Das Weihnachtslied - Angelika Schwarzhuber - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Weihnachtslied E-Book

Angelika Schwarzhuber

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn Das Weihnachtslied erklingt, werden alle Herzen höher schlagen …

Mia probt für das weihnachtliche Schulkonzert, als der neue Musiklehrer Daniel sie von heute auf morgen ersetzen soll. Dann stirbt auch noch überraschend ihr geliebter Vater. Valerie reist von New York an den Chiemsee, um ihrer Zwillingsschwester beizustehen. Den Schwestern fällt es schwer, nach den langen Jahren, in denen sie seit der Scheidung der Eltern getrennt waren, wieder zur alten Vertrautheit zu finden. Noch nicht einmal ihr gemeinsamer Freund Sebastian kann vermitteln. Da entdeckt Mia Noten für ein geheimnisvolles Weihnachtslied, das ihr Vater einst geschrieben hat. Und damit beginnt sich alles zu verändern ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 444

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Mia probt für das weihnachtliche Schulkonzert, als der neue Musiklehrer Daniel sie von heute auf morgen ersetzen soll. Dann stirbt auch noch überraschend ihr geliebter Vater. ­Valerie reist von New York an den Chiemsee, um ihrer Zwillingsschwester beizustehen. Den Schwestern fällt es schwer, nach den langen Jahren, in denen sie seit der Scheidung der Eltern getrennt waren, wieder zur alten Vertrautheit zu finden. Noch nicht einmal ihr gemeinsamer Freund ­Sebastian kann vermitteln. Da entdeckt Mia Noten für ein geheimnisvolles Weihnachtslied, das ihr Vater einst geschrieben hat. Und damit beginnt sich alles zu verändern …

Autorin

Angelika Schwarzhuber lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Stadt an der Donau. Sie arbeitet auch als erfolgreiche Drehbuchautorin für Kino und TV. Für das Drama »Eine unerhörte Frau« wurde sie unter anderem mit dem Grimme Preis ausgezeichnet. Zum Schreiben lebt sie gern auf dem Land, träumt aber davon, irgendwann einmal die ganze Welt zu bereisen.

Von Angelika Schwarzhuber ebenfalls bei Blanvalet erschienen:

Liebesschmarrn und ErdbeerbluesHochzeitsstrudel und ZwetschgenglückServus heißt vergiss mich nichtDer WeihnachtswaldBarfuß im SommerregenDas Weihnachtswunder

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Angelika Schwarzhuber

Das Weihnachtslied

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Redaktion: Alexandra BaischUmschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Skreidzeleu; JBOY; Woskresenskiy) und Oliver Rossi/Corbis/Getty Images

LH ∙ Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24322-7V002

www.blanvalet.de

Für Helmut – es ist immer noch unfassbar, dass du nicht mehr da bist.

Kapitel 1

Prien am Chiemsee in Oberbayern Ende November

MIA

»Das war schon richtig gut, aber ihr könnt es noch besser!«, sagte Mia und nickte den Mitgliedern des Schulchores aufmunternd zu. »Also, noch ein letztes Mal, dann habt ihr es für heute geschafft!«

Die knapp dreißigjährige Mia Garber war Musiklehrerin und bekannt dafür, ihren Schülern alles abzuverlangen. Und doch gab es niemanden, der sich darüber beschwert hätte. Ganz im Gegenteil. Der Musikunterricht und die ­Gesangs-AG bei Frau Garber zählten zu den Höhepunkten des wöchent­lichen Unterrichtes. Für die musischen Schüler des Gymnasiums auf Schloss Willing am Chiemsee war es ein Privileg, Teil des Chores zu sein. Nur die Allerbesten der Mittel- und Oberstufe durften bei Frau Garber mitsingen.

»Und Achtung!«

Mia spielte auf dem Klavier die ersten Töne des französischen Liedes Minuit, Chrétiens von Placide Cappeau und Adolphe Adam, das vielen womöglich eher in der englischen Version unter dem Titel Oh Holy Night aus dem Film Kevin – Allein zu Haus bekannt war.

Nach ein paar Sekunden setzten die Schüler ein, trugen das Lied zuerst in seiner französischen Originalfassung, dann auf Englisch und schließlich in der deutschen Version vor.

Das Thema des diesjährigen Weihnachtskonzertes, das traditionell einen Tag vor dem Heiligen Abend aufgeführt wurde, lautete »Eine musikalische Weihnachtsreise«. Schon jetzt, Ende November, waren die Karten dafür restlos ausverkauft.

Gemeinsam mit ihren Schülern hatte Mia Musikstücke aus unterschiedlichen Ländern ausgewählt. Die »Reise« war jedoch nicht nur geografischer Natur, sondern bezog sich auch auf verschiedene Epochen.

Es hatte Mia positiv überrascht, dass ihre Schützlinge ­sowohl ein traditionelles Weihnachtslied aus dem 16. Jahrhundert vorgeschlagen hatten, wie auch moderne Weihnachtssongs aus den Radiocharts. Das Ergebnis war eine äußerst vielfältige Mischung, die Mia jedoch erst noch von der Direktorin absegnen lassen musste. Das hätte sie am liebsten noch eine Weile hinausgezögert, denn Frau Wurm-Fischer – ein Doppelname, der hinter vorgehaltener Hand nicht nur bei Schülern für freche Bemerkungen sorgte – würde erfahrungsgemäß kritisieren, dass zu wenige klassische Stücke zum Repertoire gehörten.

Seit mehr als drei Jahren arbeitete Mia bereits als Musik­lehrerin und Chorleiterin am privaten Gymnasium, und noch immer musste sie vor jedem Konzert und jeder musi­kalisch untermalten Schulveranstaltung um die Lieder kämp­fen, die sie mit ihren Schülern vortragen wollte. ­Dabei gerieten die Schulleiterin und Mia sich regelmäßig in die Haare. Doch der Erfolg gab der jungen Lehrerin letztlich recht. Früher waren die Aufführungen des Schulchores mittelmäßige Veranstaltungen und für Eltern wie Schüler ein notwendiges Übel gewesen. Inzwischen waren die beiden Konzerte im Sommer und an Weihnachten buchstäblich die Highlights des Schuljahres und lockten Gäste von nah und fern, auch solche, die keine Kinder am Gymnasium hatten. Somit willigte die Direktorin am Ende doch meist zähneknirschend ein, auch wenn sie ihre Abneigung gegenüber der unkonventionellen Lehrerin kaum verbergen konnte. Im Gegensatz zu ihr liebten die Schüler Mia umso mehr. Mit ihr fegte ein frischer Wind durch das etwas verstaubte Schloss Willing.

»Egal ob ihr singt, komponiert oder ein Instrument spielt – Musik muss immer tief aus eurer Seele kommen, damit sie die Herzen der Zuhörer berühren kann. Also traut euch für diese Momente, andere in euer Innerstes blicken zu lassen.«

Diese Worte ihres Vaters ­Albert begleiteten sie schon ihr Leben lang, und mit ihnen ermunterte sie auch ihre Schützlinge, über sich hinauszuwachsen.

Als das Weihnachtslied zu Ende war, nickte sie ihnen zu.

»Na also – geht doch!«, sagte sie lächelnd.

Auf den Gesichtern der Schüler machte sich ein erleichtertes Grinsen breit.

»Sie sollten niemals an uns zweifeln, Frau Garber«, rief Joshua, ein Schüler aus dem Abiturjahrgang, der seit ihrem ersten Jahr an der Schule Sänger im Chor war.

»Mit dem Wissen wächst der Zweifel«, entgegnete sie ihm mit theatralisch erhobenem Zeigefinger.

»Sagte schon der alte Johann Wolfgang von Goethe«, ­ergänzte Joshua.

»Ganz genau, du Oberschlaumeier!«, gab sie zurück, meinte es jedoch nicht böse. Joshua war nicht nur ein sehr talentierter Sänger, sondern auch ein liebenswürdiger intelligenter Bursche, der ihr inzwischen sehr ans Herz gewachsen war.

Sie warf einen Blick auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Noch fünf Minuten bis zum Ende des Unterrichts.

»So, Ihr Lieben. Das schaffen wir gerade noch … Mirko, heute bist du dran«, sprach sie einen hochgewachsenen Zehntklässler an. Der Junge trat nach vorne und räusperte sich. Mia gab am Klavier den Ton vor, dann begann er zu singen.

