel

Mein Name ist Robert Müller. Ich schaue auf ein hartes, dennoch erfülltes Leben zurück. Die Kameradschaft, welche ich unter den Bergleuten in Quierschied und Göttelborn miterleben durfte, war beispiellos. Einer stand für den anderen ein. Nun, da ich mit gerade erst achtundfünfzig Jahren ans Bett gefesselt bin, werde ich mich an diese Zeit unter Tage erinnern. Ihr alle sollt an meiner Lebensgeschichte teilhaben…

Als die Kirchenglocken im saarländischen Merchweiler zur siebten Stunde läuteten, färbte die Sonne die umliegenden Felder in ein goldenes Gelb.

Die gesamte Familie Müller war schon seit drei Stunden auf den Beinen. Etwas außerhalb des Dorfes lag ihr kleines Bauernhaus, inmitten vierer schmaler Felder, für die sie die Pacht übernommen hatten. Es waren drei enge Zimmer mit nur spärlicher Einrichtung. Neben dem elterlichen Bett diente ein breiter Kleiderschrank der Abtrennung vom Schlafbereich ihrer drei Kinder. Ein schlichter Vorhang grenzte den Küchenbereich ab, welcher mit einem großen Tisch, acht klapprigen Stühlen, Schränken und dem alten Kohleofen ausgestattet war. Hinter dem Haus befand sich ein eingezäunter Hühnerstall, der den Tieren genügend Auslauf ermöglichte. Ein weiteres Stück entfernt stand der Kuhstall, welcher fünf Milchkühen Unterschlupf bot. An diesem ungewöhnlich heißen Septembermorgen 1882 herrschte Windstille, so dass die Arbeiten fast unerträglich schienen. Nichtsdestotrotz schwang der vierzigjährige Landwirt Rudolf Müller die Sense, um seinen Burschen als gutes Beispiel voranzugehen. Obwohl den gestandenen Bauern gesundheitliche Probleme, wie die Gicht, plagten, stand er jeden Tag aufs Neue seinen Mann. Schweißperlen liefen über das schmale Gesicht, doch seine stechend blauen Augen zeugten von dem immensen Durchhaltewillen. Rudi, wie ihn seine Freunde riefen, war ein ehrlicher Mann. Er schien nicht sonderlich groß gewachsen, hatte kurzgeschnittenes, braunblondes Haar und hielt sich aus jeglichen politischen Unterhaltungen heraus. Misstrauisch beäugte Rudi die Zusammentreffen der Sozialdemokraten im ansässigen Wirtshaus „Am Eck“. Seiner Meinung nach bedurfte es keiner Partei, um das Wohl des Volkes zu fördern. Jeder war seines Glückes Schmied. Hauptsächlich waren es Bergmänner aus der Grube Camphausen in Quierschied, die dort ihr Leid klagten. Trotz seiner gutmütigen, ruhigen Art regten ihn solche Gespräche auf. Immerhin musste er teure Pacht für seine vier schmalen Felder abgeben, die Kosten für Futtermittel zahlen und die geliebte Familie durchbringen. An so manchem Abend saß der alte Müller deprimiert, allein in einer stillen Ecke der Dorfkneipe, trank ein kühles Bier und fragte sich, wie er seine Liebsten über den Winter bringen sollte. Obwohl der treusorgende Vater versuchte, diese Bedenken von seiner Familie fernzuhalten, bemerkten sie, dass ihn die Lage zusehends bedrückte. Besonders dem ältesten Sohn Robert fiel dies auf. Der blonde Fünfzehnjährige hatte ein feines Gespür dafür, wie es den Mitmenschen erging. Doch eine Schwäche des Bauerssohns war, dass er sich leicht beeinflussen ließ, was seiner Mutter meist missfiel. Wie auf ihn konnten sich die Eltern auch auf ihren zweitgeborenen Sohn verlassen. Konrad hatte gerade sein vierzehntes Lebensjahr beendet. Der kräftige Junge unterstützte Rudolf, wo er nur konnte. Aus diesem Grund verließ er frühzeitig die Schule, um alle Kraft in den elterlichen Betrieb zu stecken. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern war Konrad eher freizügiger und naiver Natur, was seine Kameraden für sich zu nutzen wussten. Ihm fehlte jedoch Roberts Einfühlungsvermögen. Daher bemerkte der Bursche nicht die Last, die Rudi auf seinen Schultern trug. Nur Mechthild Müller wagte es zu erahnen, was in ihrem Gatten vorging. Zu gerne hätte die fünfunddreißigjährige, schmale, fleißige Bäuerin mit ihrem Rudi darüber geredet. Doch wenn sie auf die brisanten Themen zu sprechen kam, schaute ihr Mann garstigen Blickes drein, so dass Mechthild es kaum noch wagte ein Wort von sich zu geben. Oft drang des Nachts ihr leises Wimmern zu den Kindern hinüber, welches sich unter Rudis lautes Schnarchen mischte. Aber es gab eine Person, die es vermochte durch ihr Lächeln die dreifache Mutter abzulenken. Ihre neunjährige Tochter, Karin Müller. Ein aufgeweckter, kleiner Wirbelwind mit langen, braunen Zöpfen und großen, strahlenden Augen, die ihre kindliche Neugier widerspiegelten. Trotz ihres jungen Alters half Karin bei sämtlichen Tätigkeiten. Immer gut gelaunt, summend und lachend wusch sie die Wäsche, beteiligte sich an der Hausarbeit sowie beim Füttern der Hühner oder dem Melken der Kühe. Den größten Spaß bereitete der Kleinen, wenn am Abend die ganze Familie zusammen am Esstisch saß.

Während sich dieser herrliche Tag dem Ende neigte, legte der Vater endlich seine Sense nieder. Mit schmerzenden, Schwielen versehenen Händen schweifte sein Blick zufrieden über das Erreichte. Auf zweien der Felder stand nun kein Halm mehr. Er nahm sein Taschentuch hervor, atmete erschöpft durch und wischte sich den Schweiß von der hohen Stirn. Ein stolzes Lächeln stahl sich auf seine Lippen, während Rudolf seinen Söhnen zuschaute. Die beiden trennten unter Hilfe des Dreschflegels die Getreidekörner von der Spreu und dem Stroh, bevor sie Letzteres zu dicken Bündeln schnürten und die Körner in Säcke füllten. Danach stellten die beiden die Beutel auf die eiserne Sackwaage.

