Das vergessene Reich - Aileen P. Roberts - E-Book

Das vergessene Reich E-Book

Aileen P. Roberts

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Beschreibung

Wenn die Magie versiegt, stirbt ihre Heimat – und ihre große Liebe ...

Zusammen mit ihrem Freund Kayne und dem Drachen Robaryon macht sich Leána durch ein Magisches Portal auf in die Elfenwelt Sharevyon. Dies scheint der einzige Weg, die Elfen Albanys vor dem Aussterben zu bewahren. Als sie jedoch dort eintreffen, sind die Freunde entsetzt – die Paläste der Elfen sind verfallen, deren Bewohner nur noch ein Schatten ihrer selbst. Von der Elfenherrin erfährt Leána, dass in Sharevyon schon lange alle Magie erloschen ist. Nur, wenn es den Freunden gelingt, durch das Portal Drachen und andere magische Wesen in die Elfenwelt zu holen, kann diese gerettet werden. Doch was als einfache Rettungsaktion beginnt, wird zur tödlichen Falle und bedroht bald die Zukunft ganz Albanys ...

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Buch

Zusammen mit ihrem Freund Kayne und dem Drachen Robaryon macht sich Leána durch ein magisches Portal auf in die Elfenwelt Sharevyon. Dies scheint der einzige Weg, die Elfen Albanys vor dem Aussterben zu bewahren. Als die Freunde jedoch dort eintreffen, sind sie entsetzt – die Paläste der Elfen sind verfallen, deren Bewohner nur noch ein Schatten ihrer selbst. Von der Elfenherrin erfährt Leána, dass in Sharevyon schon lange fast alle Magie erloschen ist und die Drachen ausgestorben sind. Nur, wenn es gelingt, durch das Portal Drachen und andere magische Wesen in die Elfenwelt zu holen, kann diese gerettet werden. Was als einfache Rettungsaktion beginnt, wird zur tödlichen Falle …

Während Leánas und Kaynes Abwesenheit ziehen auch in Albany selbst düstere Sturmwolken auf. Ein grausamer Nebelhexenmörder treibt sein Unwesen, und der Zwergenkönig Hafran droht mit einem verheerenden Krieg.

Werden die Freunde sich selbst und ihre Heimat retten können?

Weitere Informationen zu Aileen P. Robertssowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

Aileen P. Roberts

Das vergesseneReich

Weltenmagie

Band 2

Roman

1. AuflageOriginalausgabe April 2015Copyright © 2015 by Claudia LösslCopyright © dieser Ausgabe 2015by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: Nikki Smith / Arcangel Images; FinePic®, MünchenLektorat: Kerstin von DobschützKarte S. 7: © Andreas HancockTh · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-14495-1www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Mara und Stephan

Prolog

Eisig kalt umschlossen ihn die Wasser des Walkensees. Das Leuchten des Portals umfing ihn noch immer wie ein schützender Mantel, hüllte ihn ein in jene ursprüngliche Magie, die alle Welten und auch ihn durchströmte, denn er war ein Teil von ihr. Myriaden von silbernen und goldenen Lichtpunkten funkelten in den Tiefen des Gewässers, und selbst hier am Grunde des Sees tanzten Nebelgeister um ihn herum. Ein Prickeln erfüllte jede Faser seines Körpers. Beinahe bedauerte es Robaryon, nicht seine Drachengestalt angenommen zu haben, denn dann hätte ihn die Kälte weitaus weniger gestört, jetzt, da das Glimmen des Portals versiegte. Die Atemluft wurde knapp, und so katapultierte er sich mit einigen kräftigen Schwimmzügen hinauf an die Oberfläche. Auch dort erwartete ihn wenig Erfreuliches. Mit brachialer Gewalt peitschte ein Orkan über den See und türmte hohe Wellen auf.

Ob die Geister von Albany mich warnen wollen, oder verfluchen sie gar meine Rückkehr?,schoss es ihm durch den Kopf.

Doch da war diese Sehnsucht nach Leána, der jungen Nebelhexe, und er fühlte sich verpflichtet, sie über die Vorkommnisse an dem magischen Portal von Glastonbury in der anderen Welt zu unterrichten. Eine boshafte kleine Stimme in seinem Inneren flüsterte ihm zu, dass das nur eine Ausrede war, er lediglich Leána wiedersehen wolle und seiner Schwäche für menschliche Frauen einfach nicht Herr werden könne. Die Stimme hatte nicht ganz unrecht, hatte ihn die Zuneigung zu einer Frau doch schon mehrfach an den Rand des Verderbens geführt. Alles in ihm drängte danach, die junge Nebelhexe mit den wundervollen blauen Augen, dem lockigen schwarzen Haar und diesem faszinierenden Lächeln erneut in seine Arme zu schließen. Leána war so natürlich, so unbeschwert. Auf den ersten Blick hatte er sich in sie verliebt.

Robaryon kämpfte sich durch die aufgewühlten Fluten des Walkensees und stieg schließlich tropfnass aus dem Wasser. Dann drehte er sich um, ganz langsam, fast schon andächtig, und blickte hinaus auf das aufgewühlte Gewässer. Zu Hause – er konnte kaum glauben, das Portal nach all der Zeit endlich durchschritten zu haben. Jahrhundertelang war ihm durch einen Bann der Ältesten seines Volkes der Rückweg in seine Heimatwelt abgeschnitten gewesen. Dank Leána hatte sich nun alles geändert. Robaryon küsste das Amulett an seinem Hals und betrachtete es eingehend. War es dieses magische Artefakt gewesen, das ihm die Rückkehr nach Albany ermöglicht und das Portal für ihn geöffnet hatte? Für jeden normalen Drachen öffnete sich ein Weltenportal sofort, aber Robaryon war anders. Halb Mensch, halb Drache, war er mit einem Fluch belegt worden, der es ihm nur von Mitternacht bis Sonnenaufgang ermöglichte, seine wahre Gestalt anzunehmen, und der es ihm auch verwehrte, in andere Welten zu reisen. Lediglich zwei Versuche hatte er dieses Mal unternehmen müssen, bis die Weltennebel sich in den Tiefen von Loch Ness verdichtet und den Weg nach Albany für ihn freigegeben hatten.

Sicher ist es Leánas Gabe, Portale zu öffnen, die auf das Schmuckstück übergegangen ist,überlegte er. Dann rannte er los, immer nach Westen, denn er wollte zu ihr, zu seiner Geliebten, die er auf der geheimnisumwitterten Nebelinsel an der Westküste von Albany wähnte.

Kapitel 1

Trauer

Wie ein Leichentuch hatten sich Nebel und Sprühregen über die Nebelinsel gelegt, und es war, als würden sie jedwedes Leben ersticken. Die Stimmung war ohnehin gedämpft. Erst vier Tage war es her, dass sie die Trauerfeier zu Ehren von Siah, einer jungen Nebelhexe, in dem kleinen Hain abgehalten hatten. Mit düsteren Gedanken saß Leána in dem Steinhaus ihrer Eltern an der Westküste und starrte in die Flammen des offenen Kamins. Winzige Feuergeister führten darin ihren Tanz auf, aber Leána konnte sich heute nicht daran erfreuen. Zu vieles ging ihr durch den Kopf. Wer hatte Siah, ihre beste Freundin aus Kindertagen, geschändet und grausam ermordet? Würde ihr Cousin Toran, der Thronerbe von Northcliff, ihr jemals verzeihen, dass sie ihn und Kayne dazu überredet hatte, mit ihr auf jene abenteuerliche Reise durch das Portal am Walkensee zu gehen? Sie wusste, sie hätte jetzt bereits bei Lharina sein und der jungen Elfenkönigin von dem Portal in der anderen Welt, in der Nähe von Glastonbury, erzählen sollen, doch sie war wie erstarrt. Beinahe hatte Leána das Gefühl, ein Teil von ihr wäre mit Siah gestorben. Kayne war ihr in den letzten Tagen ein guter Freund und eine große Stütze gewesen, und so war auch er es gewesen, der gestern über den magischen Eichenpfad ins Elfenreich zu Lharina gereist war, um der Elfenkönigin die Neuigkeiten zu überbringen. Ihr war klar, wie viel Überwindung ihn das gekostet hatte, denn er als Sohn des zwielichtigen Zauberers Samukal, der vor etwa zwanzig Sommern Albany beinahe ins Verderben gestürzt hätte, fühlte sich von anderen magischen Wesen und Zauberern nicht akzeptiert und misstrauisch beäugt – und mit dieser Einschätzung lag er leider nicht völlig falsch.

Umso dankbarer war Leána ihrem Freund, ihr den Weg zu den Elfen abgenommen zu haben. Vielleicht würde ja sogar die Kunde, die er zu überbringen hatte, für ein wenig Wohlwollen seitens der Elfen ihm gegenüber sorgen.

