DAS VERLORENE GEDÄCHTNIS - Brett Halliday - E-Book

DAS VERLORENE GEDÄCHTNIS E-Book

Brett Halliday

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Eines Morgens in Miami wacht Arthur Devlin auf. Er hat starke Kopfschmerzen. Ein Unbekannter hat ihn niedergeschlagen. Devlin kann sich an die Ereignisse der vergangenen zwölf Tage nicht mehr erinnern. Wie kam er in dieses Zimmer? Warum befindet er sich nicht an Bord des Schiffes, das zu den Bahamas fährt? Und woher stammen die 10.000 Dollar? Dann stellt er fest, dass er nicht allein im Zimmer ist. Unter dem Bett liegt ein Toter...   Brett Halliday (eigtl. Davis Dresser, * 31. Juli 1904 in Chicago, Illinois; † 4. Februar 1977 in Santa Barbara, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Schriftsteller.  Der Roman  DAS VERLORENE GEDÄCHTNIS  erschien erstmals im Jahr 1949; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1967.  Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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BRETT HALLIDAY

 

 

Das verlorene Gedächtnis

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 280

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DAS VERLORENE GEDÄCHTNIS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Eines Morgens in Miami wacht Arthur Devlin auf. Er hat starke Kopfschmerzen. Ein Unbekannter hat ihn niedergeschlagen. Devlin kann sich an die Ereignisse der vergangenen zwölf Tage nicht mehr erinnern.

Wie kam er in dieses Zimmer? Warum befindet er sich nicht an Bord des Schiffes, das zu den Bahamas fährt? Und woher stammen die 10.000 Dollar?

Dann stellt er fest, dass er nicht allein im Zimmer ist. Unter dem Bett liegt ein Toter...

 

Brett Halliday (eigtl. Davis Dresser, * 31. Juli 1904 in Chicago, Illinois; † 4. Februar 1977 in Santa Barbara, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Schriftsteller.

Der Roman Das verlorene Gedächtnis erschien erstmals im Jahr 1949; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1967. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DAS VERLORENE GEDÄCHTNIS

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Für Arthur Devlin war es ein seltsames Erwachen. Sonst pflegte er schlagartig da zu sein und aus dem Bett zu springen, aber an diesem Morgen war nur ein kleiner Teil seines Gehirns aktiv. Er kam sich wie gelähmt vor. Quälende Schmerzen durchpulsten seinen Kopf, ein würgendes Gefühl der Übelkeit presste ihm die Kehle zusammen. Wenn er sich bewegte, begann das Bett zu schwanken. Er streckte die Hände aus, umklammerte die Eisenstäbe und hielt sich fest, bis das Taumeln langsam nachließ.

Entsetzlich! Was für ein Seegang! Er versuchte zu sprechen, aber seine Zunge klebte rau und ausgetrocknet am Gaumen. Er versuchte die Augen zu öffnen. Die Lider waren zugeklebt. Wieder wagte er eine vorsichtige Bewegung, um sich aufzusetzen, aber die Anstrengung rief alles wieder herbei: Schwindelgefühl, Übelkeit, unerträgliches Pulsieren im Schädel. Er fiel aufs Kissen zurück, blieb regungslos liegen, ein paarmal krampfhaft schluckend, um den Kloß im Hals niederzuhalten.

Langsam bemühte er sich, gegen die peinigenden Schmerzen ankämpfend, sein Gehirn vom betäubenden Nebel zu befreien. Merkwürdig, dass er seekrank geworden war. Er hatte Schiffsreisen immer gut vertragen. Devlin versuchte sich zu erinnern. Der Sturm, das schwankende Schiff - undeutlich entsann er sich der Wetterberichte, die vor Antritt der. Fahrt schönes Wetter versprochen hatten.

Verzweifelt klammerte er sich ans Bewusstsein, von der Angst besessen, dass er wieder in die Dunkelheit zurücksinken würde, wenn er den anlaufenden Gedankengang auch nur für einen Augenblick unterbrach. Man hatte in Gesellschaft gefeiert - ganz früh am Abend. Cocktails, ein Diner, Champagner. Nur für Herren. Ein Fest. Dr. Thompson, Bert Masters und Joe Engals. Ein paar andere dazu. Erinnerungsfetzen, verwischt und unbestimmbar.

Betroffen bewegte er sich ein wenig. Der Schwindel überfiel ihn von neuem... Die Erinnerungen flirrten durch sein Gehirn, ausgespuckt von einer rasenden Maschine, flackernd, hin und her zuckend, in endloser Wiederholung. Dann stand das Bett still, und die Verkrampfungen in seiner Kehle lösten sich. Nur der dröhnende Schmerz im Kopf blieb zurück.