„Lasst es für heute gut sein“, rief ihnen Müller lautstark zu. „Morgen ist auch noch ein Tag.“ So erfrischten sich die drei am vollen Wasserfass und betraten ihre winzige Unterkunft. Der Duft von frischer Hühnersuppe mit Gemüse stieg ihnen schon am Eingang in die Nase. Überglücklich nahmen die Kinder am großen Holztisch Platz. Mechthild stellte den breiten Emailletopf in die Mitte. Aber die Mienen der Eltern ließen nichts Gutes erahnen.

„Sprichst du das Tischgebet?“, flüsterte sie teilnahmslos und faltete die Hände. Rudi nickte abwesend, ehe er dem Herrn für die Speisen dankte. Wortlos füllte Frau Müller die Teller. „Ich musste die ganze Wäsche noch einmal waschen.“

„Ja, und? Ist doch nichts Neues. Find dich damit ab, Mechthild. Gegen den dichten, schwarzen Staub der Grube Camphausen sind wir machtlos.“

„Wahrscheinlich hast du Recht. Wie weit seid ihr mit der Feldarbeit?“ Erschöpft schenkte sich Rudi Bier ein, nahm einen Schluck und antwortete: „Wieso hast du schon wieder Hühnersuppe gekocht? Denk an den Winter. Wenn der Stall leer ist, steht uns eine raue Zeit bevor.“ Konrad und Robert aßen hastig weiter, denn sie ahnten, dass sich noch an diesem Abend ein Unwetter in ihrem Zuhause entladen würde. Wortlos sahen die beiden ihre Mutter an. Plötzlich schlugen Mechthilds Fäuste donnernd auf den Tisch, so dass die Teller klirrten. Die kleine Karin hielt den Atem an, als Frau Müller ihren Mann anschrie.

„Ich habe allmählich genug von deinen Launen. Glaubst du im Ernst, dass ich mir darüber keine Gedanken mache? Was soll denn bitte mit den Tieren geschehen, wenn sie sich die Beine brechen? Soll das Huhn elendig zu Grunde gehen?“

„Entschuldige. Ich habe es nicht so gemeint. Die Angst vor den kalten Monaten schlägt mir aufs Gemüt. Wenn mir Toni keinen guten Preis für das Korn zahlt, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll.“ Robert merkte schnell, wie dieser Abend enden könnte. So gab er sich alle Mühe, die Streitereien seiner Eltern zu entschärfen.

„Soll ich dich morgen zu Tonis Mühle begleiten?“, fragte er leise. Der Vater starrte seine Burschen an und wandte sich an Konrad.

„Hast du etwas dagegen?“ Er erntete nur ein leichtes Kopfschütteln, während sein jüngster Sohn hastig den Teller leerte. Rudi räusperte sich und fuhr fort. „Du weißt, welche Arbeit auf dich wartet?“

„Dessen bin ich mir im Klaren. Schließlich ist es nicht das erste Mal.“

„Also gut“, sprach der gestandene Landwirt. „Wir fahren morgen Vormittag. Ich schaue noch einmal nach der Ladung. Du holst derweil die Pferde.“

„Ja, Vater.“ Mechthild hingegen musterte ihren Gatten und sprach mit besorgter Miene: „Was macht deine Gicht?“

„Es geht schon besser. Ich hatte heute weder Schmerzen noch einen Anfall. Aber meine Gelenke bereiten mir Sorgen. Es fühlt sich an, als würde man mir ein glühendes Messer hineinstoßen.“ Ein bedrohliches Schweigen herrschte. Zum ersten Mal sprach der Vater über seine Gebrechen.

„Du solltest einen Arzt aufsuchen“, erwiderte seine Ehefrau, doch der Bauer schüttelte ablehnend den Kopf.

„Wovon sollen wir auch noch den bezahlen?“, fauchte Herr Müller, bevor er einen kräftigen Schluck Bier zu sich nahm. Zu oft hatte seine Frau ihn schon darauf hingewiesen. Sie war des Sprechens leid und zuckte nur mit den Schultern.

„Mach doch, was du willst.“ Um seine Geschwister vor weiteren Streitereien seiner Eltern zu schützen, wartete Robert, bis diese ihre Teller geleert hatten. Er gähnte lautstark und sprach leise: „Wir werden nun zu Bett gehen. Es war ein harter Tag.“

„Schlaft gut“, wisperte ihr Vater abwesend, küsste die kleine Karin auf die Wange und schenkte seinen Söhnen noch ein zuversichtliches Lächeln.

„Gute Nacht, Mama.“ Mit diesen Worten schloss der Älteste den Vorhang hinter seinen Geschwistern. Sie zogen sich um und auf einmal war kein Mucks mehr von den dreien zu vernehmen. Obwohl die Geschwister mit einem weiteren, lauten Streit rechneten, blieb alles ruhig. Nur das leise Flüstern der Eltern drang zu ihnen. Schließlich wurden ihre Augen so schwer, dass sie dem Schlaf nicht weiter widerstehen konnten.

Am nächsten Morgen, geweckt vom einfallenden Sonnenlicht, sprang Robert flink aus dem Bett, während sich Karin, so wie auch Konrad noch den Schlaf aus den Augen rieben. Als das Frühstück eingenommen war, strotzte Robert vor Tatendrang. Die Damen des Hauses begaben sich zu den Tieren und der jüngste Sohn kümmerte sich derweil um die weitere Ernte. Doch sie alle bemerkten, dass es ihrem Vater schlechter ging, denn tags zuvor. Auf den Gehstock gestützt kam er samt schmerzverzerrter Miene zum Wagen. Ohne ein Wort zu verlieren, inspizierte er abermals das Getreide. Plötzlich donnerte seine laute, raue Stimme über den gesamten Hof.