Wenngleich es in dem kleinen Wohnraum so nahe am Feuer warm war, zog Leána sich ihre Decke fröstelnd um die Schultern, als sie über Siah, Kayne und auch Rob nachdachte.

»Robaryon«, flüsterte sie, während sie noch immer in die knisternden Flammen starrte. Als sie seinen Namen aussprach, schienen die Feuergeister ihren Reigen etwas wilder auszuführen, doch das mochte auch täuschen.

Robaryon war jenseits des Portals zurückgeblieben. Sosehr sie ihn im ersten Moment vermisst hatte, Siahs Tod überschattete nun alles andere. Wie sich Asche auf junges Gras legt und es am Wachsen hindert, so hatte sich die grausame Tat auf ihrer Seele niedergelassen.

Leána hörte Schritte, kurz darauf öffnete sich die Tür. Ihr Vater kam herein, setzte sich neben sie auf die Holzbank, die mit weichen Daunenkissen bestückt war, und legte ihr ohne ein Wort den Arm um die Schultern. Dankbar lehnte sie sich an ihn, genoss Darians Trost und fühlte sich beinahe in Kindertage zurückversetzt. Sie seufzte tief. Damals war alles so viel leichter gewesen, wie es ihr schien. Das Leben war ein großes Abenteuer gewesen, das sich für sie an versteckten Orten der Nebelinsel abgespielt hatte. Andererseits hatte sie auch schon als kleines Mädchen einige Verluste ertragen müssen. Freunde und Familienangehörige waren während des Dämonenkrieges gestorben. Dennoch war es als Kind anders gewesen. Keine Schuldgefühle hatten sie geplagt, und sie hatte sich von den Beteuerungen ihrer Freunde und Familie getröstet gefühlt, dass sie alle im Reich des Lichts glücklich weiterlebten und sie sich eines Tages wiedersehen würden.

Auch heute glaubte Leána noch daran, dass die Seelen der Toten mit der untergehenden Sonne ins Reich des Lichts getragen wurden und dort in Frieden weiterlebten, bis sie eines Tages vielleicht wiedergeboren wurden. Trotzdem wollte es ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen, wie grausam Siah gestorben sein musste.

Ein leises Schluchzen entstieg ihrer Kehle.

»Nicht, mein Schatz, du kannst es nicht mehr ändern«, sagte Darian sanft.

»Ich hätte bei ihr sein und sie beschützen müssen.« Leánas Stimme zitterte so sehr, dass sie kaum die Worte über ihre Lippen brachte.

Wieder und wieder fuhren Darians Hände über ihre schwarzen Haare. »Wir wissen nicht, ob das etwas geändert hätte oder ob du am Ende ebenfalls …« Er stockte, drückte sie fest an sich. »Manchmal geschehen entsetzliche Dinge, auf die du einfach keinen Einfluss hast.«

»Toran hat sich nicht einmal von mir verabschiedet. Er wird mich für den Rest meines Lebens hassen.«

»Nein, das wird er nicht, Leána. Er ist nur sehr jung, hat seine erste zart erblühte Liebe verloren, und jetzt steigert er sich in den Wahn hinein, den Mörder in jedem Fall stellen zu wollen, und sucht zudem verzweifelt nach einem Schuldigen.«

»Ist er zurück in Northcliff?« Leána richtete sich auf, blickte ihrem Vater in die blauen Augen, die den ihren so ähnlich waren, wie viele sagten.

Darian von Northcliff war schon Mitte fünfzig, aber niemand würde ihn für älter als dreißig Menschensommer halten, denn alle männlichen Northclifferben waren mit einem bis zu fünfhundert Sommer und Winter andauernden Leben gesegnet – so sie nicht einem Attentat, einem Unfall oder einer schweren Krankheit zum Opfer fielen. Leána selbst war neunundzwanzig Sommer alt, aber auch sie hielten Unwissende für deutlich jünger, denn sie durchströmte das Blut von Dunkelelfen und die konnten eintausend Sommer und älter werden.

»Er ist nach Northcliff geritten«, erzählte Darian. »Kaya ist nicht sehr glücklich darüber, denn er will hundert Soldaten und auch einige Dunkelelfen selbst befehligen und jeden Winkel nach Siahs Mörder absuchen.«

»Jel wird ihn beschützen.« Tränen rannen über Leánas Wangen. »Mich lässt er ja nicht.«

»Leána, ich bin mir sicher, er wird bald zur Vernunft kommen. Kaya hat sich schon bei mir für ihn entschuldigt. Abgesehen von Toran macht dir niemand einen Vorwurf!«

»Doch, ich mir selbst.«

Darian küsste sie auf die Stirn. »Lass dich nicht von deinen Schuldgefühlen auffressen. Das hätte Siah nicht gewollt. Wann wollte Kayne eigentlich wieder zurück sein?«

Sie wusste genau, ihr Vater beabsichtigte, sie auf andere Gedanken zu bringen, und vielleicht war das nicht einmal das Schlechteste. Sie trocknete ihre Tränen und richtete sich auf. »Sobald er mit Lharina gesprochen hat und zu den Geisterinseln gereist ist, um Nordhalans Rat einzuholen.«

»Ein Portal am Glastonbury Tor, das in die Elfenwelt führen soll. Als ich noch in der anderen Welt gelebt habe, hätte ich das nicht zu träumen gewagt.«

»Wir wissen nicht sicher, ob es in die Elfenwelt führt. Nicht einmal …« Sie unterbrach sich selbst, musste an Rob denken, dem sie jedoch versprochen hatte, nichts über ihn zu verraten. Und so verschwieg sie Darian den Mann, den sie jenseits des Portals kennen- und lieben gelernt hatte. Sie räusperte sich und fuhr fort: »Nicht einmal die Elfen werden sich vollkommen sicher sein, vermute ich.«

»Ihr habt doch die in Stein gemeißelten Elfenrunen gefunden«, gab Darian zu bedenken. »Für meinen Teil gehe ich davon aus, es handelt sich um das Elfenportal.«

»Mag sein, aber weshalb ist es verschlossen?«

»Das wiederum ist eine gute Frage, und ich weiß nicht, ob es mir gefällt, dass meine kleine Tochter dorthin reisen möchte, wo möglicherweise Gefahr droht!«

»Ich bin nicht mehr klein.« Sie biss sich auf die Lippe. Und ich weiß auch gar nicht mehr, ob ich noch in die Elfenwelt reisen möchte. Seit Siahs Tod ist alles so sinnlos für mich geworden,fügte sie in Gedanken hinzu.

»Selbst wenn du einhundert bist, Leána, du wirst immer meine Kleine bleiben«, sagte ihr Vater mit einem liebevollen Lächeln.

Leána legte ihren Kopf auf seinen Schoß, genoss seine Zuwendung und hatte in diesem Moment gar nicht das Bedürfnis, erwachsen zu sein.

»Weshalb ist Kaya von Northcliff noch immer nicht tot?«, zischte Selfra einem schmierigen Kerl mit Wieselgesicht zu, mit dem sie sich in einer Taverne nahe der nördlichen Handelsstraße traf. Der Mann war lediglich ein Bote, ein Unterhändler, aber er hatte den Kontakt zu einem ’Ahbrac-Meuchelmörder hergestellt. Er unterhielt enge Beziehungen zu Ilmor, einer berüchtigten Stadt im Süden von Albany, wo sich Mörder, Diebe und andere Tunichtgute zu treffen pflegten.

Die Schweinsäuglein des Mannes blickten nervös umher, und er trank so hastig von seinem Bier, als befürchte er, man könne es ihm wegnehmen. Aber bis auf zwei hoffnungslos betrunkene Bauern waren sie ohnehin allein. Sie hatten sich beide die Kapuzen ihrer Umhänge weit ins Gesicht gezogen, denn besonders Selfra wollte nicht erkannt werden. Immerhin war sie die Schwester von Elysia, die mit Darian von Northcliff verheiratet gewesen war, bevor die Zauberer deren Ehe annulliert hatten.

»Jetzt red schon, oder hast du die Sprache verloren?«, raunte Selfra ihm zu. »Urs’Ahbrac hätte mehr als genügend Gelegenheit gehabt, Kaya zu töten, so hysterisch wie sie in letzter Zeit war. Jetzt ist ihr verzogener Spross wieder in Northcliff, und sie wird schwieriger zu fassen sein, weil sie nicht länger wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend reitet und alle verrückt macht!«

»Es … gab doch einen Anschlag auf Kaya«, wagte der Mann zu sagen.

»Aber er misslang.« Selfra schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass die Bauern am Nebentisch empört grölten, doch sie achtete nicht auf die Männer.

Der Wieselmann, wie sie ihn nannte, schluckte so heftig, dass sein Kehlkopf sichtbar auf und ab hüpfte und trank erneut – wohl um Mut zu fassen.