Er atmete tief und langsam. Natürlich. Abschiedsparty. Bon voyage für irgendjemand. Gewitzel, dröhnendes Gelächter, viel zu trinken. Sehr viel zu trinken, schnell hintereinander. Es spielte ja keine Rolle, wieviel er trank. Er hatte Urlaub und brauchte zwei Wochen nicht ins Büro zu gehen - denn die Party galt ihm, Arthur Devlin.

Grässlich, dieser Kater! Und er hatte gedacht, das Meer spiele verrückt. Er versuchte zu lachen. Seine Lippen waren starr, trocken - wie seine Zunge und die Mundhöhle. Wenn er nur einen Schluck Wasser bekäme! Er zwang die Lider auseinander, konnte aber in der Dunkelheit nichts sehen. Vorsichtig tastete er mit der rechten Hand nach einem Tisch. Vielleicht stand dort ein Glas Wasser. Aber er fand nichts.

Irgendwo in seiner Kabine musste es Wasser geben. Der Durst wurde immer unerträglicher. Devlin rollte sich langsam und vorsichtig auf die Seite, schob die Beine zur Bettkante, ließ sie heruntersinken, bis sie den Boden berührten, dann schob er sich langsam hinunter, bis seine Hände die Eisenstange am Fußende des Bettes umklammerten.

Das schrille Kreischen einer Autofanfare durchschnitt die Luft. Der Schmerz in seinem Schädel zuckte gewaltsam auf, Angst rann glühend durch seinen Körper. Er fiel zurück und blieb wie erstarrt liegen. Er hielt den Atem an, als ein Chor von Autohupen in das Kreischen einstimmte. Das konnte nur eines bedeuten! An einer Ampel war der vorderste Wagen bei Grün stehengeblieben. Aber an Bord der Princess of the Caribbean gab es keine Verkehrsstauungen.

Er zog sich am eisernen Fußende des Bettes hoch, richtete sich auf, zog die Hände zurück und taumelte zur Wand. An sie gelehnt, tastete er sich langsam vorwärts, nach einem Lichtschalter suchend. Er stieß gegen ein Waschbecken, schob die Hand nach oben und berührte eine Kette, zog daran - und der Raum war von trübem Licht erfüllt, das durch seine Augen glühende Schmerzen ins Gehirn jagte.

Mit dem linken Unterarm die zusammengekniffenen Augen abschirmend, sah er sich in dem kleinen, schäbigen Zimmer um: ein Fenster, verblasster Vorhang zugezogen, ein Korbsessel, in der Mitte des Zimmers ein schmutziger Flickenteppich.

Nach dem ersten hastigen Blick schloss er die brennenden Augen, drehte den Kaltwasserhahn auf, hielt sich mit der Linken fest und bespritzte Gesicht und Schädel mit der lauwarmen Flüssigkeit. Er wölbte die rechte Handfläche und ließ Wasser in seinen ausgetrockneten Mund rinnen, bis er nicht mehr schlucken konnte.

Mit triefendem Gesicht starrte er in den fleckigen Spiegel über dem Waschbecken. Der Anblick entsetzte ihn. Über dem rechten Ohr prangte eine eigroße Geschwulst, der Haaransatz war dunkelrot Und blutverklebt. Seine Lider waren geschwollen, die Augen rotgerändert, schwarzer Bartwuchs umrahmte Mund und Wangen.

»Um Gottes willen!«, murmelte er. Wie spät war es? Wann hatte er sich zum letzten Mal rasiert? Er hob den Arm, schob den linken Ärmel zurück und starrte entgeistert auf sein Handgelenk. Die Armbanduhr war weg.

Seine schmerzenden Augen betrachteten den Jackettärmel – graukarierter Stoff, abgetragen, zerfranst. Als er wieder in den Spiegel blinzelte, sah er ein ordinäres blaugestreiftes Hemd mit abgeschabtem Kragen und einer Krawatte, die in der trüben Beleuchtung rosafarben wirkte.

Devlin ächzte und presste die Augenlider zusammen. Er durfte diesen Halluzinationen nicht nachgeben. Ausgeschlossen, dass Arthur Devlin mit seinem Ruf, der eleganteste Mann seiner Kreise zu sein, solche Kleidungsstücke trug. Er musste hier heraus und an Bord der Princess of the Caribbean sein, bevor sie um Mitternacht ablegte. Verbissen wehrte er sich gegen einen weiteren Schwindelanfall, straffte und lockerte die Muskeln, bis er sich halbwegs erholt hatte. Dann öffnete er die Augen und schaute wieder in den Spiegel.

Karos, Streifen und rosa Krawatte - alles noch da. Grässlich! Wie ein Idiot hatte er sich benommen! Er musste bis zur Bewusstlosigkeit getrunken haben und in eine Schlägerei geraten sein. Seine letzte Erinnerung war, dass ihm Dr. Thompson noch ein Glas aufgedrängt hatte - oder Bert Masters?