„Robert? Wo bleiben die Pferde? Wir müssen los.“ Flinken Schrittes verschwand der junge Mann im Stall. Sein Vater zurrte unterdessen die Plane fest, welche die Ernte vor Nässe und Wind schützen sollte. Es vergingen nur wenige Minuten, bis Robert mit den beiden Haflingern zum Wagen kam. Seine empathische, ruhige Art übertrug sich sofort auf die Zugtiere. Er strich ihnen leicht über die Mähnen, während er den strammen Pferden das Zaumzeug anlegte.

„Lass uns fahren“, raunte sein Vater, ohne ein Wort des Lobes. Dies interessierte Robert nicht, denn ihm war bewusst, unter welchen Schmerzen sein alter Herr litt. Bei jedem Ruck, den der Wagen auf dem unebenen Weg tat, sah er, wie sehr die Pein Rudolf zu schaffen machte.

„Wir haben es gleich geschafft. Halt noch ein wenig durch“, flüsterte er seinem Vater zu. Dieser nahm ihn bei der Hand und wimmerte leise: „Ich habe mich nie bei dir, deinem Bruder oder gar deiner Schwester für eure Hilfe bedankt.“

„Das brauchst du nicht.“

„Doch. Ich finde, ich sollte einmal Danke sagen.“ Ein gequältes Lächeln stahl sich auf die Lippen des Landwirts. Er gab seinem Sohn einen lockern Schlag auf die Schulter und sprach erleichtert: „Es ist geschafft. Da hinten ist die Mühle. Gott sei Dank.“ Endlich war die imposante Anlage erreicht. Sie lag fast zwei Kilometer östlich von Merchweiler. Ein kleiner, angestauter Bach speiste das Mühlrad mit dem nötigen Wasser. Aber das alles schien dem Bauerssohn nur Beiwerk zu sein. Er genoss die friedliche Ruhe der Natur. Das Rauschen des Wassers, das letzte Zwitschern der Vögel, welche in den allmählich lichter werdenden Kronen der Laubbäume ihre Nester hatten, schien ihm Seelenfrieden zu schenken. In Ruhe lenkte er den Wagen rückwärts an die Schütte, von welcher aus das Getreide umgehend zwischen die schweren Mahlsteine gepresst wurde. Erschöpft half Rudolf seinem Sohn die Plane zu lösen, da ertönte schon Toni Schusters laute Stimme.

„Morgen, Rudi. Hast du Nachschub für mich?“

„Genau das habe ich“, antwortete der Landwirt lächelnd, ohne seine Schwäche zu zeigen. „Willst du es noch kontrollieren?“ Herr Schuster winkte ab.

„Lass mal. Ich habe volles Vertrauen in euch. Was bringt ihr mir heute?“

„Es sind vierzig Säcke mit je zwanzig Kilo Gewicht.“ Toni zückte im selben Augenblick ein kleines, ledernes Notizbuch sowie einen spitzen Bleistift. Angestrengt begann er zu rechnen, während Robert den Ertrag weiter entlud.

„Hier. Das kann ich dir dafür zahlen“, sprach der Mühlenbesitzer mit bedauernder Stimme. Müller war entsetzt, als er die Zahlen in Augenschein nahm.

„So wenig?“, flüsterte Rudi überrascht und rieb sich die in Falten gelegte Stirn. „Ich hatte mit mehr gerechnet. Wie soll man davon eine Familie über den Winter bringen?“

„Du weißt, wie schlecht die momentane Situation ist“, rechtfertigte Toni seine Rechnung. „Es tut mir in der Seele weh, aber mehr kann ich dir leider nicht zahlen.“

In dem hartarbeitenden Bauern stieg eine rasende Wut, über die Entscheidungen der Obrigkeit, hoch. Diese traf einschneidende Beschlüsse, welche der einfache Bürger schultern musste. Mit der geballten Faust in der Tasche akzeptierte Müller das schlechte Geschäft. Nach einer Weile schüttete der Bursche den letzten Sack in das Mühlwerk. Da bemerkte er erst die düstere Miene seines Vaters.

„Was ist?“, fragte der älteste Sohn leise. Rudolf hingegen stieg auf den Karren und knurrte: „Wir fahren. Es ist sinnlos weiterhin Getreide anzubauen.“ Nachdem sie das Gelände verlassen hatten, schaute Robert seinen Vater neugierig an. Er verstand diesen plötzlichen Sinneswandel nicht.

„Hier, sieh dir das an“, zischte der Bauer und reichte ihm den Zahlschein, welchen der junge Mann schnell überflog.

„Das kann doch nur ein Scherz sein?“

„Wohl kaum. Dank unserem geliebten Kaiser erhalten wir nicht mehr dafür“, zischte Rudi zynisch. „Mein Gott, wie ich all diese Politiker verachte. Ob Kaiser oder Sozialisten, sie alle wollen nur in die eigene Tasche wirtschaften. Wie es dem einfachen Mann ergeht, ist ihnen völlig gleichgültig.“ Verbittert redete sich der Landwirt in Rage, was seinen Sohn zum Schweigen veranlasste. Als sie Merchweiler durchfuhren, drehte der Wind und wehte erneut den feinporigen Schmutz von Camphausen umher, was den Frust des Landwirts noch mehr steigerte. An diesem Abend saß die gesamte Familie beim Abendbrot. Die Kinder aßen mit Heißhunger ihre Butterbrote und hartgekochten Eier. Aber bei den Eltern blieben die Teller leer. Lediglich ein Glas warme Milch gönnten sie sich.

„Habt ihr keinen Hunger?“, fragte Konrad in seiner naiven Art. Selbst diese nicht böse gemeinte Aussage, trieb Rudolf zur Weißglut. Er versuchte ruhig zu bleiben, aber es gelang ihm nur in Maßen.

„Wenn du mit dem Essen fertig bist, geh gefälligst schlafen.“ Als sich die Kinder in ihr Schlafquartier zurückgezogen hatten, blieben Rudolf und Mechthild noch eine Weile am Tisch sitzen. Robert hörte, wie das Bier in den Krug gefüllt wurde und hielt die Luft an. Darauf folgte eine unerträgliche Stille. Wenig später waren seine Geschwister eingeschlafen, doch er selbst vermochte es nicht auch nur ein Auge zu schließen. Zu sehr interessierte ihn, wie es nun weitergehen sollte.

