MÖRDER AM MORGEN - Brett Halliday - E-Book

MÖRDER AM MORGEN E-Book

Brett Halliday

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Beschreibung

Midhampton auf Long Island.

Auszüge aus dem Tagebuch eines jungen Mädchens: »Wenn alles gutgeht, wird niemand diese Zeilen lesen. Mord ist ein Geheimnis, das man keinem anvertraut. Aber noch ist es nicht soweit. Meine Stiefmutter könnte gerettet werden - heute Nacht. Wenn mir irgendetwas zustößt, ist dieses Tagebuch meine letzte Rache an ihr...«

 

Brett Halliday (eigtl. Davis Dresser, * 31. Juli 1904 in Chicago, Illinois; † 4. Februar 1977 in Santa Barbara, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Schriftsteller.

Der Roman Mörder am Morgen erschien erstmals im Jahr 1949; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1973.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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BRETT HALLIDAY

 

 

Mörder am Morgen

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 266

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

MÖRDER AM MORGEN 

Freitag, 3. September 

Sonntag, 5. September 

Dienstag, 7. September 

Montag, 13. September 

Dienstag, 14. September 

 

 

Das Buch

 

Midhampton auf Long Island.

Auszüge aus dem Tagebuch eines jungen Mädchens: »Wenn alles gutgeht, wird niemand diese Zeilen lesen. Mord ist ein Geheimnis, das man keinem anvertraut. Aber noch ist es nicht soweit. Meine Stiefmutter könnte gerettet werden - heute Nacht. Wenn mir irgendetwas zustößt, ist dieses Tagebuch meine letzte Rache an ihr...«

 

Brett Halliday (eigtl. Davis Dresser, * 31. Juli 1904 in Chicago, Illinois; † 4. Februar 1977 in Santa Barbara, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Schriftsteller.

Der Roman Mörder am Morgen erschien erstmals im Jahr 1949; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1973. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   MÖRDER AM MORGEN

 

 

 

 

 

 

 

  Freitag, 3. September

 

 

Ich hasse meine Stiefmutter.

Das ist eine wunderschöne, glatte, unzweideutige Feststellung. Es macht mir Vergnügen, sie zu lesen, wie sie hier vor mir auf dem Papier steht.

Tatsächlich habe ich mich schon zwei Jahre lang darauf gefreut, sie richtig hassen zu können. Ich wollte sie von Anfang an hassen, aber ich versuchte lange Zeit, fair zu sein und ihr eine Chance zu geben.

Schließlich kann man einen Menschen nicht aus vollem Herzen hassen, den man noch gar nicht persönlich kennengelernt hat. Dem man noch nie begegnet ist, von Angesicht zu Angesicht. Man kann ihn nicht hassen, bevor man sich selbst ein Urteil gebildet hat.

Jetzt bin ich sehr zufrieden darüber, dass Florence genau so ist, wie ich sie mir vorgestellt habe, damals, als Mutter starb und Vater mir nach ihrem Tod jenen seltsamen Brief schrieb, bei dem ich so viel zwischen den Zeilen lesen konnte.

Merkwürdig, dass Vater mir in diesem Brief seinerzeit weitgehend die Wahrheit über Florence Riddel berichtete, ohne dass er, wie ich annehme, sich dieser Wahrheit überhaupt bewusst geworden war. Ich war achtzehn Jahre alt, ein Kind noch, verglichen mit heute - mit meinen heutigen Gefühlen. Und doch erinnere ich mich genau, dass mir Vater schon damals leidtat. Er war ein so ungeschickter, redlicher Mann. Freundlich und gut, aber unsicher in Gedanken und Entschlüssen. Er hatte Mutter von Herzen geliebt, dessen bin ich mir sicher. Aber ich weiß ebenso gewiss, dass er sie nie verstanden hat. Er hat auch mich nie verstanden. Mutter und ich lebten ein eigenes Leben - getrennt von ihm -, und ihm schien das gar nichts auszumachen. Ich glaube, er erkannte seine Schwäche und nahm in unserer gemeinsamen Beziehung die eine, einzige Position ein, die er unter diesen Umständen ausfüllen konnte.