Er sah am Anzug hinunter, entdeckte, dass der rechte Ärmel blutbefleckt war, zog die Linke von der Wand zurück, entschlossen, ohne Stütze aufrecht zu stehen. Er musste sich zusammennehmen und aus diesem Zimmer herauskommen.

Er war Arthur Devlin. Soviel stand fest. Arthur Devlin, ledig, Versicherungsdirektor, wohnhaft in Miami. Kurz vor seiner Abreise zu einem zweiwöchigen Urlaub hatte er bei seiner eigenen Abschiedsparty das Bewusstsein verloren.

Soviel stand fest - sonst nichts. Er drehte sich langsam um. Sein Sehvermögen war wieder intakt. Er wurde zur Statue, als er auf dem Boden zwei Hüte nebeneinander liegen sah: einen steifen Strohhut mit rotgelbem Band und einen weichen grauen Filzhut. Arthur Devlin besaß und trug auch keine Hüte.

Es schien ihm, als sei er jetzt gegen jeden Schock abgehärtet. Es kam nur noch darauf an, dieses unheilvolle Zimmer zu verlassen - dem unfassbaren Alptraum zu entrinnen.

Dann sah er den Schuh. Die Sohle eines Herrenschuhs, unter dem Bett hervorlugend.

Sein Herz hämmerte wie rasend, durch die Geschwulst an der Schläfe pulsierte zuckend der Schmerz. Seine Muskeln verkrampften sich. Arthur Devlin stand regungslos und kämpfte die vom Magen zur Kehle hochquellende Übelkeit nieder.

Er konnte nicht mehr fliehen. Irgendwie wusste er, dass der Mann tot war, wusste es, bevor er die Leiche sah. Langsam und mit marionettenhaften Bewegungen ging er um das Bett herum und zerrte den Toten ans Licht.

Er hatte ihn noch nie gesehen - diesen Mann unbestimmbaren Alters mit seinem schmächtigen Körper und den scharfen Gesichtszügen. Der bleckte die Zähne mit einer entsetzlichen Grimasse, die Angst oder Hass verriet, trug einen hellen Sommeranzug, Sporthemd mit offenem Kragen, gelbgestreifte Socken und zweifarbige Schuhe. Sein Gesicht war blutverkrustet, die linke Schläfe eingedrückt. Auf dem Boden lag ein Totschläger.

Als Devlin sich über den Toten beugte, nahm der pochende Schmerz im Schädel zu und trübte seine Sinne. Ein entsetzliches Gefühl der Hoffnungslosigkeit betäubte ihn. Es kam ihm sogar so vor, als habe sein Unterbewusstsein von Anfang an von dem Toten gewusst.

Dies alles war im Verlauf weniger Stunden geschehen, und nun zählte Arthur Devlin nicht mehr zu den gewöhnlichen Menschen. Er war ein Mörder und kannte nicht einmal den Namen des Mannes, den er ermordet hatte. Er wusste nicht einmal, warum die Tat geschehen war. Seine Hand musste den Totschläger geschwungen haben, aber in höherem Sinne gehörte sie nicht zu ihm. Sein Gehirn hatte diesen Befehl nicht erteilt. Arthur Devlin konnte keinen Mord begehen, das ließ sein Charakter nicht zu. Er wusste, dass es so war, obwohl er jetzt langsam niederkauerte, um die Taschen des Toten zu durchsuchen. Er konnte sich nicht länger bücken.

In einer Hosentasche, von einer Silberklammer zusammengehalten, ein paar Geldscheine, Münzen, drei Schlüssel am Ring in einer Jackettasche. Nichts sonst. Keine Brieftasche, keine Papiere, kein Hinweis auf seine Person. Er gehörte zur Dunkelheit dieser unauffindbaren Stunden. Nichts verriet, was er in diesem Zimmer zu suchen oder welche Beziehung zwischen ihm und dem Toten bestanden hatte.

Am knochigen Handgelenk des Toten war eine Armbanduhr befestigt. Devlin hob den schlaffen Arm und starrte auf das Zifferblatt. Die Zeiger wiesen auf 1.30 Uhr, das Uhrwerk tickte.

Halb zwei! Und um Mitternacht legte sein Schiff ab! Zum ersten Mal, seit er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, durchstieß der Ernst der Lage mit voller Wucht den Nebel der Unwirklichkeit. Er hockte starr mit gekreuzten Beinen neben dem Toten, überwältigt vom Entsetzen, von der klaren Erkenntnis seiner Lage.

Was war geschehen? Wie konnte sich dies alles in der kurzen Zeit abgespielt haben, seit er bei Bert Masters’ Party das Bewusstsein verloren hatte? Es war alptraumhaft, unfassbar, ausgeschlossen - aber er wusste, dass es zutraf. Zwecklos, zu hoffen, dass er noch immer sinnlos betrunken oder vom Delirium tremens erfasst sein möge. Das schäbige Zimmer, die ordinäre Kleidung, die Hüte und der Tote waren von schrecklicher Wirklichkeit.

