Das war noch nicht alles - Ursula Burckhardt - E-Book

Das war noch nicht alles E-Book

Ursula Burckhardt

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Beschreibung

Ich schaue zurück auf ein bewegtes Leben, welches geprägt war durch einen autoritären Vater und eine alkoholkranke Mutter. Obwohl ich nie körperliche Züchtigung erfuhr, stets genug zu essen hatte, eine Schule besuchte und einen Beruf erlernte, war es mir durch meine Eltern nicht vergönnt, eine eigene Meinung zu haben und Selbstvertrauen entwickeln zu können. Doch mein Leben führte mir Menschen zu, die mir zeigten, dass ich wichtig und wertvoll bin. Die Menschen waren hellsichtig, sie konnten mit Edelsteinen sprechen, Karten legen oder heilen. Es war ein spannender Lebensweg, den ich heute noch in Freude und Dankbarkeit, Achtsamkeit und Demut gehe. Dieses Buch soll auch anderen Menschen helfen zu glauben, zu vertrauen, nicht zu verzweifeln, nicht aufzugeben und das Gute zu sehen.

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Seitenzahl: 315

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Meine Geburt

Bei den Großeltern im Ruhrgebiet

Meine Eltern

Umzug an die Mosel

Schule und Kirche

Neue Herausforderungen für meine Mutter

Meine Erstkommunion

Karneval

Mutter ist verschwunden

Ohnmacht

Weihnachtszeit

Erste gemeinsame Urlaube

In der Realschule

Vertrauensbruch

Nach Frankreich

Die Krankheit schreitet fort

Bonn, Trier und erste Reisen

Erstes Kennenlernen

Gemeinsame Wohnung

Hochzeit und Kinder

Umzug in die Pfalz und frühe Ehezeit

Borkum

Sardinien

Kristin kommt in die Schule

Zeit, dass sich was ändert

Bekanntschaft mit Martha

Wieder im Beruf

Meine zweite Kur

Konfirmation und neue Bekanntschaften

Seniorenbildungsreise nach Rom

Eine wertvolle neue Bekanntschaft

Eine schwere Entscheidung

Gemeinsamkeiten

Der Unfall in Frankreich

Gesundheitliche Probleme bei Alex

Ein Geständnis

Ich komme zu einem Entschluss

Weihnachten 1999 und meine neue Wohnung

Weitere Kuraufenthalte

Ein neuer Mann

Der Tod meiner Mutter

Benno und ich heiraten

Bad Neuenahr

Angekommen

MEINE GEBURT

Wahrscheinlich hatte ich es mir in letzter Minute anders überlegt. So deute ich meine Geburt heute, wenn ich an sie denke. Ich blieb im Geburtskanal stecken und musste vom Arzt im Krankenhaus mit einer Zange geholt werden. Ich erblickte ich am Karfreitag, den 8.4.1955 gegen 22 Uhr das grelle Licht des Kreißsaals. In der Nacht der Fußballweltmeisterschaft 1954 gezeugt, wurde ich als erste Tochter meiner Eltern geboren, obwohl mein Vater sich sehnlichst einen Sohn gewünscht hatte.

Meine Eltern waren gerade eineinhalb Jahre verheiratet, als ich mich dazugesellte. Meine Mutter war als Krankenschwester tätig und mein Vater bei der Deutschen Bahn. Er stammte aus einem kleinen Dorf an der Ahr, in der Nähe von Remagen, und meine Mutter aus einer Stadt im Ruhrgebiet. Kennen und lieben gelernt hatten sie sich auf der Hals-Nasen-Ohren-Station einer Klinik in Bonn, wo meine Mutter als Stationsschwester arbeitete und mein Vater öfter Patient war.

BEI DEN GROßELTERN IM RUHRGEBIET

Im Alter von sieben Monaten gab mich meine Mutter in die Obhut ihrer Eltern. Sie war wahrscheinlich überfordert mit mir und sah die bessere Lösung in diesem Schritt. Die Eltern meiner Mutter bewohnten eine kleine Zweiraumwohnung im Ruhrgebiet zusammen mit der elf Jahre jüngeren Schwester meiner Mutter, meiner Tante.

Mein Opa war Bergmann auf einer Zeche und meine Oma für die häusliche Arbeit zuständig.

Opa hatte noch vier Brüder, die mit ihren Familien im Umkreis lebten.

In den Häusern der Bergarbeitersiedlung wohnten viele Menschen eng zusammen. Einige hatten hinter dem Wohnhaus einen kleinen Schrebergarten, wo sie Kaninchen oder Hühner hielten. Einige bauten auch Gemüse an und diejenigen, die noch eine Garage dazu hatten, werkelten eifrig darin herum. Zur damaligen Zeit waren nicht nur die Häuser schwarz durch den Staub der Kohle, die abgebaut und mit der geheizt wurde, auch die Luftwerte waren grenzwertig. Durch die dünnen Wände der Wohnungen hörte man die männlichen Nachbarn mit ihren Steinstaublungen husten, kämpfen und sterben. Der Tod war allgegenwärtig und wurde oft mit Erleichterung angenommen.

An die Zeit, die ich bei meinen Großeltern verbringen durfte, habe ich gute, schöne, aber auch traurige Erinnerungen. Mein Großvater war ein wunderbarer Zitherspieler. Bevor er meine Oma ehelichte, zog er mit anderen Musikanten von Dorf zu Dorf, um den Menschen eine Freude zu machen. Nun arbeitete er Untertage auf einer Zeche und das Leben spielte sich in einem kleinen Wohnzimmer ab. Wenn es sich ergab und er spielen konnte, kamen schnell Nachbarn zusammen. Dann wurde gemeinsam gesungen, getrunken und gelacht, und ich war mittendrin.