Aber ich schweife ab. Ich weiß, dass ich dazu ausersehen bin, alles schriftlich festzulegen, wie es sich ereignet hat und wie es sich in den kommenden Tagen ereignen wird.

Ich weiß selbst noch nicht genau, warum es so wichtig ist für mich, dass ich das alles aufschreibe und berichte. Aber ich weiß, dass es wichtig ist. Ich will nicht warten, bis es zu spät ist. Ich will alle Ereignisse zu Papier bringen, solange ich sie noch frisch und lebendig im Gedächtnis habe.

Und ich fürchte mich nicht vor der Wahrheit. Meine Stiefmutter dagegen muss sich davor fürchten. Gott allein weiß, was noch alles geschehen wird, aber ich werde darüber berichten und mich nicht allein auf mein Erinnerungsvermögen verlassen.

Ich werde also über jeden Tag einen genauen Bericht verfassen, oder jedenfalls immer, wenn sich etwas ereignet hat, das wichtig genug ist, um schriftlich festgehalten zu werden. Ich schreibe dies in meinem Zimmer. Die Tür ist abgesperrt. Florence habe ich gesagt, dass ich zusammen mit Ellen Chase an einem Roman arbeite und dass ich Ellen jeweils ein paar Kapitel per Post schicken werde, wenn ich sie abgeschlossen habe. Auf diese Weise kann Florence keinen Verdacht schöpfen und mich nicht davon abhalten, alle paar Tage ein paar Seiten dieses Berichts an Ellen abzuschicken. Sobald ich mit dem ersten Teil fertig bin, werde ich Ellen einen Brief senden und ihr mitteilen, dass sie von nun an regelmäßig dicke, festverschlossene Briefumschläge erhalten wird, die sie ungeöffnet an einem sicheren Ort verwahren soll. Ich brauche Ellen nicht zu sagen, was das zu bedeuten hat und weshalb ich nicht wünsche, dass sie die Umschläge öffnet und ihren Inhalt liest. Ellen ist der einzige Mensch auf Erden, dem ich vertrauen kann und der alles für mich tut, ohne viele Fragen zu stellen.

Auch das ist eine Sicherheitsmaßnahme. Auf diese Weise befinden sich jeweils nur wenige Seiten meines Berichts hier im Haus. Ich kann ohne Scheu jede Stimmung und jedes Gefühl zu Papier bringen, während es noch in mir lebendig ist. Ich kann zum Beispiel niederschreiben, dass Florence ein gemeines Luder ist. Sie ist gewöhnlich, primitiv und bösartig. Ich kann ruhig niederschreiben, dass ich wünschte, sie wäre tot, und dass mich nichts auf der Welt mehr befriedigen würde als ein Plan, mit dem ich sie töten könnte, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.

Dies also ist der wahre Grund des Tagebuchs. Ich werde nichts verschweigen. Ich schäme mich nicht, alles niederzuschreiben. Ich habe keine Angst vor der Wahrheit.

Aber ich muss von vorn anfangen - genau gesagt, mit gestern Nachmittag, als ich Florence zum ersten Mal leibhaftig gegenübergestanden habe. Ich war von Kalifornien nach New York geflogen, nachdem ich ihr Telegramm erhalten hatte, und es war ein heißer Nachmittag gewesen. Ich fühlte mich müde und erschöpft nach der endlos erscheinenden Fahrt mit der Eisenbahn von New York nach Long Island. Zum Glück war es ein gewöhnlicher Wochentag, ohne die Scharen von Wochenendurlaubern, die sonst die klapprigen Wagen bevölkern.