„Wir gehen harten Zeiten entgegen“, sprach sein Vater mit trauriger Stimme.

„Unsere Familie ist stark“, antwortete Mechthild entschlossen. „Es gibt kein Hindernis, welches wir nicht zusammen überwinden können.“ Rudi lächelte seiner Frau besorgt zu und fuhr fort.

„Gehst du morgen auf den Markt?“

„Das hatte ich vor“, wisperte Frau Müller leise und hielt seine Hand. „Ich denke, dass wir dort noch ein paar Pfennige verdienen können.“

„Nimm Robert mit. Er wird dir eine große Hilfe beim Verkaufen und Schleppen sein.“ Skeptisch sah Mechthild ihren Gatten an.

„Karin wird mich begleiten. Dann kann Robert dir einiges an Arbeit abnehmen.“ Der Bauer nahm noch einen kräftigen Schluck und antwortete leise: „Das ist nicht nötig. Die restliche Ernte fahren wir in der nächsten Woche ein. Morgen werde ich für Feuerholz sorgen. Gregor hat doch das kleine Waldgrundstück geerbt. Er will dort seine Felder erweitern und hat mich vor Kurzem gefragt, ob ich nicht den Bereich roden will. Das geschlagene Holz können wir behalten.“ Er rieb nachdenklich über den Rand des Bierkrugs. „Es würde bedeuten, dass unsere Familie nicht in der Winterkälte ausharren muss.“ Doch Mechthild schüttelte den Kopf und antwortete: Gerade dann sollte neben Konrad auch Robert an deiner Seite sein. Ich will nicht, dass du dich überanstrengst.“

„Konrad ist kräftig genug, um diese Aufgabe mit mir allein zu bewältigen. Mach dir bitte nicht so viele Sorgen.“

„Du bist ein Sturkopf“, murmelte seine Frau, stand auf und machte im Schein der Öllampe den Abwasch. Tags darauf schien die Welt plötzlich unterzugehen. Der Wind hatte an Stärke zugelegt und drückte durch seine Wucht das restliche Getreide zu Boden. Ebenso unheimlich wirkte das laute Heulen, als er durch die kargen Baumreihen wehte. Der erfahrene Bauer verdrängte die Gefahren, welche dieses Wetter mit sich brachte. Die Möglichkeit von umstürzenden Bäumen oder morschen Ästen getroffen zu werden gehörte dazu. So machte er sich schon früh zusammen mit seinem zweitgeborenen Sohn auf den Weg, für Feuerholz zu sorgen. Als der Wagen verschwunden war, begab sich Robert in den Schuppen, um die beiden kleinen Bollerwagen zu holen. Aus den Augenwinkeln sah er das niedergedrückte Korn, welches ihnen das Überleben sichern sollte. Schließlich fing es auch noch an zu nieseln.

„Wo bleibst du?“, rief ihm Mechthild entgegen. Sie stand bereits wartend mit Karin vor der Tür.

„Ich komme schon“, wisperte Robert abwesend beim Anblick der Naturgewalt, während er schnellen Schrittes die Wagen hinter sich herzog. Hastig verluden die Frauen, was sich in dieser bitteren Lage zu Geld machen ließ.

Neben dem im Garten angebauten Gemüse verschwanden die hauseigenen Eier, Kartoffeln, Milch und Räucherwurst im Inneren des Handkarren. Frau Müller lud außerdem einige Gläser ihrer selbstgemachten Marmelade ein.

„Was? Dein leckeres Gelée?“, fragte ihr Sohn betrübt, da ihm schon beim Gedanken an diese Köstlichkeit das Wasser im Mund zusammenlief.

„Wir haben noch genügend Gläser im Schrank stehen“, antwortete seine Mutter. „Lasst uns gehen. Je länger wir auf dem Wochenmarkt verbringen, desto mehr können wir unter die Leute bringen.“ Nachdem alles verstaut war, machten sich die drei auf zum Markt nach Merchweiler. Der drahtige Bursche zog den schweren Karren, während Karin und ihre Mutter sich das Gewicht des Zweiten teilten. Es verging nur wenig Zeit, bis sie den Dorfplatz erreichten. Doch Mechthild überlief ein eisiger Schauer. Das rege Treiben, welches sonst auf dem Markt herrschte, wich einer Art Totentanz. Wohin sie sah, wirkten die Menschen bedrückt. Einige Frauen hatten Tränen in den Augen, anderen war die Verzweiflung anzusehen. Ohne die Trübnis weiter zu beachten, boten die Müllers ihre Lebensmittel feil. Die Bäuerin begann die Kundschaft anzusprechen, während ihre Kinder sämtliche Waren ansehnlich drapierten. Letztendlich hatte sie es geschafft, dass sich eine kleine Gruppe Frauen vor ihnen versammelte. Doch keine von ihnen konnte sich die aufgerufenen Preise leisten, was zu großem Unmut führte. Verzweifelt wandte sich die Mutter an ihren Sohn.

„Wie sollen wir in dieser Lage auch nur den kleinsten Gewinn machen?“ Ihr Sohn überlegte kurz und wisperte: „Es ist traurig mitanzusehen, wie sich die Menschen quälen. Wir haben nur eine Möglichkeit, um nicht mit einem leeren Geldbeutel nach Hause zu gehen. Du musst die Preise senken.“ Unentschlossen schaute Mechthild ihren Ältesten an, ehe sie zustimmend nickte. So wandte sie sich der ersten, schmalen Frau zu, die vor ihr stand und fragte, was diese benötigte.

„Zehn Eier und ein bisschen frischen Lauch“, flüsterte sie, während ihr Blick beschämt zu Boden ging. Zittrig reichte sie Mechthild zwei Pfennigstücke. „Das ist alles, was ich ihnen heute geben kann.“ Mitleidsvoll dachte Frau Müller an ihre Familie. Roberts Worte schwirrten noch immer in ihrem Kopf herum.

„Also gut“, wisperte sie gequält lächelnd, ehe das Kleingeld in ihrer Börse verschwand. Karin verpackte derweil die gewünschten Nahrungsmittel und eine Träne der Dankbarkeit lief über die schmalen Wangen der Kundin.