In ihrem ersten Jahr am Gymnasium hatte Mia mit den damaligen Schülern des Chores ein Lied getextet und komponiert, das in jedem Schuljahr um eine Strophe erweitert wurde. Alle nannten das schwungvolle Stück mit dem lebens­frohen und aufmunternden Text nur »Das Letzte«, weil es immer am Ende des Unterrichts gesungen wurde. Dabei durfte abwechselnd jeweils ein Schüler die Hauptstimme singen.

Als das Lied zu Ende war, verließen die Schüler gut gelaunt das Musikzimmer im Westflügel des kleinen Schlosses, in dem die Schule schon seit mehr als einem halben Jahrhundert untergebracht war. Als Träger der Schule fungierte inzwischen eine Stiftung, die es als ihre Aufgabe sah, neben den Sprösslingen gut betuchter Eltern auch Kindern aus weniger privilegierten Familien den Zugang zu einer erstklassigen Schulausbildung zu ermöglichen und sie mit einer Art Stipendium zu unterstützen. Einige wohnten sogar in dem Internat, das zur Ganztagsschule gehörte.

Mia packte die Noten in ihre Tasche und drehte sich ­gerade um, um hinauszugehen, da entdeckte sie Janina, die ein wenig verloren zwischen ihr und der Tür stand.

»Janina? Ist noch was?«, fragte sie das dunkelhaarige Mädchen, das etwas blass um die Nase wirkte, was ihr schon zu Beginn der Stunde aufgefallen war.

»Ich … ich«, stotterte sie herum. »Es tut mir leid, Frau Garber, ich …«

»Geht es dir nicht gut?« Eine offensichtlich überflüssige Frage.

Janina schüttelte den Kopf.

»Was ist denn los?«, fragte Mia besorgt und legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter.

»Es … es war für mich die letzte Stunde heute bei Ihnen, Frau Garber«, platzte es schließlich aus ihr heraus, bevor sie in Tränen ausbrach.

Mia sah sie überrascht an.

»Hey … aber warum das denn? Willst du etwa aus dem Chor austreten?«

Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf. Es dauerte eine Weile, bis es sich wieder beruhigt hatte, und Mia wartete ­geduldig, obwohl sie eigentlich schon auf dem Weg zum Klassenzimmer der 8A im Ostflügel sein sollte, auf die heute eine Schulaufgabe wartete.

Mia holte ein Papiertaschentuch aus der Handtasche und reichte es dem Mädchen. Janina schnäuzte sich laut.

»Mein Vater hat einen neuen Job in München bekommen und fängt im Dezember an. Sie haben es mir erst vorgestern gesagt. Wir ziehen schon am Wochenende um«, murmelte sie schließlich unglücklich.

»Ach Janina, das tut mir so leid.«

Mia drückte das zierliche Mädchen an sich, das eines der jüngsten im Chor war. Es fiel ihr schwer, tröstende Worte zu finden.

»Ich will überhaupt nicht weg«, schluchzte Janina. »Meine ganzen Freunde sind doch alle hier. Und ich liebe unseren Chor und die Stunden mit Ihnen …«

»Ich weiß«, sagte Mia leise. »Hör zu, Janina …« Sie nahm das Mädchen an den Schultern und sah es eindringlich an. »… du wirst es vielleicht jetzt nicht glauben, weil es sich für dich ganz schrecklich anfühlt. Aber es wird leichter werden. Wichtig ist, dass deine Familie zusammenbleibt. Du wirst in München neue Freunde finden, und mit deiner tollen Stimme wird sich jeder Chor um dich reißen.«

»Echt?«

»Ja klar. Das weiß ich ganz bestimmt.«

»Aber … aber es wird nicht so sein wie bei Ihnen, Frau Garber. Kein Lehrer ist so wie Sie!«

»Ach, Quatsch mit Popcorn. Es gibt tausendmal bessere Gesangslehrer als mich«, versuchte sie, Janina ein wenig aufzumuntern. »Und mit deinen Freunden kannst du ja weiter Kontakt halten. Und wenn du magst, dann schick mir doch hin und wieder mal Nachrichten auf WhatsApp, damit ich weiß, wie es dir geht. Okay?«

Janina nickte. Mias Worte schienen sie zumindest ein klein wenig zu trösten.

»Danke für alles, Frau Garber«, murmelte sie.

»Ich danke dir, dass du unseren Chor so bereichert hast … Und weißt du was?«

Janina schüttelte den Kopf und sah sie dann erwartungsvoll an.

»Ich finde, du solltest bei unserem Weihnachtskonzert trotzdem noch mitsingen. Zumindest die Lieder, die wir schon gut geprobt haben. Frag doch mal deine Mama, ob das für sie okay wäre. Sooo weit ist München ja nun auch wieder nicht entfernt.«

In die dunkelbraunen Augen des Mädchens trat ein hoffnungsvolles Glitzern.

»Das würden Sie erlauben? Echt? Auch wenn ich bei den nächsten Proben nicht dabei sein könnte?«, fragte sie aufgeregt.

»Ja. Ausnahmsweise. Aber nur wenn du mir versprichst, die Stücke daheim ordentlich zu üben«, verlangte Mia, um der Schülerin etwas zu geben, worauf sie sich freuen konnte.

»Das werde ich. Versprochen!«

»Schön. Und über unseren Gruppenchat bleibst du auf dem Laufenden … Aber jetzt müssen wir uns echt beeilen, Janina. Sonst kriegen wir beide Ärger. Komm!«

Sie verließen das Musikzimmer und machten sich schleunigst auf den Weg in den anderen Flügel, wo sich ihre Wege trennten. Wenige Meter vor dem Klassenzimmer hörte Mia Schritte hinter sich.

»Frau Garber?«

Mia verdrehte die Augen. Direktorin Wurm-Fischer. Und sie hörte sich nicht gerade gut gelaunt an. Das wiederum schien bei ihr ein Normalzustand zu sein. Zumindest, wenn sie auf Mia traf. Hoffentlich wollte sie nicht jetzt die Musikliste mit ihr besprechen. Mia blieb stehen und drehte sich zu ihr um.

»Ja, Frau Wurm-Fischer?«

Der Blick der Schulleiterin wanderte kurz über Mias Kleidung. Ihr war anzusehen, dass sie keinen Gefallen an Jeans und bunten Oversize-Pullovern fand, und vermutlich missfielen ihr auch die lose zusammengebundenen dunklen Locken der Lehrerin. Schon mehrmals hatte die stets im adretten Kostüm gekleidete achtundfünfzigjährige Direk­torin Mia darauf hingewiesen, sie solle sich ordentlicher anziehen. Doch Mia wollte sich ihre Kleiderwahl nicht von der Direktorin vorschreiben lassen. Ihre Sachen waren nicht schlampig, sondern leger und fröhlich, und außerdem wusste sie sich bei besonderen Anlässen durchaus angemessen anzuziehen.

»Haben Sie keinen Unterricht?«, fragte Wurm-Fischer scharf.

Mia versuchte, freundlich zu bleiben.

»Doch, natürlich. Aber ich habe noch kurz mit Janina gesprochen. Sie wissen sicherlich schon, dass das Mädchen …«

»Allerdings«, unterbrach die Direktorin sie. »Genau darüber möchte ich kurz mit Ihnen sprechen.«

Mia sah sie überrascht an.

»Jetzt?«

Wurm-Fischer nickte knapp.

»Wenn Janina weggeht, wird ein Platz im Chor frei, nicht wahr?«

»Genau«, sagte Mia. »Ich habe einige vielversprechende Sopranistinnen, die auf der Warteliste stehen. Die werde ich morgen vorsingen lassen, bevor ich mich entscheide.«

»Das wird nicht nötig sein. Ich möchte, dass sie ­Nele aufnehmen.«

»­Nele? Sie meinen doch jetzt nicht ­Nele Gitter?«

»Doch.«

Mia schüttelte den Kopf.

»Tut mir leid, Frau Wurm-Fischer, aber sie ist nicht ­geeignet für den Chor.«

Die Elftklässlerin ­Nele hatte schon zweimal bei ihr vor­gesungen. Aber sie hatte Mia nicht überzeugen können, auch wenn sie sich selbst offenbar als deutsche Antwort auf Katy Perry sah. Außerdem brachte ­Nele mit ihrem selbst­gefälligen Wesen gerne mal Unruhe in eine Gruppe. Auch aus diesem Grund wollte Mia sie nicht dabeihaben.