Über die Stadt flogen regelmäßig Zeppeline und wenn einer gesichtet wurde, rief meine Oma mich immer ganz aufgeregt herbei und wir winkten ihm zu und lachten. Einmal in der Woche fuhr auch ein Altwarenhändler mit einem alten Auto durch die Straße. Das weiß ich noch, denn er rief an bestimmten Haltepunkten: „Lumpen, Eisen und Papier, der Lumpenmann ist hier!“

Oma meinte später, er nehme auch unartige Kinder mit, deshalb solle ich immer darauf hören, wenn sie mir etwas sagte. Und genau das tat ich, ich funktionierte bestens, problemlos und präzise. Vor allem aber war ich immer heilfroh, dass er mich nicht mitgenommen hat.

Die junge Ehe meiner Eltern wurde schon früh auf eine gewaltige Probe gestellt, denn mein Vater erkrankte an Kehlkopfkrebs und sollte in Heidelberg operiert werden. Diese Operation hieß, Kehlkopf raus und nie mehr sprechen können.

Die Ärzte gaben ihm nur noch ein Jahr zu leben und rieten ihm, das Notwendige zu Hause zu regeln. Diese Operation beendete seine geplante Laufbahn für den gehobenen Dienst bei der Bahn. Um ihm in dieser schweren Zeit nahe zu sein, arbeitete meine Mutter auf einer Station im Klinikum Heidelberg, wo sie das Los meines Vaters begleitete und das Schicksal die Weichen stellte für beider Leben.

Es gibt eine Geschichte hierzu, die mein Vater mir Zeit seines Lebens oft erzählte und die ihn bis an sein Ende beschäftigte. Als der Tag der Operation kam und die Aufklärung durch den zuständigen Chefarzt erfolgte, der ihm sagte, dass er nach der Operation nicht mehr würde sprechen können, lief er kopf-, plan- und ziellos durch Heidelberg und landete am Bahnhof auf einer Brücke, die über die Gleise führte. Dort oben stand er und wollte seinem Leben ein Ende setzen, also runterspringen. Auf einmal sei ich neben ihm gewesen, hätte ihn angeschaut und ihn an die Hand genommen, so erzählte er es mir oft. Einen kurzen Moment nur soll dies gedauert haben, obwohl ich ja nicht körperlich anwesend war, sondern weit weg bei den Großeltern. Dieser Moment habe genügt, dass er mit sich ins Gericht gegangen sei und beschlossen habe, sein Leben nicht achtlos wegzuwerfen. Dann ist er zurückgegangen ins Krankenhaus und wurde operiert.

Doch bei allem Unglück, das nun begann, hatte er auch Glück. Der dortige Chefarzt nahm ihn unter seine Fittiche und er erlernte mit eisernem Willen eine Sprache wie ein Bauchredner. Später meinten die Leute, er sei stark erkältet, wenn er sich mit ihnen unterhielt. Aber er konnte sich verständigen.

Viel kann ich nicht über meine Kleinkindzeit sagen. Auf einmal gab es, ich war sechzehn Monate alt, ein Geschwisterkind. Im November 1956 gesellte sich eine kleine Schwester dazu, Annalena.

Sie war, so erzählte es mir meine Mutter später, ihr Mutmacher für ihren schwerkranken Mann gewesen, der damals in der Klinik in Heidelberg lag. Sie wollte ihm wieder Lebensmut geben und Hoffnung auf ein gemeinsames Leben und die Zukunft machen. Ein Kind also in einer traurigen und ausweglos erscheinenden Situation. Ich war wieder oft bei den Großeltern im Ruhrgebiet, dann kurz bei meinen Eltern, während meine Schwester häufig bei der Großmutter an der Ahr war. So hatten wir beide kaum Kontakt miteinander und sahen uns nicht viel in unserer Kinderzeit.

MEINE ELTERN

Meine Eltern wurden 1927 und 1928 geboren, sie waren also noch Kinder, als der Krieg ausbrach hier in Deutschland. Diese Zeit, die des Hungerns, aber auch, dass sie Sachen sehen mussten, die nicht für Kinderaugen bestimmt sind, wie es im Krieg Normalität ist, hat beide geprägt. Sie waren sehr gezeichnet von den Kriegswirren, über die sie nie sprachen, und haben besonders eines dadurch gelernt: Um zu überleben, mussten sie verdrängen. All die Gräuel, den grausamen Tod und die anderen schlimmen Erfahrungen, mit denen sie nicht fertig wurden, wurden ins Unterbewusstsein verschoben.

Die Wichtigkeit und die Stellung eines Sohnes in einer Familie war bei meinem Vater durch die Propaganda des Krieges noch sehr präsent. Er war der Älteste von fünf Geschwistern und musste schon früh sehr hart für und in seiner Familie arbeiten und Nahrung beschaffen. Er hatte sich so sehr Söhne gewünscht und war nun mit zwei Töchtern „gestraft“ worden. Ja, ich schreibe ganz absichtlich gestraft, denn der Wunsch, einen Sohn zu haben, war derart in ihm verankert, dass er uns zwei Mädchen wie Jungen erzog. Wir lernten früh Härte gegen uns selbst, bedingungsloses Funktionieren, sowie absoluten Respekt und Gehorsam gegenüber den Eltern. Aber auch, stets über unsere Kräfte und Ressourcen zu gehen, uns nicht hängen zu lassen, sondern zu kämpfen, Probleme stets anzusprechen, sie anzugehen, sie rasch zu erledigen und danach nie mehr darüber zu reden. Augen zu und durch, war die Parole, mehr als für ein Kind gut und normal gewesen wäre. Wir haben auch noch lange als Erwachsene nur funktioniert. Dieser Anspruch der Stärke und des Willens durchzuhalten hat mich später sehr viel Kraft und Gesundheit gekostet.

Trotz seiner Strenge erhielt sich mein Vater einen Teil seines rheinischen Humors und seinen Hunger auf Leben bis ins hohe Alter. Wir Kinder fürchteten aber auch sein aufbrausendes Wesen.

Sein Wort war wie die Bibel. Widerworte wurden nicht geduldet und in kurzer Zeit war er ein uneingeschränkter Herrscher und zwar für alle Menschen in seinem näheren Umfeld. Ja, er hatte etwas Despotisches an sich. Ich bin mir sicher, das rührte auch daher, dass er nie schreien konnte aus Wut, Zorn, Verzweiflung oder Frust.