„Gott möge Sie segnen.“ Frau Müller wollte sich gerade den anderen widmen, als die Fremde plötzlich ihr Herz ausschüttete. „Sie müssen wissen, dass wir es momentan nicht leicht haben. Der Tod meines Mannes hat seine tiefen Spuren hinterlassen. Es dauert wahrscheinlich noch eine Weile, bis die Knappschaft die Rente auszahlt. So lange sind wir auf das Geld angewiesen, welches seine Kameraden gesammelt haben.“

„Ihr Gatte war Bergmann?“, fragte Frau Müller und kämpfte selbst mit den Tränen.

„Ja. Er arbeitete als Bergmann auf der Grube Camphausen.“

„Mein Beileid.“

„Schon gut“, antwortete die Witwe und rang um Fassung. „Seit einer Weile haben sich seine Erkrankungen verschlimmert. Schließlich konnte mein Fritz keinen Finger mehr krümmen, ohne vor Schmerzen zu schreien.“ Sie sah zur schwarzen Rauchsäule hinüber, welche sich in nur wenigen Kilometern Entfernung unter die grauen Regenwolken mischte. „Nun ist er wenigstens von seiner Pein erlöst.“ Kurzes Schweigen herrschte, bevor sie ihres Weges ging. Das Schicksal dieser Frau ließ die Bäuerin nicht mehr los. Abwesend nahm sie die weiteren Wünsche entgegen, kassierte das schmale Geld und ihre kleine Tochter verpackte alles. Robert kümmerte sich zur gleichen Zeit um erneute Kundschaft. Von all dem bekam er nichts mit. So lange, bis eine kleine Kutsche nahe der Kirche vorfuhr. In dem schwarzen Einspänner saß ein feingekleideter Herr mittleren Alters, der die Zügel fest in Händen hielt. Durch ein leises Geräusch hielt er das stattliche, weiß-schwarz gescheckte Ross an. Erst jetzt bemerkte Robert einen weiteren, gutrasierten Mann, welcher ebenfalls über vierzig Jahre alt sein musste. Er lächelte zuversichtlich, während seine Finger hastig über einige Notizen glitten. Nachdem er sich hingestellt hatte, wurde dem Bauerssohn erst die Körpergröße des, in einen schwarzgrau gestreiften Anzug gekleideten, Mannes bewusst. Seine Schuhe funkelten aufgrund der feinen Wachsschicht, obwohl nicht einmal ein Sonnenstrahl auf ihn fiel. Dieser Mann hatte eine magische Anziehungskraft, so dass sich auch Robert ihm langsam näherte.

„Ihr jungen, strammen, Männer der Saar“, donnerte plötzlich seine laute, prägnante und tiefe Stimme voller Enthusiasmus über den Dorfplatz. „Hört mich an. Denn dies ist Eure Chance auf ein besseres Leben. Nicht nur für euch, sondern auch für Eure Familien.“ Binnen weniger Minuten versammelte sich eine Traube arbeitssuchender, junger Männer um den Wagen. Wie hypnotisiert drängelte sich Robert nach vorne und ließ seine Mutter, wie auch Karin mit der Arbeit im Stich. Stille herrschte, als der Werber fortfuhr. „Sagt mir ganz ehrlich, wer von Euch ein zufriedenes, abgesichertes Leben führt?“ Die Menge begann durcheinander zu reden, was Robert sehr störte. Er hatte gelernt, niemandem ins Wort zu fallen und sich anzuhören, was das Gegenüber von sich gab. „Wer ist in der glücklichen Lage, dass er seiner Familie, im Falle seines Ablebens, dennoch eine sichere Zukunft bieten kann?“ Ein unsicheres Schweigen durchfuhr die Reihen der Männer, als plötzlich einer von ihnen lautstark dazwischenrief. Sein Name war Oskar Wirth. Der sechszehnjährige Tagelöhner sehnte sich nach einer festen Anstellung, die ihm eine Zukunft ermöglichte. Der braunhaarige, kleingewachsene und kräftige Bursche lauschte skeptisch den süßen Worten des Fremden.

„Darf ich fragen, wovon Ihr sprecht, werter Herr? Alles, was Euren Mund verlässt ist entweder Utopie oder blanker Hohn.“ Ehe der Werber sich dazu äußern konnte, schweifte Roberts Blick neugierig durch die Reihen. Überrascht schaute er drein, als er seinen alten Schulfreund Oskar Wirth sah, der auf eine Erklärung wartete. In seiner verschlissenen Kleidung stand Oskar da. Die Arme demonstrativ vor dem Brustkorb verschränkt. Doch nachdem das Gemurmel wieder lauter wurde und niemand mehr den Werber beachtete, rief eine laute Stimme sie zur Ordnung.

„Mein Gott, lasst den Mann doch endlich ausreden. Oder ist bei euch kein Stück Höflichkeit mehr über?“ Im nächsten Augenblick starrten die Burschen den Fremden wartend an. Dieser lächelte und versuchte nun endlich seine Rede zu einem Ende zu bringen.

„Danke für den Zuspruch“, rief er dem Arbeiter zu, bevor er sich wieder den Anwesenden zuwandte. „Euer aller Glück liegt nur einen Steinwurf entfernt.“ Stolz wies der gutgekleidete Herr auf den rauchenden Schornstein. „Seht mich an. Ich bin einer von Euch, aber habe die Chance ergriffen und Karriere gemacht. Auch ich wusste nicht, wie ich des Abends meiner geliebten Frau ins Antlitz schauen sollte, geschweige denn in die leuchtenden Augen meiner Kinder. Sie sollten nicht immer wieder aufs Neue enttäuscht werden. Dann taten sich mir plötzlich ungeahnte Perspektiven und Möglichkeiten auf. Ich unterschrieb bei der Grube Camphausen.“ Der Rede folgte ein lautes Gelächter von einigen der Anwesenden und Oskar Wirth sprach energisch aus, was jedem auf der Seele brannte.