Am Bahnhof hatte ich keine Schwierigkeiten, ein Taxi zu bekommen. Genau gesagt, standen zwei Taxis bereit, und ich war offenbar der einzige Reisende, der sich den Luxus eines Taxis leisten konnte. Jedenfalls stürmten beide Fahrer auf mich zu und versuchten, mir das Gepäck aus der Hand zu nehmen. Ich wählte den jüngeren, männlicher wirkenden von den beiden und gab ihm die Anweisung, mich zum Landhaus Haddon direkt an der Bay zu fahren. Er nickte, ohne die üblichen impertinenten Fragen zu stellen, wie man sie von Taxifahrern in kleinen Orten gewohnt ist, und fuhr an der Schule durch das belebte Zentrum von Midhampton vorbei.

Alles sah genauso aus wie vor zwei Jahren. Dieselben hässlichen kleinen Läden, die Einheimischen in ihren Overalls, ein paar Sommergäste in knallbunten Kleidern oder leichten, hellen Hosen. Es kam mir so vor, als sei ich nie von hier weggewesen.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Als wir uns dem alten, schindelgedeckten Haus näherten, wo ich so viele Sommer verbracht hatte, nahm ich den Fahrpreis und ein bescheidenes Trinkgeld aus meiner Geldbörse.

Auch das Haus sah unverändert aus. Der Rasen war frischgemäht; die Hecken hatten den Sommerschnitt nötig. Die Vorderfront und die Fensterrahmen waren frisch gestrichen worden. Ich wartete darauf, dass der Fahrer mir den Wagenschlag öffnete.

Während ich ihm die abgezählten Münzen in die Hand drückte, öffnete sich die Tür des Hauses. Ich wusste sofort, dass es meine Stiefmutter war, als ich die schwarzgekleidete Gestalt unter dem Türrahmen erblickte.

Sie war in Trauer. Wie lächerlich! Nein, nicht nur lächerlich: es war geradezu gotteslästerlich! Eine Verunglimpfung meines armen Vaters. Wer war sie denn, dass sie sich eine solche ostentative Zurschaustellung von Trauer leisten konnte? Sicher, er hatte sie nach Mutters Tod geheiratet, aber ich brachte es einfach nicht fertig, sie mir als seine Frau vorzustellen. Ich hatte das Gefühl, sie hatte diese Trauerkleidung und die, Trauermiene nur angelegt, damit es alle Welt sehen konnte: Schaut her, ich habe mir immerhin so viel aus John Haddon gemacht, dass mich sein Ableben mit Trauer erfüllt!

Der Fahrer scheuchte mich aus meinen Gedanken, als er fragte, was er mit meinem Gepäck machen solle. Ich sagte: »Stellen Sie die Sachen einfach hinter das Tor. Die Hausangestellten werden sie mir hereinbringen.« Dann ging ich auf meine Stiefmutter zu.

Florence gehörte zu der Sorte Frauen, die selbst noch in der teuersten Pariser Creation schlampig aussehen. Ihre Hände sind die eines Mannes: breit, mit flachen Fingerspitzen. Die Füße groß, die Gelenke schwer und plump. Sie hat überhaupt keine Taille. Wegen ihres stämmigen, soliden Körperbaus erinnert sie an ein Arbeitspferd.

Auch ihr Gesicht ist grobschlächtig, glatt und ohne Falten. Nicht fett, aber fleischig. Das blonde Haar trägt sie in zwei Zöpfen, die sie sich um den Kopf gelegt hat wie eine Krone. Vielleicht hat ihr einmal jemand gesagt, es sehe königlich aus. Ihre Augenbrauen sind hell und nicht ausgezupft. Sie hat einen breiten Mund mit bleichen Lippen, und die Mundwinkel sind immer ein wenig nach oben gezogen in einer Art spöttischem Lächeln, das gar nicht zu ihrem Gesicht passt.

Erst jetzt, wo ich sie niederschreibe, werden mir alle diese Eindrücke bewusst, die ich von Florence gewonnen habe. Das beweist, wieviel der Mensch in seinem Unterbewusstsein aufzunehmen imstande ist. Bewusst war mir zu diesem Zeitpunkt nur das eine: dass ich dieser Frau gegenüber vom ersten Augenblick an eine tiefe Abneigung empfand. Ich weiß noch, dass ich mir sagte: Sie ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Genauso abstoßend.

