Verdrängte Zeiten - Daniel Neufang - E-Book

Verdrängte Zeiten E-Book

Daniel Neufang

0,0

Beschreibung

Dezember 1918. Seelisch und körperlich gezeichnet von den Erlebnissen des Ersten Weltkrieges, kehrt der junge Soldat Johannes Becker in seine saarländische Heimatstadt Sankt Ingbert zurück. Mit der Unterstützung seiner Verlobten Mia versucht er sich in die ihm fremdgewordene Gesellschaft zu integrieren, welche den Veteranen Misstrauen und Ablehnung entgegenbringt. Jahre vergehen, in denen er die Grauen des Krieges nicht vergessen kann und in eine tiefe Depression verfällt. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, beginnen diese mit der Aktion T4, der systematischen Vernichtung lebensunwerten Lebens. Als Kriegszitterer gerät er in die Fänge rücksichtsloser Mediziner der hiesigen Heilanstalt und befürchtet das Schlimmste. Wird Johannes diesem Wahnsinn entkommen können?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 405

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dezember 1918. Seelisch und körperlich gezeichnet von den Erlebnissen des Ersten Weltkrieges, kehrt der junge Soldat Johannes Becker in seine saarländische Heimatstadt Sankt Ingbert zurück. Mit der Unterstützung seiner Verlobten Mia versucht er sich in die ihm fremdgewordene Gesellschaft zu integrieren, welche den Veteranen Misstrauen und Ablehnung entgegenbringt. Jahre vergehen, in denen er die Grauen des Krieges nicht vergessen kann und in eine tiefe Depression verfällt. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, beginnen diese mit der Aktion T4, der systematischen Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Als Kriegszitterer gerät er in die Fänge rücksichtsloser Mediziner der hiesigen Heilanstalt und befürchtet das Schlimmste. Wird Johannes diesem Wahnsinn entkommen können?

In mahnendem Gedenken an alle Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen, die in der dunkelsten Stunde der Vergangenheit unseres Landes, dem Nationalsozialismus, während der Aktion T4 zu Tode kamen … Wider das Vergessen!

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1. Kapitel

Endlich hat es ein Ende. Nach Hause. Ich kann es noch nicht glauben. Hoffentlich kneift mich niemand, so dass ich nicht aus diesem wunderbaren Traum erwache. Zum letzten Mal muss ich diesen Menschen gehorsam sein. Sie haben mich zwei Jahre meines Lebens gekostet… Es fühlt sich, wie ein halbes Jahrhundert an... Nein! Länger.

Johannes Becker sah aus dem großen, einladenden Fenster auf das schöne Bayreuth. Eine dichte Decke aus gefrorenem Schnee verhüllte die Häuserdächer und nur die kleinen Bereiche um die Schornsteine, welche ihre grauen Rauchschwaden in den klaren Dezemberhimmel stießen, waren vom kalten Weiß befreit. Doch selbst die Schönheit dieses Anblicks vermochte es nicht dem Bergarbeiter aus Sankt Ingbert ein Lächeln zu entlocken. Stoisch stierte Johannes auf sein Antlitz, welches sich in der Scheibe spiegelte und angewidert von dem was er sah, wandte er sich wieder dem Hauptmann zu der seine Entlassungspapiere und die Stammrolle ausfüllte. Der zweiundfünfzigjährige Militär rückte sich ab und an seine Brille zurecht und fuhr mit der linken Hand über sein lichtes, angegrautes Haar.

Kräftig gebaut war ich einst. Ein gepflegter Oberlippenbart zierte mein Gesicht. Mein Haar war pechschwarz und füllig. Alles andere war gewöhnlich. Nichts Besonderes. Zwar war ich mit einem Meter sechsundsechzig nicht groß, aber es war immerhin eine normale Größe für den Grubendienst. Nun sieh dich nur an, Hannes! Hager, unrasiert… Gezeichnet und ausgemergelt von den Erlebnissen der letzten zwei Jahre... Hunger, Krätze und meine liebsten Freunde… Die Läuse. Verdammt! Wer wird mich noch erkennen? Mama? Sicher nicht. Ich bin immerhin zehn Zentimeter geschrumpft. Es war das Kauern in den Schützengräben. Ganz sicher. Sie wird mich nicht erkennen. Und Vater… Ach... Gewarnt hast du mich und ich habe mein Bestes gegeben nicht von Granaten zerfetzt oder von Kugeln durchsiebt zu meiner geliebten Familie zurückzukehren. Versagt habe ich. Das Grauen habe ich in meine Seele gelassen und es hat sich häuslich eingerichtet. Nacht für Nacht besuchen mich Freunde, die eigentlich in ihren Einzelteilen auf den Feldern von Verdun, Falvy, Péronne oder im tiefen Schnee der Julischen Alp ruhen müssten. Wäre ich bloß erstickt, als ich in den Alpen verschüttet wurde. Doch dein Herz war zu groß, oh Herr. Du hättest mich besser an deine Seite gerufen, statt mich mit diesen Erinnerungen tag täglich zu quälen.

Wie versteinert saß Johannes da, versuchte das Zittern seiner Hand zu unterdrücken und registrierte nicht einmal die laute Stimme seines Gegenübers.

„Name?“, fuhr der Hauptmann den Infanteristen an.

„Infanterist Johannes Becker, Herr Kompanieführer.“

„Geburtsdatum?“

„22. März 1896.“

„Wohnhaft in?“

„Sankt Ingbert.“ Ein unbehagliches Schweigen breitete sich in dem geräumigen Büro aus. Selbst der große Teppich und die mit Schnitzereien verzierten Holzmöbel vermochten es nicht Wärme zu erzeugen. Johannes wollte sich gerade wieder in seine Gedankenwelt zurückziehen, als der Kompanieführer den Kopf hob, ihm seinen Füllfederhalter hinhielt und die Stammrolle vorlegte.

„Lesen Sie der Richtigkeit wegen laut vor.“

Der Infanterist stand auf, nahm das Schreibgerät und las mit bebender Stimme die Einträge vor.

„Ich erkenne die Einträge in der Stammrolle an, wurde über die Anmeldung von Versorgungsansprüchen belehrt und erhebe solche nicht. Ich habe den Entlassungsanzug, sowie 50 Reichsmark an Entlohnung, Sold und Marschgeld erhalten.“ Auch seine Handschrift war nicht mehr dieselbe. Sie glich der eines Erstklässlers. Der Schwung, wenn er das J schrieb war, wie seine Zuversicht, auf ein normales Leben auf den Schlachtfeldern geblieben. Sein Blick schweifte über die Seiten und sein Atem wurde schwer.

Eisernes Kreuz erster und zweiter Klasse. Wie gerne würde ich diese nutzlosen Auszeichnungen eintauschen gegen einen Tag in meinem früheren Leben. Es ist zum Heulen. Doch ich habe schon zu viele Tränen vergossen. Betend unter dem ständigen Artilleriefeuer.

„Das Datum und den Ort haben Sie vergessen!“, zischte ihn der Kommandeur laut und zornig an. Johannes sah mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihm auf, fasste sich an den Oberschenkel und fügte alles, wie gewünscht, hinzu. Bayreuth, den 04.12.1918. Hastig riss sein Vorgesetzter das Buch an sich und unterzeichnete ebenfalls die Eintragungen, welche Becker die Ketten des Krieges abnehmen sollten.

Mit dieser Unterschrift schließe ich dieses Kapitel meines Lebens ab. Wie ich mir diesen Augenblick herbeigesehnt habe. Ich will alles vergessen… Alles verdrängen, was in diesen zwei Jahren geschehen ist. Kann ich in mein altes Leben zurückkehren, ohne dass die bösen Geister mich in den Nächten heimsuchen? Ich muss es versuchen.