„Eine herzergreifende Geschichte. Ich fange gleich bitterlich an zu weinen.“

„Mach dich nur lustig, mein unerfahrener Freund“, antwortete der Herr. „Der Blitz soll mich auf der Stelle treffen, wenn ich Euch einen Bären aufbinde.“

„Der Himmel zieht sich schon zu“, antwortete Oskar und konnte sich ein zynisches Lächeln nicht verkneifen. „Gleich stehen wir nur noch vor einem Häufchen Asche.“ Aber der Werber ließ sich nicht beirren.

„Ihr habt die Wahl. Tut euch selbst und den Familien einen Gefallen. Ein geregeltes Einkommen ist Euch gewiss. Ebenso sind Eure Liebsten im Todesfall über die Knappschaft abgesichert. Abgesehen davon, seid Ihr ein wichtiger Teil der Gesellschaft. Es liegt in Euren Händen den Familien eurer Heimat einen großen Dienst zu erweisen. Stolz und Freude werden Euer Geschenk sein. Dann haltet Ihr die Fahne der Arbeiterschaft an der Saar stolz in die Höhe.“ Gefesselt von der Ansprache zog Robert es für einen Moment in Erwägung, dem Fremden zu folgen. Wirth hakte ungeachtet dessen nach.

„Mein Freund Thomas arbeitet seit zwei Jahren in Quierschied am Leseband. Er wollte auch das Beste aus seinem Leben machen. Stattdessen trennt mein Kamerad immer noch die Kohle vom tauben Gestein.“ Allmählich bemerkte der feingekleidete Herr, wie ihm die Menge allmählich entglitt. So antwortete er im rauen Ton: „Vielleicht hatte er keine Lust darauf, mehr aus seinem Leben zu machen. Jeder erhält die Möglichkeit durch aufmerksames Lernen den Beruf des Bergmanns auszuüben. Danach stehen Euch allen sämtliche Türen offen. Also denkt darüber nach. Wer möchte, kann sich sofort bei mir einschreiben.“ Schwungvoll reckte er die Meldeliste in die Höhe. „Wenn Ihr noch eine Nacht darüber schlafen müsst, kann ich Euch dies nicht verübeln. Die Grube Camphausen heißt jeden herzlich Willkommen, der seine Arbeitskraft, Enthusiasmus und den Willen etwas zu erreichen in den Betrieb miteinbringen möchte.“ Während sich die ersten Arbeitssuchenden einschrieben, schüttelte Oskar ablehnend den Kopf. Schließlich verschwand er in der Menge. Robert hätte gerne mit seinem alten Freund noch ein paar Worte gewechselt, aber dazu kam es nicht. Nachdenklich kehrte er zu seiner Mutter zurück, die nicht begeistert von dem plötzlichen Verschwinden ihres Sohnes war. Statt ihn umgehend darauf anzusprechen, würdigte sie Robert den Rest des Tages keines Blickes. Erst als die Kirchenglocken sechs Uhr schlugen und sie sich auf den Heimweg machten, konnte der Älteste das Schweigen nicht mehr ertragen.

„Entschuldige, dass ich so lange fort war“, versuchte er zu beruhigen.

„Wo warst du? Wir hätten deine Hilfe brauchen können“, fauchte Mechthild sichtlich verärgert. „Ich hoffe du hast dich nicht von diesem Rattenfänger bezirzen lassen.“

„Du meinst den Werber? Nein, Mama. Ich habe Oskar getroffen und ein wenig geplaudert.“ Mechthild akzeptierte dies, ohne zu hinterfragen, was sein alter Schulfreund nun arbeitet oder wie es ihm geht. Wenig später erreichten sie den Hof. Karin blieb auf einmal stehen und wies überrascht auf den langen Pferdewagen, welcher mit dem Heck halb aus der Scheune ragte.

„Sieh, Papa ist schon da.“ Doch die beiden Geschwister blieben, wie angewurzelt stehen. Ihnen war bewusst, dass etwas geschehen sein musste. Es war nicht normal, dass Rudolf bei einer solch lukrativen Aufgabe schon so früh zurückkam. Sie ließen die Deichseln der Bollerwagen fallen und rannten ins Haus.

„Was ist passiert?“, fragte die Bäuerin aufgebracht, als sie ihren Mann, kreidebleich, zitternd am Küchentisch sitzen sah.

„Konrad“, stotterte ihr Gatte. „Er wollte mich nicht zu viel allein arbeiten lassen. Wir hatten schon zehn der morschen Bäume mit der Axt gefällt, da brach ein schwerer Ast aus den Kronen. Ich konnte nichts tun. Er stürzte blitzschnell auf Konrads Schulter.“ Geschockt wischte sich Rudi die Tränen ab.

„Wo ist er?“, schrie seine Frau ihn aufgeregt, hysterisch an, während Robert wie gelähmt an der Tür stehenblieb.

„Er liegt in seinem Bett. Ich bin umgehend mit ihm zum Dorfarzt gefahren.“ Nun begann Karin bitterlich zu weinen und verschwand hinter dem dunklen Vorhang, um nach ihrem Bruder zu sehen. Mechthild sank auf einen Stuhl nieder und fragte: „Hat er ihn untersucht? Ist er verletzt? Wie geht es unserem Jungen?“

„Doktor Krier hat ihn angeschaut. Er sagt, der Ast habe Konrads Schlüsselbein angebrochen. Sein Arm liegt in einer festen Schlinge und er soll ihn ruhig halten. Ich glaube der Schock war schlimmer als die Verletzung.“ Daraufhin wandte sich der Bauer an seinen ältesten Sohn. „Du wirst mir ab heute stärker zur Hand gehen müssen.“ Abwesend nickte Robert, denn dies widerstrebte seiner Zukunftsplanung. Nachdem sich der Schock allmählich gelegt hatte, nahm die Familie noch eine Kleinigkeit zum Abendbrot ein, ehe sie nach dem ereignisreichen Tag zu Bett gingen. Aber Robert fand nicht zur Ruhe, sondern überlegte, was er nun tun sollte.