»Urs … also Urs … ähm …«

»Stammele nicht herum, sonst suche ich mir einen neuen Unterhändler.« Sie legte ihren Dolch an seine Seite und pikste ihn ein wenig. Die Augen des Mannes drohten aus den Höhlen zu quellen.

»Ihr seid eine … Frau!«

»Auch Frauen können töten, und jetzt sprich!«

Ein heftiges Keuchen entwich seiner Kehle. »Nun gut … also … Urs’Ahbrac behauptet, kein Gold bekommen zu haben, deshalb …«

Selfra beugte sich näher zu ihm heran, musterte ihn durchdringend und bemerkte die Schweißperlen, die von der Stirn des Wieselmannes rannen. Er roch ohnehin penetrant nach altem Schweiß. »Meine Schwester selbst hat ihn bezahlt. Sag mir nicht, er will mehr Lohn.« Sie stockte. »Oder bist es am Ende du, der doppelt kassieren möchte.«

»Nein, nein!«, versicherte er hektisch. »Aber Ihr wisst doch, wie die Dunkelelfen sind. Er sagte, er fühle sich hintergangen, weil er sein Gold nicht erhalten habe. Es kränkt seine Ehre.«

»Gierige Kreatur«, schimpfte Selfra. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, beugte sich zu dem Wieselmann hinab und legte zwei Silbermünzen vor ihn, wobei sie eine absichtlich zu Boden fallen ließ. »Das ist für dich. Betrachte die Geschäftsbeziehung mit Urs’Ahbrac hiermit als beendet.« Der Kopf des Mannes tauchte wieder unter dem Tisch auf, aber da hatte Selfra bereits unbemerkt ein klein wenig Pulver in sein Bier rieseln lassen.

»Soll ich Euch einen neuen Mörder suchen?«, fragte das Wiesel.

Flüchtig streichelte sie ihn am Kinn. »Mit dir habe ich anderes im Sinn. Hab ein wenig Geduld, dann wirst du schon sehen.« Sie deutete auf das Bier und ging mit wiegenden Hüften zur Tür.

Als der Wirt, ein alternder Mann mit grauem Haar, ihr die Tür öffnete, fragte sie mit verführerischer Stimme: »Benötigt Ihr vielleicht die Dienste einer Nebelhexe?«

»Nebelhexe?«, brummte er und beäugte sie misstrauisch, bemühte sich, einen Blick unter Selfras Kapuze zu erhaschen. Absichtlich ließ sie eine Strähne des falschen roten Haares darunter hervorspitzen und drehte die Locke um den Finger.

»Ich trage einen Teil Zwergenblut in mir.«

Der Wirt spuckte auf den Boden. »Pah, pfui, dann hast du am Ende einen Bart im Gesicht, sieh zu, dass du weiterkommst!«

»Bedauerlich – dieser Mann dort hinten wusste meine Dienste ebenfalls nicht zu schätzen.« Selfra schlüpfte zur Tür hinaus, beobachtete durch den Schlitz jedoch noch, wie sich der Wirt umdrehte und loseilte, als der Wieselmann stöhnend vom Stuhl kippte und sich zusammenkrümmte.

Ein Geschäft war fehlgeschlagen, dafür hatte sie etwas anderes in die Wege geleitet, was für ihre langfristigen Pläne ebenfalls nicht zu verachten war.

»Das Schwein hat zwei auffällige dunkle Punkte am Rücken. Ich habe es wiedererkannt!« Ein Bauer aus der Nähe von Culmara war am heutigen Tage auf die Burg gekommen, um sein Anliegen vorzutragen. Diese Gerichtstage, bei denen das Volk auch Beschwerden und Wünsche anbringen konnte, waren in Northcliff von jeher Tradition und wurden stets am zehnten Tag nach dem letzten Vollmond abgehalten. Vom Volk wurden sie unterschiedlich stark wahrgenommen. Manchmal sprach nur ein einziger Bürger vor, gelegentlich bildeten sich lange Schlangen von Bewohnern aus dem gesamten Menschenreich vor dem Thronsaal. Doch so etwas wie heute hatte Kaya seit Beginn ihrer Regentschaft noch nicht erlebt. Menschenmassen drängten sich in der Eingangshalle, und schon seit dem frühen Morgen musste sie sich teilweise lächerliche Beschwerden wie angeblich gestohlenes Saatgut oder ebenjenes Schwein, von dem der Bauer sprach, anhören.

»Nun gut«, Kaya rieb sich die Schläfen und blickte in die erwartungsvollen Gesichter der beiden Streithähne. »Hast du Zeugen dafür, dass dieses Schwein tatsächlich dir gehört?«

»Meine Mutter!«, rief der Bauer aus, aber jener, der die Sau angeblich gestohlen hatte, lachte höhnisch auf.

»Deine Mutter kann seit fünf Sommern nicht mehr weiter als bis zu ihren Füßen sehen. Sie könnte eine Kuh nicht von einem Schwein unterscheiden!«

»Beleidige nicht meine Mutter!«

Die beiden standen sich mit geballten Fäusten gegenüber, und Toran, der gelangweilt neben Kaya auf einem gepolsterten Stuhl saß, beugte sich zu ihr.

»Kann ich endlich gehen? Solch einen Schwachsinn muss ich mir nun wirklich nicht anhören!«

»Du bleibst«, zischte Kaya ihm zu. »Schließlich sollst du lernen zu regieren.«

»Ich habe Wichtigeres vor.« Das Gesicht ihres Sohnes, das in den letzten Tagen alles Kindliche verloren zu haben schien und an dessen Stelle ein verbissener, verhärmter Ausdruck getreten war, spannte sich noch mehr an. »Ich muss einen Mörder suchen!«

»Darüber habe ich noch nicht entschieden.«

»Mutter!«

Die Bauern blickten fragend zu ihnen empor.

»Solange du deine Weihe nicht erhalten hast, entscheide ich über dein Wohlergehen«, fauchte sie, dann lächelte sie die Männer huldvoll an.

»Ich gehe davon aus, ihr seid früher Freunde gewesen?«

Mit einem einstimmigen Brummen nickten die Bauern, funkelten sich jedoch weiterhin an.

»Nachdem ich die Sau niemals mit eigenen Augen gesehen habe, kann ich mir auch kein Urteil darüber erlauben, wem sie nun gehört. Im Übrigen sind solche Angelegenheiten normalerweise von Dorfvorstehern oder den Lords eurer Ländereien zu regeln«, fügte sie tadelnd hinzu, woraufhin die Männer kurz die Schultern einzogen. »Dennoch möchte ich euren Streit beilegen.«

»Und wer darf sie nun behalten?«, bellte jener, der möglicherweise der Dieb war.

»Keiner.«

Beide Männer starrten mit offenen Mündern zu Kaya empor.

»Wollt Ihr die Sau am Ende für Euch?«, rief der Kläger empört aus.

»Nein, das wäre nicht rechtens.« Kaya reckte ihr Kinn in die Höhe. »Ich schlage vor, ihr schlachtet die Sau, teilt euch das Mahl und schließt Frieden. Keine Freundschaft sollte wegen eines Schweins zerbrechen.«

Zunächst brummten die beiden überrascht, musterten sich mit Seitenblicken, aber als der eine nickte, hielt ihm der andere eine Hand hin.

»Ich spendiere noch ein Fass Bier, wenn du eine Flasche von deinem alten Morscôta rausrückst.«

»Das ist doch ein Wort.«

Daraufhin gingen die Männer zu der mächtigen Holztür, die in die Eingangshalle führte. Als die Wachen ihnen nicht sogleich öffneten, besannen sie sich, drehten sich um und verneigten sich vor Kaya.

Die atmete tief aus, nachdem sie endlich verschwunden waren.

»Wartet, bevor ihr den Nächsten einlasst«, rief sie den Soldaten zu.

»Toran«, sie wandte sich an ihren missmutigen Sohn, »diese Gerichtstage sind wichtig für die Menschen. Über dein Anliegen werde ich später entscheiden.«

»Mir ist es wichtig, Siahs Mörder zu fassen. Ich kann mich auch allein mit Jel auf die Suche machen, wenn du keine deiner wertvollen Soldaten verschwenden möchtest.«

Kaya streckte ihre Hand aus, wollte Toran über die Wange streicheln, aber er zuckte zurück. »Darum geht es doch gar nicht, Toran. Ich möchte nur nicht, dass du dich blind in eine mehr als gefährliche Unternehmung stürzt. Hunderte von Northcliffsoldaten, Nebelinselbewohner und sogar Trolle suchen nach Siahs Mörder. Wir werden ihn finden!«

Ungehalten sprang Toran auf. »Ich will ihn finden, Mutter! Ich will ihn töten, so wie du Vaters Mörder mit deinen eigenen Händen gerichtet hast!«

Sie bemerkte, wie seine Augen feucht zu glänzen begannen, und hätte sich so sehr gewünscht, ihn einfach nur in den Arm nehmen und trösten zu können, aber im Augenblick würde er das nicht zulassen, das wusste sie genau.