Sein Blick blieb an einer zusammengefalteten Zeitung haften, die unter dem Bett lag. Er streckte die Hand aus und griff danach. Die Abendausgabe der Miami News. Er entsann sich dunkel, in seiner Wohnung einen Blick auf die Schlagzeilen geworfen zu haben, bevor er zur Herrengesellschaft gefahren war.

Aber das konnte nicht die Zeitung von gestern sein. Die Schlagzeilen lauteten anders. Verständnislos starrte er die dicken schwarzen Lettern an. Die Zeitung war schmal gefaltet, damit man sie in die Jackettasche schieben konnte. Devlin trug Zeitungen nie in der Tasche.

Als er das Datum sah, erstarrte das Blut in seinen Adern zu Eis. Fassungslos hielt er den Atem an, während die kleinen schwarzen Ziffern vor seinen quellenden Augen einen geisterhaften Tanz auf führten.

Das Datum lautete: 20. Juni.

Heute war der 8. Juni - oder vielmehr der 9. Der 9. Juni, frühmorgens. Der Tag, an dem sein Urlaub begann.

Er hatte davon gehört, dass man Zeitungen mit falschem Datum druckte, um Verbrecher zu fassen - gewöhnlich nur die erste Seite. Devlins Finger zitterten, als er umblätterte und das Datum suchte. Mund und Kehle waren wieder trocken wie Staub, und sein Atem pfiff durch die Lunge, während er fieberhaft Seite um Seite zerknüllte. Überall dasselbe Datum. Der 20. Juni, zwei Tage, bevor die Princess of the Caribbean nach Miami zurückkehren sollte.

Die Zeitung entglitt seinen Händen. Jetzt kannte er die Wahrheit. Zweifel gab es nicht mehr. Man schrieb den 20. Juni. Seit er an Bord der Princess of the Caribbean hätte gehen sollen, waren fast zwei Wochen vergangen. Zwölf Tage, statt einiger Stunden. Zwölf Tage Dunkelheit, Leere, Nichts. Das erklärte seine schäbige Kleidung, seinen Bartwuchs.

Aber wie war es möglich, dass man zwölf Tage ohne Bewusstsein blieb, selbst wenn man so viel getrunken hatte wie er auf Bert Masters' Party? Was hatte sich ereignet, um Himmels willen? Devlin presste die Hände an den schmerzenden Kopf und stöhnte.

Ein schrilles Läuten prallte gegen seine Trommelfelle und schien die Schädeldecke emporzuheben. Er riss den Kopf hoch und starrte den altmodischen Wandapparat an. Das Telefon verstummte, einen Augenblick lang kam die Welt ins Gleichgewicht, dann begann es wieder nervenzerrend zu schrillen. Für Devlin wurde es zu einem intelligenzbegabten Wesen, lauernd und bösartig, das ihn nicht in Ruhe lassen wollte. Er musste den Hörer abnehmen, musste sich melden, sonst würde es unablässig weiterlärmen. Das schrille Klingeln musste aber alle Menschen in der Nachbarschaft wecken und sie veranlassen, herbeizueilen - um Arthur Devlin neben dem Mann sitzen zu sehen, den er ermordet hatte.

Er streckte die Hand aus, umklammerte die Eisenstange am Bettfuß und zog sich daran hoch. Schwankend ging er zum Telefon und riss den Hörer herunter. Er lehnte an der Wand. Der Hörer baumelte neben seinem Knie.

Undeutlich hörte er eine Stimme eifern. Er hob den Hörer langsam ans Ohr. Es war eine Frauenstimme, sanft-heiser, zwingend, mit einem Unterton von Furcht, Sorge und verbissener Entschlossenheit.

»Joe! Bist du das, Joe?«, sagte sie. »Wer ist da? Warum meldest du dich nicht?«

Devlin hörte seine eigene Stimme, fremd und spröde, wie aus weiter Ferne kommend: »Hallo! Ich kann nicht...«

»Joe! Joe, Liebling!«

»Er ist - niemand ist...«, stammelte Devlin.

»Ich habe mir solche Sorgen gemacht, ich war so erschrocken, als du nicht gekommen bist, Joe, Liebling. Ist alles in Ordnung?«

Die letzten Worte atemlos.

Die ferne und körperlose Stimme war seine einzige Verbindung mit dem undurchdringlichen Dunkel der vergangenen zwölf Tage, ein winziges Loch in dem schwarzen Vorhang, der ihn vor Dingen abschloss, die er nicht kannte. Er musste erreichen, dass sie weitersprach. Er musste eine Rolle ausfüllen. Er durfte nicht zulassen, dass sie einhängte, ohne ihm wenigstens zum Teil zu verraten, was er wissen wollte.

Mit gepresster, verstellter Stimme fragte er: »Wer ist am Apparat?«

Ein kurzes Zögern, gefolgt von einem hohen silbrigen Lachen.