Ich blieb vor der untersten Treppe stehen, als ich ihre Stimme zum ersten Mal hörte. Es war eine tiefe, sanfte Stimme, die mir mehr auf die Nerven ging, als wenn sie rau oder hart gewesen wäre.

Sie sagte: »Ich glaube, du bist die kleine April.«

Ich stand auf der untersten Stufe, schaute zu ihr hinauf und überlegte mir ein paar naheliegende, bissige Antworten auf ihre dämliche Frage. Aber dann beantwortete ich sie lediglich mit einem, wie ich hoffte, niederschmetternden Blick und sagte kein Wort.

Sie sagte: »Ich hatte dich später erwartet, weil ich damit rechnete, dass du dir erst noch schwarze Kleider kaufen wolltest.« Dabei hob sie die Stimme kein bisschen und gab ihren Worten auch keinerlei besondere Betonung. Sie stand einfach da und blickte auf mich herab.

Ich hätte ihr am liebsten ins Gesicht gelacht. Dann schaute ich auf mein Kleid hinunter. Es war hellgrau mit einem weinroten Krokodilledergürtel, der in der Farbe zu meinen hochhackigen Sandalen passte.

Danach ging ich die Treppe hinauf und sagte leise: »Ich hatte wichtigere Dinge zu erledigen vor meinem Abflug.«

Sie bewegte sich keinen Millimeter, so dass ich nicht an ihr vorbei und hinein ins Haus gehen konnte. Sie stand einfach da und betrachtete mich mit ihren blassblauen, kalten Augen. Dann erklärte sie: »Ich hätte dich auch so ohne weiteres erkannt. Du hast den Mund und das Kinn deines Vaters.

»Ach, tatsächlich?« entgegnete ich. »Wie konnte er nur so lange ohne sie auskommen?« Dann begann ich, meine Wildlederhandschuhe auszuziehen und hoffte, dass meine feindselige Bemerkung bei ihr angekommen war. Allerdings bemerkte ich nicht die geringste Regung an ihr. »Ich möchte hineingehen, wenn du nichts dagegen hast«, fuhr ich fort. »Die Reise war immerhin anstrengend.«

»Du siehst aber noch recht frisch aus«, sagte sie besänftigend. Noch immer trat sie nicht zur Seite, sondern warf einen Blick auf mein Gepäck, das hinter dem Tor an der Einfahrt stand. »Wollen wir deine Sachen nicht gleich hineinbringen? Du könntest dich umziehen und es dir bequem machen.«

Sie kam einen Schritt auf mich zu und schloss die Tür. Ich trat zur Seite und sagte in eisigem Ton: »Meinst du nicht, die Hausangestellten könnten das Gepäck übernehmen?«

Sie lehnte sich an die Balustrade der Veranda. »Ich habe nur ein Hausmädchen, und die hat genug zu tun, dass ich ihr nicht auch noch die Arbeit eines Gepäckträgers auf bürden möchte.«

»Aber ich soll den Gepäckträger spielen, was?« Ihr Ton hatte mich so überrascht, dass mir der bissige Satz unwillkürlich herausgeschlüpft war.

Sie schaute mich mit ihrem spöttischen Lächeln an, das selbst jetzt, wo ich darüber berichte, noch Ekel in mir erregt. »Was ist: Willst du dein Gepäck im Haus haben, oder sollen wir es da unten stehenlassen?«

»Ich wäre sehr verbunden, wenn du es mir hineinbringen würdest«, sagte ich und ging an ihr vorbei auf die Haustür zu.

In der großen Diele hatte sich einiges verändert. Alles schien renoviert worden zu sein. Die schöne Eichenholztür war mit efeugrüner Farbe überpinselt worden, und die Tapete war nun hellbeige mit goldenen Tupfen. Ich warf einen Blick durch die Glastüren zur Linken und bemerkte, dass auch das Wohnzimmer auf ähnliche Weise umgestaltet worden war. Die wunderbare Wandbespannung aus Rohleinen, die noch meine Mutter ausgewählt hatte, war von diesem geschmacklosen Weibsbild offenbar mit Tapeten überklebt und total zerstört worden. Ich kochte bereits vor Zorn.