»Toran, ich verstehe dich«, sagte sie leise.

»Nein, das tust du nicht, sonst würdest du mich gehen lassen.« Er drehte sich abrupt um, hielt auf jene Stelle an der Wand zu, neben der sich ein Zugang zu den Geheimgängen befand, und war wenige Augenblicke später verschwunden. Auch wenn er hätte bleiben müssen, diesmal ließ Kaya ihn gewähren. Toran konnte seinen Schmerz nicht ertragen, und das konnte sie nur zu gut nachempfinden.

»Lasst den Nächsten ein!«

Die Tür öffnete sich, und ein Mann mit schlohweißem Haar kam hereingehumpelt.

»Lord Finlen von Torvelen«, stellte er sich mit heiserer Stimme vor. »Ich mache Euch meine Aufwartung, Königin Kaya, und komme in einer delikaten Angelegenheit zu Euch.«

Hoffentlich nicht noch ein gestohlenes Schwein oder eine Kuh,dachte Kaya und bedachte den Mann mit einem auffordernden Lächeln. Sie glaubte, den alten Lord schon einmal gesehen zu haben, vermutlich bei einer Festlichkeit auf der Burg, aber gut kannte sie ihn nicht. Sicher unternahm er aufgrund seines Alters keine allzu weiten Reisen mehr, und der Landsitz Torvelen, zu dem drei kleine Dörfer gehörten, lag an die achtzig Meilen südlich von Northcliff.

»Bringt Lord Finlen einen Stuhl«, wies sie die Wachen an.

Kurz darauf ließ sich der Lord umständlich auf ihm nieder.

»Eine Nebelhexe hat die Frau meines Enkelsohnes ermordet«, begann er nun ohne Umschweife und hörbar empört. »Mein armer Enkel ist ein gebrochener Mann und steht nun allein mit zwei kleinen Kindern da!«

»Eine Nebelhexe?«, wiederholte Kaya verwundert. »Was bringt Euch zu dieser Annahme?«

Lord Finlen räusperte sich, dann klopfte er mit seinem Stock auf den Boden. »Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich Nebelhexen von jeher skeptisch gegenüberstand. Doch als die Frau meines geliebten Enkels krank wurde und sich einfach nicht erholen wollte, überwand ich meine Bedenken und ließ nach einer Heilerin schicken.«

»Um wen handelt es sich und was hat sie sich zuschulden kommen lassen? Was hat der Frau Eures Enkels überhaupt gefehlt?«, hakte Kaya nach. Besonders Menschen, die Vorurteile gegen Nebelhexen hegten, waren schnell darin, ihnen Schuld zuzuweisen, wenn sie keine raschen Erfolge aufweisen konnten, aber auch einer Nebelhexe gelang es nicht, jede Krankheit zu kurieren.

»Elina fühlte sich seit einer ganzen Weile schwach, ein garstiger Husten plagte sie, und sie musste sich häufig ausruhen.« Der Lord zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. »Aber nachdem Ashila, diese Nebelhexe, in unser Haus kam, wurde es nur noch schlimmer! Elina konnte ihr Bett kaum noch verlassen, kein Essen bei sich behalten und starb vor wenigen Tagen.«

»Das bedauere ich sehr, nur sehe ich nicht, was Ashila damit zu tun haben soll. Vielleicht schritt Elinas Krankheit nur einfach sehr rasch fort, sodass die Nebelhexe ihr nicht mehr helfen konnte.«

Der Lord erhob sich ächzend und trat näher zu Kaya heran. »Diese Kreatur hatte ein Auge auf meinen Enkel geworfen, wollte ihn für sich selbst haben.« Er rümpfte die Nase. »Dabei trägt sie Haare im Gesicht wie ein Mann – und diese krummen Beine!«

Eine Halbzwergin also, dachte Kaya.

»Werter Lord Finlen«, sagte sie laut, »alle Heilerinnen von der Nebelinsel unterliegen einem strengen Kodex. Sie bewahren Leben und nehmen es nicht, selbst wenn sie Gefühle für jemanden hegen sollten, der bereits vergeben ist.«

»Ich habe Beweise!«, rief der alte Lord aufgebracht aus. »Ich hatte große Zweifel, als es unserer geliebten Elina nicht besser ging, und eines Nachts, als die Nebelhexe schlief, nahm ich einen Schluck jener Medizin, die für Elina bestimmt war.« Er verzog mitleiderregend sein faltiges Gesicht. »Die halbe Nacht lang habe ich mich übergeben und mich zwei Tage lang sehr, sehr schlecht gefühlt!«

Auf diese ganze Geschichte konnte sich Kaya schwerlich einen Reim machen. »Manch eine Medizin, die einem Kranken hilft, schadet einem Gesunden, habe ich gehört«, erwähnte sie vorsichtig.

»Aber die Gemahlin meines Enkels ist tot!«, polterte der Lord und sank dann in sich zusammen.

»Lord Finlen, ich werde dies durch Lilith, die bekannte Heilerin von der Nebelinsel und Ausbilderin der Diomár, überprüfen lassen.«

»Eine Nebelhexe wird einer anderen keine Schuld zuweisen!«, rief er aus, und nun funkelten seine Augen mit einer gewissen Boshaftigkeit, die ihn in jungen Tagen sicher zu einem gefährlichen Mann gemacht hatte. »Ich habe die Täterin hierherbringen lassen und bestehe darauf, dass sie hingerichtet wird!«

»Wo ist sie?«, fragte Kaya scharf.

»Vor der Tür.«

»Bringt sie herein!«, wies sie die Wachen an.

Kurz darauf wurde eine gefesselte Frau mit deutlichem Haarwuchs im Gesicht von zwei Männern zu ihr geschleift.

Kaya stieg von ihrem Thron und fauchte: »Lasst sie los!«

Die Männer, die wohl zu dem alten Lord gehörten, gehorchten widerwillig.

»Meine Königin, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen«, sprach da Ashila. Große Angst stand in ihren braunen Augen. »Ich habe die junge Lady nach bestem Gewissen behandelt, doch ihr wollte es einfach nicht besser gehen. Am Tag, als ich nach Lilith geschickt habe, ist sie gestorben«, schluchzte sie.

»Schon gut.« Kurz strich sie der Nebelhexe über das zerzauste Haar.

»Ihr werdet doch nicht dieser Mörderin glauben!«, echauffierte sich Lord Finlen, dann wandte er sich an die anderen beiden Männer. »Lord Etjen und Lord Reval, meine werten Nachbarn, waren so freundlich, mir zu helfen, denn mein Enkel ist zu verzweifelt, um zu handeln. Wir bestehen auf einem Urteil.«

Beide Männer nickten grimmig und verschränkten die Arme vor der Brust, während Ashila leise weinte.

»Ich kann niemanden hinrichten lassen, dessen Schuld nicht zweifelsfrei bewiesen ist.«

»Das ist sie doch!«, schrie Lord Finlen und schwankte mit einem Mal.

Lord Etjen eilte zu ihm und stützte ihn. »Seht nur, was dieses Weibsbild anrichtet! Nicht dass auch er noch das Leben aushaucht!« Er warf Ashila einen bösen Blick zu.

Kayas Gedanken rasten. Dass Finlen gleich zwei Adlige mitgebracht hatte, war geschickt von ihm, denn so hatte er einflussreiche Männer auf seiner Seite.

»Ashila, aufgrund der schweren Vorwürfe muss ich dich leider in den Kerker bringen lassen.«

Die Halbzwergin riss ihre Augen weit auf, und Kaya hatte wirklich Mitleid mit ihr, denn sie glaubte nicht an ihre Schuld.

»Sobald Lilith von der Nebelinsel kommt, soll sie die junge Lady Elina untersuchen und …«

»Sie wurde bereits verbrannt«, hauchte der alte Lord, augenscheinlich mit letzter Kraft, auch wenn Kaya sich nicht sicher war, ob er diese Schwäche nicht nur spielte.

»Das macht die Untersuchung schwieriger«, gab Kaya zu. »Dennoch wird Lilith sich genau berichten lassen, woran die junge Frau litt.« Absichtlich legte sie eine gewisse Schärfe in ihre nächsten Worte. »Lilith ist die begnadetste Heilerin unserer Zeit, selbst aus der Beschreibung von Symptomen kann sie ablesen, um welche Krankheit es sich handelt.« Kaya beobachtete Finlen sehr genau und glaubte, kurz einen Hauch von Schrecken in seinen kleinen Krähenaugen zu erahnen, aber dann neigte er nur huldvoll den Kopf.

»So soll es sein.«

Kaya ging zurück zu ihrem Thron und entließ die Männer mit einer Handbewegung.