»Es ist der ausdrückliche Wunsch ihres Vaters, der, wie Sie womöglich gar nicht wissen, ein großzügiger Förderer unserer Schule ist.«

Mia wusste natürlich, wer ­Neles Vater war. Jeder auch nur halbwegs sportinteressierte Mensch kannte den ehemals sehr erfolgreichen Fußballspieler Björn Gitter, der sein bekann­tes Gesicht auch heute noch ab und an für einen Werbespot in die Kamera hielt. Nachdem er die Fußballschuhe an den Nagel gehängt hatte, war er als Geschäftsführer in die exklusive und weltweit erfolgreiche Hotelkette seiner Ehefrau eingestiegen.

»Es tut mir wirklich leid, Frau Wurm-Fischer«, sagte Mia ruhig, »aber die Finanzkraft der Eltern spielt für mich keine Rolle. ­Nele ist leider nicht geeignet. Ich leite diesen Chor und bestimme, wer mitsingt und wer nicht.«

»Das werde ich so nicht …«, begann Wurm-Fischer empört. Doch diesmal ließ Mia sie nicht ausreden.

»Ich muss jetzt wirklich dringend in den Unterricht«, sie deutete zur Tür des Klassenzimmers. »Wie man hören kann, sind meine Schüler schon sehr unruhig.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sie die Direktorin stehen. Allerdings war ihr klar, dass hier noch nicht das letzte Wort gesprochen worden war.

Kapitel 2

Zu dieser Jahreszeit dämmerte es bereits, als Mia sich nach dem Unterricht auf den Heimweg machte. So lange es noch nicht schneite und keinen Bodenfrost gab oder zu stark regnete, legte sie die Strecke von knapp acht Kilometern zu ihrem Arbeitsplatz am liebsten mit dem Fahrrad zurück, um sich fit zu halten. Unterwegs kaufte sie in einem Supermarkt noch ein paar Lebensmittel ein und holte bei der Apotheke Medikamente für ihren Vater ab.

Eine Viertelstunde später fuhr sie den kleinen Schotterweg entlang, der zum Haus führte, das, umgeben von einem Garten, direkt am Chiemsee lag.

Während sie das Fahrrad in die Garage stellte und abschloss, öffnete sich die Haustür, und Rudi jagte ihr freudig entgegen. Mia ging in die Hocke und streichelte den Hund, der wie eine etwas klein geratene Mischung aus Wolf und Labrador aussah. Wild mit dem Schwanz wedelnd, begrüßte er sein Frauchen überschwänglich.

»Hey, schon gut mein kleiner Racker. Gleich gibt es was zum Futtern für dich. Komm.«

Sie nahm die Einkäufe aus dem Korb und ging mit Rudi zum Haus. An der Tür wartete Alma, die spanischstämmige Pflegerin ihres Vaters.

»Hallo, Alma.«

»Hallo, Mia … Heute hat er einen guten Tag«, sagte sie mit leichtem Akzent und schlüpfte in ihren Mantel.

»Wirklich?«, fragte Mia überrascht.

»Ja. Mehr als gut. Er ist im Wintergarten.«

»Danke, Alma.«

»Schönen Abend, Mia!«, wünschte die Dreiundfünfzigjährige und griff nach ihrem Schlüsselbund.

»Dir auch, Alma. Bis morgen.«

»Bis morgen.«

Rasch verstaute Mia die Einkäufe in der Küche, füllte Rudis Napf mit Futter und frischem Wasser und ging dann in den großen Wintergarten, der gleichzeitig als Wohnzimmer genutzt wurde. Ihr Vater ­Albert saß in seinem Rollstuhl und blickte durch das Fenster hinaus auf den See, der sich in der Dunkelheit nur erahnen ließ.

»Hallo, Papa«, sagte Mia.

Bevor sie ihm einen Kuss gab, der ihn an manchen Tagen irritierte, wartete sie kurz ab, wie er auf ihre Begrüßung ­reagierte. Alma hatte gesagt, er hätte heute einen guten Tag, was wohl bedeutete, dass er mehr helle Momente als üblich hatte, Momente, in denen er nicht ganz abgetaucht war in eine Welt, die sie ansonsten ausschloss.

»Mia. Mein Mädchen«, sagte er lächelnd.

Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn auf die Wange.

»Möchtest du etwas essen, Papa? Hast du schon Hunger?«, fragte sie fürsorglich.

»Hunger? Ich denke nicht, nein … Setz dich doch ein wenig zu mir«, sagte er und griff nach ihrer Hand. Ohne ihn loszulassen, zog sie einen Stuhl neben ihren Vater und nahm Platz. Inzwischen trottete auch Rudi in den Wintergarten und machte es sich neben der Heizung bequem.

»Hattest du einen schönen Tag, mein Kind?«, fragte ­Albert und sah sie lächelnd aus seinen olivgrünen Augen an, die den ihren so sehr ähnelten. Auch die dichten dunklen Haare hatte sie von ihm geerbt, allerdings waren sie bei ihm schon seit Jahren mit silbernen Strähnen durchzogen. Trotzdem war er mit seinen knapp sechzig Jahren noch immer ein attraktiver Mann.

»Ja. Den hatte ich. Du auch?«, fragte Mia.

»Oh, ganz bestimmt hatte ich den«, antwortete er, obwohl Mia sicher war, dass er sich kaum daran erinnern konnte.

­Albert hatte Alzheimer. Als vor etwas mehr als drei Jahren die Anzeichen nicht mehr mit Zerstreutheit zu rechtfertigen gewesen waren, hatte Mia beschlossen, ihre Zelte in München abzubrechen und wieder an den Chiemsee zu ziehen, um ihren Vater zu unterstützen.

­Albert Garber war ein in der Gegend bekannter und geschätzter Musiker, der als Pianist früher bedeutende Sänger bei Konzerten in aller Herren Länder begleitet und später als privater Musiklehrer und Komponist seinen Lebensunterhalt bestritten hatte. Zudem hatte er den Männerchor am Ort geleitet und die letzten Jahre vor seiner Krankheit als Organist bei den sonntäglichen Gottesdiensten in einigen Kirchen in der Umgebung gespielt. Die Entscheidung, dass Mia die Stelle an der Schule bekommen hatte, an der sie selbst schon Schülerin gewesen war, hatte noch der Vorgänger von Direktorin Wurm-Fischer getroffen, ein alter Sangesbruder und Freund von ­Albert, der kurz darauf in den Ruhestand gegangen war.

Nach der niederschmetternden Diagnose hatte sich ­Alberts Zustand anfangs zwar nur langsam verschlechtert, trotzdem war Mia gezwungen, tagsüber eine Hilfe in ­Anspruch zu nehmen. Sie konnte ­Albert nicht mehr stundenlang allein lassen, ohne Angst zu haben, dass er versehentlich das Haus in Brand oder unter Wasser setzte. Oder die Haustür sperrangelweit offen ließ, um einen Spaziergang zu machen. Ihn ins Heim zu stecken war für Mia keine ­Option.

Wie durch eine besondere Fügung hatte sie kurz nach ihrer Rückkehr an den Chiemsee Alma kennengelernt, die nach dem Tod ihres Mannes auf der Suche nach einer festen Arbeitsstelle in der Umgebung einen Aushang an der Pinnwand im Supermarkt hinterlassen hatte. Mia hätte sich keine bessere Pflegerin für ihren Vater wünschen können, auch wenn sie ­Alberts gesamte Rente für die Betreuung verwenden musste. Trotzdem lag die Hauptlast auf Mia. Ihr Leben drehte sich inzwischen nur mehr um die Schule und um ihren Vater.

Sie hatte versucht, der Krankheit die Stirn zu bieten, indem sie das Gedächtnis ihres Vaters mit Spielen, gemeinsamem Musizieren und intensiven Gesprächen trainierte. Auch täg­liche Spaziergänge und viel Bewegung gehörten lange zu ihrem Tagesplan, wenn sie nach der Schule zu Hause war. Und in den Sommerferien war sie mit ihm auf Reisen ­gegangen, vor allem nach Italien, ein Land, das ­Albert liebte.

»Schiebst du mich noch näher zum Fenster?«, bat ­Albert.