Er regierte seine Familie mit eiserner Faust.

Meine Mutter, gezeichnet von einer bereits länger bestehenden psychischen Erkrankung, war total überfordert mit meinem Vater, seiner Operation und uns Kindern. Einige Male musste sie deshalb ins Krankenhaus zu „Therapien“. Sie suchte Anerkennung und Bestätigung für sich, doch sie suchte auch ihren Vater, der nie für sie da gewesen war, nie die Vaterrolle übernommen hatte, da er dem Alkohol sehr zusagte und an einer Steinstaublunge erkrankt war, die mit heftiger Luftnot einher ging. Ihre beginnende Alkoholabhängigkeit drückte diese Sehnsucht nach väterlicher Liebe, Zuwendung und Verständnis des männlichen Elternteils, aus. Ihre Abhängigkeit war letztlich eine ergebnislose Suche nach ihm, Zeit ihres Lebens.

Doch das erfuhr ich erst viel später in einer Familienaufstellung.

Meine Mutter war sehr musikalisch. Sie spielte Mandoline, Mundharmonika und Akkordeon.

Viele Lieder brachte sie uns bei und wir sangen gerne als Kinder mit ihr, besonders an Weihnachten oder später im Urlaub.

1958 zogen meine Eltern mit meiner Schwester und mir nach Ludwigshafen am Rhein, wohin mein Vater dienstlich versetzt wurde. Wir Kinder waren sehr oft bei der dortigen Nachbarin, die selbst keine Kinder hatte, aber uns immer eine Freude bereitete mit selbstgemachten Kartoffelchips. Ihr Mann war auch sehr kinderlieb und spielte viel mit uns. Doch auch in dieser Zeit wurden wir Kinder oft getrennt und wieder zu den Großeltern verbracht, ohne dass man uns eine Erklärung dafür gab. Wenn ich auch ein Kind war, so merkte ich doch, dass es meiner Mutter nicht gut ging. Oft hatte sie ein Glas Rotwein mit einem Ei drin und Traubenzucker auf einer Ablage in der Küche stehen und sagte, dies gebe ihr Kraft.

Mein engster Freund in dieser Zeit war ein brauner Steiff-Teddy der, wenn man ihn kippte, ein lautes „Möööh!“ von sich gab. Ihm erzählte ich immer meinen Kummer, meine Sorgen und alles, was mir wichtig war. Nach seinem „Möööh!“ hatte ich immer das Gefühl, er habe mich verstanden und sei genauso traurig wie ich.

UMZUG AN DIE MOSEL

Im Jahr 1960 wurde mein Vater nochmalig dienstlich versetzt, von Ludwigshafen nach Trier. Meine Eltern zogen mit uns Kindern an einem eiskalten Wintertag an die Mosel in die Doppelhaushälfte eines Holzständerhauses, in einem kleinen Ort in die Nähe von Trier. Es wurde viel improvisiert, bis das Zusammenleben einigermaßen klappte.

Alles war so anders für mich als Kind hier, ganz anders als bei meinen Großeltern im Ruhrgebiet.

Der Himmel war heller, viel heller. Die meisten Menschen am Ort, überwiegend Männer, arbeiteten bei der Bahn in Trier. Es war eine regelrechte Völkerwanderung morgens, wenn sie eiligen Schrittes zum Bahnhof gingen, um mit dem Zug nach Trier auf die Arbeit zu kommen.

In dem neuen Ort gab es viele Geschäfte und noch mehr Wirtschaften. Hier trafen sich abends die Männer nach ihrer Arbeit, tranken Bier, aßen Soleier aus dem Glas, das auf der Theke stand, und redeten über ihren beruflichen Alltag. Zwei der Wirtschaften hatten eine Kegelbahn, die von den Männern als Zeitvertreib und Abwechslung zu ihrem Zuhause viel genutzt wurde. In einer Wirtschaft gab es auch einen Saal, in dem sich die Menschen zum Tanzen trafen. Es gab zudem zwei Metzgereien, eine Drogerie, ein Knopf- und Stoffgeschäft, einen Schuster, ein Blumengeschäft und einen Schneider, also alles, was man brauchte. Eine Händlerin bei uns um die Ecke verkaufte Heiligenbildchen, Fleißkärtchen für die Kinder mit Käthe-Kruse-Figuren darauf für die Schule, Rosenkränze und Zigarren. Die mussten wir bei ihr für unseren Vater immer kaufen.

„Fehlfarben“ hießen die, denn mein Vater rauchte gerne Zigarren und meine Mutter Zigaretten.

Im Ort wohnte auch ein netter Gendarm, der den lustigen Namen Herr Lalla hatte. Er sorgte dort alleine für Recht und Ordnung und war ein respektierter und geachteter Polizist. Natürlich gab es auch einige Friseure. Einer von ihnen hatte einen Kinderhochsitz mit einem Pferdekopf aus Holz davor. Das Kind wurde auf den Hochstuhl gesetzt und dann, damit es ruhig saß, kam der Pferdekopf davor. Viele Kinder, besonders die Mädchen, hatten eine kurze Einheitsfrisur.

Der Stolz des Ortes aber war ein altes Kloster im gleichen Baustil wie der Bahnhof. Von hier fuhren Züge nach Frankreich, Luxemburg oder ins Saarland, ebenso nach Trier und Koblenz. Es gab in dem Bahnhof eine Fahrkartenausgabe, die später ein engagierter junger Mann besetzte, der für jeden, der durch den Bahnhof zum Zug musste, ein gutes Wort hatte.

Entlang unseres Ortsteils floss die Mosel. Diese wurde erst einige Jahre später für die Schifffahrt kanalisiert und ich erinnere mich daran, dass sie in den 1960er Jahren sogar mal zugefroren war.

Welch ein Spaß für die Menschen auf beiden Seiten, über die Eisschollen auf die jeweils andere Seite zu kommen.

So war es damals eben.