»Wir Menschen zählen wohl gar nichts mehr«, hörte sie die gemurmelten Worte von dem jüngeren Adligen, dann führten die Männer Lord Finlen hinaus, die Wachen schafften Ashila fort.

Kayne zügelte sein Pferd, als er die Spitze des kleinen Hügels erreichte, und blickte nach Westen. Dort unten, hinter der dichten Grenze aus Büschen und knorrigen Bäumen, begann das Elfenreich. Noch lag feiner Morgennebel über den Wäldern, hüllte das Land ein wie der sichtbar gewordene Atem eines Lebewesens, kurz bevor ihn der Wind davontrug. Der junge Mann fragte sich, wie die Elfen, insbesondere ihre Königin Lharina, die Neuigkeiten von dem Portal, das womöglich in die Urheimat der Elfen führen könnte, aufnehmen würde. Und wie würden sie auf ihn reagieren? Ihm, dem Sohn jenes Mannes, der die Dämonen beschworen und beinahe ganz Albany ins Verderben gestürzt hatte, stand keine leichte Aufgabe bevor. Doch Kayne hatte darauf bestanden, diese Herausforderung zu übernehmen, notfalls auch allein. Leána trauerte noch immer um Siah, und Toran war mit seinen Gedanken an Rache beschäftigt.

Also holte er tief Luft und drückte die Schenkel an den Bauch seines Pferdes. Das Tier trabte los, verfiel in einen leichten Galopp, und erst am Rande der Wälder zügelte er den Hengst und ließ ihn im Schritt weitergehen. Noch bevor er unter die Bäume ritt, hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Grenzen des Elfenreiches waren gut bewacht, und sicher waren in diesem Moment nicht nur Augenpaare auf ihn gerichtet, sondern auch die Pfeile elfischer Langbogen. Unbeirrt setzte er seinen Weg fort.

Absichtlich hatte er nicht den Eichenpfad von der Nebelinsel ins Elfenreich gewählt, eine direkte Verbindung, die nur gute Freunde der Elfen benutzen durften wie Leána, Lilith oder auch Aramia und Darian. Kayne zählte sich nicht zu diesen gern gesehenen Gästen, daher hatte er lieber einen Eichenpfad gewählt, der unweit der Grenze zum Elfenreich lag, und ritt das letzte Stück – wenn er ehrlich mit sich war, auch um sich selbst ein wenig zu sammeln und Mut zu fassen.

Leise raschelten die Farne unter den Hufen des Pferdes, ein Wind strich durch die Wipfel der hohen Bäume, in denen Vögel zwitscherten. Eine ganz besondere Stimmung herrschte in diesen Wäldern. Kayne kam es so vor, als ob die Zeit hier stillstehen würde. Vielleicht tat sie es auch, vielleicht war dies der Grund, weswegen viele Elfen zeitlos aussahen.

Das Gefühl, beobachtet zu werden, verstärkte sich. Die Haare an Kaynes Armen richteten sich auf, auch sein Pferd tänzelte über den weichen Waldboden. Tyron war gut ausgebildet, nicht so nervös oder impulsiv wie Leánas Maros, und folgte ihm mittlerweile selbst auf den magischen Eichenpfaden, ohne sich zu fürchten. Doch heute konnte er den Braunen kaum halten. Kayne nahm eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr und brachte sein Pferd zum Stehen. Er glaubte, etwas gesehen zu haben, ein Flüstern zu vernehmen, ganz am Rande seiner Wahrnehmungskraft, doch mochten ihn seine überspannten Sinne auch täuschen. Schon wollte er weiter, aber da war es wieder. Zunächst hatte er es für wallenden Nebel gehalten, erkannte nun jedoch, dass es sich um eine Gestalt handelte, die sich ihm langsam näherte. Die Elfe mit dem dunkelblonden Haar verharrte einen Moment, so als wäre sie verwundert über sein Erscheinen, dann lächelte sie ihm zu und hob eine Hand zum Gruß. In diesem Augenblick scheute Kaynes Pferd. Tyron sprang schnaubend zurück, und als Kayne ihn wieder unter Kontrolle hatte, wunderte er sich, denn die Gestalt unter den Bäumen konnte das Tier nicht aufgeschreckt haben, sondern jemand vor ihm. Und schon sah er sie – die Wächter dieses Waldes. Zwei in Grün gekleidete Elfen traten hinter den Bäumen hervor, die Pfeile an die Sehnen ihrer Bogen gelegt, zeigten auf Kayne. Noch einmal sah er nach rechts, doch die Elfe war verschwunden.

Kayne hatte allerdings keine Zeit, sich weitere Gedanken um sie zu machen, denn einer der Wächter richtete das Wort an ihn.

»Ein Mensch, der ungefragt unsere Wälder betritt«, begann er mit melodischer Stimme. »Suchst du die Stille unter diesen Bäumen oder den Tod?«

»Weder das eine noch das andere«, entgegnete Kayne hastig. »Ich bringe eine wichtige Botschaft von Leána von der Nebelinsel für eure Königin.«

Während der eine Elf seinen Bogen nach wie vor gespannt hielt, senkte ihn nun der, der eben gesprochen hatte, und strich sich die Kapuze zurück. Ein ebenmäßiges Gesicht mit langen blonden Haaren kam zum Vorschein.

Irgendwie sehen die alle gleich aus, dachte Kayne.

»Welcher Art ist die Botschaft?«, wollte der Elf wissen.

»Sie könnte das Überleben eurer Rasse bedeuten.«

Auch der andere Elf ließ seine Waffe nun sinken und enthüllte sein Gesicht. Es war eine Frau, und zu Kaynes Überraschung waren es dieses Mal schwarze Haare, die über schmale Schultern fielen. »Es gibt keine Feindschaft zwischen den Menschen und dem Elfenreich«, sagte sie. »Lharina soll entscheiden, ob deine Nachricht von so großer Bedeutung ist, wie du sagst. Folge uns!«

Damit wandten sich die beiden Elfen um und schritten ohne ein weiteres Wort voran, Kayne ritt ihnen hinterher. Die Wächter führten ihn auf einem schmalen Pfad, der sich wie von Geisterhand vor ihnen auftat, gerade breit genug, damit auch ein Pferd darauf Platz fand. Wie eine Schlange wand sich der Weg durch die Bäume hindurch, und je weiter sie in den Wald vordrangen, desto höher wurden die Farne zu beiden Seiten, bis sie irgendwann die Sicht komplett verdeckten, obwohl Kayne auf einem Pferd saß. Er fühlte sich unwohl, denn er hatte nicht die geringste Ahnung, wohin ihn die beiden Elfen brachten. Letztendlich war er ihnen ausgeliefert. Nachdem jedoch der Hengst entspannt dahinschritt und leise schnaubte, legte sich seine Sorge ein wenig.

»Lharina ist an den Wassern der Stille«, erklärte der Elf schließlich, als hätte er Kaynes Gedanken erraten.

»Und wie weit ist es noch bis zu diesem Ort?«

»Wenn der Weg das Grün des Waldes annimmt, sind es nur noch wenige Atemzüge«, antwortete die schwarzhaarige Elfe. Sie drehte sich kurz zu ihm um und warf ihm sogar ein Lächeln zu.

»Wenn der Weg des Waldes grün wird«, grummelte Kayne und schüttelte den Kopf.

Nach einer Weile bemerkte er allerdings, dass der Pfad mit Moos bewachsen war. Die Hufe des Pferdes verursachten keinerlei Geräusche mehr, kein Ästchen knackte, kein Blatt raschelte. Und dann, nach einigen Biegungen, weitete sich der Pfad plötzlich und endete auf einer weitläufigen Lichtung, in deren Mitte ein großer See lag. Schilf und hohes Gras umsäumten das Gewässer, das sich wie ein stiller Spiegel vor ihnen ausbreitete. Vom Ufer aus führte ein offenbar natürlicher Felsensteg hinaus auf die Mitte des Sees, wo sich das Gestein verbreiterte. Einige Kiefern krallten sich dort in den moosbewachsenen Stein.

»Lharina erwartet dich«, sagte die Elfe und deutete auf die kleine Insel.

»Sie erwartet mich?«, wunderte sich Kayne.