Florence trat geräuschlos neben mich. »Du kannst das Zimmer auf der Ostseite haben«, erklärte sie mir. »Ich nehme an, es ist schon aufgeräumt - wenn du nach oben gehen willst.« Sie hatte kein einziges von meinen Gepäckstücken hereingebracht.

Ich hörte jemanden die Treppe herunterkommen, und als ich nach oben schaute, erblickte ich ein Mulattenmädchen mit einem gutmütigen Gesicht. Sie trug ein sauberes Baumwollkleid. Als sie heruntergekommen war, sagte Florence: »Das ist Elsie. Miss Had- don, die eine Weile bei uns bleiben wird.«

Das Mädchen nickte mir freundlich zu, murmelte ein paar Worte und wollte hinübergehen ins Wohnzimmer. Ich sagte: »Bitte bringen Sie meine Sachen herein, Elsie. Ich gehe jetzt gleich hinauf in mein Zimmer.«

»Elsie muss sich um das Abendessen kümmern«, entgegnete Florence mit tiefer Stimme. »Geh nur in die Küche, Elsie.«

Das Mädchen warf mir einen neugierigen Blick zu, dann nickte sie und verschwand. Ich schritt an Florence vorbei die Treppe hinauf. Währenddessen wurde mir bewusst, dass sie mir nachschaute, schweigend und selbstbewusst, mit ihrem spöttischen Lächeln auf den Mundwinkeln. Sie behandelte mich offensichtlich wie ein launisches Kind.

Ich zitterte vor Wut, wusste aber, dass ich mich beherrschen musste. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren, um die Situation im Griff zu behalten.

Die Tür zum Zimmer auf der Ostseite stand offen. Es war schon immer mein Zimmer gewesen, solange ich mich erinnern kann. Mutter und Vater schliefen stets in dem Zimmer, das nach Südwesten geht, und der kleine Raum nach Südosten war das Gästezimmer. Außerdem gab es noch zwei kleine Schlafzimmer auf der Rückseite des Hauses für die Hausangestellten.

Ich nahm an, Florence hatte das Elternschlafzimmer übernommen, nachdem sie hier eingezogen war, und es auch jetzt beibehalten.

Mir sollte es recht sein. Ich liebte von jeher das kleine, intimere und hellere Ostzimmer. Die schräge Decke neigt sich zum Fenster hin und steigt gegen die innere Wand an, unter der das Bett steht, was dem Raum einen gewissen Ateliercharakter verleiht. Man hatte das Zimmer stets für mich freigehalten, auch wenn ich in der Schule oder auf Reisen war, und ich betrachtete es als eine Zufluchtsstätte, zu der ich jederzeit zurückkommen konnte, wenn ich wollte.

Aber auch hier hatte sich vieles verändert. Ich bebte vor Wut, während ich die Tür schloss, mich umsah und feststellte, was Florence selbst hier drinnen angestellt hatte - in einem Zimmer, das sie so hätte lassen sollen, wie es war.

Meine gerahmten Drucke, die Breughels und die anderen, befanden sich zwar noch an den Wänden, doch jetzt bildeten sie einen schreienden Gegensatz zu einer scheußlichen Rosengirlande auf einer grasgrünen Tapete. Vor dem Fenster hingen weiße Organdy-Stores und grüne Gardinen, und auf dem Boden lag ein billiger, weißer Teppich vor dem, was früher einmal mein hübsches Himmelbett aus Walnussholz gewesen war. Gewesen: denn man hatte den edlen Holzton überschmiert mit knalliger, violetter Ölfarbe, die den Augen wehtat. Zwei antike Sessel - Möbelstücke von beträchtlichem Wert - hatten die gleiche Verschandelung über sich ergehen lassen müssen, und die Frisierkommode war ganz mit blümchengemustertem Chintz überzogen, der die bildschönen, gedrechselten Beine verdeckte.