Wir hatten ein kleines Stück Garten direkt hinter dem Haus mit einem Stall, auf den man aus dem Küchenfenster blickte. Als Kind wünschte ich mir zu Weihnachten jedes Jahr ein Pony, um es da hineinstellen zu können. Jedes Jahr wurde es mir versprochen, aber nie wurde das Versprechen eingelöst. Weitere Gartenparzellen wurden von anderen Menschen bepflanzt und bewirtschaftet. Im Laufe der folgenden Jahre kauften meine Eltern Teile dazu. So konnten wir von frischem Gemüse und Obst aus dem Garten leben, welches mein Vater dort anbaute. Es gab Himbeeren und Brombeeren, Johannisbeeren in Rot und Schwarz, Mirabellen, Kartoffeln, Möhren, Erdbeeren und Kohlrabis, sowie Äpfel und Birnen. Praktisch war auch ein Brunnen, den fast jeder hier zum Bewässern der Pflanzen in seinem Garten hatte und der, dank des niedrigen Grundwasserspiegels, stets gut gefüllt war. Jede Jahreszeit brachte andere Arbeiten für den Garten, den mein Vater allein bewirtschaftete. Wie damals üblich, wurde unser Haus mit Kohlen und Briketts geheizt, bevor die Nachtspeicheröfen in der Stadt Einzug hielten.

Mit den Bewohnern der anderen Doppelhaushälfte wurde in einem gemeinsamen Kellerraum ein großer Wäschezuber betrieben. Angeheizt, Wäsche rein, auf dem Waschbrett geschrubbt und dann rausgehängt zum Trocknen. Welch eine Arbeit, welche Plage war das für die Menschen damals.

Unsere Betten bestanden aus drei Matratzen und einem dicken Oberbett, unter dem man uns Kinder fast nicht mehr sah. Im Winter, wenn Eisrosen an den Fenstern waren, bekamen wir anfangs gewärmte Ziegelsteine aus dem Ofen ans Fußende gelegt, später bauchige Kupferkannen mit heißem Wasser, damit es nicht zu kalt für uns wurde im Bett. Meine Schwester kaute häufig an ihren Fingernägeln. Da schmierte ihr meine Mutter Senf drauf und verband ihr die Hände über Nacht. Das würde sie von dieser Unart abhalten, meinte sie. Unter dem Bett stand anfangs ein Nachttopf für uns, damit wir nicht durch das kalte Haus laufen mussten, um auf die Toilette zu gelangen.

In unserem Haus gab es keine Privatsphäre.

Meine Schwester und ich bewohnten bis zu unserem 18. Lebensjahr gemeinsam ein Zimmer, das für uns außer Schlafzimmer auch Aufenthalts-und Rückzugsort war. Wenn die Eltern etwas Wichtiges zu besprechen hatten, wurden wir in dieses Zimmer geschickt und hinter verschlossener Küchentüre sprachen und besprachen die beiden dann ihre Probleme. Ich kann nichts darüber sagen, wie wir, meine Schwester und ich, in dieser Zeit harmoniert haben bei und mit unseren Eltern, denn es gab nicht viele Berührungspunkte zwischen uns. Sie ließ sich aber immer viele Nickeligkeiten einfallen, um mich zu ärgern.

Wenn ich zum Beispiel abends für den Vater eine Flasche Bier aus dem Keller holen sollte, machte sie regelmäßig das Licht aus und die Kellertüre zu. Sie fand es toll, wenn ich dann um Hilfe rief, weil ich mich im Dunkeln fürchtete. Ich merkte auch früh, dass meine Mutter ihr schneller Recht gab und sie öfter in Schutz nahm. Wenn wir Kinder uns stritten, wurde dies sehr schnell von ihr beendet mit den Worten: „So, gebt euch jetzt einen Kuss und vertragt euch wieder“, was wir dann, wenn auch immer noch wütend auf den anderen, auch taten beziehungsweise tun mussten.

Leider hatten wir anfangs mit den wenigen Kindern in unserer Straße sprachliche Verständigungsprobleme, denn wir sprachen Hochdeutsch.

Sie hielten uns deswegen für Flüchtlinge. Uns ging es anfangs genau so, wir verstanden den Dialekt, das Moselfränkisch der Kinder nicht. Aber, und das ist das Schöne bei Kindern, sie lernen schnell und spielend und so ging es uns auch.

Die Straße vor unserem Haus war noch nicht asphaltiert, es war eine Staubpiste, sehr uneben und mit Steinen übersät. Direkt vor unserem Haus lag die Bahnlinie nach Luxemburg und Frankreich.

Zur damaligen Zeit fuhren viele Soldaten aus Trier, das eine Garnisonsstadt der französischen Armee war, am Wochenende in ihr Heimatland.

Dann standen wir Kinder immer am Bahndamm und winkten ihnen und sie uns zu. Manchmal warfen die Soldaten uns aus den Zugfenstern Äpfel zu, um uns eine Freude zu machen. Die Züge wurden damals noch von riesigen schweren eisernen Dampfloks gezogen, die weißen oder dunklen Qualm in die Luft bliesen. Es roch oft nach Kohle.

Wenn wir mit unseren Eltern im Ort unterwegs waren, zum Beispiel einen Spaziergang machten, mussten wir Mädchen einen Knicks vor jedem machen, der uns begegnete und die Person dann mit „Guten Tag, Herr Meier, guten Tag, Frau Müller“ ansprechen. Ein absolutes Muss! Überhaupt achteten meine Eltern sehr darauf, wie die Menschen um uns herum auf sie reagierten.

Wenn ein Sturm aufzog oder ein Gewitter, saßen wir Kinder mit der Mutter auf der Holztreppe im Haus und mussten mit ihr beten, dass unser Haus verschont bleiben möge von Unwettern und Blitzen. Sie hatte immer eine Riesenangst, da das Haus aus Holz war. Diese Angst übertrug sie auch auf uns Kinder.

Etwas Schönes zu Hause war, dass meine Mutter es liebte, zu singen. Selten wurde das Radio angemacht oder Schallplatten aufgelegt, aber Lieder aus dem Leben, Volkslieder eben, die wurden von uns gesungen. Entweder klapperte die Mühle am rauschenden Bach oder Mariechen saß weinend im Garten, es blühte die Erika in der Heide, die hohen Tannen wiesen die Sterne und das Wandern war des Müllers Lust. Es waren Lieder, deren Texte ich noch heute kenne. Dabei sang meine Mutter immer die zweite Stimme, was sich für uns schön anhörte.