Wieder lächelte die Elfe. »Dein Kommen blieb nicht unbemerkt. Schon bevor du unser Land auch nur gesehen hast, haben unsere Wächter dich entdeckt und Lharina unterrichtet. Geh nun zu ihr.«

Ein wenig irritiert stieg Kayne aus dem Sattel. Wortlos ergriff die schwarzhaarige Elfe Tyrons Zügel. Kayne folgte dem Steg in Richtung des Kiefernwäldchens. Bald schon erkannte er Lharina, die auf einem Felsen saß und auf den See hinausschaute. Blondes Haar fiel über ihre Schultern, ihr Körper wirkte so leicht und zart, dass Kayne fürchtete, ein Windhauch könne ihn davontragen. Gerade wunderte er sich, dass man ihn allein zur Königin vorließ, doch da wurde er eines blonden Elfen gewahr, der im Schatten eines Baumes stand und ihn aufmerksam musterte. Es hätte ihn auch gewundert, wäre der ruhige Krieger mit den für Elfen ungewöhnlichen rehbraunen Augen nicht in ihrer Nähe gewesen. Stets hatte Tahilán die junge Königin beschützt – es sei denn, sie war ihm entwischt, darin hatte sie Erzählungen zufolge Leána sehr geglichen. Ganz besonders, als Lharinas Eltern noch gelebt hatten.

»Tritt näher. Tahilánwird dir kein Leid zufügen.«

Kayne tat wie ihm geheißen, beäugte aber den Elfenkrieger misstrauisch.

»Setz dich zu mir, Sohn von Samukal«, forderte die Elfenkönigin ihn auf und klopfte mit ihrer schlanken Hand neben sich.

»Mein Name ist Kayne!« Im Vergleich zu Lharinas sanfter Stimme erklangen, hier in dieser friedlichen Umgebung, seine Worte selbst ihm barsch und ruppig. Dennoch ließ er sich neben der Elfe nieder. Diese sah ihn aus ihren hellblauen Augen an, die ihn schon immer an klares Meerwasser in der Nähe der Küste erinnert hatten. Kayne musste zugeben, dass es faszinierend war, ihre feinen Züge zu betrachten, beinahe glaubte er, die Leichtigkeit ihres Wesens fühlen zu können. Er kannte Lharina nicht so gut wie Leána, aber von allen Elfen, die er bislang getroffen hatte, war sie ihm stets die liebste gewesen.

»Du bist zornig, Kayne. Zornig und angespannt«, stellte die Elfenkönigin fest.

»Ich werde nur nicht gern an meine Herkunft erinnert.«

»Ich kannte deinen Vater, und ich weiß um seine Taten, doch ich verurteile nicht dich dafür. Selbst ich, die ihre Eltern durch Samukal verloren hat, habe ihm längst verziehen. Also lass deine Bedenken los.«

»Das ist nicht einfach, wenn man einen solchen Vater hatte. Und was mich angeht, ich verurteile seine Taten sehr wohl.«

Lharina betrachtete ihn, dann nickte sie. »Ich verstehe, was du meinst.« Sie seufzte und sah hinaus auf den See. »Ist es nicht wunderschön an den Wassern der Stille?«, fragte sie dann.

Kayne zuckte nur mit den Schultern.

»Betrachte den See genau, Kayne. Blicke hinein in das Wasser und sag mir, was du siehst.«

Kayne beugte sich nach vorne und schaute auf das stille Gewässer. »Ich sehe Bäume und den Himmel, die sich widerspiegeln«, antwortete er nach einer Weile.

Die Elfenkönigin schmunzelte. »Mehr nicht?«

Ungeduldig schüttelte Kayne den Kopf und wusste nicht, was sie damit bezweckte. Er spürte, wie er sich anspannte, jene Mauer um sich aufbaute, die ihn stets vor Angriffen geschützt hatte.

»Ich sehe dich! Ich sehe Kayne, einfach nur Kayne.«

Kayne betrachtete sein Spiegelbild, auf das er gar nicht geachtet hatte. Sein Gesicht kantig und in der Tat angespannt, Stoppeln hatten sich nach der morgendlichen Rasur bereits wieder um Mund und Wangen herum gebildet.

»Wirf einen Stein hinein«, forderte Lharina ihn auf. Kayne wusste zwar nicht, was das sollte, aber er tat es.

Zu seiner Überraschung schluckte der See den Stein regelrecht auf, nicht eine einzige Welle beeinträchtigte sein Spiegelbild.

»Der See spiegelt alles unverzerrt wider. Sei wie das Wasser hier. Hafte nicht an Samukals Taten, sei du selbst.«

Verwundert betrachtete Kayne die Elfe. Er war sprachlos, dann schluckte er.

Lharina klopfte ihm fast schon freundschaftlich auf die Schulter. »Sicher bist du nicht gekommen, um über deinen Vater zu sprechen, nicht wahr?«

»Äh, nein«, gab Kayne zu. »Ich … also eigentlich Leána, Toran und ich haben in der anderen Welt ein Portal gefunden, das womöglich in die Urheimat deines Volkes führt.«

Gespannt richtete sich Lharina auf. »Erzähl mir davon.« Ein Drängen lag nun in ihrer Stimme, und so berichtete er von seiner Reise mit Leána und Toran und was er über das Portal wusste. Dies war nicht viel, und es war ihm klar, dass es nur eine Vermutung blieb, ob es sich wirklich um besagtes Elfenportal handelte. Leána zuliebe verschwieg er auch Rob und den anderen Drachen.

»Das Volk der Elfen wird vergehen«, sagte Lharina, nachdem Kayne geendet hatte. »Daher müssen wir jede Möglichkeit nutzen. Dennoch birgt ein solches Unterfangen auch Gefahren, und wir sollten uns beraten.«

»Also müssen wir zu den Diomár auf die Geisterinseln reisen.«

Lharina nickte. »Das sollten wir. Ich habe Nordhalan und Estell ohnehin schon eine Weile nicht mehr gesehen. Noch heute brechen wir auf.«

Damit war es beschlossen.

»Da ist noch etwas«, begann Kayne, als er sich an die Elfenfrau erinnerte, die er unter den Bäumen des Elfenreiches gesehen hatte und die urplötzlich wieder verschwunden war.

»Auf dem Weg zu dir sah ich eine Frau. Ihr Kleid wallte um sie herum wie weißer Rauch, und sie wirkte irgendwie durchscheinend, so als ob sie nicht real wäre«, schloss Kayne. »Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, oder es war ein flüchtiger Traum.«

»Für die Realität deiner Erfahrung ist es nicht von Belang, ob es ein Traum war, eine Einbildung oder mit welchem deiner Sinne du die Wahrnehmung hattest. Hier im Elfenreich verschwimmen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch ich werde immer wieder von den Erinnerungen meiner Ahnen heimgesucht.«

Kayne seufzte. Er verstand ihre Worte nicht wirklich, wollte dies aber auch nicht zugeben. Daher nickte er einfach und ließ die Angelegenheit auf sich beruhen.

Sie hatten eine Reise vor sich, und diese war nun wichtiger. Noch am gleichen Tag packten sie ihre Sachen und beschritten den Elfenpfad auf die Geisterinseln.

Kapitel 2

Sturmwolken

Die urtümliche Gewalt, mit der die Stürme über Albany fegten, hatte Robaryon schon immer fasziniert und zugleich mit Furcht erfüllt. In seiner Drachengestalt war er stets darin bestrebt gewesen, die Luftströmungen zu nutzen, sich ihnen hinzugeben oder sie gegebenenfalls zu meiden. Eine unbedachte, der Jugend oder Geltungssucht eines Drachen entsprungene Aktion und man wurde gegen einen Berghang geschmettert oder konnte in die Wogen des Meeres stürzen.

Jetzt in seiner Menschengestalt fühlte sich Robaryon verletzlicher denn je. Während er sich Richtung Westen vorankämpfte, schlugen ihm die Windböen heftig ins Gesicht und zwangen ihn immer wieder, Schutz hinter Felsen oder in Senken zu suchen. Das Gefühl, zu frieren, war ihm normalerweise fremd, konnte er doch genügend der Feuermagie in sich bewahren, wenn ihn das Sonnenlicht zwang, seine Menschengestalt anzunehmen. Heute jedoch kauerte er sich am ganzen Körper bebend in eine Felsspalte. Er war erschöpft und hungrig. Zudem wusste er, Mitternacht, wenn seine Drachenmagie erwachte, war noch fern. Sollte er es wagen, sich zu verwandeln? Konnte er nach all den vergangenen Sommern und Wintern erneut über Albanys Wälder und Berge fliegen? Oder würden die anderen Drachen ihn dann sofort entdecken und töten? In Menschengestalt würde seine Reise mehrere Tage dauern. Nicht einmal ein Pferd konnte er sich besorgen, denn diese Tiere spürten sehr schnell, dass er nicht rein menschlich war, und fürchteten sich vor ihm.

Falls der Sturm etwas nachlässt, aber die Wolken den Himmel verdunkeln, werden mich die Drachen nicht sogleich entdecken, dachte er, und falls doch – können sie kaum erahnen, dass ich zurück bin. Galavenios ist nicht mehr am Leben – er kann mich nicht mehr richten.

Robaryon schloss seine Augen, und kurz darauf übermannte ihn der Schlaf.