»Aber Joe! Hier ist Marge. Was hast-du denn gedacht? Ist was passiert? Ist - jemand - dort?«, fragte sie leise.

»Alles Mögliche ist passiert«, sagte er heiser. »Alles Mögliche. Wo bist du, Marge?«

»Aber - Joe! Zu Hause, natürlich. Joe, sag doch, was ist passiert?«

Die Besorgnis in ihrer Stimme stieß zu einem Gefühl vor, von dem er vergessen hatte, dass er es besaß.

»Das - das kann ich dir nicht sagen«, murmelte er.

»Ist Skid nicht gekommen?«

Es schien, als hielte sie den Atem an. Er zögerte, suchte verzweifelt nach einem Hinweis, der ihm verraten sollte, wie seine Antwort ausfallen musste. Hieß der Tote Skid? Oder lag dort Joe, während sie seine Stimme mit der des Verblichenen verwechselte?

»Skid ist schon gekommen«, sagte er. »Aber...«

Er verstummte und wartete auf ein Wort, das ihm weiterhelfen würde, alle Sinne angespannt, eine Stimmfärbung oder ein

Stocken aufzufangen, damit er wusste, wie er sich zu verhalten hatte.

»Pass auf, Joe!«

Ihre Stimme sank zu einem heiseren Flüstern ab, das besorgt und zärtlich klang.

»Ja - Marge«, erwiderte er.

»Hast du ihn umgebracht?«

Devlins Finger krampften sich um den Hörer. Er drehte den Kopf, bis er den schmächtigen schlaffen Körper vor dem Bett sehen konnte.

»Ja«, sagte er tonlos. »Ich habe ihn umgebracht.«

  Zweites Kapitel

 

 

»Okay.« Das knappe Wort ließ Befriedigung erkennen. »Du bist so lange ausgeblieben. Ich habe mir Sorgen gemacht. Hast du das Geld, Joe?«

»Das Geld?«, fragte er verständnislos. Sein Kopf dröhnte, alle Nerven seines Körpers vibrierten, während er verzweifelt überlegte, was er sagen sollte. Er entsann sich der Geldscheine in der Tasche des Toten. Ekel übermannte ihn, als ihm klar wurde, dass die Banknoten dort bleiben mussten.

»Joe - hörst du mir zu. Sag doch - hast du das Geld?«, fragte sie gereizt.

»Nein«, gab er zurück, immer noch bemüht, seine Stimme zu verstellen. »Er hatte kein Geld bei sich.«

»Oh, Joe!«, jammerte Marge. »Was hat der Kerl...?«

»Pass auf, Marge«, unterbrach Devlin brüsk. »Ich kann hier nicht die ganze Nacht mit dir quatschen. Ich bin - ich bin nicht in sehr guter Verfassung, Marge«, fügte er hinzu. Durch sein Bemühen, seine verzweifelte Hoffnung, ein Wort, einen Hinweis darauf zu erhaschen, was ihm zugestoßen sein mochte, hatte Devlin seine Kopfschmerzen vergessen. Der Schmerz zuckte plötzlich wieder auf, und er stöhnte laut.

»Joe - was ist passiert? Bist du verletzt?«

»Ich - ich hab’ eins über den Schädel bekommen«, lallte er und drehte den Kopf langsam zur Seite, um den Eindruck versagender Kraft zu erwecken. »Alles dreht sich. Mir ist schwindlig. Ich kenne mich überhaupt nicht mehr aus. Ich kann mich an - nichts erinnern. Ich muss hier raus, bevor ich umkippe.«

»Joe - nicht! Hör zu, Joe. Komm nach Hause - jetzt sofort.«

»Nach Hause? Wo ist das?«, murmelte er. »Vergessen - kann mich an nichts - erinnern. Sag mir - sag...«

Er hielt die Muschel dicht an die Lippen und gab einen krächzenden Laut von sich.

»Verdammt!«, zischte sie wütend, dann wurde es still.

Devlin presste den Hörer so fest ans Ohr, dass es schmerzte. »Marge - Marge...«, stöhnte er. Sie könnte nicht aufgelegt haben. Die Verbindung bestand noch.

»Wer sind Sie?«, fragte sie kalt und argwöhnisch. »Woher weiß ich, dass Sie Joe sind? Ihre Stimme klingt...«

»Ich bin wirklich Joe«, sagte Devlin erschrocken. »Das kommt nur daher, weil ich krank bin - verletzt...«

»Und während Sie quatschen, wird ermittelt, von wo aus ich anrufe«, fauchte sie. Es knackte in der Leitung, als sie auflegte.

Devlin ließ den Hörer langsam sinken, starrte ihn einen Augenblick an und hängte mit zitternder Hand ein. Tot - stumm - wie der Mann dort. Rätselhaft wie die zwölf verlorenen Tage. Schweißtropfen perlten über sein Gesicht, sein Atem ging keuchend. Auch das hatte er verpatzt. Wer Marge war, würde er nie erfahren. Er wusste nicht, ob er Joe oder Skid, wie sie geargwöhnt hatte, oder jemand ganz anderer war.