Mein Vater hatte sich in die Musik von James Last verliebt und hörte gerne Operetten und Opern-Ouvertüren. Durch eine Bekannte, die in einem Schallplattenladen arbeitete, bekamen wir sogar kleine „Schallplatten“ aus Papier. Wenn man die auf den Plattenspieler legte, fuhr der Tonarm drüber und man erhielt Tipps und Infos zu neu erschienenen Schlagern und Sängern.

Mein Vater war sehr fromm erzogen worden.

Kirche war überwichtig für ihn. Ein schöner Brauch war es deshalb, dass er, bevor er einen Laib Brot anschnitt, mit einem Brotmesser natürlich, denn es gab ja noch keine Brotmaschinen, das Kreuzzeichen auf den Brotlaib machte, als Dank quasi.

Ein Festtag war infolge der Religiosität der Namenstag eines jeden. Geburtstage wurden noch nicht beachtet. Dann kam immer ein Glückwunsch von den Omas zum Festtag in Form eines Briefes mit etwas Geld drin und es wurde ein Kuchen gebacken. Eigentlich gab es immer Marmorkuchen bei uns.

Gerne denke ich auch an die Weihnachtstage zurück. Das war natürlich immer der Höhepunkt des Jahres in unserer Familie. Im Monat Dezember durften meine Schwester und ich nach Trier ins Stadttheater. Alle Sitze dort waren komplett besetzt mit Kindern jeden Alters. Es wurde viele Jahre „Peterchens Mondfahrt“ als Weihnachtsmärchen und zur Einstimmung auf die Weihnachtszeit aufgeführt. Das war etwas, das mich total faszinierte und verzauberte. Ich flog mit Peterchen zum Mond und erlebte immer hautnah, wie er das Beinchen von Herrn Sumsemann zurückbrachte. Im Anschluss an diese Aufführungen stand der Nikolaus auf der Treppe des Theaters und jedes Kind bekam vom ihm eine Tüte mit viel Süßem drin. Wir wussten doch nicht, dass die Deutsche Bahn das organisiert hatte, für die Kinder der Bediensteten.

Die Wohnung wurde am Weihnachtsvortag geputzt und am Heiligen Abend war vormittags für alle Badetag. Wir Kinder kamen in eine Zinkwanne, die wir eh einmal in der Woche abwechselnd bestiegen. Es wurden zwei Stühle zusammengestellt und die mit warmem Wasser vom Ofen gefüllte Zinkwanne darauf platziert.

Danach wurden wir eingeseift, abgetrocknet und schön angezogen. Auch meine Eltern zogen sich für den Festtag immer etwas besonders Schönes an. Meine Mutter entschied sich oft für ein langes Kleid und mein Vater für einen Anzug. Wir Kinder warteten in unserem Zimmer, bis das Glöckchen aus dem Wohnzimmer erklang, welches uns signalisieren sollte, das Christkind sei da. Dann betraten wir mit roten Backen und ganz aufgeregt das Wohnzimmer. Natürlich wollten wir viele Jahre lang das Christkind auch mal kennenlernen, doch meine Mutter sagte immer: „Gerade ist es fort geflogen weil es noch zu anderen Familien und Kindern muss.“ Im Wohnzimmer stand ein Tannenbaum, geschmückt mit einigen Kugeln, Lametta und echten Kerzen, der den Raum erhellte und eine mystisch schöne Atmosphäre schuf. Es war eine besondere Stimmung für uns Kinder. Wir sollten erst ein Gedicht aufsagen, um uns würdig zu zeigen für die Geschenke des Christkindes. Dann spielte meine Mutter Weihnachtslieder auf der Mundharmonika oder dem Akkordeon und wir sangen dazu. Die Geschenke waren damals noch praktisch ausgesucht, ein Leibchen zum Warmhalten oder Unterwäsche.

Das Schönste war ein Leckerteller mit Süßem drauf. Das war damals eine Orange, einige Nüsse und Äpfel, dazu Plätzchen, die schon wochenlang vorher gebacken und versteckt worden waren.

Als wir Kinder schreiben konnten, also in der Schulzeit, gab es für die Eltern zu Weihnachten eine Weihnachtskarte und selbstgebastelte Sterne aus Stroh oder Aluglanzfolie aus dem Unterricht.

Und was wünschte sich unsere Mutter jedes Jahr von uns? Immer nur, liebe Kinder zu haben.

Sonst nichts.

Weihnachten, das bedeutete für uns Kinder früher auch dicke Schneeflocken. Das Wetter war noch stimmig und die Winter hart. Oft klopfte es kurz nach der Bescherung an unser Wohnzimmerfenster und da standen, wie Schneemänner, der Opa und die Oma aus dem Ruhrgebiet, die mit dem Zug angereist waren, um mit uns Weihnachten zu feiern. Auf diesen Besuch freute ich mich immer besonders, denn die Großeltern gingen einige Tage nach Weihnachten mit uns zum Essen aus. Wir besuchten eine nahegelegene Wirtschaft, in der der Chef selbst kochte. Dann durfte ich beim Essen immer meine Bratensoße mit Kartoffeln und Salat zusammenpanschen. Ich fand das superlecker!

Meine Oma hatte eine besondere Gabe, auf Fragen mit einer Weisheit zu antworten. Diese verstand ich früher aber noch nicht, erst in späterer Zeit. Ihr Lieblingsspruch war: „Spare, lerne, leiste was, dann hast du, bist du, kannst du was.“ Oder:

„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Wenn wir mit ihr über die Eltern sprachen, sagte sie gerne: „Sei deiner Eltern Freude, beglücke sie durch Fleiß, dann erntest du im Leben dafür den schönsten Preis.“ Solche Sprüche verfestigten sich natürlich durch die Häufigkeit des Aufsagens und noch heute sind sie mir geläufig.