»Aber natürlich!«

Vor einem halben Jahr war ­Albert im Garten gestürzt und hatte sich den Oberschenkelhals gebrochen. Nach einer Operation und anschließender Reha hatte sich sein Allgemeinzustand verschlechtert. Obwohl Mia auch daheim täglich mit ihm übte, konnte ­Albert nur noch wenige Schritte mit Unterstützung gehen. Es war, als ob er vergessen hätte, wie es funktionierte. Dieser Umstand bedrückte sie sehr, machte das Leben für Mia jedoch auch ein klein wenig einfacher, weil sie ihn im Rollstuhl besser unter Kontrolle hatte. So konnte er nicht mehr einfach aus dem Haus spazieren und sich unterwegs verirren, weil er nicht mehr wusste, wie er wieder nach Hause kam.

»Schade, dass die Sonne nicht scheint«, sagte ­Albert leise. »Dann könnten wir die Boote auf dem See beobachten.«

Das hatten sie früher oft dann gemacht, wenn Mia als Kind krank war und nicht aus dem Haus konnte. Dann hatte ­Albert das kleine Sofa zum Fenster geschoben, und sie hatten sich darauf zusammengekuschelt und aufs Wasser ­geschaut, während er ihr Geschichten erzählte oder ihr eines seiner selbst komponierten Lieder vorsang.

»Machen wir doch einfach die Augen zu und stellen es uns vor«, schlug Mia vor.

­Albert schloss die Augen und lächelte glücklich, als würde er tatsächlich die in der Sonne glitzernden Wellen des Chiemsees vor der atemberaubenden Kulisse der Alpen sehen. Plötzlich fing er an, in seiner warmen, wohltönenden Stimme zu summen. Die Melodie war ihr unbekannt, ­berührte sie jedoch sofort.

»Was ist das denn für ein Lied, Papa?«, fragte sie.

Er drehte den Kopf zu ihr, sah sie ratlos an. Er kämpfte offensichtlich mit der fehlenden Erinnerung.

»Ich … ich weiß es nicht«, sagte er leise.

»Macht nichts … Es ist jedenfalls sehr schön«, meinte Mia und versuchte, dabei unbeschwert zu klingen.

In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Rudi sprang auf und lief in den Flur. Am liebsten hätte Mia gar nicht aufgemacht, zu sehr genoss sie den Moment mit ihrem Vater. Doch ­Albert sah sie fragend an.

»Bekommen wir Besuch?«

»Ich geh mal nachschauen«, sagte sie und verließ den Wintergarten.

Sie hielt Rudi am Halsband fest, als sie die Haustür öffnete. Draußen standen ihr Nachbar ­Sebastian Rudolph und dessen sechsjähriger Sohn Max. Sie und ­Sebastian waren beste Freunde, seit sie denken konnte.

»Hey, ihr beiden«, sagte sie.

»Hallo, Mia.«

Mia ließ Rudi los, und der kleine Max begrüßte ihn freudig.

»Wart ihr spazieren?«, fragte Mia.

»Nö. Am Spielplatz«, antwortete Max, der einen schier unstillbaren Bewegungsdrang hatte.

»Wie geht es ­Albert?«, fragte ­Sebastian.

»Erstaunlich gut heute«, antworte sie.

»Das freut mich. Hör mal Mia, ich bestelle morgen Kamin­holz. Du brauchst doch auch Nachschub, oder?«, fragte ­Sebastian.

»Oh ja. Unbedingt«, sagte sie. »Gut, dass du mich dran erinnerst.«

»Ich weiß ja, wie viel du um die Ohren hast.«

»Danke, ­Sebastian. Wollt ihr nicht reinkommen?«

»Ja!«, rief Max erfreut, während er Rudi am Rücken kraulte, was dieser offensichtlich sehr genoss. Der kürzlich geschiedene Grafikdesigner und sein Sohn waren Mia immer willkommen. Die beiden gehörten für sie quasi zur Familie. ­Sebastian arbeitete freiberuflich von zu Hause aus und konnte deswegen auch mal kurzfristig einspringen, um auf ­Albert aufzupassen, wenn Alma keine Zeit hatte und Not am Mann war. Im Gegenzug kochte Mia öfter mal für ihre Nachbarn und nahm Max bei längeren Spaziergängen mit dem Hund mit, wenn ­Sebastian sich auf die Arbeit konzentrieren musste.

»Ich will noch mit Rudi spielen!«, sagte der Junge.

Doch ­Sebastian schüttelte den Kopf.

»Geht leider nicht.«

»Warum denn nicht, Papi?«, wollte Max wissen.

»Weil deine Mama gleich kommt und dich abholt.«

Der blonde Junge mit den lustigen Sommersprossen schien kurz zu überlegen, dann nickte er.

»Na gut … Tschüss, Rudi.«

­Sebastian stupste seinen Sohn kurz in die Seite.

»Und tschüss, Mia«, fügte der Kleine hinzu.

Mia lächelte.

»Sag deiner Mama einen Gruß, Max.« Mia hielt ­Sebastians Exfrau Tina zwar für bescheuert, weil sie ihn wegen eines anderen verlassen hatte, aber trotzdem funktionierten sie als Eltern noch super. Und das kam dem Kleinen zugute.

Max nickte.

»Sag ich ihr.«

»Schönen Abend noch.«

»Dir auch … Und ich melde mich, wenn ich Bescheid weiß, wann das Holz geliefert wird«, sagte ihr Nachbar.

»Danke, ­Sebastian. Und morgen Abend gibt es selbst gemachte Ravioli. Ihr kommt doch rüber, oder?«

»Die würde ich um nichts auf der Welt verpassen wollen«, antwortete ­Sebastian lächelnd. »Ich bringe die Nachspeise mit, okay?«

»Super … Bis morgen!«

»Bis morgen.«

­Sebastian und Max machten sich auf den Heimweg, und Mia ging mit dem Hund zurück in den Wintergarten.

­Albert schien eingeschlafen zu sein. Seine Augen waren geschlossen. Doch als Mia sich wieder neben ihn setzte, ­öffnete er sie. Sein Blick schien aus weiter Ferne zu kommen.

»Du musst auf dein Spielzeug aufpassen, Walli«, murmelte er. »Sonst fällt es in den See.«

Mia atmete tief ein und aus. Er sprach sie mit dem Spitznamen ihrer Schwester an. Die lichten Momente waren offenbar wieder vorbei.

»Das mache ich, Paps«, sagte sie, ohne ihn zu korrigieren. Das hatte sie schon seit Langem aufgegeben. »Ich passe gut darauf auf.«

»Schau, der … der«, er schien nach Worten zu suchen. Mia folgte seinem Blick durchs Fenster. Der Mond war aufgegangen, und sein Licht spiegelte sich sanft und geheimnisvoll auf den Wellen des dunklen Sees.

»Der Vollmond ist besonders schön heute«, half sie ihm. »Und weißt du was? Draußen ist er noch viel schöner! Was hältst du davon, wenn wir beide noch ein wenig frische Luft schnappen?«

­Albert nickte.

Mia nahm einen von Alma genähten Quilt vom Sofa und deckte ihren Vater damit zu. Dann öffnete sie die Terrassentür und schob den Rollstuhl über einen gepflasterten Weg bis hinunter zum See. Für Ende November war die Nacht ungewöhnlich warm und fühlte sich samtig an. Sanft murmelten die Wellen des Sees.

Rudi war ihnen gefolgt und steckte seine Nase schnüffelnd zwischen eine Hecke, in der er vor einigen Tagen eine Maus entdeckt hatte.

»Schau mal, wie schön man heute den Mond und die Sterne sieht«, sagte Mia zu ihrem Vater und nahm seine warme Hand in ihre. »Dort ist der kleine Wagen, und das da müsste Kassiopeia sein. Oder?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.

Sie schaute zu ihrem Vater, der den Kopf weit ihn den ­Nacken gelegt hatte und den Sternenhimmel betrachtete. Statt einer Antwort begann er, wieder dieselbe Melodie von vorhin zu summen.

Was ist das nur für ein Lied?, fragte sie sich, während sie ihm weiter lauschte und ihre Zweisamkeit genoss.

Plötzlich brach er ab und tätschelte liebevoll lächelnd ihre Hand.

Mia begann, ihm von der Schule zu erzählen. Von ihren Schülern und dem Weihnachtskonzert, und welche Lieder sie dafür ausgewählt hatte. Sie wusste nicht, was ihn davon erreichte, trotzdem hatte sie den Eindruck, dass er ihr aufmerksam zuhörte.

»Wenn es dir gut geht, kann Alma mit dir zum Weihnachtskonzert kommen. Es wäre so schön, wenn du dabei wärst«, sagte Mia. Sie würde einfach abwarten, wie es ihm an diesem Tag ging und dann spontan entscheiden. Auch ­Sebastian war regelmäßiger Gast bei den Konzerten und würde Alma sicherlich unterstützen, falls das erforderlich wäre.