Natürlich war sie misstrauisch geworden, als er nicht gewusst hatte, wo Zuhause war - Joes Zuhause. Er hätte vielleicht dahinterkommen können, wenn er es klüger angestellt hätte, aber jetzt war es zu spät. Der Faden, der ein Zurücktasten zu den zwölf fehlenden Tagen erlaubt hätte, war gerissen.

Devlin ging zum Bett und setzte sich auf die dünne Matratze. Der Gedanke an die Qual des Aufstehens hinderte ihn daran, sich hinzulegen. Zum ersten Male in seinem Leben wurde er verschlagen, wachsam, vorsichtig und argwöhnisch, wie ein Tier, das einer Falle zu entgehen sucht. Er, Arthur Devlin, dessen Leben bis dahin ein aufgeschlagenes Buch gewesen war.

Was war in zwölf Tagen aus ihm geworden?

Joe - für eine Frau namens Marge? Und was für ein Mensch war Joe? In welche widerliche Flaut war er während dieser zwölf Tage geschlüpft, dass ihm eine Frau, die sich freute, weil er einen Menschen ermordet hatte, die zornig war, weil er kein Geld bei sich trug, Kosenamen zuflüsterte?.

Solange er in diesem tristen Zimmer mit den beiden Hüten und einer Leiche kauerte, ließ sich keine Antwort auf diese Fragen finden. Er musste hinaus, musste in die Sicherheit seiner eigenen Wohnung, seiner eigenen Persönlichkeit zurückkehren, um alles überdenken und Entschlüsse fassen zu können. Jede Sekunde, die er hier noch zubrachte, steigerte die Gefahr.

Er stand auf, ging auf Zehenspitzen zur Tür und presste das Ohr an das dünne Holz. Kein Laut zu hören. Abgesehen von Korbsessel, Bett und der Erinnerung an das Hupkonzert, hätte er sich genauso gut auf einer einsamen Insel im Karibischen Meer befinden können.

Er kehrte zum Waschbecken zurück und säuberte seine Hände, schüttete Wasser ins Gesicht und auf die Haare, trank aus der hohlen Hand und kämmte sich mit den Fingern. Die Geschwulst an der Schläfe fiel auf, aber die Schmerzen ließen nach. Dann fielen ihm die Hüte ein. Er drehte sich um und starrte sie an. Der Strohhut schien zur Kleidung des Toten zu passen. Er selbst musste als Joe wohl den grauen Filzhut getragen haben. Eigentlich verabscheute er Hüte, aber er brauchte eine Kopfbedeckung, um sich zu tarnen, und der weiche Filzhut würde der schmerzenden Geschwulst gut tun. Er bückte sich vorsichtig, mit erhobenem Kopf, um das Schwindelgefühl niederzuhalten, ergriff ihn und setzte ihn auf. Zum Glück war der Hut groß geraten. Devlin zog ihn tief in die Stirn und sah in den Spiegel. Der Hut verdeckte sein Gesicht recht gut.

Er trat zum Waschbecken und zog an der dünnen Kette. Undurchdringliche Dunkelheit breitete sich aus. Nur am Fenster umrandete ein schwacher Schimmer den Vorhang. Devlin atmete tief ein und trat mit unsicheren Schritten an die Tür, öffnete und schloss sie. Er stand in einem schmalen, von einer trüben Deckenleuchte erhellten Korridor, der an zwei geschlossenen Türen vorbei zu einer Holztreppe führte.

Er hielt sich am Geländer fest, stieg leise und vorsichtig hinunter. Am liebsten wäre er gerannt, aber der Gedanke, dass Verbrecher, Mörder, Aufmerksamkeit, auf sich lenkten, wenn sie die Flucht ergriffen, hielt ihn zurück. Von jetzt an musste er wachsam sein, überlegt handeln, jeden Verdacht vermeiden.

Noch einen Treppenaufgang hatte er vor sich, der zu einer winzigen Diele, zu Doppeltüren führte, von dort ins Freie - in die Freiheit. In seiner Qual und Erregung hatte er vergessen, wie lind und heilend frische Luft sein konnte. Langsam und vorsichtig, das musste ab jetzt seine Devise sein. Wenn er hinausgelangen konnte, ohne aufzufallen, wenn er seine Wohnung zu erreichen vermochte, würde er diesen entsetzlichen Alptraum überwinden. Wahrscheinlich konnte er sich hinlegen, schlafen, wieder erwachen und sich an das Ganze nur als Traum erinnern.

Die vorletzte Stufe knarrte laut und zerstörte seine Hoffnungen. Erschrocken fuhr er herum, als eine Tür aufgerissen wurde. Ein kleiner Mann, kahlköpfig, runzlig, unterwürfig lächelnd, stand vor ihm.