Ich erinnere mich auch, dass meine Eltern an Weihnachten immer eine brennende Kerze auf die Fensterbank stellten. Wenn wir sie fragten, warum diese dort stehe, sagten sie uns, die sei für die Menschen in Ostdeutschland, die bräuchten das Licht.

SCHULE UND KIRCHE

Während meine Schwester den Kindergarten am Ort besuchte, der von einer strengen Nonne geleitet wurde, kam ich in die Volksschule. Ich war ein sogenanntes Kann-Kind, denn ich war von meinem Alter her noch nicht ganz schulpflichtig.

Es begann also schon früh der Ernst des Lebens für mich.

Eine Schulklasse bestand damals aus zwei Jahrgangsklassen in einem Raum, die nacheinander unterrichtet wurden. Der Direktor kontrollierte jeden Morgen, ob jemand von den Schülern Fingernägel gekaut hatte, und schlug demjenigen dann mit einem Rohrstock auf die Finger. Wenn er die Klassentüre aufmachte, sprangen wir Schüler auf und riefen: „Guten Morgen, Herr Direktor!“ Dann legten wir die Hände gerade ausgerichtet auf unser Pult und er ging reihum und kontrollierte die Fingernägel. Unsere Lehrerin, die nur kurze Zeit lang bei uns blieb, schlug den Jungen oft mit einem Rohrstock auf die Oberschenkel und drehte den Mädchen, wenn sie während des Unterrichtes miteinander redeten, die Ohren schmerzhaft um.

Meine Schulklasse bestand aus zehn Kindern, allesamt katholisch. Die evangelischen Kinder besuchten eine eigene Schule am Ort. Unser Schulranzen war aus Leder mit einem Schwamm außen dran, einem Griffelkasten und einer Schiefertafel drin, auf der wir das Schreiben übten.

Einmal in einem halben Jahr war Wandertag. Wir fuhren nirgendwo hin, nein, wir wanderten wirklich noch in der näheren Umgebung auf einen Berg, hatten im Ranzen ein Butterbrot oder einen Apfel und verspeisten dies mit viel Appetit, wenn die Lehrerin uns im Gras niedersitzen hieß.

Bald kam eine neue, sehr nette Lehrerin, die uns Kinder auch wirklich als Kinder sah und an Karneval einen Nachmittag mit uns in der Schule organisierte, um das zu feiern. Wir durften uns maskieren und so bunt angezogen in die Schule gehen. Dann spielte sie mit uns Zirkus (wir hatten bis dahin noch keinen gesehen). Es gab den Clown, den Cowboy, den Indianer, die Prinzessin, die Seiltänzerin und den Zirkusdirektor. „Alle sind für den Zirkus wichtig“, sagte sie zu uns.

Daran denke ich heute noch gerne zurück. Das Schönste aber war, dass wir sie über unsere gesamte Volksschulzeit behielten. Wenn wir gute Noten bekamen, wurden diese immer mit einem Fleißbildchen von ihr belohnt, die in dem kleinen Laden am Ort verkauft wurden. Um diese Bildchen setzte ein richtiges Wetteifern ein.

Meine Schulfreundin hieß Martina. Wir standen schon am ersten Schultag mit unseren Schultüten nebeneinander mit unseren Müttern in der Klasse und blieben über die gesamte Volksschulzeit befreundet. Sie war so alt wie ich und wir saßen auch im Unterricht nebeneinander. Ich liebte Diktate und besonders Lesen und Schreiben.

Als einzige Schülerin in meiner Klasse glaubte ich mit über sechs Jahren noch an den Osterhasen.

Als ich meinen Glauben daran vehement vor den Jungen der Klasse verteidigte, wurde ich von ihnen ausgelacht. Total erbost kam ich nach Hause und konfrontierte meine Mutter damit, dass die Kinder in der Schule gesagt hätten, es gebe keinen Osterhasen. Woraufhin sie nur lapidar meinte: „Es war aber schön, solange du an ihn geglaubt hast.“

Einige Jungen aus der Klasse waren auffällig und aggressiv. Sie suchten sich das schwächste Glied in der Klasse, ein Mädchen, das sich nicht wehren konnte, aus, um es im Winter mit Schneebällen zu bewerfen, auf dem Heimweg zu ärgern oder so rüde an seinem Schulranzen zu ziehen, dass es hinfiel.

Ein Zahnarzt besuchte einmal im Jahr die Klassen und begutachtete unsere Zähne. Wenn sie gepflegt waren, bekamen wir einen Zahnbecher, Zahnbürste und Zahncreme. In den ersten Schuljahren kam auch regelmäßig ein Bus, der eine Röntgenstation beherbergte. Darin wurden wir Kinder auf Tuberkulose untersucht.

Jedes Jahr machte ein Marionettentheater Halt an unserer Schule und spielte uns ein Stück mit dem Verkehrskasperl vor. Der führte uns zusammen mit dem Polizisten, seiner Großmutter und einem Krokodil spielerisch vor, wie man sich im Verkehr zurechtfindet und was man unbedingt beachten soll, um nicht von einem Auto überfahren zu werden. Für diese Aufführung wurde eine kleine Kulisse aufgebaut und wir Kinder saßen dicht an dicht gedrängt vor dieser und fieberten mit Kasperle mit, wenn das Krokodil oder ein Bandit etwas Böses gegen ihn im Schilde führte.

Ein Lehrer war, genau wie ein Pastor, zur damaligen Zeit eine hochgeachtete Persönlichkeit und Respektsperson des öffentlichen Lebens. Daher unternahm kein Elternteil etwas gegen Züchtigungen oder Übergriffe dieser Obrigkeiten. Der Lehrer hatte in ihren Augen immer Recht. Das Züchtigen der Kinder, besonders der Jungen, setzte sich in der Kirche fort. Dort war es ein alter Mann, der sich das Recht nahm, natürlich mit Einverständnis des Pfarrers, während des Gottesdienstes die Kinder, besonders die Jungen, die miteinander redeten, an den Ohren aus der Bank zu ziehen, auch zu zerren und sie bis zum Ende des Gottesdienstes im Gang stehen zu lassen. Jeder konnte dies sehen in der damals noch gut gefüllten Kirche, doch niemand tat etwas dagegen.