Zu gerne würde ich meinem Vater in dieser schweren Zeit zur Seite stehen. Doch wie lange werden wir den Hof unter den immer schlimmer werdenden Umständen noch halten können? Gott sei Dank wird Konrad wieder gesund. Er wird das schon allein bewerkstelligen können. Ich will etwas anderes. Eine Familie, Kinder, ein eigenes Zuhause… Ohne jeden Pfennig zehnmal umdrehen zu müssen. Ein Heim, wo jeder sein eigenes Zimmer hat und nicht durch einen schlichten Vorhang getrennt wird. Ich bin bereit auf Camphausen zu arbeiten. Egal ob am Leseband oder später als Pferdejunge. Mich reizt das feste Gehalt und die Aussicht eines Tages Knappe zu werden. Der Beruf des einfachen Bauern ist mir zu unsicher. Wer weiß schon, was morgen ist? Es bedarf nur einem verregneten Sommer und das Korn verfault vor meinen Augen. Auch der Verpächter will sein Geld. Ihm ist es völlig gleich, ob wir ein gutes Jahr hatten. Ich mache mir Sorgen, was Vater und Mutter zu dieser weitreichenden Entscheidung sagen. Am besten stelle ich mich schon auf das Schlimmste ein.

Obwohl seine Lider immer schwerer wurden, vermochte es Robert nicht, eine Stunde Schlaf zu finden. Konrads Adrenalinspiegel sank, so dass die wahrhaften Schmerzen erst in dieser Nacht zum Vorschein kamen. Sein lautes Gestöhne war für den Ältesten eine wahre Qual. Nicht wegen der Pein, die sein Bruder durchleiden musste, sondern weil er die Schuld bei sich sah.

Also zog er sich das Kissen über die Ohren und grübelte weiter.

Wenn ich mich anstrenge und fleißig bin, werde ich es schaffen eines Tages meine Brötchen zu verdienen. Ja, ich muss es tun. Jeder ist seines Glückes Schmied. Gott, bitte steh mir bei. Mit deiner Hilfe wird es mir gelingen.“

So vergingen weitere Tage, in denen Robert nur auf den richtigen Augenblick wartete, um seiner Familie den Entschluss zu unterbreiten. Aber als er sah, wie Stolz sein alter Herr auf ihn und die erbrachte Leistung war, verließ Robert zusehends der Mut.

2. Kapitel

Die Zeit verging schnell. Es war ein kühler Oktobermorgen. Nachts kam schon der erste Frost auf und nur der leichte Nebel verhüllte die harten Äcker. Allmählich wurden die Tage spürbar kürzer. Wie immer in der Früh schlich Robert mit einer Laterne und dem Melkschemel in den Stall, während Karin die Hühner fütterte. Auch die Gelege wurden von der Kleinen genau überprüft, so dass immer genügend Eier zum Frühstück vorhanden waren. Als die Sonne langsam aufging, machte sich der Bauerssohn auf den Weg zum Haus. In jeder Hand trug er eine schwere Kanne voller Milch. Wehmütig schweifte sein Blick über die brachliegenden Felder, welche bereits winterfest waren.

„Robert, ich bin fertig“, rief seine Schwester und trug die Eier behutsam in ihrer kleinen, rotgepunkteten Schürze. Ein bedauerndes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Es tat ihm in der Seele weh, sie und die gesamte Familie so plötzlich im Stich zu lassen. „Haben die Kühe viel Milch gegeben?“

„Ja, Karin“, flüsterte er. „Rosi war heute guter Dinge.“

„Rosi ist doch immer guter Dinge. Sie ist die Beste.“ Auf einmal wehte ein eisiger Wind über den Hof. Die Kälte ließ ihre Hände taub werden.

„Komm schnell. Wir müssen ins Warme.“ Robert stellte eine Kanne ab, öffnete die Tür und blickte nach oben. Dunkle Rauchsäulen stiegen aus dem schmalen Schornstein des Bauernhauses.

„Los, mach die Tür hinter dir zu“, donnerte ihm Rudis harte Stimme entgegen. „Sonst heizen wir umsonst.“ Die gesamte Familie saß am Esstisch, während Mechthild die gusseiserne Pfanne mit den restlichen Eiern schwenkte. Jedem gab sie zwei auf den Teller und warf noch eine Scheibe Speck in dieselbige, so dass die Männer des Hauses gestärkt an die Arbeit gehen konnten. Rudolf faltete die Hände.

„Herr, wir danken dir für die Speisen, die du uns reichest. Wir bitten um deinen Segen. Amen.“ Daraufhin legte er sich die alte Serviette vor und eröffnete das, für ihre Verhältnisse, ausgiebige Frühstück. „Robert?“, fragte der Bauer leise. „Kannst du mir heute beim Holz hacken zur Hand gehen?“ Das Essen schien dem Burschen plötzlich im Halse stecken zu bleiben. „Du wirst weiterhin die Arbeit deines Bruders übernehmen müssen.“

„Wie lange noch?“ Bei dieser Frage stockte Konrad der Atem, denn er wusste, dass sein Vater eine solche Aussage nicht so einfach hinnehmen würde.

„Das hat dir egal zu sein, mein Junge.“ Entschlossen wandte sich der angesehene Bauer an seine Frau. „Was sagt eigentlich der Doktor? Immerhin hat er Konrad noch ein weiteres Mal untersucht.“ Mechthilds schmale Stirn legte sich in Falten und sie antwortete: „Seiner Einschätzung nach dauert es noch vier geschlagene Wochen.“ Schweigend starrte Rudi seine Frau an. „Schau nicht so griesgrämig drein. Der Bruch muss erst vollständig verheilen.“ Mit bedrückter Miene fuhr Robert durch seinen Teller. Dies bemerkte seine Mutter sofort. „Was ist los, Robert?“ Der Bauerssohn wischte sich den Mund ab. Nun war der langersehnte Augenblick gekommen. Er legte vorsichtig das Besteck nieder und wisperte: „Es tut mir in der Seele weh, aber ihr müsst von nun an auf meine Arbeitskraft verzichten.“ Nicht nur das Ehepaar Müller traf dies wie ein Donnerschlag, sondern auch Konrad, der nicht begeistert von der Idee seines Bruders war und umgehend seinem Unmut Luft machte.