Hochkonzentriert legte der Kompanieführer die Geldscheine auf den Tisch und sein Blick sagte mehr als tausend Worte. Er wollte, dass Johannes endlich ging, da vor der Tür bereits weitere hundert Männer standen, die nur das Eine wollten. Endlich nach Hause kommen und versuchen, wieder ein Teil der Gesellschaft zu werden. Becker nahm seine Habseligkeiten, salutierte vorschriftsgemäß und verließ schweren Schrittes das komfortable Büro. Wie ein Geist schlich er die schmale Außentreppe hinunter. Vorbei an den Kameraden, von welchen er hin und wieder einen Schulterklopfer erhielt. Wie gern hätte er sich von den Männern verabschiedet, die Freud und Leid mit ihm geteilt hatten. Doch niemand wagte es über seinen Schatten zu springen und seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

So weit sind wir nun. Niemand verliert ein Sterbenswörtchen über all das Erlebte. Auch sie geben sich alle Mühe, das Ertragene zu verarbeiten und in den Schoß ihrer Familien zurückzukehren. Ohne Komplimente, warme Worte oder Begeisterung für all die Orden und Abzeichen. Einfach nur Leben.

Nachdenklich, wie es nun weitergehen würde, stand Johannes im knöchelhohen Schnee, knöpfte sich die Jacke zu und stellte den Kragen auf. Er nahm seinen Tornister auf den Rücken, seinen Wäschesack warf er über die Schulter und stapfte los in Richtung des rauchenden Turms der Baumwollspinnerei. Einer seiner Kameraden hatte ihm gesagt, dass sich direkt daneben der Bahnhof befand. Der eisige Wind blies ihm ins Gesicht und feine Regentropfen, welche sich unter die weißen Flocken mischten, stachen wie Nadeln in seine Wangen, während er die Brücke über den Roten Main querte. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichte Becker den breiten Zugang und obwohl es erst neun Uhr am Morgen war, wiesen die brennenden Laternen an beiden Seiten den Weg zum Hauptgebäude. Der zweistöckige, aus gelblich beigem Stein errichtete Koloss wirkte trotz seiner Größe einladend und die unteren im gotischen Stil eingesetzten Fenster ließen eher auf eine Kirche als auf einen Bahnhof schließen. Erschöpft betrat er die warme Halle in der Bamberger Straße, der kargen Parkanlage gegenüber. Menschenmassen drängten sich vor den Schaltern und der Lärm war entsetzlich. Die lauten Stimmen von Frauen und Männern bildeten zusammen mit dem Geschrei kleiner Kinder und den Lautsprecherdurchsagen einen dichten Klangbrei, welcher dem Veteranen durch Mark und Bein fuhr. Johannes zitterte panisch, schloss die Augen und atmete tief ein und aus.

Hannes! Nicht in Panik geraten. Es sind nur Menschen, die sich freuen, vor Glück weinen und ihren Emotionen freien Lauf lassen… Kein Geschützfeuer, nicht das Tacken der Maschinengewehre und nicht das Geschrei der Verwundeten. Bleib ruhig. Atme tief durch und konzentriere dich auf den Schalter… Die nette junge Dame, die die Fahrscheine ausgibt. Alles ist in Ordnung… in bester Ordnung.

Unter einem gequälten Lächeln bahnte sich Becker seinen Weg durch die Massen und versuchte sich in die Emotionen seiner Mitmenschen hineinzuversetzen. Umso erleichterter war er, als er endlich den Schalter erreichte und der jungen Dame in ihre braunen Augen sah.

„Wohin möchten Sie, mein Herr?“, fragte sie zuvorkommend und allein ihr Lächeln verdrängten all den Lärm. Johannes zog seinen Entlassungsschein aus der Tasche und schob ihn unter der halboffenen Glasscheibe hindurch.

„Sie sind gerade erst entlassen?“

„Ja. Ich komme…“ Doch bevor er weitersprechen konnte, presste die junge Frau den Stempel unter das Schreiben und wies auf die kleine Treppe zu ihrer Linken, welche direkt zum Bahnsteig führte.

„Ich wünsche Ihnen eine gute Reise und einen schönen Tag.“

Johannes nickte, faltete seinen Letter zusammen und ging seiner Wege.

Diese Hektik. Alle wollen nur nach Hause. Ich verstehe das. Doch hätte man nicht einmal ein paar Silben miteinander wechseln können? Meine Ansprüche sind wahrscheinlich zu hoch für diesen Moment der Geschichte.

Als er sich umsah und nach seinem Zug suchte, war er erstaunt, wie viele Frauen in Bahnuniform zu erspähen waren. Schaffner, Steigaufseher, Zugbegleiter… Es waren nur Frauen zu sehen.

Neue Zeiten brechen an. Die Männer kehren, wenn überhaupt, als Krüppel zurück, während die Frauen unsere Arbeit verrichten. Sie haben meinen höchsten Respekt. Familie, Arbeit… Diese immense Verantwortung könnte kaum ein Mann tragen… Ah. Da ist er. Die 5. Mein Zug nach Hause. In ein besseres, anderes Leben. Friede… Ruhe. Danke, oh Herr.

Johannes bekreuzigte sich demütig, nahm seinen Wäschesack, den Tornister und kletterte die schmalen Metallstufen hinauf. Mit schmerzverzerrter Miene sprang Becker hinein. Hinein in die Sicherheit der Stahlwände. Nachdem er Platz genommen hatte, setzte sich der Zug in Bewegung. Johannes fühlte sich zurückversetzt an den Tag, der sein Leben von Grund auf verändern sollte. Durch die Kälte waren die grauen Rauchschwaden der Lok dichter geworden und verdeckten Anfangs die Sicht auf die Schönheit der winterlichen Natur. Allmählich wurde das Tackern der Räder auf den Schienen schneller und ließ den Körper des jungen Veteranen in monotonen Abständen vibrieren. Es beruhigte Johannes und ehe er sich versah schlossen sich seine erschöpften Augen…

„Hannes! Bist du fertig? Wir müssen los!“, rief sein Vater, Andreas Becker, durch das Treppenhaus und sah nervös auf seine Taschenuhr. „Er wird zu spät kommen. Was wird man von ihm denken, wenn er der Letzte ist?“

„Ich wünschte er würde gar nicht gehen. So viele sind mit Feuer und Flamme in den Krieg gezogen und nicht mehr zurückgekehrt. Gib ihm noch ein paar Minuten“, flüsterte seine Mutter und ließ die Kugeln ihres Rosenkranzes nachdenklich durch ihre Finger wandern. „Glaubst du, dass er unversehrt…“ Andreas unterbrach seine Frau Magdalena und küsste sie sanft auf die Stirn.

„Mach dir keine Sorgen. Er ist ein Becker. Wir haben bislang alles gemeistert. Er wird es schaffen. Ich weiß es.“ Beruhigt umarmte Magda Andreas und zusammen warteten sie auf ihren Sohn. Johannes schaute in den Spiegel, während er sein weißes Hemd zuknöpfte und sich einen sauberen Scheitel zog.

„Ich habe keine Angst“, versuchte sich der junge Bursche Mut zu machen. „Manfred hat seinen Eltern geschrieben, dass die Grundausbildung ein Spaziergang sei. Er sprach von Exerzieren, Schießübungen und der Zusammenhalt der Kameraden sei vorbildlich. Warum mache ich mir Gedanken? Vielleicht geht alles schneller vorbei, als alle denken. Mir wird schon nichts geschehen. Albert und Franz tun immerhin auch ihre Pflicht. Hoffentlich sehen wir uns alle nach dem Krieg wieder… Meine lieben Brüder.“

Johannes räumte die Sorgen bei Seite, streifte sich sein graues Jackett über, nahm den Koffer und ging mit schnellem Schritt die knarrende Holztreppe hinunter. Magdalena nahm ihren Jungen in den Arm, als wolle sie ihn nie mehr loslassen.