Plötzlich zog ­Albert seine Hand weg. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und er wirkte völlig verwirrt.

»Ich bin sehr müde. Ich möchte schlafen«, sagte er abgehackt.

»Natürlich. Ich bringe dich wieder zurück, Papa«, versprach Mia. »Komm, Rudi!«

Der Hund gehorchte nur zögernd, trottete dann jedoch brav mit ins Haus.

Eineinhalb Stunden später brachte Mia ihren Vater ins Bett, nachdem sie ihn überredet hatte, doch noch eine Schale Suppe zu essen.

»Schlaf gut!«, sagte sie und deckte ihn sorgfältig zu.

»­Olivia … kommst du auch bald schlafen?«, fragte er drängend.

Jetzt hielt er sie für ihre Mutter. Und auch diesmal spielte sie mit, wenn auch ungern, denn sie vermied es eigentlich, so gut es ging, an ihre Mutter zu denken.

»Ich muss noch ein paar Sachen erledigen«, sagte sie. »Dann komme ich nach.«

»Arbeite nicht zu viel, mein Liebling«, sagte er fürsorglich und lächelte ihr zu. Es war unglaublich, wie sehr er an ihr hing, wenn er in der unfreiwilligen Welt der Vergangenheit lebte. Dabei hatten die beiden lange vor seiner Krankheit kein Wort mehr miteinander gewechselt. Mehr noch, ­Albert hatte sie völlig aus seinem Leben gestrichen.

»Das tu ich nicht, mach dir keine Sorgen. Schlaf jetzt schön«, sagte Mia dennoch, um ihn nicht durcheinanderzubringen.

­Albert drehte sich zur anderen Seite, und Mia wartete, bis sein Atem gleichmäßig wurde und er eingeschlafen war. Dann schaltete sie das Babyfon ein, ging in ihr Zimmer neben­an und setzte sich an den Schreibtisch am Fenster. Bis tief in die Nacht hinein korrigierte sie die Schulaufgabe der achten Klasse und bereitete sich sorgfältig auf den Unter­richt am nächsten Tag vor.

Es war schon nach Mitternacht, als sie das letzte Mal nach ihrem Vater sah, der ruhig schlief.

»Gute Nacht, Papa«, flüsterte sie. »Ich hab dich lieb.« Dann ging sie ins Bett.

Kapitel 3

Obwohl sie gar nicht als Aufsicht eingeteilt war, stand Mia am Rand des gepflasterten Schulhofs und ließ ihren Blick über die Schüler schweifen. Sie war lieber draußen, als die Pause im stickigen Lehrerzimmer mit ihren Kollegen zu verbringen. Außerdem hoffte sie, damit Frau Wurm-Fischer noch etwas länger zu entkommen, der sie heute die Liste mit den Musikstücken für das Konzert ins Fach gelegt hatte. Vermutlich würde es nicht mehr lange dauern, bis die Direktorin sie darauf ansprechen und ihre Einwände vorbringen würde.

Normalerweise stand Mia nie lange allein da, denn es gab immer Schüler, die irgendetwas von ihr wissen wollten oder mit denen sie sich über den Stoff bevorstehender Schulaufgaben oder Musikstücke austauschte. Sie biss gerade in ihr mitgebrachtes Käsebrot mit Oliven, da sah sie Björn Gitter mit forschen Schritten aus dem Eingang kommen und in Richtung Parkplatz gehen. Augenblicklich verging ihr der Appetit. Sie hoffte, dass sein Besuch nichts mit ihrer Weigerung zu tun hatte, seine Tochter ­Nele im Schulchor aufzunehmen. Als ob ihre Gedanken das Mädchen herbeigerufen hätten, stand ­Nele plötzlich nicht weit von ihr entfernt und warf ihr ein selbstgefälliges Lächeln zu. Mia lächelte zurück, bemüht, sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen, das dieses Mädchen in ihr auslöste. Sie war froh, als in diesem Moment Joshua auf sie zukam.

»Frau Garber?«

»Ja?«

»Haben Sie am Samstag schon was vor? Wir spielen in Didis Oberstübchen, und es wäre echt riesig, wenn Sie auch kommen würden.«

Didis Oberstübchen war eine Musikkneipe in der Nähe von Rosenheim und ein kultureller Treffpunkt für Jung und Alt. Einige ihrer Schüler engagierten sich auch außerhalb des Unterrichts in Musikprojekten, und Mia unterstützte sie dabei nach Kräften. Joshua war ein musikalischer Tausendsassa. Nicht nur, weil er gesanglich ein großes Talent war und mehrere Instrumente spielte, er fühlte sich auch in unter­schiedlichen Musikgenres zu Hause. In dieser Formation spielte er mit ein paar Freunden Coversongs, hauptsächlich aus der amerikanischen Folk- und Countrymusikszene, und die Band hatte sich inzwischen schon eine kleine treue Fangemeinde aufgebaut.

»Ich kann nichts versprechen, Joshua«, sagte sie, weil sie nicht wusste, ob Alma einspringen konnte. Normalerweise war das zwar kein Problem, trotzdem wollte sie das zuerst abklären. Notfalls könnte sie ­Sebastian fragen. »Wenn das mit der Betreuung meines Vaters klappt, dann komme ich sehr gern.«

Mia machte aus ­Alberts Zustand kein Geheimnis, auch wenn sie ungern darüber redete.

»Bringen Sie Ihren Vater doch mit«, schlug Joshua vor. Manchmal traf er die Lehrerin mit ­Albert beim Spaziergang am See, wenn er sein Lauftraining machte, und deswegen kannte er ihn.

»Ich bin mir sicher, dass ihm eure Musik gefallen würde, Joshua, aber ihn zu einer solchen Veranstaltung mitzunehmen, ist momentan keine so gute Idee.« Und daran wird sich leider auch nichts mehr ändern, dachte sie betrübt.

Der Junge nickte verständnisvoll. »Verstehe … ich setze Sie aber auf jeden Fall auf die Gästeliste.«

»Mach das unbedingt. Ich gebe dir bald Bescheid, ob es klappt, okay?«

»Super! … Und Frau Garber?«

»Ja?«

»Falls Sie kommen – hätten Sie dann Lust, beim Auftritt Just Breathe mit mir zu singen? Das wäre so cool!«

Mia lächelte.

Sie hatten den Song von Pearl Jam, auch bekannt durch die Interpretation von Willie Nelson mit seinem Sohn Lukas, im letzten Jahr auf einer Klassenfahrt im Bus gesungen und Joshua damit überhaupt erst auf die Idee für die Coverband gebracht.

»Wenn ich kommen kann, dann singe ich den Song mit dir«, versprach sie.

»Sie sind die Beste!« Der Schüler grinste.

»Klar!«

Der Gong ertönte. Die Schüler hatten ab jetzt fünf Minu­ten Zeit, sich in ihre jeweiligen Klassenzimmer oder Kursräume zu begeben.

»Bis später!«, sagte Joshua und machte sich auf den Weg zu seiner nächsten Stunde.

Mia hatte es nicht eilig, ins Schulgebäude zu kommen. Sie wartete, bis alle Schüler weg waren. Während der zwei Freistunden, die vor ihr lagen, wollte sie zum einen die ­Noten für die letzten beiden Weihnachtslieder fotokopieren, um sie heute bei der Chorprobe einzustudieren. Und zum anderen würde sie drei Schülerinnen vorsingen lassen, von denen eine Janina im Sopran ersetzen sollte.

Obwohl auf dem gesamten Schulgelände während der regulären Unterrichtszeit strenges Handy-Verbot herrschte, das wegen der Vorbildfunktion auch für die Lehrer galt, rief Mia kurz bei Alma an und erkundigte sich nach ihrem Vater.

»Er ist ein wenig müde heute, aber sonst geht es ihm gut«, informierte die Pflegerin sie. »Vorhin haben wir Mensch ärgere dich nicht gespielt. Jetzt sitzt er im Musikzimmer und hört seine Lieblingsscheibe.« Damit meinte sie eine seiner Nina-Simone-Schallplatten, die er so sehr liebte.

»Gut … Ihr geht doch nach dem Essen raus in die Sonne? Das Wetter soll nicht mehr lange halten.«

Während sie telefonierte, sah Mia einen Mann auf das Schulgebäude zukommen. Instinktiv drehte sie sich etwas zur Seite, damit er das Handy nicht sah.