Die Blicke der anderen Zauberer machten Kayne nervös. In mehr als einem Gesicht glaubte er Verachtung und Misstrauen zu erkennen, und selbst Nordhalan nahm er seine väterliche Zuwendung und seine Fürsprache mal wieder nicht ab.

Gemeinsam mit Tahilán und Lharina war er über einen der magischen Eichenpfade zu den Geisterinseln gereist, die von dem Unwetter, das zurzeit über ganz Albany wütete, noch viel heftiger heimgesucht wurden als andere Landstriche. So war es meist – die Elemente tobten sich auf diesen westlichen Inseln ganz besonders aus, und die Alten sagten, dass es der Wille der Götter sei, den Menschen und allen anderen Kreaturen zu zeigen, wie klein und unbedeutend sie doch waren. Kein Wesen, ganz gleich wie mächtig, konnte sich den Naturgewalten entziehen.

Klein und unbedeutend fühlte sich auch Kayne. Er saß hier vor dem Rat der Diomár, die sich im Halbkreis auf mit Ornamenten verzierten Holzstühlen niedergelassen hatten. Schaffelle polsterten die Sitzgelegenheiten der Ausbilder und Zauberer, während hinter ihnen auf einer stufenförmigen Empore aus Stein jene jungen Zauberer und Zauberinnen lauschten, die auf den Inseln ausgebildet wurden und vielleicht eines Tages Teil der Diomár werden würden. Fünf Nebelhexen, drei Menschen, zwei Zwerge und sogar zwei Dunkelelfen harrten bewegungslos auf den vermutlich kalten und unbequemen Stufen aus. Sprechen durften sie nur auf Aufforderung eines ihrer Ausbilder, sie sollten zuhören und lernen. Sie alle hatten die mehr als fünf Sommer andauernde Grundausbildung der Magier durchschritten, einige lernten bereits deutlich länger. Den jüngsten Zauberschülern war es noch nicht erlaubt, bei solchen Ratssitzungen dabei zu sein, sie mussten zunächst ihre Sinne schärfen. Die Anwesenden hingegen waren bereits dabei, ihre besonderen Begabungen herauszuarbeiten. Eine anmutige Halbelfe mit hellbraunem Haar und ein menschlicher Mann um die dreißig waren, wie Kayne wusste, Diener der Steine. Wenn sich ihre Gabe, Geister zu sehen und mit den Drachen zu sprechen, festigte, würden sie Hüter der Steine werden, eines Tages für Northcliffs Erben die Drachen rufen und mit Readonn, dem Orakel, sprechen. Da diese Begabung äußerst selten war und mit dem Tod der früheren Hüter der Steine, die auf den Dracheninseln gelebt hatten, beinahe ausgestorben war, wurden diese jungen Zauberer umso mehr geachtet. Hüter der Steine hatte es in vergangener Zeit unter den Nebelhexen nicht gegeben, was unter Umständen aber auch daran lag, dass niemand ihr Talent erkannt und gefördert hatte.

Die dicken Mauern der erst vor wenigen Sommern fertiggestellten Diomárfeste trotzten dem Sturm. Doch das Feuer in der Ecke flackerte, und Windgeister rangen mit Feuergeistern um die Vorherrschaft. Seitdem Kayne denken konnte, hatte er zum auserlesenen Kreis der Diomár gehören wollen und stets davon geträumt, ein mächtiger Magier zu werden, dem die anderen Respekt zollten. Nordhalan war nach dem Dämonenkrieg zum Oberhaupt der Diomár gewählt worden. Auch Estell, der nun einer der Ausbilder auf den Geisterinseln war, und Lharina gehörten dazu, ebenso wie Leánas Ururgroßvater Ray’Avan, Vertreter der Dunkelelfen. Nur hielt sich der greise Dunkelelf ungern an der Oberfläche auf und besuchte die Geisterinseln in unregelmäßigen Abständen. Lilith mit ihrem ungewöhnlich ausgeprägten Talent in Heilkunde gab ihr Wissen häufig als Ausbilderin auf den Geisterinseln weiter, und viele gingen davon aus, dass auch sie eines Tages zum Rat der Diomár zählen würde. Den alten Regeln zufolge durfte niemand, der nicht mindestens einhundert Sommer und Winter gesehen hatte, Teil dieser mächtigen Vereinigung werden. Doch heutzutage gab es kaum noch Zauberer, selbst Lharina erreichte diese Altersgrenze nur knapp, und von Leána wusste Kayne, dass es Überlegungen gab, die Diomárgesetze zu lockern, um jüngeren, ausgewählten Magiekundigen wie Lilith zu einer bedeutsamen Position zu verhelfen. Kaynes Blick fiel auf die beiden dunkelhaarigen Zwerge, die etwas abseits der anderen saßen. Ihr Volk hatte sich noch immer nicht dazu durchgerungen, einen Diomárvertreter zu stellen. Den Zwergenzauberer Revtan hatten die Diomár abgelehnt, da er sich im Dämonenkrieg aus allem herausgehalten und nicht für Albany eingesetzt hatte. Von den beiden Zwergenschülern war noch niemand stark und erfahren genug für diese wichtige Aufgabe, vielleicht gab es auch schlicht und einfach keinen älteren Zwergenzauberer in Hôrdgan. Hafran hielt sich in dieser Angelegenheit sehr bedeckt. Daher waren nun lediglich Nordhalan und die beiden Elfen als Diomárvertreter anwesend.

Dass Kayne weit davon entfernt war, in Magierkreisen auch nur als Mensch akzeptiert zu werden, wurde ihm heute mal wieder allzu schmerzlich bewusst.

Besonders die beiden Diener der Steine betrachteten ihn, wie es ihm schien, mit stechendem Blick, und auch wenn ihre Gesichter unbewegt waren, glaubte er, einen verborgenen Vorwurf darin zu erkennen. Er konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Durch Samukals Schuld waren die Hüter der Steine auf den Dracheninseln ausgelöscht worden – ihre Vorfahren. Selbst wenn sie nicht blutsverwandt gewesen waren, im Geiste hatten sie sich geähnelt. In alten Tagen hatten alle Hüter der Steine mit ihren Familien auf den nördlichsten Inseln, den Dracheninseln, gelebt. Von Generation zu Generation war ihre Gabe, Geister zu sehen und mit Drachen zu sprechen, weitergegeben worden, und für alle war es beinahe wie ein Wunder gewesen, dass sie nun zumindest zwei Zauberer mit dieser Begabung auf dem Festland gefunden hatten.

»Drei junge Menschen, die durch Zufall in einem See ein vergessenes Portal finden und ein weiteres in einer Welt, von der wir uns nur ausmalen können, wie fremdartig sie ist. Eine äußerst vage Ausgangslage, um eine Entscheidung zu treffen.« Kalt und abwertend erklangen die Worte des Elfenmagiers Estell durch den großen Beratungsraum. Was seine Worte sagten, spiegelten auch seine seltsamen hellen Augen wider, die Kayne durchbohrten. »Überhaupt nur darüber nachzudenken erachte ich als Zeitverschwendung«, fügte er hinzu.

»Werter Estell, es geht hier um das Überleben unseres Volkes!«

Selten hatte Kayne Lharina derart aufgebracht gesehen. Ihre Haut, die sonst an den hellsten Sand von Albanys Stränden erinnerte, war heute an den Wangen gerötet, und einige Strähnen hatten sich aus ihren geflochtenen Zöpfen gelöst. »Ich denke sehr wohl, dass wir etwas Zeit aufbringen sollten, um über Kaynes Neuigkeiten nachzudenken«, fuhr sie fort. »Wenn es nur den Hauch einer Möglichkeit gibt, unser Volk vor dem Aussterben zu retten, so bin ich nicht gewillt, sie ungenutzt zu lassen.«

»Ob in jener Welt noch Elfen existieren, ist ungewiss«, schoss Estell zurück. »Das Portal ist, wie es aussieht, verschlossen, und ich halte es nicht für sinnvoll, weitere Krieger unseres Volkes nur wegen einer Vermutung in Gefahr zu bringen!«

Lharinas Wangenknochen traten heftig hervor. »Das Volk der Elfen vergeht, das weißt du, Estell!«

»Deshalb möchte ich bewahren, was ist, und nicht weitere Leben riskieren.«

»Nun«, erhob Dimitan die Stimme. Normalerweise zählte er nicht zum Rat der Diomár, aber er war gekommen, um für Northcliff zu sprechen. »Auch ich bin dafür, Dinge, die nicht die schlechtesten sind, so zu belassen, wie sie sind.«

Dimitans Lehrling Morthas nickte selbstverständlich beipflichtend und mit äußerst wichtiger Miene.

»Weshalb wundert mich das jetzt nicht«, murmelte Kayne vor sich hin. Selten hatte sich Dimitan durch große Taten oder Wagemut hervorgetan. Er war ein guter Zauberer, wenn auch kein herausragender, der stets gerne den bequemen Weg ging.