Es war zu viel auf einmal. Ich ließ mich auf den Bettrand sinken, schlug die Hände vors Gesicht und verlor die Fassung. Ich glaubte nicht, dass ich es in diesem Haus auch nur eine einzige Nacht aushalten würde. Einen Augenblick lang war ich froh, dass mein Gepäck noch draußen am Tor stand. Immerhin war es dadurch leichter, ein Taxi zu rufen und mich in ein Hotel bringen zu lassen. Zumindest bis Vaters Testament eröffnet war und ich wusste, wer von uns beiden das Haus erhalten sollte. Bis dahin konnte ich mir von unserem Anwalt das nötige Geld vorstrecken lassen.

Dann plötzlich fiel mir ein, dass ich das Haus nicht verlassen konnte. Nicht einmal für eine einzige Nacht. Ich hatte so gut wie kein Geld bei mir. Ja, ich hing vollkommen von meiner Stiefmutter ab, was meine Behausung und Nahrung der nächsten Zeit betraf. Zu dumm, dass ich mir nicht von Ellen etwas mehr Geld geborgt hatte, als ich Hollywood verließ. Sie hatte es mir angeboten, aber ich schuldete ihr ohnehin schon eine ganze Menge und wollte nicht mehr annehmen, als ich für die Reise brauchte. Genau gesagt, ich kam hierher mit knapp zehn Dollar in der Tasche.

Ich entschloss mich, wenigstens eine Nacht zu bleiben. Denn schließlich wollte ich nicht zu Florence gehen und ihr gestehen, dass ich blank war. Am folgenden Tag konnte ich mich dann mit Mr. Driscoll, Vaters Anwalt in New York, in Verbindung setzen, den ich von früher kannte.

Jedenfalls dachte ich das noch gestern. Aber nun ist der folgende Tag da, und die Dinge sehen ganz anders aus. Wie anders, habe ich wohl noch gar nicht ganz begriffen. Das ist einer der Gründe, weshalb ich glaube, dass mein Bericht mir manches erleichtern wird. Die Dinge werden durchschaubarer, wenn man sie schriftlich niedergelegt hat.

 

Es war Spätnachmittag, während ich auf meinem Bettrand saß und mir die Tränen abwischte. Nein, ich wollte Florence nicht die Genugtuung geben und ihr zeigen, dass ich geweint hatte. Ich schaute durch das Fenster, sah einen goldenen Streifen am Horizont, und das Geräusch der Brandung klang vertraut und beruhigend vom Meer zu mir herauf.

Erst jetzt bemerkte ich, wie verschwitzt und schmutzig ich war nach der langen, ermüdenden Reise von der Westküste hierher, und wieder ergriff mich eine Welle von Zorn.

Aber diesmal brachte sie mich nicht zum Heulen. Damit war ich fertig. Es war eine eiskalte Entschlossenheit, die mich vollends gegen Florence verhärtete. Ich wollte mich nicht länger in meinem Zimmer verkriechen wie ein verängstigtes Kind. Ich brauchte ein Bad und frische Kleider. Dann würde ich Florence ruhig gegenübertreten und ihr zu verstehen geben, dass ich nicht gewillt war, mich ihren Launen zu unterwerfen. Dies hier war mein Haus, und sie war der Eindringling. Wenn hier jemand ging, dann sie - nicht ich.

Ich vergaß sogar die Hässlichkeit meines Zimmers, als ich mein Gesicht im Spiegel betrachtete. Ich sah scheußlich aus. Rasch holte ich mein Schminkzeug aus der Handtasche und legte frisches Make-up auf. Sofort fühlte ich mich wohler. Dann saß ich da und dachte eine Weile nach.