»Natürlich, Mia. Aber zuerst soll er sich ein wenig ausruhen, er wirkt heute wirklich etwas erschöpft.«

»Ja, dann ist es besser, wenn er vorher ein Nickerchen macht … Und Alma, hast du zufällig am Samstagabend schon was vor?«, fragte Mia, damit sie dieses Thema gleich abgeklärt hatte.

»Wenn du mich brauchst, kann ich gerne kommen«, bot die Pflegerin gutmütig an. Mia war längst davon überzeugt, dass Alma nicht nur wegen ihrer Arbeit gerne Zeit mit ihrem Vater verbrachte.

»Danke, Alma, du bist ein Schatz. Ich muss jetzt aufhören. Bis später.«

»Bis später.«

Sie legte auf und ließ das Handy in ihrer Jackentasche verschwinden.

Der dunkelhaarige Mann hatte sie inzwischen entdeckt.

»Hallo! Kannst du mir bitte sagen, wo das Büro der ­Direktorin ist?«, rief er ihr zu.

Mia drehte sich zu ihm um. Er war jünger, als er von Weitem in seinem klassisch geschnittenen Mantel und mit der dunkel gerahmten Brille gewirkt hatte. Sie schätzte ihn nur ein paar Jahre älter als sie selbst war.

»Oh, Entschuldigung«, sagte er rasch, als er den Irrtum bemerkte. »Ich dachte, Sie wären eine Schülerin.«

»Kein Problem. So lange Sie mich nicht für die Direktorin halten, sei Ihnen verziehen«, witzelte Mia.

Er sah sie aus dunkelbraunen Augen amüsiert an.

»Ich glaube, das ist eher unwahrscheinlich«, meinte er lächelnd.

»Na dann … Ich begleite Sie hinein«, bot sie an.

»Danke! Das ist echt nett, Frau … äh?«

Bevor sie ihm ihren Namen verraten konnte, tauchte Frau Wurm-Fischer plötzlich in der Eingangstür auf.

»Das ist nicht nötig!«, rief sie ihnen zu. »Ich kümmere mich schon um Herrn Amantke.«

Kaum zu glauben, dass es sich bei der jetzt äußerst charmant lächelnden Direktorin um dieselbe missgelaunte Person handelte, mit der Mia üblicherweise zu tun hatte.

»Okay«, sagte Mia nur, nickte dem Mann noch mal zu und machte sich auf den Weg ins Lehrerzimmer.

Als sie die Noten kopiert hatte, holte sie drei Mädchen aus den jeweiligen Klassen und ging mit ihnen ins Musikzimmer, um sie vorsingen zu lassen.

Jede durfte sich aus einigen Vorschlägen ein Lied aus­suchen, das sie in der letzten Zeit während des Musikunterrichts geprobt hatten.

Lydia, das erste Mädchen, brauchte ein wenig, um die Tonlage zu treffen. Es war nicht zu übersehen, dass sie ziemlich nervös war.

»Entschuldigung«, sagte sie mit rotglühenden Wangen, »darf ich es noch mal probieren?«

»Klar … Aber atme erst ein paarmal ganz tief in deinen Bauch ein und langsam wieder aus«, empfahl Mia.

Beim zweiten Versuch ging es schon sehr viel besser. Dann kam das nächste Mädchen an die Reihe. Carmen ging in die elfte Klasse und wäre schon beim letzten Mal fast in den Chor aufgenommen worden. Sie hatte eine kristallklare Stimme und traf jeden Ton. Doch irgendwas fehlte auch diesmal bei ihrem Gesangsvortag, um Mia völlig zu überzeugen.

»Danke dir, Carmen«, sagte Mia. »Und jetzt bist du dran, Jette.«

Die zierliche Rothaarige mit dem frechen Kurzhaarschnitt stellte sich neben das Klavier und verschränkte die Hände fest ineinander. Mia nickte ihr zu, spielte die ersten Töne an, und das Mädchen begann zu singen. Obwohl sie an manchen Stellen nicht ganz so sauber sang wie Carmen, gelang es ihr, Mia mit ihrer Interpretation zu berühren. Sie hatte etwas, das man nicht durch Üben erlangen konnte. Jette legte ihr Herz in das Lied. Deswegen musste Mia nun auch gar nicht mehr lange überlegen.

»Ich danke euch sehr«, sagte sie abschließend. »Am besten mache ich es jetzt ganz kurz. Ihr seid alle wirklich gut, aber diesmal hat mich Jette am meisten überzeugt.«

»Ich?« Jette riss erfreut die Augen auf, während den beiden anderen Mädchen die Enttäuschung anzusehen war.

»Ja. Du«, bestätigte Mia. »Allerdings wirst du noch ­fleißig üben müssen, damit ich wirklich ganz zufrieden bin.«

»Das werde ich«, versprach Jette aufgeregt.

Mia legte Lydia und Carmen die Hände auf die Schultern.

»Nicht traurig sein … vielleicht klappt es beim nächsten Mal.«

Die Mädchen nickten, nicht wirklich getröstet.

»Jette, bleib bitte noch kurz bei mir, damit wir die Stücke fürs Konzert gemeinsam durchgehen können. Heute Nachmittag wirst du schon bei der Probe dabei sein!«

Nach der Mittagspause sangen die Schüler des Chors Do they know it’s Christmas, komponiert von Bob Geldorf und Midge Ure. Das Lied war ein Charity-Projekt gewesen, um auf die katastrophale Hungerkatastrophe 1984 in Äthiopien aufmerksam zu machen. Zahlreiche berühmte Rock- und Popmusiker waren mit dabei gewesen, hatten das Lied unter dem Namen Band Aid veröffentlicht und innerhalb kürzester Zeit überall auf der Welt bekannt gemacht. Seitdem war es in der Vorweihnachtszeit ein fester Bestandteil in den Musiklisten der gängigen Radiosender.

Mia hatte das Lied als Abschluss beim Konzert eingeplant. Die Sängerinnen und Sänger des Chors trugen ­jeweils eine Zeile vor, den Refrain dann alle gemeinsam. Zudem sollten auch alle anderen Schüler des Gymnasiums, die beim Konzert als Zuhörer anwesend waren, von ihren Plätzen aus mit in den Refrain einfallen. Das Lied würde Mia deswegen in den nächsten Wochen während der Musikstunden auch mit den Klassen einüben, ohne jedoch zu verraten, was sie vorhatte. Da sie ahnte, dass Frau Wurm-Fischer es niemals genehmigen würde, weil sie mit so einem modernen Gedudel, wie sie es nannte, nichts anfangen konnte, hatte sie es auf der Liste für die Direktorin gar nicht erst aufgeführt. Es sollte eine Art Überraschungszugabe werden. Und sie wusste jetzt schon, dass sie damit bei den Zuhörern für Gänsehaut sorgen würde.

Mia warf einen Blick zu Jette in der ersten Reihe, die sich schon gut in den Chor eingefügt und sichtlich Spaß hatte. Die Lehrerin freute sich, dass ihr Gefühl sie nicht getäuscht hatte. Das Mädchen war genau richtig.

»Wow!«, lobte die Lehrerin ihre Schüler, als das Lied zu Ende war. »Für das erste Mal Proben war das schon echt super!«

»Das macht so Spaß«, rief Jegor, ein Schüler aus der elften Klasse, den Mia erst vor Kurzem als Bariton in den Chor geholt hatte.

»Hört mal«, begann Mia und suchte nach den richtigen Worten. »Ich möchte euch bitten, die Auswahl der Lieder für das Konzert nicht hinauszuposaunen. Vor allem nicht Do they know it’s Christmas. Sagt nichts zu euren Mitschülern und auch nicht zu den anderen Lehrern oder gar zu Frau Wurm-Fischer.«

Während sie sprach, bemerkte sie, dass einige Schüler ihr seltsame Blicke zuwarfen. Joshua schüttelte kaum merklich den Kopf und machte mit dem Finger verstohlen die Bewegung eines Wurmes nach. Mia kombinierte blitzschnell.

»Weil wir sie ja alle überraschen wollen mit dem Lied. Vor allem unsere Direktorin«, sagte sie schnell, und da hörte sie hinter sich auch schon ein allzu bekanntes ­Räuspern.