„Ist schon gut, Mama. Ich bin ja nicht aus der Welt… Ich werde dir regelmäßig schreiben. Das verspreche ich dir.“

„Pass auf dich auf, mein Lieber. Wir warten auf dich“, schluchzte seine Mutter und wischte die Tränen ab. Johannes wandte sich an seinen Vater und fragte: „Kommt Maria auch zum Bahnhof? Sie spricht nicht mehr mit mir. Glaubt sie etwa, dass ich das aus eigenem Willen tue?“

„Ich habe keine Zweifel daran, dass Mia da sein wird. Wir müssen los.“ Johannes küsste seine Mutter und verließ in Begleitung seines alten Herrn das Haus. Die Märzsonne schien und ein kühler Wind wehte durch die Straßen von Sankt Ingbert. Vater und Sohn sprachen kein Wort miteinander. Zu schwer fiel ihnen der bevorstehende Abschied und Andreas Gedanken kreisten nur darum, dass dies die letzten Minuten sein könnten, in denen er seinem geliebten Jungen nahe war. Immerhin musste er sich auf diese Weise schon von seinen Söhnen, Albert und Franz, trennen. Auch Johannes brachte keinen Ton über seine Lippen. Doch je näher sie dem Bahnhofsgebäude kamen, umso stärker wurde das Gefühl, dass Schweigen in diesem Augenblick der größte Fehler war.

„Wie fühlst du dich, mein Sohn?“, fragte Andreas Becker leise und vergrub die Hände in seinen Taschen.

„Ich weiß nicht. Mein Magen rebelliert.“ Sein Vater nickte nur und sah die anderen jungen Männer, welche ihre Fahrscheine lösten und sich auf den Bahnsteig begaben. Sie lachten, scherzten und sangen fröhliche Lieder. Doch Andreas durchschaute das Verhalten. Es war die einzige Möglichkeit all die bösen Gedanken zu verdrängen. Die große Uhr schlug Acht und es schien, als würden die Wände unter dem Druck ihres dumpfen Hämmerns vibrieren. Ein kleiner Junge stand in einer Ecke neben den Fahrscheinschaltern und verkaufte Zeitungen. Auf den Titelseiten war in Sütterlinschrift zu lesen „Der Vorstoß auf Verdun war ein großer Erfolg“.

„Ich frage mich, warum die Vermissten und Gefallenenlisten immer länger werden, wenn alles doch ein gewaltiger Erfolg ist?“, zischte der alte Becker zynisch und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Johannes trat an seinen Vater heran, legte sein Jackett über den Unterarm und sah ihn fordernd an.

„Vater. Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Kannst du mir einen Wunsch erfüllen?“ Andreas schwieg und nickte mit einem hoffnungsvollen Lächeln.

„Lass Mama niemals spüren, wie sehr du dich sorgst. Es würde ihr das Herz brechen, wenn du in unserer Abwesenheit nicht mit Leib und Seele für sie da wärst.“ Gerührt von der verständnisvollen, uneigennützigen Haltung seines Sohnes fielen sich die beiden Männer in die Arme und Andreas schien seinen geliebten Sohn nicht gehen lassen zu wollen. Im selben Augenblick bahnte sich Maria den Weg durch die wartenden Menschenmassen und rief laut Johannes Namen.

„Siehst du? Da ist sie schon“, flüsterte Andreas, überwältigt von der innigen Nähe, welche in diesem Wimpernschlag dauernden Moment zwischen ihm und seinem Sohn spürbar war. Er unterdrückte seine Tränen und fuhr fort: „Schnell, Johannes. Geh zu ihr. Dein Zug fährt gleich vom Bahnsteig Zwei ab.“ Dies ließ sich der junge Grubenarbeiter nicht zweimal sagen. Er stellte seinen Koffer ab und rannte ihr entgegen, wohlwissend, dass er seine Maria für lange Zeit nicht sehen würde.

„Johannes… Gott sei Dank. Ich bin noch rechtzeitig.“

„Es ist herrlich, dass du es einrichten konntest. Ich hätte es keinesfalls ertragen, wenn ich deine leuchtend blauen Augen nicht noch einmal gesehen hätte.“ Sanft strich er über Marias Wange und wischte ihr im gleichen Zug eine Träne fort.

„Weine nicht, mein Schatz. Es wird mir nicht hilfreich sein, wenn ich in Lebensgefahr an diesen schmerzhaften Abschied denke.“

„Entschuldige. Es ist nicht leicht… Hast du alles, was du brauchst?“

„Ja.“

„Weißt du schon, wo ihr eingesetzt werdet?“

„Nein. Aber die Offensive findet bei Verdun statt. Vielleicht dort. Wer weiß… Doch lass mich dir noch eine Frage stellen.“ Maria wusste nicht, wie ihr geschah, als Johannes vor ihr auf die Knie ging, sie locker bei der Hand nahm und flüsterte: „Meine Maria, du würdest mich sehr glücklich machen, wenn du mich heiratest.“

Die junge Frau war gerührt und nickte zustimmend.

„Ich weiß, dass es ein schlechter Augenblick ist. Aber ich hätte einen Grund noch mehr Acht auf mich zu geben. Ich liebe dich und will, wenn dieser Spuk vorüber ist, immer an deiner Seite sein.“

„Ich sage ja.“

Nun musste sogar Andreas Becker mit seinen Emotionen kämpfen und versuchte mit aller Gewalt, seine Tränen zu unterdrücken.

„Du musst mir schwören auf dich aufzupassen. Es würde mein Herz zerreißen, wenn dein Name eines Tages auf einer der Listen stände.“

„Sorge dich nicht. Ich habe nun den besten Grund in einem Stück heimzukommen.“ Im selben Augenblick ertönte die Trillerpfeife des Schaffners. Er küsste seine Verlobte und nachdem Johannes sich einen Platz im Abteil gesichert hatte, setzte sich die Lok in Bewegung. Maria und Andreas winkten ihm nach bis der Zug hinter der gestreckten Kurve verschwand…

Plötzlich gab es einen Knall und Johannes schrak auf. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Die Atmung war beschleunigt und der gesamte Körper zuckte, als würde er unter Strom stehen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine Zugbegleiterin, die sich gerade auf ihrem Kontrollgang befand.

„Nein… Danke. Es ist alles in Ordnung.“

„Wenn Sie etwas benötigen, sagen Sie bitte Bescheid.“

Becker nickte mit einem gequälten Lächeln und während die Dame weiterging, nahm er seine goldfarbene Pillendose hervor.

Sie beruhigen mich. Seit der Schlacht an der Putna nehme ich sie nun… Was wird Maria von mir denken. Er ist nicht Herr seiner Sinne. Eine nehme ich noch. Die Nerven beruhigen. Ein neues Leben in Ruhe und Frieden. Ich will eine Familie gründen und glücklich sein. Nicht mehr, nicht weniger.

Dieser Gedanke hielt ihn aufrecht. Vorsichtig zog er ein Foto aus der Brusttasche, auf welchem Maria und seine Eltern zu sehen waren. Die Ränder eingerissen und ausgeblichen. Stellenweise hatte der Regen seine Spuren darauf hinterlassen und trotz all dem hatte dieses Foto eine immense Bedeutung für ihn. Es war sein Stock, wenn die Füße ermatteten. Ein Andenken, wenn die Lage aussichtslos erschien und eine Mahnung, wenn er die Hoffnung zu verlieren drohte. Er küsste seine Mia und sah wieder aus dem Fenster, wo die Gerippe der Bäume an ihm vorbeihuschten, als ob er noch nicht Leid genug gesehen hätte.