Ich entschloss mich, darüber hinwegzusehen, was Florence mit dem Haus angestellt hatte. Schließlich war ich kein Kind mehr und empfand keine besondere Bindung an den Ort, wo ich jeden Sommer meiner Kindheit verbracht hatte. Im Grunde war mir Midhampton immer ziemlich gleichgültig gewesen. Sicher, es war ganz angenehm, hier zu sein in dem verschlafenen alten Städtchen, mit viel Sonnenschein und grünen Bäumen und dem Baden in der Brandung, aber die Touristen, die im Sommer hierherkamen, waren eine ziemliche Plage, und die Einheimischen waren einfach unmöglich. Ich hatte keine Freunde in Midhampton, und ich stellte mit Erschrecken fest, dass es im Grunde niemanden außerhalb Kaliforniens gab, den ich gern hatte - oder der sich über meine Anwesenheit freute.

Ich entschloss mich, das Haus sofort zu verkaufen, vorausgesetzt, Vater hatte es mir vermacht. Hatte er es dagegen Florence vererbt als Belohnung dafür, dass sie ihn sich eingefangen hatte, als er noch von Mutters Tod wie gelähmt war und sie ihn umgarnte, bis er sich schließlich widerwillig zu dieser unglückseligen Heirat entschloss - nun, dann war es mir egal. Mochte sie doch dieses verdammte Haus behalten und jede Wand in einer anderen, scheußlichen Farbe anpinseln, wie es ihrem miserablen Geschmack entsprach - mir sollte es recht sein.

Ich stand auf und öffnete leise die Tür. Von unten war kein Laut zu vernehmen. Aber die Küche liegt ziemlich weit hinten, und das Haus ist solide gebaut, so dass das Klappern der Töpfe und Teller nicht bis hier oben durchdringen kann.

Ich schlich mich an der geschlossenen Schlafzimmertür meiner Eltern vorbei zum Gästezimmer. Hier ging das Fenster hinaus auf die Vorderseite, die Veranda und die jetzt in der kühlen Abenddämmerung liegende, von Alleebäumen eingesäumte Straße.

Meine Gepäckstücke standen alle noch neben dem Tor. Ich zählte sie vom Fenster aus: sieben Stück. Ich fragte mich, weshalb länger als nötig hierbleiben - also nur, bis die geschäftlichen Angelegenheiten um den Nachlass meines Vaters geregelt waren. Aber das hatte ich ja zuvor nicht wissen können. Ich hatte keine Ahnung, welche Verhältnisse ich hier in Midhampton vorfinden würde, als ich Kalifornien verließ. Der Aufbruch war so plötzlich gewesen - ich hatte lediglich ein Telegramm erhalten, in dem mir Florence kurz und bündig mitteilte, dass mein Vater gestorben war.

Im Augenblick brauchte ich nichts weiter, als die leichte gestreifte Reisetasche, in die ich meine Toilettensachen, frische Unterwäsche und meinen neuen, türkisfarbenen Hosenanzug hatte packen lassen.

Ich wollte mir nur die Tasche holen und den Rest des Gepäcks dort unten stehenlassen, entschied ich grimmig. Sollten die Leute, die an dem Haus vorbeikamen, ruhig sehen, dass mein Gepäck noch im Freien stand, und danach mit amüsiertem Grinsen herumerzählen, dass April Haddon zwar nach Hause gekommen war, aber offensichtlich keinen längeren Aufenthalt plante.

Ich ging die Treppe hinunter. Florence war nirgends zu sehen. Ich warf einen Blick durch die Glastüren ins Wohnzimmer, aber auch dort erblickte ich sie nicht. Also eilte ich hinaus, lief zum Tor, packte die Tasche und wandte mich wieder dem Haus zu.

Ich hatte keinen Laut hinter mir vernommen, aber da stand sie plötzlich, auf dem halben Weg zwischen dem Haus und dem Tor. Ihr Gesicht war verschlossen, und ihr plumper, schwarzgekleideter Körper hob sich wuchtig von den Schatten des frühen Abends ab.