»Wir könnten erneut versuchen, Readonn zu befragen«, schlug Nordhalan vor.

»Es misslang am gestrigen Tage, dann wird es uns auch heute nicht gelingen«, wandte Dimitan ein.

»Das hätte Horac nicht anders formuliert«, beschwerte sich Lharina, was Kayne beinahe zum Schmunzeln gebracht hätte.

»Selbst wenn Revtan nicht zu den Diomár zählt, sollten wir ihn ebenfalls in unsere Überlegungen mit einbeziehen«, erwähnte Nordhalan, »ebenso wie die Dunkelelfen und einen Vertreter der Nebelinsel. Lilith beispielsweise.«

»Ich wüsste nicht, was Zwerge, Nebelhexen und Dunkelelfen mit Elfenangelegenheiten zu tun haben«, warf Estell abwertend ein.

»Wo Elfen sind, mögen auch ihre dunklen Brüder sein«, erwiderte Nordhalan mit einer Verneigung zu den jungen Dunkelelfenmagiern Tah’Righal und Tev’Alvir hin. Auch die beiden waren etwas ganz Besonderes. Kaum ein Dunkelelf zeigte Begabung in magischen Dingen, dieses Volk war brillant in der Kriegs- und Baukunst, manch einer ging gar so weit, zu behaupten, das sei ihre Form von Magie, aber Zauberei gehörte nicht dazu. Nach Ray’Avan und Zir’Avan waren Tah, Mitglied der Herrscherfamilie von Kyrâstin, und der junge Tev die ersten seit Generationen, die ein Talent für Zauberei in sich trugen. Tev’Alvir hatte man eher zufällig bei einer Musterung in der Dunkelelfenstadt Kyrâstin entdeckt. Geradezu schmächtig war er für einen Dunkelelfen, und von Leána wusste Kayne, dass Tev sich lange als Schande betrachtet hatte, da er nicht einmal in die Mhragâr, die Kriegertruppe der Dunkelelfen, aufgenommen worden war. Als einfacher Händler hatte er glimmende Moose verkauft, sein Dasein gefristet und nicht geahnt, welche Fähigkeiten in ihm schlummerten. Ray’Avan hatte Tevs Gabe entdeckt, und seitdem war der junge Dunkelelf aufgeblüht. Nun drückte sein edles Gesicht, das wie das der meisten Dunkelelfen eine bräunliche Färbung trug, den typischen Stolz seines Volkes aus.

Die beiden Dunkelelfen verneigten sich leicht zu Nordhalan hin, und Tev’Alvir lächelte Kayne sogar flüchtig zu, was ihn im ersten Moment verwunderte. Er kannte Tev kaum, aber da er mit Leána befreundet war und auch Jel’Akir gut kannte, hielt ihn Tev offenbar nicht für eine Bedrohung – eine der besonderen und kaum durchschaubaren Denkweisen der Dunkelelfen, vermutete Kayne. Aber nun wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Nordhalan zu, bekam jedoch nur noch das Ende seiner Ausführungen mit.

»… sollten auch die Bewohner des Zwergenreiches mit einbezogen werden.«

»Die Zwerge!«, höhnte Dimitan hingegen. »Als ob die sich um die Belange der Elfen scheren würden. Ich schätze Revtan, aber der Rest seines Volkes macht Northcliff ohnehin nur Ärger. Und bis man den alten Ray’Avan aus seiner miefenden Höhle gezerrt hat, mögen drei Monde oder mehr vergehen, und ob er dann etwas Sinnvolles von sich gibt, bleibt dahingestellt.«

Der junge Tev’Alvir sprang auf, seine Hand lag unter seiner Robe. Wie Kayne vermutete, trug er einen Dolch, aber er setzte sich wieder, als Nordhalans Stimme beinahe zeitgleich durch den Raum donnerte.

»Sprich nicht in solch einem Ton von einem Mann, der so viel mehr Tage gesehen hat als du.« Alles Väterliche in seinem bärtigen Gesicht war verschwunden und einer Ehrfurcht gebietenden Miene gewichen.

Dimitan und selbst Morthas, der ja nichts dergleichen hatte verlauten lassen, zogen die Schultern ein.

»In alten Tagen wurden stets alle Völker mit in wichtige Belange einbezogen«, fuhr Nordhalan streng fort. »Wenn wir ein unbekanntes Portal öffnen, so mag dies eine Gefahr bergen, die schnell alle Völker betreffen kann. Zudem ist das Fortbestehen der Elfen für uns alle wichtig, denn sie sind die Träger großer Magie. Niemand weiß, ob ein Aussterben der Elfen nicht ähnliche Konsequenzen hätte wie das Verschwinden der Drachen!«

»Dann sollten wir die Drachen ebenfalls befragen«, schlug Lharina vor.

»Kayne, würdest du eine Botschaft auf die Nebelinsel schicken?«, fragte Nordhalan. »Ich selbst kümmere mich um die Zwerge. Dimitan, ich denke, es ist nicht zu viel verlangt, wenn du einen Boten ins Unterreich schickst. Ob Ray’Avan kommt oder nicht, das sei ihm überlassen.« Der große Zauberer erhob sich. »Lharina, sollte einer der Drachen in den folgenden Tagen über dem Elfenreich kreisen, könntest du versuchen, mit ihm in Kontakt zu treten. Auch ich werde Ausschau halten, und Kayne kann zudem Leána und Darian bitten, Davaburion oder einen der anderen zu benachrichtigen, sollte er zufällig über die Nebelinsel fliegen. Ansonsten müssen wir erneut versuchen, Readonn zu rufen.«

Nordhalan zuckte zusammen, als eine heftige Windböe in den Kamin fuhr, das Feuer aufflackern ließ und kleine Aschepartikel in den Raum wirbelte. »Bei diesem garstigen Wetter verlassen nicht einmal die Drachen ihre nördlichen Inseln freiwillig.«

Was war nur los in Albany? Dimitan war auf die Nachricht eines Botenvogels hin in einer, wie er es ausgedrückt hatte, – wichtigen Elfenangelegenheit – auf die Geisterinseln aufgebrochen und noch nicht zurückgekehrt. Toran zog sich mehr und mehr in sich zurück, ohne dass Kaya etwas dagegen tun konnte, und nach dieser seltsamen Anklage von Lord Finlen war auch noch ein völlig aufgelöster Wirt nach Northcliff gekommen und hatte behauptet, eine Nebelhexe hätte einen seiner Gäste vergiftet. Sofort hatte Kaya einen Botenvogel auf die Nebelinsel gesandt, um Lilith herzubitten, und auch mit Dimitan wollte sie sich nach seiner Rückkehr beraten. Er konnte den Leichnam des Mannes untersuchen. Nebelhexen kannten sich mit Giften aus, das war allgemein bekannt, aber dass gleich zweimal so kurz hintereinander eine von ihnen zur Mörderin werden sollte – das war seltsam.

»Mundet Euch der Fasan nicht?«, riss Lord Petres Kaya aus ihren Gedanken.

»Doch, er ist vorzüglich.« Erst jetzt bemerkte sie, dass sie den Fasanenbraten lediglich zerteilt und über den ganzen Teller geschoben hatte. »Verzeiht, ich war in Gedanken.«

Seine Hand legte sich auf die ihre, und er lächelte sie an. »Das ist doch verständlich. Wollen wir uns hinübersetzen?« Er deutete auf das prasselnde Holzfeuer im großen Kamin, der zum Meer zeigte. »An einem solch garstigen Abend kann man die Wärme eines Feuers gut gebrauchen.«

Kaya erhob sich und setzte sich neben Petres auf einen der gepolsterten Stühle. Auch wenn es bei den Adligen bereits Gemunkel gab, momentan war sie über die häufigen Besuche des Lords froh. Hin und wieder gelang es ihm, sie von ihren Sorgen abzulenken, und beinahe verspürte sie in diesem Moment das Bedürfnis, ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen. Doch da fiel ihr Blick auf Atorians Schwert, das über dem Kamin hing. Es war jene Waffe, die er bis zu seinem Tode getragen hatte. Unwillkürlich rutschte Kaya ein Stück in die entgegengesetzte Richtung von Petres.

»Seid Ihr in der Angelegenheit des Mordes an der Gattin des jungen Lords von Torvelen weitergekommen?«

»Nein, bedauerlicherweise nicht«, seufzte Kaya. »Ich muss mich mit Lilith beraten. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass eine Nebelhexe eine junge Frau aus Eifersucht tötet.«

»Nun, ohne als ein Feind der Nebelhexen gelten zu wollen«, er lachte ein wenig übertrieben auf, winkte einem der Diener und ließ sich Wein nachschenken. »Nicht alle von ihnen können über jeden Zweifel erhaben sein.«

ENDE DER LESEPROBE