»Ach, Sie sind’s«, sagte er. »Bin heut’ ziemlich nervös. Mit dem Schlafen klappt’s nicht.«

»Ich bin’s«, sagte Arthur Devlin und wollte weitergehen.

»Ihren Freund haben Sie sicher gefunden. Auf Zimmer 304?«

Devlin drehte den Kopf und versuchte mit dem Kinn den Knoten der rosafarbenen Krawatte zu verbergen.

»Klar. Danke.«

Der alte Mann rief ihm etwas nach, aber Devlin erreichte die Eingangstür, öffnete sie, ließ sie hinter sich zufallen und trat in die kühle, milde Nacht hinaus. Er lehnte sich ein paar Sekunden an die Hausmauer und pumpte frische Luft in die Lunge. Die Straße lag verlassen da. Sein Herzschlag wurde ruhiger. Er hob den Kopf und suchte nach der Hausnummer. Das Gebäude war das genaue Ebenbild der beiden Nachbarhäuser, alles billige Hotelpensionen, wie es schien. Es trug die Nummer 819.

Er ging auf eine Straßenecke zu, wo eine helle Straßenlaterne brannte, wider alle Erfahrung hoffend, ein Taxi zu finden. Er war nahe genug herangekommen, um das Straßenschild lesen zu können - Palmleaf Avenue -, als er ein Auto bremsen hörte. Er drehte sich um. Es war ein Taxi. Ein Betrunkener stieg aus. Während Devlin seine Schritte zu beschleunigen versuchte, sah er, dass der Mann schwankend neben dem Fahrzeug stand und einen Geldschein aus seiner Brieftasche zog. Devlin hob die Hand und wollte rufen, aber er brachte nur ein heiseres Krächzen hervor.

Er eilte auf das Taxi zu, bemüht, sich die Nummer über dem Eingang zur Pension und den Straßennamen zu merken. Palmleaf Avenue 819. Er konnte sich nicht erinnern, den Namen schon einmal gehört zu haben, aber es sprach wenig dafür, dass er ihn je vergessen durfte.

Der Betrunkene wankte auf eine Haustür zu. Die Fondtür des Taxis stand offen. Devlin stieg ein und schloss sie.

Der Fahrer drehte sich um und starrte Devlin misstrauisch an.

»Was woll’n Sie denn?«, fragte er scharf.

»Was wohl?«, zischte Devlin empört.

»In der Gegend hier...«

»Fahren Sie doch endlich«, knurrte Devlin. Die weichen Polster des Rücksitzes und die Aussicht, bald wieder in seiner komfortablen Wohnung zu sein, ließen ihn zum ersten Mal seit der Rückkehr ins Bewusstsein ein Gefühl des Wohlbehagens empfinden.

»Wohin soll’s denn gehen?«, fragte der Fahrer unfreundlich.

»Zum Clairmount-Hochhaus«, fauchte Devlin.

Das Taxi setzte sich in Bewegung.

»Ich kenne nur ein Clairmount-Hochhaus in Miami Beach«, sagte der Fahrer. Sein Tonfall stellte Devlins Recht in Frage, sich in eine derart vornehme Gegend transportieren zu lassen.

»Stimmt«, erwiderte Devlin. »Gleich beim Roney Plaza. Möglichst schnell«, fügte er hinzu.

Er presste die Lippen zusammen und ließ sich zurücksinken. Schon hatte er einen Fehler begangen. Niemals hätte er seine richtige Anschrift nennen dürfen. Der Chauffeur würde sich morgen an diese Fahrt erinnern, wenn er in der Zeitung las, dass man wenige Meter von der Stelle entfernt, wo der Fahrgast eingestiegen war, in einer Pension einen Ermordeten entdeckt hatte. Seine Unvorsichtigkeit erschreckte ihn zutiefst, seine Freude, endlich wieder in die alte Haut schlüpfen zu können, war nur von kurzer Dauer. Wie lange brauchte man, um klar zu erkennen, dass man ein Verbrecher, ein Mörder war, der instinktiv auf jedes Wort und jede Geste achtete?

Er wollte sich verbessern und irgendwo in der Nähe des Clairmount aussteigen, begriff aber, dass er damit nur alles verschlimmern und dem Taxifahrer erst recht Veranlassung geben würde, den Vorfall im Gedächtnis zu behalten. Er schloss die schmerzenden Augen, um nicht die nackte, brutale Wahrheit sehen zu müssen: Arthur Devlin war ein Gejagter.

Der Fahrer bog auf die Causeway-Brücke ein, welche die dunklen Gewässer der Biscayne-Bucht überspannte. Auf den sanften Wellen schimmerte das Licht von zahllosen Straßenlampen. Devlin sank erschöpft zurück, aber sein bislang betäubtes und umnebeltes Gehirn war hellwach.