Das kam mir irgendwie unheimlich vor. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie hierhergekommen war, ohne dass ich sie bemerkt hatte. Woher wusste sie überhaupt, dass ich hinausgelaufen war? Es sieht komisch aus, wenn ich es hier niederschreibe, aber ich fühlte eine sonderbare Angst, als sie nun auf mich zukam. Ich kam mir vor wie ein Gefangener bei einem Fluchtversuch, und sie war die Wärterin, die jeden meiner Schritte aufmerksam beobachtete.

Sie blieb neben mir stehen und sagte: »Ich helfe dir deine Sachen hineintragen. Willst du denn nicht mehr als die eine Tasche tragen?«

»Ich brauche deine Hilfe nicht, vielen Dank.« Ich war überrascht über meine Stimme. Sie klang kühl und ruhig. »Für die Nacht brauche ich nicht mehr als diese Tasche, und länger werde ich ohnehin nicht hierbleiben.«

Florence stemmte ihre großen Hände in die Hüften und stand da wie die irische Waschfrau, die früher einmal bei uns gearbeitet hatte.

»Wo willst du denn morgen hingehen, April?« Ihre Frage klang keineswegs besonders neugierig, aber irgendwie flößte sie mir dennoch Angst ein. Ich hatte das Gefühl, als ob Florence sich insgeheim über mich lustig machte. Dabei kam ich mir sehr jung, dumm und hilflos vor.

»Ich bleibe auf keinen Fall länger als nötig hier in diesem Haus.«

»Aber morgen ist das Begräbnis deines Vaters.«

»Ich gehe nicht hin. Vater selbst hat sich nie viel aus Beerdigungen gemacht.

»Ich glaube, du solltest eine Weile hier in Midhampton bleiben«, meinte sie, »Es würde einem jungen Mädchen wie dir gut anstehen.«

»Ach, wirklich?« Ich versuchte zu lachen. »Du behandelst mich wie ein Kind.«

»Wenn du das vermeiden willst, dann darfst du dich nicht wie ein störrisches kleines Kind aufführen. Ich nehme dich so, wie du bist, April.« Sie hielt inne, runzelte die Stirn, doch das spöttische Lächeln verschwand nicht aus ihren Mundwinkeln. Ich hatte das Gefühl, sie würde nach einem Satz suchen, mit dem sie mich lächerlich machen konnte. Schließlich erklärte sie: »Wir sollten das besser drinnen im Haus besprechen.«

»Es gibt überhaupt nichts zu besprechen«, entgegnete ich kurz und bündig. »Ich habe in den letzten zwei Jahren immer genau das getan, was ich tun wollte.«

»Kann man wohl sagen.« Das war alles, was sie darauf zu erwidern hatte. Sie schaute mich noch einen Augenblick lang fragend an, dann hob sie die beiden schwersten Koffer hoch, als seien sie mit Daunen gefüllt. Ich hätte nicht einen davon allein schleppen können, aber mir war es egal, ob sie das Gepäck hineinbrachte oder nicht. Was ich brauchte für die Nacht, hatte ich bei mir. Ich drehte mich um und ging hocherhobenen Hauptes hinein ins Haus.

Als ich meine Tasche oben in meinem Zimmer auf den Boden stellte, stand sie unter der Tür. Sie schnaufte nicht einmal, nachdem sie die beiden schweren Koffer über die Treppe nach oben geschleppt hatte. Jetzt erklärte sie: »Die anderen Gepäckstücke kannst du dir selbst heraufholen.«

»Einen Augenblick«, sagte ich in scharfem Ton, als sie schon wieder nach unten gehen wollte. »Was hast du damit gemeint, als du sagtest, ich solle hierbleiben?«

Sie drehte sich schnell herum und schaute mir in die Augen. »Dein Vater hat sich in letzter Zeit viele Sorgen gemacht um dich, April. Ich musste ihm versprechen, dass ich versuche, dir eine gute Mutter zu sein, wenn ihm einmal etwas zustoßen sollte.«

Allein der Gedanke, sie könne die Mutterstelle bei mir einnehmen, war schon eine Beleidigung. »Mutter hat mich immer tun lassen, was ich wollte«, sagte ich erregt.