Es herrschte in den Gottesdiensten eine strikte Hierarchie. Die Jungen saßen vorne rechts, wenn man die Kirche betrat, und hinter ihnen die Männer. Die Frauen und Mädchen mussten auf der linken Seite Platz nehmen. Der sonntägliche Kirchgang war absolute Pflicht und der damalige Pastor musste eine gute Quelle gehabt haben, um die Unmengen an Weihrauch zu kaufen und damit zu räuchern. Oft fielen die Kinder in den ersten Reihen um oder es wurde ihnen schlecht von diesem intensiven Geruch. Der Pastor war ein durch und durch geachteter Theologe, der eine volle Kirche stets für seine langen Predigten nutzte. Als Kind war ich immer fasziniert von den schönen Kirchenliedern wie „Großer Gott, wir loben dich“ und die Osterlieder von der Auferstehung Jesu, aber besonders gerne sang ich laut die Marienlieder mit. Da fühlte ich mich dem lieben Gott nahe und stellte mir vor, dass er sich jetzt besonders über mich freute. Ein jüngerer Küster, der begnadet und laut die Orgel spielte, trug zu diesem Feeling bei.

Der katholische Priester war oft ekelhaft zu den Jungen in der Klasse. Er schlug ihnen viel zu oft auf die kleinen Hände, was ihm offensichtlich viel Freude machte. Doch als angesehene Person der Öffentlichkeit wurde er von den Erwachsenen geachtet, hofiert und verehrt, während viele Kinder zitterten, wenn sie ihn sahen.

Dieser Pastor und seine Haushälterin, die immer mit dem Kopf wackelte und bei uns Kindern nicht beliebt war, lehrten in der Schule das Fach Religion. Wir hörten viel von Strafe, Sünde, Fegefeuer, Satan und Hölle sowie Gehorsam gegenüber der Kirche und ihren Vertretern. Natürlich wollten wir Kinder in den Himmel kommen und gelobten bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass wir immer keusche Gedanken haben wollten und nie lügen würden. Dass wir immer die Kirche achten und alles tun würden, um gute Menschen und noch bessere Christen zu sein. Der liebe Gott sollte sich freuen über unsere Taten.

Die Intensität der Erklärungen des Pastors über die Hölle und das Fegefeuer trug zu unseren Ängsten und Albträumen bei, genau wie die Vorstellung vom Teufel. Der versuche einen ständig auf seine Seite zu ziehen, erzählte uns der Pastor oft.

In der damaligen Zeit hielt die Kirche noch Prozessionen ab, so auch an Mariä Himmelfahrt.

Dann ging dieser Pastor unter einem Baldachin, welcher von vier Männern getragen wurde, lauthals singend und betend den Weg zu einer, für uns Kinder weit entfernten Kapelle und fast der ganze Ort lief hinterher, singend und betend und festlich gekleidet. Nach einem Kurzgottesdienst am Ziel und dem Segen des Pfarrers löste sich die Menschenmenge auf und es ging nach Hause zum Sonntagessen.

Viele Frauen unseres Ortes gestalteten den Festtag Fronleichnam mit. Da wurden, vor Altären, die in alle vier Himmelsrichtungen des Ortes aufgestellt worden waren, aus Blüten, Blumen und Pflanzen schöne Bilder, Motive und Blütenteppiche gefertigt. An diesem Tage besuchte der Pastor mit der ganzen Gemeinde die vier Altäre und alle beteten gemeinsam davor.

Eine schöne Tradition war es auch, zu Weihnachten in der Kirche eine große Krippe aufzubauen mit allen Figuren der Weihnachtsgeschichte. Da saß eine kleine Figur mit dunklem Aussehen darin, ein Mohr, wie er hieß, der ein Kästchen vor sich auf dem Schoß hatte. Wenn man eine Münze einwarf, nickte er stets dankbar mit dem Kopf.

Die Frauen trugen im Haus und bei der Gartenarbeit täglich Kittelschürze und viele hatten ein Kopftuch umgebunden. Einige begannen, um Geld zu verdienen, mit einer Verkaufstätigkeit als Avon-Beraterin. Sie gingen mit einem Koffer voll Kosmetiksachen der Firma, also Lippenstiften oder Duftflakons, von Haus zu Haus und priesen ihre Produkte bei einer Tasse Kaffee und einem gemütlichen Gespräch an in der Hoffnung, einiges davon verkaufen zu können. Auch uns besuchte eine solche Beraterin und bevor sie wieder ging, bekamen meine Schwester und ich von ihr manchmal einen kleinen Lippenstift geschenkt.

Die Herren der Schöpfung waren die „ungekrönten Könige“. Als Alleinverdiener hatten sie meist das Sagen und die Übersicht über die Finanzen.

Für sie stand Flaschenbier im Keller, das noch Bügel als Verschluss hatten. An Samstagen wurde bei uns der Nudelteig für die sonntägliche Rindfleischsuppe vorbereitet, getrocknet wurde er auf einem Besenstiel und am nächsten Tag geschnitten. Fleisch war noch ein kostbares Gut und nur für den Sonntag vorgesehen, es wurde allerdings schon samstags zubereitet. Das größte Stück gebührte noch viele Jahre immer dem Mann, meinem Vater.

Am Sonntag ging mein Vater nach dem Mittagessen mit uns Kindern regelmäßig auf den nahen Berg spazieren. Immer und immer wieder die gleiche Strecke. Jeden Sonntag! Meine Mutter ging nie mit. Sie müsse sich ausruhen, hieß es, sie werde unsere Abwesenheit für einen kleinen Schlaf nutzen.

In einem Tante-Emma-Laden um die Ecke gab es frische Kuhmilch, die wir in Blechkannen holten und später auch frische geschlagene Sahne. In eine Schüssel gefüllt, die wir dorthin mitnahmen, gab es diese für 10 oder 20 Pfennig. Manchmal durfte ich mir für den Schulweg, natürlich zu Fuß, ein Brötchen mit einem Mohrenkopf kaufen in einer Bäckerei, die auf dem Weg lag. Der Chef und Bäckermeister wurde Sprecher bei Radio Luxemburg und war eine Persönlichkeit im Ort.