Ich freue mich auf meine Familie. Vater und Mutter, meine Verlobte und vielleicht auch meine Brüder… Wenn auch sie es geschafft haben, das Grauen zu überstehen. Es wäre das schönste Geschenk.

Er sah nochmals auf die Uhr und legte den Kopf auf die Lehne. Auf seine verschränkten Arme und während die Sonne allmählich ihr Rot, wie einen glühenden Schleier über die Landschaft legte, schlief er erneut ein…

„Leg dich flach auf den Boden, Hannes! Halte deinen Kopf unten!“, schrie ihn Benno, ein dreißigjähriger, stämmiger Kerl aus Nürnberg, an und presste ihn mit aller Kraft in den Schlamm. Irgendwo außerhalb von Péronne. Während donnernd und mit unbeschreiblichem Lärm die Granaten vor, hinter und neben ihnen einschlugen, flog der lehmige Dreck und Schmutz über ihre Köpfe hinweg. Johannes krallte sich im aufgeweichten Boden fest.

„Ich werde hier verrecken!“, schrie er seinen Freund an und versuchte das dröhnende Getöse zu übertönen.

„Halt die Klappe, Becker! Wir schaffen es! Halt dich bereit.“

Johannes murmelte das „Gegrüßet seist du Maria“, während Benno achtsam einen Blick über den Rand des Schützengrabens warf. Doch was er sah, war das unbeschreiblich Schlechte in der Seele der Menschen. Im Feuer der Explosionen wirbelten Körperteile durch die Luft und die feuchte Oktoberluft wehte die ekelerregende Mischung von Verwesung, Schießpulver und dieses totbringenden Bodens in ihre Stellungen. Johannes hob den Kopf, stieß den leblosen Körper eines seiner Kameraden zur Seite und lud sein Gewehr nach. Er nahm allen Mut zusammen und mit einer Stimme, die sich der Ausweglosigkeit beugte, brüllte er Benno lautstark an: „Sag mir, was ich tun soll?“

Der Fliesenleger warf den Feldstecher auf den, durch Planken gestützten, modrigen Boden und starrte Becker fordernd an.

„Leg an und schieß ohne Gnade! Dann… So Gott will, werden wir diesen Tag überleben!“ Benno lud seinen Karabiner nach, warf sich auf den Rand, welcher den sicheren Graben vom gewissen Tod trennte und feuerte ohne Unterlass. Der Rückstoß war so heftig, dass jeder Schuss seinen Kopf ein Stück zurückwarf. Pausenlos fuhr diese hasserfüllte, grauenhafte Oper fort und schien mit jedem Akt lauter zu werden.

„Feuer nun endlich, Hannes!“, schrie Benno und sah die englischen Truppen auf sich zu stürmen. Becker kroch an die, aus Sandsäcken gefertigte Aufschüttung heran und ging neben seinem Freund in Stellung. Er atmete tief durch. Übermannt von panischen Angstgefühlen und dem unbedingten Wunsch dieses Inferno zu überleben, nahm Johannes ziel. Laut drangen seine impulsiven Schreie über die flache Ebene hinweg und er schoss ins Ungewisse. Die dichten Rauchschwaden vernebelten seine Sicht und es fiel ihm schwer seinen Lungen einen freien Zug frischer Luft zuzuführen. Furchtlos liefen Franzosen und Engländer gegen diese festgebauten Linien an und starben einen schrecklichen Tod. Unendlich schien der Angriff der Alliierten Mächte und dauerte bis zum Morgengrauen. Stille herrschte auf den Feldern, wo kein Baum und kein Strauch mehr stand. Nur der Lärm der Geschütze durchdrang die furchtbare Ruhe, welche sich allmählich breitmachte. In einer kleinen Atempause wandte sich Johannes seinem Kameraden Benno zu und fragte erschöpft: „Haben wir es geschafft?“

Benno schüttelte den Kopf. „Nein. Es war erst der Anfang. Sie sammeln sich wieder und werden uns erneut angreifen. Gönn dir eine Pause. Ich halte Wache.“

Johannes kauerte sich neben den leeren Munitionskisten zusammen und starrte in den freien Nachthimmel. Er versuchte sich durch das Zählen der Sterne abzulenken und endlich, wenn auch nur für ein paar Minuten, die Augen zu schließen. Vergebens. Zu stark war die Angst von einem Granateneinschlag getötet oder durch die Splitter zerfetzt zu werden.

Oh Herr. Gib mir die Kraft dieses Elend zu ertragen. Den Willen, Tod und Zerstörung auszublenden und das Glück, meine Lieben eines Tages unversehrt wieder in die Arme nehmen zu können. Vater unser im Himmel…

Stunden vergingen und als die Sonne dieses Oktobermorgens ihre ersten Strahlen über die Somme legte, keimte bei den deutschen Soldaten des 2. Jäger Bataillons die Hoffnung auf unversehrt nach Hause zu kommen. Die letzten Detonationen durchfuhren vereinzelt die Gräben und ließen den Erdboden erzittern. Doch die Stimmung war trügerisch. Die meisten hatten bei Verdun gekämpft und wussten, dass ein Schweigen der Waffen nichts Gutes erahnen ließ. So blieben sie wachsam und die Späher behielten den Frontabschnitt fest im Auge, bis der Oberstleutnant, Erich von Wallendorf, zu ihnen stieß. Verwundert sahen sie zu ihm auf und wischten sich hastig den lehmigen Schmutz aus ihren fahlen Gesichtern. Der Befehlshaber stammte aus gutem Hause und wusste genau, wie er seinen Männern Mut zusprechen konnte. Stolz ging der großgewachsene Militär auf jeden zu, schüttelte Hände und seine beruhigenden Worte stießen auf große Anerkennung. Schließlich erreichte von Wallendorf den Abschnitt, in welchem Benno und Johannes nun seit vier langen Tagen die Stellung hielten. Er ging vor Becker in die Hocke, legte seine Hand auf dessen Schulter und lächelte ihn zuversichtlich an.

„Wie fühlen Sie sich, mein Junge?“, fragte er neugierig und fixierte sein Gegenüber, während Johannes nicht wusste, was er antworten sollte. Ihm war das alles zuwider, doch gegenüber seinem Vorgesetzten konnte er seine wahren Gefühle nicht äußern. So nickte er, räumte seine Sorgen zur Seite und antwortete in zackigem Ton: „Wir halten durch, Herr Oberstleutnant!“

„Wo war zuvor Ihr Einsatzort?“

„Verdun, Herr Oberstleutnant.“

Von Wallendorf hatte den größten Respekt. Ihm war Verdun, die Knochenmühle, erspart geblieben und alles was er darüber gehört hatte, ließ ihn seine Männer umso besser verstehen. Betrübt schaute der Befehlshaber in den frierenden Dreck hinab und flüsterte: „Wie lange sind Sie hier schon im Einsatz, Soldat Becker?“

„Vier Tage. Ohne einen ruhigen Moment.“

Erich von Wallendorf hob seine Hand und winkte mit zwei ausgestreckten Fingern seinen Melder bei. Ehe Johannes und Benno sich versahen, saß der Bursche bereits neben ihnen und wartete auf die Befehle des dekorierten Offiziers.

„Schicken Sie Nachricht an die Ersatzeinheiten! Die gesamte Einheit wird mit sofortiger Wirkung drei freie Tage erhalten. Sie sollen mir eine Reservekompanie schicken.“ Der Melder notierte dies und stürmte los, hinaus aus dem befestigten Graben und verschwand irgendwo hinter den deutschen Stellungen. Vereinzelte Schüsse hallten zu ihnen und die Männer zuckten bei jedem Knall zusammen.

„Scharfschützen“, murmelte Benno und nahm das Fernglas herunter, bevor auch er tief Luft holte und sich zu seinen Kameraden gesellte.