„Du spinnst doch. Darf ich fragen, was du ansonsten machen willst? Dich vielleicht als Tagelöhner durchschlagen?“

„Ich weiß, dass mein Entschluss euch überrascht und auch wütend macht. Aber ich sehe keinen Sinn darin, mein Leben diesem Hof zu widmen.“

„Sprich nicht um den heißen Brei herum“, raunte sein alter Herr angespannt. „Geht es dir hier nicht mehr gut? Lassen wir dich hungern?“

„Nein, Papa“, antwortete Robert zögerlich. „Mir hat es bislang an nichts gefehlt. Dafür danke ich euch. Meine Befürchtung ist, dass wir früher oder später die Pacht verlieren und uns allen die Existenzgrundlage fehlt. Es bedarf nur einem schlechten Jahr. Ich will mein Leben nicht auf Sand bauen.“ Während sein Bruder vor Wut kochte und seine Mutter sprachlos dasaß, begann Rudi zu essen. Die Stille war unerträglich.

„Ich fasse es nicht“, flüsterte Mechthild kopfschüttelnd. „Wie soll es nun für dich weitergehen?“

„Mein Ziel ist es Knappe, also Bergmann, zu werden. Schon morgen gehe ich zur Grube Camphausen.“

„Was?“, fragte Konrad, während die kleine Karin lächelnd versuchte, die Familie zu beruhigen.

„Wenn es doch Roberts Wunsch ist. Ich kann Papa immerhin auch zur Hand gehen“, flüsterte die Kleine entschlossen.

An dem Familienoberhaupt schienen jegliche Kommentare abzuprallen. Er aß unbeeindruckt weiter. Nicht so der jüngste Spross der Familie, welcher aus seiner ablehnenden Haltung keinen Hehl machte.

„Denkst du im Ernst, dass du dort auftauchst und sie dich freudestrahlend empfangen? Sie werden dir auch keinen Knappenplatz zusprechen, sondern dich, wie all die anderen, ans Leseband stellen. Dort bleibst du, bis du alt und grau bist. So etwas Blödes habe ich selten gehört.“

„Halt deine große Klappe“, fauchte Robert ihn an. Mechthild sah an seinen Augen, wie stark sein Wille war.

„Dein Bruder hat Recht“, sprach sie leise. „Du wirst erst einmal die Kohle sortieren müssen. Sei dir dessen bewusst. Niemand vergibt so leicht eine Bergarbeiterstelle, da es ein anspruchsvoller Beruf ist. Du musst gelehrig, aufmerksam und fleißig sein.“ Ehe Robert ein weiteres Wort erwidern konnte, donnerten plötzlich beide Fäuste seines Vaters auf die alte Tischplatte.

„Wir werden das Thema jetzt beenden“, raunte er mit ernster Stimme und sah seinen ältesten Sohn strafend an. „Ich wiederhole mich nicht. Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, tust du, was ich sage. Hast du das verstanden?“ Robert starrte ihn einfach an. „Wenn du gehen willst, dann halte ich dich nicht auf. Denk nur immer daran, wie sehr du die Menschen, die dich lieben verletzt hast. Also, was wirst du tun?“ Sein Sohn nahm dies zur Kenntnis, beharrte jedoch auf seiner Entscheidung.

„Dann sei es so“, flüsterte Robert und wischte sich eine Träne ab, die über die schmale Wange lief. „Morgen in der Früh werde ich meiner eigenen Wege gehen.“

„Gut. Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen. Ich hoffe, dass du ein erfolgreiches Leben führen wirst. Doch in diesem Haus bist du nicht mehr willkommen.“ Der Bauer stand auf und klopfte seinem Jüngsten auf die gesunde Schulter. „Komm mit, Konrad. Wir haben eine Menge zu tun.“ Obwohl sein Sohn noch starke Schmerzen verspürte, sah er sich in der Pflicht, seinem alten Herrn, so gut es ging, unter die Arme zu greifen. Nachdem die beiden verschwunden waren, fing es an zu regnen. Durch den tiefgrauen Himmel erreichte kein Sonnenstrahl mehr die Erde. Nun stand auch Karin auf. Sie nahm ihren Bruder tröstend in den Arm und lächelte, wie es ihre Art war. Als wolle sie ihm trotz allem Mut zu sprechen. Nachdem seine Schwester sich in Richtung der Stallungen aufgemacht hatte, stand Robert leise auf.

„Ich packe meine Sachen.“

„Ja, tu das“, wisperte Mechthild abwesend und erledigte den Abwasch. Der Bursche setzte sich auf sein Bett. Mit schwerem Atem schaute er sich ein letztes Mal um. Die Hand leicht über seine Matratze gleitend. In diesem Augenblick brachen sämtliche Gefühle aus ihm heraus. Weinend zitterte Robert wie Espenlaub. Erst jetzt, nach dieser klaren und harschen Ansage seines Vaters, wusste er, dass es ernst wurde. Als der junge Bauerssohn sein Bündel gepackt hatte, schlich er noch einmal zu seiner Mutter in den Küchenabschnitt. Vorsichtig setzte er sich neben sie. Stunden vergingen, in denen Mechthild ihn keines Blickes würdigte. Es dauerte eine Weile, bis Robert endlich den Mut fasste, die Bäuerin anzusprechen.“

„Es tut mir leid“, wisperte er.

„Davon wird es nicht besser, Robert.“ Achtsam stach sie ihre Nähnadeln in das kleine Kissen, legte Konrads Hose zur Seite und sah ihren Sohn mit verschränkten Armen an.

„Ich weiß, dass ich euch sehr wehgetan habe. Aber wie soll ich später eine Familie ernähren, wenn ich nicht weiß, was meine Ernte letztendlich einbringt? In der Grube habe ich Aufstiegschancen und ein festes Gehalt.“ Es war bereits vier Uhr. Bevor die Dunkelheit das Land heimsuchte, wies sie durch ein Kopfnicken auf die kleine Kühlkammer, in der sie Marmelade, Gemüse und gepökeltes Fleisch aufbewahrte. Dort stand bereits sein Abendessen. Grieß, Brot und eine Bratkartoffel.

„Danke“, flüsterte er mit schlechtem Gewissen. „Mama, ich…“ Mechthild unterbrach ihn. Sie drehte sich um und nahm ihren Sohn in den Arm.