Die Küche unseres Hauses war Versammlungs-, Besprechungs- und gemeinsamer Essensort für die Familie. Das Wohnzimmer wurde, wenn überhaupt, nur sonntags kurz benutzt. Ein Fernseher kam erst später dazu. Das war in der Anfangszeit ein ganz besonderes Erlebnis. Es hieß, der Fernseher strahle und man dürfe nur fünf Minuten am Tag davorsitzen, so die Aussage meiner Eltern. Da lagen meine Schwester und ich auf dem Teppich vor dem Gerät und als sich das Bild gerade aufgebaut hatte, war fast schon wieder Schluss mit Gucken. Soweit ich mich erinnern kann, haben wir gerne die „Augsburger Puppenkiste“ gesehen, den „Kater Mikesch“ und später „Jim Knopf“ und „Pinocchio“. Es gab auch andere schöne Sendungen wie die mit dem mutigen Hund Rin Tin Tin, Mister Ed, dem sprechenden Pferd, und Fury. Später „Flipper“ und die „Bezaubernde Jeannie“. Sprüche wie „Und seine große Stunde kam, immer wenn er Pillen nahm“ sind mir heute noch im Kopf, er gehörte zu einem Film, dessen Held eigentlich recht farblos war, aber viel Kraft bekam, wenn er seine Pillen nahm. Stanley Beamish hieß er.

Als ich in der zweiten Klasse war, meldeten meine Eltern uns Kinder zum Klavierunterricht bei einer älteren, alleinstehenden Klavierlehrerin an. Dies machte mir große Freude und sie hielt mich für begabt, dieses Instrument zu erlernen.

Leider dauerte diese Freude nur zwei Jahre, dann zog die Dame weg und es wurde nie mehr daran angeknüpft, meine Fähigkeit zu fördern.

NEUE HERAUSFORDERUNGEN FÜR MEINE MUTTER

Meine Mutter begann am neuen Ort, wir wohnten gerade drei Jahre dort, als Gemeindeschwester zu arbeiten. Ihr Arbeitgeber war die katholische Kirche und ihr Vorgesetzter der bereits beschriebene Pastor, der nun oft zu uns nach Haus kam. Wenn er unsere Mutter besuchte, mussten wir Kinder uns jedes Mal auf sein Geheiß hin auf seinen Schoß setzen, was uns Unbehagen einflößte, von meiner Mutter jedoch unterstützt wurde. Diesem Pfarrer sollten meine Schwester und ich oft, im Auftrag der Mutter, Medikamente ins Pfarrhaus bringen. Zu diesem Anlass zog sie uns immer ein schönes Kleidchen an. Mir waren das Pfarrhaus und die damalige Haushälterin mehr als suspekt und mein Gefühl belog mich nicht, es hatte etwas grausam dunkel Gruseliges. Der Herr Pastor war der Arbeitgeber meiner Mutter, er war die Person, die uns Kinder zur Kommunion führte und firmte. Sein dunkles Geheimnis kam erst viel später ans Licht.

Direkt neben unserem Wohnzimmer, genauer gesagt zwischen Wohnzimmer und Küche, befand sich nun eine neu eingerichtete Behandlungspraxis für die Patienten meiner Mutter. Diese war mit allem ausgestattet, was man für die Behandlungen brauchte: einer Krankenliege, einem großen Rotlicht, einem Schrank mit Medikamenten und einem Sterilisator für die Spritzen, die sie damals noch selbst säubern musste. Die Kranken kamen tagsüber, aber auch nachts aus unterschiedlichsten Gründen und mit unterschiedlichsten Krankheiten. Meine Mutter wurde zu Geburten gerufen, gab den Patienten hier zu Hause Rotlicht, Spritzen und Medikamente, machte Einreibungen und Ohrspülungen. Sie war eine gute Krankenschwester, fachlich firm und hatte immer einen guten Rat oder Tipps für andere Menschen und ein offenes Ohr für deren Anliegen. Der Beruf war für sie wichtig und stand immer an erster Stelle, weil sie durch ihn Anerkennung bekam. Erst danach kam für sie ihre Familie.

Der Pastor war es auch, der unser erstes Auto, einen VW Käfer, im Rahmen einer Zeremonie im Vorgarten segnete. So richtig mit Talar, Weihwasser und vielen Gebeten, während die Menschen aus einem gerade vor dem Haus haltenden Zug neugierig zusahen. Wir standen um das Auto herum und beteten zusammen, dass es allzeit fahrtüchtig sein und uns stets gesund überall hinbringen möge. Dieses Auto bekam meine Mutter 1964, nachdem sie einen Tag vor meiner Kommunion die Führerscheinprüfung bestanden hatte.

MEINE ERSTKOMMUNION

Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag meiner Erstkommunion. Wie freute ich mich schon lange vorher auf meinen Festtag, war stolz auf die vielen Besucher, von denen einige bereits am Vortag eintrafen, um mit uns zu feiern. Meine Eltern hatten mich darauf vorbereitet und betont, welch wichtiger Tag die Kommunion im Leben sei. Das ganze Haus füllte sich mit Leben. Meine Oma väterlicherseits kam mit ihrem jüngsten Sohn in einer Isetta vorgefahren, einem Kultauto, das nur zwei Sitze hatte und dessen einzige Türe nach vorne aufging. Eine „Tante“ kam aus Luxemburg zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Ihr taubstummer Sohn war ein früherer Patient meiner Mutter gewesen. Von dieser Frau bekam ich zu meinem Festtag meine erste goldene Kette mit einem Kreuz als Anhänger und von meinen Eltern die erste Armbanduhr. Die Stimmung, besonders unter den Erwachsenen, war sehr ausgelassen und ich hatte irgendwie nicht das Gefühl, dass ich der Mittelpunkt des Festes war.

Auf meine eh schon sehr kurz geschnittenen Haare setzten die Eltern mir ein kleines weißes Halbkränzchen. Alle Mädchen hatten schöne