Sie zählte innerlich bis drei, setzte ein Lächeln auf und drehte sich um. Und da stand sie, die Direktorin und neben ihr eine zufrieden lächelnde ­Nele und der Mann von vorhin. Sofort schrillten alle Alarmglocken in ihr. Ist das womöglich der Rechtsanwalt der Gitters, der ­Neles Eintritt in den Chor erzwingen möchte?, fragte sie sich besorgt und ahnte nicht, dass sie sich in wenigen Minuten wünschte, es wäre nur das.

»Frau Garber, meine lieben Schüler«, sagte Frau Wurm-Fischer und ging erstaunlicherweise gar nicht auf Mias Worte, nichts von der Liedauswahl zu verraten, ein. »Ich möchte Ihnen Herrn Daniel Amantke vorstellen. Er wird ab sofort als weiterer Musik- und Gesangslehrer unser Kollegium bereichern. In den Klassen der Mittel- und Oberstufe. Und er wird diesen Chor im nächsten Halbjahr als Leiter übernehmen und schon ab sofort mit Ihnen, Frau Garber, zusammenarbeiten.«

Mia hörte zwar die Worte der Direktorin, doch sie ergaben keinen Sinn. Der Mann ist Musiklehrer und soll den Chor als Leiter übernehmen? Meinen Chor?!

Sie wollte etwas sagen, doch ihr kam kein Wort über die Lippen.

»Guten Tag zusammen«, grüßte Daniel Amantke und nickte zuerst Mia und dann seinen zukünftigen ­Schülern freundlich zu. »Ich freue mich schon sehr auf unsere Zusam­menarbeit.«

Er streckte Mia die Hand entgegen, doch sie ignorierte diese Geste, worauf er sie wieder zurückzog.

»Und begrüßt jetzt auch gleich euer neues Chormitglied, ­Nele Gitter«, sagte die Direktorin und legte eine Hand auf ­Neles Schulter.

In Mias Ohren rauschte es gewaltig, und so überhörte sie das aufgeregte Murmeln ihrer Schüler, die offensichtlich ebenfalls kaum glauben konnten, was sie da hörten.

»Was? Soll das heißen, Frau Garber wird nicht mehr unsere Chorleiterin sein?«, platzte es aus Joshua heraus.

»Sehr gut kombiniert, Hachmann«, antwortete Frau Wurm-Fischer mit einem eiskalten Lächeln.

»Aber … das geht doch nicht!«, rief Tami, die genau wie Joshua seit der Gründung des Chors dabei war.

In diesem Moment fand auch Mia endlich ihre Sprache wieder.

»Das soll wohl ein Witz sein! Das ist mein Chor!«, protestierte sie fassungslos. »Ich habe ihn aufgebaut.«

»Das ist Ihnen auch gelungen, Frau Garber. Und zukünftig werden Sie Ihr Können bei den Klassen der Unterstufen einsetzen.«

»Aber Frau Wurm-Fischer …«, begann Joshua auf­gebracht. Doch die Direktorin unterbrach ihn sofort.

»Ich will nichts hören, Hachmann!«, sagte sie barsch und wandte sich dann wieder an Mia. »Und wir reden ­später noch ausführlicher in meinem Büro, Frau Garber. ­Nele, stellen Sie sich zu den anderen.«

»Aber ­Nele singt doch gar nicht gut genug!«, warf ­Jegor ein, und er erntete ein zustimmendes Gemurmel der anderen Schüler. ­Neles selbstgefälliges Lächeln löste sich in Luft auf.

Frau Wurm-Fischer sah Jegor scharf an.

»Ich dulde es nicht, dass man so respektlos über eine Mitschülerin redet. Sie werden nicht länger Teil dieses Chors sein.«

»Was?«, rief der Junge erschrocken.

Auch Mia glaubte, sich verhört zu haben. Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, doch der neue Lehrer kam ihr zuvor.

»Entschuldigen Sie, Frau Wurm-Fischer, wenn ich mich einmische«, sagte Daniel Amantke mit ruhiger Stimme, »aber ich finde nicht, dass solch drastische Maßnahmen notwendig sind. Wir wollen uns doch jetzt erst mal alle kennenlernen.« Er warf einen Blick zu Jegor. »Du hast das sicher nicht so gemeint, oder?«

Obwohl es in diesem Moment nicht wichtig war, regis­trierte Mia, dass er die Schüler mit einem freundlichen »Du« ansprach, was ihr gefiel, auch wenn sie ihn am liebsten aus dem Raum geworfen hätte.

Jegor schüttelte den Kopf, doch ihm war anzusehen, dass er es nicht gerne tat.

»Nein. Hab ich nicht«, murmelte er.

Frau Wurm-Fischer schien kurz zu überlegen. »Nun gut. Aber sollte ich noch einmal ein böses Wort über ­Nele ­Gitter hören, egal von wem, fliegt er oder sie aus dem Chor.«

Nun hatte Mia endgültig genug. Doch sie wollte ihre ­Auseinandersetzung mit der Direktorin nicht vor den Schülern führen. Und auch nicht vor diesem neuen Lehrer, der ihr den Chor wegnahm, der ihr so viel bedeutete.

»Kann ich Sie kurz draußen sprechen, Frau Wurm-­Fischer?«, bat sie und bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Eigentlich habe ich jetzt keine Zeit mehr …«

»Nicht lange!« Mia sah sie eindringlich an. Direktorin Wurm-Fischer sah auf ihre goldene Armbanduhr.

»Ich gebe Ihnen ein paar Minuten.«

Mia nickte ihren Schülern zu, die sie immer noch ungläubig anschauten.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und verließ dann mit der Schulleiterin das Musikzimmer.

»Warum machen Sie das?«, fragte Mia kurz darauf, als die beiden sich im Flur gegenüberstanden.

»Es steht Ihnen nicht zu, meine Personalentscheidungen infrage zu stellen!«

»Doch, denn hier es geht um meine Arbeit! Und vor allem um meinen Chor!«

»Herr Amantke ist ein Lehrer mit ausgezeichneten ­Referenzen, er wird eine große Bereicherung für den Musikunterricht sein.«

»Das mag ja stimmen. Aber … aber meine Schüler brauchen mich!«

»An Selbstüberschätzung hat es Ihnen noch nie gemangelt, Frau Garber. Die Schüler werden auch ganz hervorragend mit dem neuen Lehrer klarkommen.«

»Sie machen das nur, weil ich ­Nele nicht in Chor aufnehmen wollte!«

»Sie haben mir keine andere Wahl gelassen. Als Chorleiterin wollen Sie ­Nele nicht dabeihaben. Nun. Ich habe dieses Problem gelöst. Herr Amantke wird den Chor bereits ab jetzt leiten und im zweiten Halbjahr ganz übernehmen. ­Somit steht ­Nele und dem Wunsch ihres Vaters nichts mehr im Weg.«

Mia wusste gar nicht, was sie darauf sagen sollte. Dass die Direktorin tatsächlich so weit gehen würde und es noch dazu so offen aussprach, hätte sie trotz all der zwischenmenschlichen Spannungen nicht für möglich gehalten.

»Ach ja – und sollten die Schüler beim Konzert auch nur ein Lied singen, das nicht auf der Liste steht und von mir ­genehmigt wurde, oder ­Nele sich im Chor nicht wohlfühlen, dann werde ich dafür sorgen, dass Sie sich nach dem Zwischenzeugnis nach einer neuen Stelle umsehen müssen!«

Der Tonfall, mit dem sie Mia diese Neuigkeit unterbreitete, war so verschlagen freundlich, dass Mia Gänsehaut ­bekam.

»Sie wollen mich rauswerfen? Nur weil ich meine Schüler nicht nach dem Geldbeutel ihrer Eltern bewerte?«, fragte sie empört.

»Offenbar fehlt Ihnen jegliches Verständnis für die wirklich wichtigen Belange unserer Schule«, zischte die Direktorin sie an.

In diesem Moment sah Mia rot.

»Ach ja? Und Ihnen fehlt jegliche fachliche und pädagogische Kompetenz!«, entgegnete sie aufgebracht. »Was ist das für eine Botschaft an die jungen Leute? Mit Geld kann man sich Privilegien erkaufen? Papi oder Mami werden es schon richten, wenn ich mal was nicht auf die Reihe kriege, oder das Können nicht reicht?!«

»Was erlauben Sie sich, Frau Garber!?«

Die Wangen der Direktorin waren vor Empörung dunkelrot angelaufen.