Es erschien ihm unfassbar, dass die Princess of the Caribbean erst vor zwölf Tagen ohne ihn abgefahren war. Eine Ewigkeit schien seitdem vergangen zu sein. Was konnte einem Menschen in dieser kurzen Zeitspanne alles zustoßen? Wie konnte sich ein ruhiger, unauffälliger junger Mann, ein gutsituierter Junggeselle, der über viele Freunde und weitreichende gesellschaftliche Beziehungen verfügte, in diesen Mann verwandeln, der jetzt über die Brücke zu dem vertrauten Appartementhotel an der Collins Avenue fuhr, gekleidet wie ein Landstreicher?

Amnesie, ganz klar. Das war die einzig mögliche Antwort. Aber wirkte sich Amnesie so aus? Wie wirkte sich Amnesie aus? Glich sie einer durch Alkohol hervorgerufenen Bewusstlosigkeit? Die beiden Zustände mussten sich fast gleichen. Er schien am Abend der Abschiedsparty von einer alkoholischen Betäubung direkt in einen Zustand der Amnesie geraten zu sein, der angedauert hatte, bis ihn ein Schlag auf den Kopf wieder zur Besinnung brachte.

Es handelte sich also praktisch um ein und dasselbe, entschied Devlin, mit dem Unterschied, dass der Gedächtnisverlust länger andauerte. Er konnte vor zwölf Tagen gestürzt sein und sich den Kopf angeschlagen haben. Das musste, im Verein mit dem starken Trinken, die Ursache gewesen sein. Gestern Nacht hatte dann ein zweiter Schlag, vielleicht sogar auf dieselbe Stelle, die Wirkung des ersten aufgehoben. Er kannte niemand, der von diesem merkwürdigen Leiden befallen war, er wusste von keiner Person, die direkt mit einem Amnesie-Opfer bekannt gewesen wäre, aber es hieß ebenso in Zeitungsmeldungen wie in Romanen, dass Ursache und Heilung jeweils Schläge auf den Kopf gewesen seien. Kein Gericht würde einen Menschen für eine Tat verurteilen - und sei es Mord -, für die er weder geistig noch moralisch die Verantwortung trug.

Selbstverständlich traf ihn die ganze Verantwortung dafür, dass er sich bei Bert Masters Party völlig betrunken hatte. Von dieser Schuld wollte er sich auch nicht reinwaschen. Er hatte miterlebt, wie andere Menschen sich bis zur Besinnungslosigkeit betranken, und war erstaunt Zeuge gewesen, wie ruhige, gutmütige Männer sich in bösartige, aggressive Wesen verwandelt hatten. Wahre Muster des Anstands waren zu brutalen Kerlen geworden, schwächliche Typen zu hart zuschlagenden Raufbolden. Unter dem Einfluss einer Übermenge Alkohol entpuppte sich der Mensch oft als Gegenteil dessen, was er in nüchternem Zustand vorstellte.

Devlin stellte mit Betroffenheit fest, dass er nicht über sich Bescheid wusste. Er hatte beim Trinken immer Maß gehalten und das im Rahmen des Geselligen Vertretbare nie überschritten, hatte niemals die Besinnung verloren. Er wusste jedoch, dass in seinen eigenen Kreisen derartige Vorfälle für kurze Zeit Thema humorvoller Diskussion und des Gelächters waren, um dann vergessen zu werden.

Diese Gedanken verliehen ihm ein Gefühl der Sicherheit. Für Sekunden atmete er auf und sog die kühle, salzfrische Luft in sich hinein. Dann präsentierte ihm sein Gedächtnis, als lauere dort ein Dämon nur auf die Gelegenheit, ihn von neuem zu quälen - Marge. Marge, die ihn Joe, Liebling genannt hatte.

Der Fahrer bog in die Collins Avenue ein und brauste auf das Clairmount zu. Devlin richtete sich auf und griff automatisch nach der Brieftasche. Die Innentasche des Jacketts war leer. Er beugte sich vor, um den Fahrpreisanzeiger sehen zu können. Ein Dollar dreißig. Verzweifelt durchwühlte er alle Taschen und verfluchte seine Zimperlichkeit, die ihn gehindert hatte, wenigstens einen Geldschein aus den Taschen des Toten zu nehmen. Wenn er den Fahrpreis nicht bezahlen konnte, brach eine Katastrophe über ihn herein. Damit würde er sich und die Einzelheiten der Fahrt unauslöschlich im Gedächtnis des mürrischen Fahrers verewigen.

Devlins Herz setzte für Augenblicke aus, seine Kehle schnürte sich zusammen, als er in der linken Hüfttasche ein dickes Bündel ertastete. Er zog es nervös heraus und seine Finger fühlten sich klebrig an. Im Licht einer Straßenlaterne sah er, dass er Geldscheine in der Hand hielt. In einer Ecke der obersten Banknote stand Einhundert«, und sie war blutverschmiert.