„Keine Sorge!“, flüsterte von Wallendorf und seine positive Art schwang auf seine Truppe über. „Unser Melder wird es schaffen.“

Als die Ablösung endlich eintraf, löste sich die Anspannung. Während die Reserve Nachschub an Munition heranschleppte und ihre Position einnahm, quetschten sich Johannes und seine Einheit in den schmalen Gräben an ihnen vorbei. Sie grüßten nicht und sahen sich nicht einmal an, denn sie wussten, dass sich von Wallendorf über das normale Rotationssystem hinweggesetzt hatte.

Es sollte mir egal sein, dachte Becker und schlich, wie ein Geist, weiter. Schicksal… die Entscheidung unseres Oberstleutnants. Nicht die Meine. Ich vermag nicht mehr, als für sie zu beten. Etwas anderes ist einem hier sowieso nicht möglich. Und dennoch plagt mich mein Gewissen. Immerhin hätten wir noch zehn Tage in der roten Zone verbringen müssen, ehe wir abgelöst werden. Warum hat der Kompaniechef so gehandelt? Vielleicht mag er uns… Ich habe Hunger. Hoffentlich gibt es in der Feldküche was Ordentliches. Die Frontrationen sind ein Witz. Hauptsache sie können uns abfüllen. An Wein und Bier scheint es nicht zu mangeln. Angetrunken spürst du keine Angst. Du drängst sie zur Seite und wirst mutiger… leichtsinniger… Du denkst nicht mehr. Du handelst. Wir sind Kanonenfutter… Nichts weiter.

Nach einer knappen Stunde Fußmarsch erreichten sie den Nachschub- und Verbandsplatz. Ein Zelt stand neben dem anderen und nur wenige Soldaten waren zu sehen. Einer von ihnen öffnete das durchnässte, glänzend angefrorene Seitensegel des Sanitätszelts. Erst jetzt konnte man das klägliche Geschrei und Gewimmer der Verwundeten in ihrer vollen Lautstärke hören. Hannes konnte es nur schwer ertragen und starrte mit verbissenem Gesichtsausdruck umher.

„Was suchst du?“, fragte Benno und nahm seine Waffe von der Schulter.

„Etwas zu essen. Nichts weiter. Sie werden uns sicherlich nicht im Nassen schlafen lassen.“ Auch Benno sah sich um und wies mit seinen schmutzigen Fingern auf einen, durch Zweige und Moos getarnten Unterstand mit einem kleinen aus Blech gefertigten Schornstein.

„Komm schon. Dort gibt es was zu beißen. Wahrscheinlich ranzigen Speck und ein Stück knochentrockenes Brot.“

Johannes lächelte. „Im Moment wäre ich selbst damit zufrieden. Ich sehne mich mehr nach einer Pritsche, auf der ich mich ausschlafen kann. Es wäre alles besser, als die feuchte, kalte Erde.“

Die beiden stellten sich in der Schlange vor der Essensausgabe an. In den Händen hielten sie ihren Blechnapf und das Besteck, welches die Soldaten allein vom Tier abhob. Überglücklich sahen sie zu, wie der Küchenbulle mit seiner Schöpfkelle ausholte und ihnen „liebevoll“ den undefinierbaren Matsch auf den Teller knallte.

Beiläufig äußerte er noch ein „Guten Appetit“, teilnahmslos, gleichgültig.

Dieser Mann hat bereits mit dem Schicksal abgeschlossen. Ich noch nicht. Ich werde um mein Leben kämpfen. Ich will unversehrt nach Hause kommen.

Der erste Bissen war gerade geschluckt, als Pfiffe die klare Herbstluft durchfuhren. Binnen Sekunden stand der gesamte westliche Frontabschnitt in Flammen. Auf Mörser folgten Gas- und Sprenggranaten, deren schwarzer Rauch die komplette Umgebung umhüllte. Erschrocken fuhr Johannes zusammen, ließ seinen Blechnapf fallen und konnte nicht fassen, was sich ihm nur ein paar Kilometer entfernt dar bot. Auch Benno war schockiert über das Inferno und versuchte das Gewissen seines Kameraden zu erleichtern.

„Gib dir keine Schuld. Es hätte auch uns erwischen können.“

Verbittert antwortete Becker und ballte seine Fäuste: „Sie wären noch nicht an der Reihe gewesen. Vielleicht hätten wir den Angriff zurückschlagen können. Vielleicht…“

„Du machst dir zu viele Gedanken, Johannes. Nimm es hin. Auch wir werden schon bald wieder in die Hölle hinausgeschickt… Scheiß Krieg.“ Im Getöse des Angriffs erschien auf einmal, wie ein heilsbringender Engel, der Feldpostbote. Er schob sein Fahrrad zur Seite, nahm die schwere Ledertasche vom Gepäckträger und hängte erschöpft seinen Helm über den Handknauf der Lenkstange. Er holte tief Luft und schrie die Namen derer über den Platz, welche auf den Paketen und Briefen vermerkt waren. Die Enttäuschung war groß, als niemand zu ihm kam, um die Nachrichten und Geschenke der Angehörigen entgegenzunehmen. Er schrie erneut die Namen über den Platz, während sich Tränen in seinen Augen sammelten. Ein Leutnant hinkte an ihn heran. Seine Uniform war abgetragen und die Farbe war unter all dem Schmutz nicht mehr zu erkennen. Sein Hosenbein war aufgeschnitten und der Unterschenkel dick bandagiert. Er teilte dem Briefboten den Stand der Dinge mit und Becker schluckte, denn keiner der Empfänger war mehr da, um seine Gaben der Familie, das aufbauende Präsent, entgegenzunehmen. Während die ersten Lazarettfahrzeuge dumpf knatternd auf die freigeschnittene, glatt geebnete Haltefläche fuhren, rief der Postträger die letzten Namen aus und versuchte die Schreie der ankommenden Verwundeten zu übertönen. Niemand erschien. Benno und Hannes waren in Gedanken bei den Müttern und Vätern derer, welche nie mehr aus diesem Krieg, geschweige denn aus diesem Land nach Hause kommen würden. Dieses Gefühl mischte sich mit dem Glück selbst noch am Leben zu sein.

Denk nicht so egoistisch. Schon morgen kann ich an der Reihe sein. Wenn sie dann noch ein Stück von mir finden, wird auch mein kaltes Grab in französischer Erde sein. Wir haben keine Wahl. Es ist unser Schicksal… Wie sehr habe ich die singenden Burschen verachtet, die die Züge bestiegen und voller Enthusiasmus für Kaiser und Vaterland ins Ungewisse zogen. Ich war stumm. Saß nur da und betete, dass es nicht so schlimm werden würde. War es ein Fehler? Wenn auch ich mit dieser Blauäugigkeit gesegnet gewesen wäre, vielleicht würde ich nun anders denken…

Der Offizier, welcher an der Gulaschkanone stand, hob die Hand und gab ihnen ein Zeichen und die Beiden folgten seinem Fingerzeig. Er konnte nicht älter als dreißig gewesen sein. Die Uniform des schlanken, blonden und gut rasierten Soldaten war strahlend sauber und keine Spur zeugte von einer der letzten Kampfhandlungen.

„Legt euch für ein paar Stunden hin, Männer. Ihr werdet die Ruhe brauchen. Schon im nächsten Morgengrauen werdet ihr zurückgeschickt.“

„Was? Schon morgen? Aber wir dachten…“ Hannes konnte seinen Satz nicht einmal zu Ende bringen, da fiel ihm der Offizier mit strengem Blick ins Wort: „Sie haben keine Wahl, Soldat. Wenn Sie die Feldbetten nicht wollen, gibt es sicherlich zwei Andere, die sich für diesen Luxus ein Bein ausreißen würden. Also? Was ist nun?“

Bevor Johannes noch ein Wort verlieren konnte, mischte sich Benno ein. Er zog seinen Kameraden ein Stück zurück und salutierte mit dankbarer Miene vor dem Offizier.

„Vielen Dank, Herr Leutnant! Entschuldigen Sie meinen Waffenbruder Becker. Er ist jung und übermüdet.“

Der dekorierte Militär schlug die Hacken zusammen, erwiderte den Gruß und wies ihnen durch ein Kopfnicken den Weg zu Zelt Fünf.

In dieser Nacht war der Krach unerträglich. Unter dem Cluster der Pfiffe und Explosionen, des gleißenden Feuers und den schwarzen Rauch, mischten sich die Rufe und Schreie der Verwundeten, wie auch die der Befehlshabenden. Benno hielt sich beide Ohren zu, presste die flachen Handflächen auf die Muscheln und binnen Sekunden schlief er, mit einem zufriedenen Lächeln, ein. Hannes war neidisch. Ihm gelang dieses Ausblenden nicht. Im Gegenteil. Er konnte sein Augenmerk nicht von der Gewalt lösen, welche durch das offene Zeltsegel zu ihm drang. Was Menschen zustande bringen, ist schon enorm. Diese Farben… Sie tauchen den Horizont in ein glühendes Licht, welches das bedrohliche Schwarz der Nacht zu verschlingen scheint. Wenn es nicht so traurig wäre…

Es hielt ihn nicht auf seiner Pritsche. Wie eine Fliege zog es auch Hannes zu dem grellen Licht. Auf leisen Sohlen schlich er hinaus und nahm auf einem großen Stein Platz, der direkt neben der Unterkunft lag, als plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit zu ihm sprach.

„Es ist schon ein imposantes Bild.“ Es war der junge Offizier, der sich neben ihn setzte und kräftig an seiner Zigarette zog. „Ich wünschte, ich dürfte in die Schlacht für unser geliebtes Vaterland ziehen.“

Johannes saß still da. Zu gerne hätte er seine ehrliche Meinung gesagt, doch er schwieg.

„Ich merke, dass Sie das anders sehen.“

„Ja, Herr Leutnant. Das tue ich.“

„Bitte… Ich bemerke Ihren Drang, sich einmal Luft machen zu können.“

Becker haderte mit sich. Er wollte sein Leben nicht unnötig riskieren, indem er seinen Unmut, wie den Geist aus der Flasche, ließ. Schließlich gab er sich einen Ruck. Was hätte ihm geschehen sollen? Er sah sich eh bereits mit einem Fuß im Grab.

„Wir sollten nicht hier sein. Jeder sollte seinem Geschäft nachgehen, seine Familie in den Arm nehmen und brüderlich zusammenleben. Nicht sich gegenseitig dezimieren und Familien in entsetzliches Leid und Kummer stürzen. Der Kaiser sollte einen Strich darunterziehen und uns alle unversehrt zu unseren Müttern und Frauen schicken.“

Der Leutnant zog erneut an seiner Zigarette und bot Hannes eine an.

„Ich verstehe Ihre Einstellung. SPD, oder? Wie auch immer… Hier! Nehmen Sie sich eine.“

Becker zuckte mit den Schultern, nahm sich eine Zigarette und ließ sie sich von dem Leutnant anzünden.

„Mein Vater ist SPDler. Ich habe mich nie großartig für Politik interessiert. Und wenn Sie mich, nur weil ich eine humanere Sicht auf das Alles habe, erschießen müssen… Dann nur zu. Das alles macht für mich keinen Sinn… Nicht mehr.“

„Ich mag Ihre direkte Art, Soldat Becker. Ich vermag es nicht über Sie zu richten. Ich bewundere Ihre Standhaftigkeit. Sie werden das Chaos überstehen. Da bin ich mir sicher. Mir bleibt nur das Tragen des Eisernen Kreuzes oder sonstiger Orden versagt. Sehen Sie?“ Er wies auf sein rechtes Bein, welches in einer Schiene steckte und nur seine Hose ihn vor den Blicken seiner Mitstreiter schützte. „Ein Sturz während der Offiziersausbildung. Das Pferd scheute und warf mich ab. Die Ärzte konnten nichts mehr machen. Es ist falsch zusammengewachsen. Nun leiste ich hier Dienst, um den Kaiser nicht zu enttäuschen.“

„Haben Sie den Kaiser jemals getroffen?“, fragte Johannes zynisch.

„Nein.“

„Dann wäre es mir egal, was dieser Mensch von mir denkt. Ist er hier? Nein. Er lenkt aus Berlin oder einem der Hauptquartiere, wie in Spa. Wer sollte Sie verurteilen? Sie werden das ganz bestimmt überstehen. Wenn nicht mit einem Orden, dann mit der nötigen Menschenwürde.“ Der Leutnant war beeindruckt von dieser Bodenständigkeit und ohne weitere Phrasen, saßen die Beiden da und bewunderten das schaurig, imposante Schauspiel.

Bereits wenige Stunden später hockte das deutsche Jäger Bataillon wieder in den schlammigen, kalten Stellungsgräben. Eine unbehagliche Ruhe machte sich unter der Truppe breit. Jeder wartete nur auf ein Zeichen, dass es endlich losging. Plötzlich ertönte ein schriller Pfiff und einer der Männer schrie „Los“…

Hannes schrak auf und umklammerte seinen Tornister. Die Schweißperlen liefen seine Stirn hinab und er atmete so schnell, dass die Bahnangestellte sofort zu ihm eilte.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte die junge Frau besorgt und nahm ihn bei den Schultern. Er nickte und allmählich lockerte sich sein Griff, während seine linke Gesichtshälfte unwillkürlich anfing zu zucken. Nervös schaute er aus dem Fenster. Die Gegend war ihm gänzlich fremd.

„Wo sind wir hier? Ich kann mich nicht erinnern, hier schon einmal vorbeigekommen zu sein.“

„Wir haben Kaiserslautern passiert. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir in Sankt Ingbert sind. Werden Sie abgeholt?“ Johannes schüttelte den Kopf und wandte sich ab.

„Falls Sie noch etwas benötigen, sagen Sie bitte Bescheid. Ich bin direkt dort vorne im Abteil.“

„Danke“, flüsterte der Veteran. Stunden vergingen und während sich der Tag dem Ende neigte, zogen tiefgraue Wolken auf. Die Welt schien unterzugehen. Der raue Wind wirbelte den fallenden Schnee an der Scheibe vorbei. Auf einmal ertönte das schrille Zischen der Lok. Der Zug verlangsamte die Fahrt. Endlich hatte Hannes sein Ziel erreicht. Den Bahnhof seiner Heimatstadt Sankt Ingbert. Eine Ewigkeit hatte er auf diesen Moment gewartet und nun, da es soweit war, überkam ihn ein unsicheres Gefühl.

Was wird mich erwarten? Werde ich meine Brüder wiedersehen? Wie wird Maria mein Wiedersehen aufnehmen? Immerhin sind es nun schon zwei Jahre… Ich bin ein Fremder für sie alle… Ein völlig Fremder.

Tränen der Anspannung, Freude und Erleichterung bahnten sich ihren Weg über seine Wangen. Er nahm sein schweres Gepäck und lief den Steig entlang. Überall standen Frauen und Kinder, die auf ihren Vater, Ehemann oder Sohn warteten. Johannes sah, wie verwundete oder vom Krieg gezeichnete Männer ihre Liebsten umarmten, küssten und herzten. Doch es war zu spüren, dass die Veteranen nicht mit dem Erlebten abgeschlossen hatten. Das Funkeln in ihren Augen war verschwunden und wurde durch teilnahmslose Leere ersetzt. Er wollte nicht, dass Maria oder seine Eltern ihn abholten. Dieser Augenblick sollte im Stillen stattfinden, ohne dass jemand über seine Gefühlswelt ein Urteil fällte. Schwerfällig stapfte er über den frisch gefallenen Schnee und verharrte kurz, als er an der Kirche vorbeiging. Mit zugekniffenen Augen versuchte Becker vergebens seine Erinnerungen zu verdrängen…

Am Morgen des Gegenangriffs fanden sich die Soldaten auf dem Sammelplatz ein, welcher inmitten der Zelte lag. Der Militärpfarrer nahm seine, in schwarzes Leder gehüllte, Bibel zur Hand und zunehmend erschienen immer mehr Soldaten. Auch Männer, die nie die Messe besucht hatten, beteten um Gottes Schutz. Hannes stand da und beobachtete Benno, der mit verschränkten Armen auf das Chaos des Schlachtfelds blickte.

„Willst du nicht am Gottesdienst teilnehmen?“

„Nein. Ich bin nie in die Kirche gegangen und es wäre nicht richtig nun um Gottes Beistand zu flehen.“

Der Pfarrer räusperte sich und die Männer gingen mit gefalteten Händen auf die Knie.

„O ihr auserwählten Freunde Gottes, schauet doch mit mitleidiger Liebe herab auf die Seelen eurer Mitbrüder. Sie gehören in eure Gesellschaft und werden nur ihrer Sündenschuld wegen in den härtesten Peinen zurückgehalten. So tretet denn vor den Thron der allerheiligsten Dreifaltigkeit, traget Gott eure Verdienste, Marter und Sünden vor. Vereinigt sie mit den unendlichen Verdiensten des Leidens und Sterbens Jesu Christi. Flehet zu Gott damit sie in der ewigen Glückseligkeit euch zugeteilt werden. Gehet hin und seit euch bewusst, dass für jeden von euch ein Platz an der Seite des Herrn frei sein wird. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

Ein jeder erhielt den Leib Christi und der schrille Pfiff schickte die Männer in die Hölle hinaus…

Ich will nicht mehr daran denken. Oh, Gott! Ich will das alles hinter mir lassen. Ein neues Leben leben und vergessen. Herr, gib mir bitte die Kraft dazu.

Johannes machte sich auf und gegen Zehn Uhr abends erreichte er sein Elternhaus. Kein Licht brannte mehr. Nur der Rauch des Ofens zog in einer dunkelgrauen Säule in den eiskalten Nachthimmel. Vorsichtig klopfte er an die Hauspforte. Nach kurzer Zeit waren Schritte auf der alten Holztreppe zu hören. Das Licht ging an und sein Vater Andreas öffnete schlaftrunken die Tür. Er konnte nicht fassen, wen er da sah und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

„Johannes?... Oh mein Sohn“, wimmerte er leise und nahm in so fest in den Arm, dass dem Jungen fast die Luft wegblieb. Andreas weinte und rief nach seiner Frau, welche aufgeregt zur Tür kam. Auch sie konnte das Glück nicht fassen, welches ihnen in dieser Nacht zuteilwurde.

„Mein Junge. Mein lieber Johannes. Du bist da… Ich danke dem Herrn dafür“, sprach Magdalena, küsste ihren Sohn, nahm seine Hand und begleitete ihn ins Wohnzimmer. Andreas wischte seine Tränen ab und dachte nur „Er ist wieder da. Wenigstens Einer.“

2. Kapitel

„Setz dich, mein Junge“, flüsterte Andreas, während sie das Wohnzimmer betraten und Hannes mit scharfem Blick alles musterte. Es hatte sich nichts verändert. Noch immer stand der flache, alte Wohnzimmertisch seines Urgroßvaters in der Mitte zwischen den beiden grün- beigen, sperrigen Sofas. Auch der gleichfarbige Sessel war mit der Rückenlehne gegen das Fenster ausgerichtet, so dass Andreas immer das Tageslicht zur Verfügung hatte, um seine Zeitung zu lesen. Doch etwas war anders. Vaters handgefertigtes Bücherregal war einem schmalen Beistelltisch gewichen auf welchem die Bilder von Albert und Franz standen. Die Abschiedsbilder seiner geliebten Brüder, die stolz aber voller Ernst in die Kamera blickten. Vor einem jeden waren die Orden, das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse sowie das Schwerverwundetenabzeichen neben getrockneten Blumen drapiert. Die alte Kuckucksuhr, welche seine Eltern aus den Flitterwochen im Schwarzwald mitgebracht hatten, donnerte ihr lautes Ticken durch den Raum. Hannes rang um Fassung, stellte seine Taschen ab und fragte: „Alle Beide?“

Andreas legte die Hände auf die Schultern seines Sohnes und antwortete: „Ja. Albert starb im Argonner Wald. Es war ein Kopfschuss. Er hatte keine Chance. Franz diente sich zum Torpedo Maat hoch. Die „Leipzig“ wurde vor den Falklandinseln versenkt. Keiner hat überlebt.“ Ein zynisches Lächeln konnte er sich nicht verkneifen und fuhr fort. „Ich wusste noch nicht einmal, wo diese beschissenen Inseln liegen.“

„Es sind nicht die Inseln, Papa. Es ist dieser Krieg. Aber warum habt ihr mir nicht geschrieben?“, wisperte Hannes und bekreuzigte sich, ehe er Platz nahm und seine Mutter mit einer Tasse frisch gebrühtem Kaffee erschien.

„Wir wollten dir nicht noch diesen Verlust zumuten. Wir hatten Angst, dass du unkonzentriert wirst und ihnen folgst.“

Hannes nahm den heißen Kaffee und trank einen kleinen Schluck.

„Du musst steif gefroren sein.“ Magdalena strich ihrem Sohn durch sein Haar und setzte sich daneben. „Du bist grau geworden.“

„Es ist viel geschehen, Mama. Ich bin nicht der Einzige.“ Hannes nahm einen Schluck und sah zur Treppe hinüber, welche in den ersten Stock führte.

„Ist Gertrud auf ihrem Zimmer?“

Andreas nickte. „Ja. Sie schläft. Ich kann sie aber wecken, Junge.“

„Nein. Lass sie schlafen. Sie hat mich so lange nicht gesehen. Es kommt nicht auf ein paar Stunden an.“

Plötzlich waren leise Schritte auf der Treppe zu hören und Gertrud blieb, wie angewurzelt stehen. Ihre Finger umfassten mit starkem Griff das Geländer und Tränen liefen der vierzehnjährigen übers Gesicht. Ihre schmalen Wangen glänzten im fahlen Licht des Flures und die goldenen, langen Locken umschlungen ihre Schultern.

„Hannes…“, sprach seine kleine Schwester mit erstickter Stimme und rannte auf ihren Bruder los. Er stand auf und öffnete seine Arme. Voller Glück begrüßten sich die Geschwister und auch Andreas und Magdalena ging dieser Augenblick des Wiedersehens nahe. Gertrud nahm neben Johannes Platz und die Familie unterhielt sich bis in die frühen Morgenstunden. Es gab so viel zu erzählen, doch Johannes sprach am wenigsten. Er hörte zu und war froh, wenn ihm keine Frage gestellt wurde. Wenn dies doch geschah, schweifte er ab, bis er zu Ereignissen kam, die die hässliche Fratze des Krieges nicht widerspiegelten.

„Was willst du nun tun?“, erkundigte sich Magdalena. Doch ehe der Veteran antworten konnte, fiel ihr Andreas harsch ins Wort.

„Der Junge ist gerade erst zurück. Lass ihm doch wenigstens ein paar Tage Zeit, um sich wieder an ein friedliches Leben zu gewöhnen.“

„Ich werde zuerst Maria aufsuchen. Ich habe sie schrecklich vermisst. Der Rest wird sich ergeben. Vielleicht einen Beruf im Freien.“

„Willst du nicht mehr in der Grube arbeiten? Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen“, gab sein Vater zu bedenken. Die Erinnerung an die Zeit vor dem Krieg kam zurück. Hannes sah sich in geduckter Haltung die engen, niedrigen Stollen entlanggehen. Sein Augenlid und seine Hand begannen erneut wie wild zu zucken.

„Ich glaube nicht, dass es vernünftig wäre.“ Andreas konnte ihn nicht verstehen und sich nicht in die Lage hineinversetzen, in welcher sein Sohn sich befand. Nur Gertrud hatte das nötige Einfühlungsvermögen und nahm ihren Bruder bei der Hand. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, was Hannes erleiden musste, doch sie ahnte, dass es so schlimm war, dass er es nicht beschreiben konnte.

„Komm mit mir, Hannes. Ich bring dich auf dein Zimmer.“

„Ich werde deinem Bruder Helmut direkt morgen früh Bescheid geben, dass du wieder da bist. Was hältst du von einem Abendessen? Die Familie wieder an einem Tisch.“

„Das wäre schön, Mama. Doch es wird Zeit für mich eine Mütze voll Schlaf zu bekommen.“

Sie umarmten ihren Jungen und Hannes folgte seiner kleinen Schwester. Als er die Tür zu seinem Schlafraum öffnete, fühlte er sich in der Zeit zurückversetzt. Nichts hatte sich verändert. Alles lag noch so da, wie er es verlassen hatte und nur sein Bett war frisch bezogen. Gertrud gab ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand in ihrem Zimmer.

Ich bin wieder hier. Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt. Aber es wirkt so klein. Eng. Viel größer ist es in meiner Erinnerung.

Vorsichtig streifte seine Hand über die Kommode, welche Andreas für ihn gebaut hatte. Die dunklen Wolken rissen auf und der Neumond leuchtete auf sein Bett.

Ich sollte mich hinlegen. Wenigstens für ein paar Stunden. Ich will ausgeruht sein, wenn ich meine Verlobte aufsuche. Ach, Maria… Es ist so viel passiert und ich habe mich verändert. Nun bete ich, dass es nicht zum Negativen ist.

Hannes zog seine Stiefel aus und legte sich hin, während seine Nervosität zur Rebellion aufrief. Der Herzschlag nahm zu, bis dieser schließlich drohte seinen Brustkorb zu sprengen. Becker schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Er legte den Zeige- und Mittelfinger an seine Halsschlagader und zählte.

Du bist zu Hause, Hannes… Alles in bester Ordnung. Verdräng endlich diese Schrecken. Leg sie in die Schublade und öffne sie nie mehr. Nie mehr. Nichts wird dir geschehen. Alles ist gut. Alles ist gut…

Sein Pulsschlag verlangsamte sich, nur das Zittern in der Hand blieb, wie ein ständiger Begleiter und ein Mahnmal der Vergangenheit…

Die Übriggebliebenen der 4. Kompanie des 2. Bayerischen Jäger Bataillons saßen zusammen. Ihre Uniformen hingen verschlissen an den hageren Körpern und die Mienen waren gleichgültig. Die Sinnlosigkeit dieser Schlachten bahnte sich den Weg, wie ein deftiger Schlag eines Vorschlaghammers in die Köpfe der Soldaten. Eine Schale Eintopf und ein Stück trockenes Brot sollten ihnen über das Erlebte hinweghelfen. Hannes und Benno aßen nur wenig. Zu sehr lag ihnen das grässliche Bild des letzten Gefechts auf der Seele. Die schreienden Kameraden, die zusammengeschossen auf dem gefrorenen Boden lagen und nach ihren Müttern schrien, hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Zu gerne hätten sie sie vom Feld geholt und vielleicht wäre einer der Feldchirurgen in der Lage gewesen so manchen retten können. Doch das feindliche Dauerfeuer zwang sie in ihren Gräben zu bleiben.

„Ich sehe Georg genau vor mir“, flüsterte Hannes und rührte teilnahmslos mit seinem Löffel in der dicken Suppe herum. „Ich war nur eine Armlänge von ihm entfernt. Es wäre ein Zeichen der Barmherzigkeit gewesen, wenn sie mich zu ihm gelassen hätten. Aber sie mussten ja immer weiter feuern. Warum haben die ihm nicht den Gnadenschuss gegeben?“ Benno schwieg für einen Moment. Ohne Weiteres hätte er ihm eine plausible Erklärung geliefert. Aber es gab keine. Und so raunte er das, was ihm als Erstes einfiel. „Es ist Krieg, Hannes. Er wird nicht der Letzte sein… Nicht der Letzte.“

„Ich konnte nicht einmal seine Erkennungsmarke sichern, um seinen Angehörigen wenigstens eine Kleinigkeit von ihm zu übergeben. Er wird, wie all die anderen, als gefallen geführt werden und hier irgendwo an der Somme in Vergessenheit geraten.“

Ein stämmiger Gefreiter namens Konrad fiel ihm ins Wort. Seine Augen funkelten und die vergossenen Tränen froren in dem grausig kalten Dezemberwind.

„Lass es sein, Hannes! Ich will deine Sprüche nicht mehr hören. Merkst du nicht, dass es alle runterzieht?“, flüsterte Konrad und wandte sich ab. Hannes kehrte in sich. Ihm war nicht bewusst, wie sehr die Geschehnisse der letzten Tage und Nächte an seinen Kameraden genagt hatten. So schwieg er und würgte sein Essen runter. Kein Gespräch fand statt. Ein Jeder war in sich gekehrt und an ihren hoffnungslosen Mienen ließen erkennen, dass niemand einen Ausweg sah. Plötzlich vernahm Benno die flüsternden Stimmen ihres Kommandeurs und dreier hochdekorierter Offiziere, die rauchend beisammenstanden. Der Fliesenleger gab Hannes einen leichten Schubs und wies durch ein Kopfnicken auf die Führungsriege.

„Siehst du? Ich spüre, dass es wieder los geht. Nicht einmal diesen schäbigen Teller Suppe kann man in Ruhe zu sich nehmen. Wir sind für die wie Vieh“, flüsterte Benno wütend und sah sich um, ob es auch gegen ihn Widerspruch gab. Nichts passierte, bis der Kommandeur an seine Männer herantrat, die Hacken zackig zusammenschlug und die Arme, gebieterisch, auf dem Rücken verschränkte. Seine folgenden Sätze sollten sich in die Gedanken der Soldaten einbrennen und sie niemals mehr verlassen.

„Männer!“, rief er appellierend, voller Zuversicht durch die Reihen. „Die 4. Kompanie wird mit sofortiger Wirkung an die Ostfront abkommandiert. Ihr habt zehn Minuten eure Sachen zu packen. Vollzähliges Erscheinen am Sammelplatz.“

Einer der jungen Burschen stand auf, salutierte und fragte leise: „Bitte um Erlaubnis zu sprechen.“

„Erlaubnis erteilt. Was ist, Soldat?“

„Könne Sie uns sagen, wohin genau wir versetzt werden?“

Der Kommandeur schüttelte den Kopf und sprach: „Der Einsatz ist geheim. Packen Sie jetzt Ihr Zeug! Es verbleiben Ihnen nun noch acht Minuten.“ Ernst starrte er auf seine goldene Taschenuhr und machte sich auf, den Abmarsch weiter vorzubereiten.

Benno kratzte den letzten Rest aus seiner Schüssel, spülte sie mit etwas Wasser aus und raunte: „Bestimmt Rumänien. Und das zum Winteranfang. Man hat den Eindruck, dass sie uns alle noch schneller unter der Erde sehen wollen.“