»Ich erlaube mir, einfach nur ehrlich zu sein!«

Eine innere Stimme riet Mia dringend, endlich still zu sein. Doch das konnte sie nicht. Zu lange schon gärte es in ihr. »­Nele Gitter in den Chor zu holen ist ein großer ­Fehler!«

Die Augen der Direktorin waren jetzt zu kleinen Schlitzen verengt.

»Sie als Lehrerin hier anzustellen war ein Fehler meines Vorgängers, den ich jetzt korrigieren werde. Sie sind ab ­sofort vom Unterricht suspendiert, Frau Garber.«

»Und mit welcher Begründung?«

»Mangelnde Subordination.«

»Mangelnde Subordination?« Mia lachte ungläubig. »Sind wir hier vielleicht bei der Bundeswehr?«

»Packen Sie Ihre Sachen, und gehen Sie nach Hause!«, kam es schneidend. »Und zwar auf der Stelle!«

Mia hatte es zu weit getrieben. Doch noch war sie zu aufgeregt, um die ganze Tragweite zu erfassen.

»So einfach können Sie mich nicht rauswerfen«, entgegnete sie.

»Aber ich tue es doch gerade. Die schriftliche Kündigung folgt noch! Herr Amantke wird bezeugen können, wie respektlos und unverschämt Sie sich mir gegenüber benommen haben. Als Direktorin kann ich so ein Verhalten nicht dulden. Nicht wahr, Herr Amantke?«

Mia drehte sich um. Der neue Musiklehrer stand nur ­wenige Meter von ihr entfernt und sah sie mit einem selt­samen Blick an, den sie nicht deuten konnte. Mia ging davon aus, dass er ihnen schon seit geraumer Zeit zugehört hatte. Frau Wurm-Fischer begann zu lächeln. Offenbar hatte sie erreicht, was sie hatte erreichen wollen.

Wütend und hilflos, weil sie der Direktorin in die Falle getappt war, eilte Mia davon. Sie brachte es jetzt nicht über sich, ins Musikzimmer zurückzukehren und ihre Tasche und Jacke zu holen. Den Anblick ihrer Schüler, die sie so völlig unerwartet verloren hatte, könnte sie jetzt nicht ­ertra­gen. Sie sah auf die Armbanduhr. In ein paar Minuten wäre die Stunde vorbei, danach konnte sie unbemerkt ihre Sachen abholen und verschwinden.

Sie wartete zehn Minuten und ging dann in das vermeintlich leere Musikzimmer. Dort saß Daniel Amantke auf dem Klavierhocker und wartete auf sie.

»Frau Garber, hören Sie, ich habe mit alldem …«

»Was machen Sie denn noch hier?«, fuhr sie ihn an, um Fassung ringend. Bis jetzt hatte sie es geschafft, nicht loszuheulen. Und das sollte gefälligst auch so bleiben, bis sie zu Hause war. Oder zumindest bis weder dieser Mann noch die Direktorin in der Nähe waren.

»Ich würde gerne mit Ihnen reden. Wissen Sie, ich verstehe nicht, was es mit dem Ganzen auf sich hat«, sagte er und blickte sie dabei fragend an.

»Ach ja? …«, sie lachte kurz auf. »Dabei ist es doch ganz einfach. Sie haben meinen Job, meinen Chor, meine Schüler – und die Wurm-Fischer ist mich endlich los! Was gibt es da nicht zu verstehen?«

Während sie sprach, griff sie nach ihrer Tasche, die neben dem Klavier stand, und nahm ihre Jacke vom Haken.

»Ihr Chor wird …«, begann er.

»Ach, lassen Sie mich einfach in Ruhe!«, fuhr sie ihn an und verschwand.

Während sie zum überdachten Fahrradparkplatz hinausging, holte sie mit zitternden Fingern ihr Handy aus der Tasche. Offenbar hatte der Rauswurf bereits die Runde ­gemacht. Der Chatverlauf der Chorgruppe aktualisierte sich im Sekundentakt, und zahlreiche WhatsApp-Nachrichten gingen bei ihr ein. Die Schüler schienen das Handyverbot völlig zu ignorieren.

»Sie hören doch nicht wirklich auf, Frau Garber?«, hatte Joshua geschrieben. »Das dürfen Sie nicht!«

»Sie müssen bei uns bleiben!«, schrieb Tami.

»Die Wurm-Fischer ist irre geworden!«, kam es von ­Jegor, und Jette schrieb mit mindestens zehn Fragezeichen: »Muss ich jetzt für ­Nele den Chor wieder verlassen?«

Mia fühlte sich im Moment nicht gewachsen, irgendwelche Antworten zu schreiben. Schließlich wusste sie ja selbst nicht, wie es weitergehen würde. Warum nur war sie nicht diplomatischer gewesen? Wie hatte sie alles aufs Spiel setzen können?

Als immer mehr Nachrichten eingingen, schaltete sie das Handy ganz ab, stieg aufs Fahrrad und fuhr los. Vielleicht würde ihr eine große Runde helfen, den Kopf irgendwie freizubekommen. Doch mit jedem Meter, den sie fuhr, ging es ihr immer schlechter statt besser. Es war fast so, als würde sie sich sinnbildlich immer mehr von der Schule und dem, was ihr so wichtig war, entfernen. Irgendwann kehrte sie schließlich um und machte sich auf den Heimweg.

Als sie um die Ecke bog, schien ihr Herz stehen zu bleiben. Der Rettungswagen und das Auto ihres Hausarztes Doktor Geiger standen vor dem Haus! Vater!

Sie sprang vom Fahrrad, ließ es achtlos fallen und eilte ins Haus.

»Papa!«, rief sie in der Diele. Aus dem Wintergarten hörte sie Stimmen.

»Mia!«, schluchzte Alma mit tränenüberströmtem ­Gesicht. »Endlich bist du da! Ich versuche schon die ganze Zeit, dich zu erreichen. Aber du gehst nicht ans Handy, und in der Schule hat man mir gesagt, du wärst weg.«

»Ich … ich …«, setzte Mia an, doch ihr kam keine Erklärung über die Lippen. »Was ist passiert?«

»Er hat wohl versucht aufzustehen. Ich wollte nur eine Flasche Wasser aus der Küche holen, und als ich zurückkam, lag er am Boden und …«

Mia hörte ihr gar nicht mehr zu. Sie trat zur Tür des Wintergartens. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, erstarrte sie. Ihr Vater lag mit aufgeknöpftem Hemd auf dem Boden. Neben ihm ein Defibrillator und einige leere kleine Glasampullen, Spritzen und blutbefleckte Tupfer. Doktor Geiger, ihr Hausarzt, kniete neben ­Albert und machte eine Herzdruckmassage. Zwei Rettungssanitäter standen neben den beiden. Sie wirkten irgendwie hilflos. Rudi lag vor dem Fenster und winselte leise, als wüsste er, was hier gerade passierte. Als er Mia entdeckte, stand er auf, trabte zu ihr und drückte sich eng an ihr Bein. Doch sie registrierte das gar nicht.

»Papa«, flüsterte Mia. »Bitte …«

»Mia, was ist passiert?«, hörte sie ­Sebastian hinter sich rufen und drehte sich zu ihm um. Er sah sie betroffen an, ging zu ihr und legte einen Arm um sie.

Doktor Geiger ließ von ­Albert ab. Sein Gesicht war von der Anstrengung gerötet, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Mit traurig blickenden Augen schüttelte er den Kopf.

»Mia … es tut mir so leid …«

Kapitel 4

Am selben Tag in New York, Manhattan

­VALERIE

Es war fast zehn Uhr vormittags, und ­Valerie spazierte mit ihren Gästen durch den Central Park. In der vergangenen Nacht hatte leichter Schneefall alles wie mit Puderzucker überzogen, und der seit zwei Wochen anhaltende Frost tat sein Übriges, um den Park in eine zauberhafte Winterlandschaft zu verwandeln.

Die beiden elegant gekleideten Frauen neben ­Valerie waren eigentlich keine echten Gäste, sondern wichtige Einkäuferinnen aus Frankreich, die derzeit eine neue und sehr exklusive Schuh- und Lederwarenkette in Europa aufbauten. Auf Wunsch ihres Stiefvaters Anthony sollte ­Valerie ihnen einige der bekanntesten Plätze in der amerikanischen Modemetropole zeigen, die gerade zur winterlichen Jahreszeit ein besonderer Magnet für Besucher waren.

­Valerie sprach, neben drei weiteren Fremdsprachen, fließend Französisch und hatte keine Probleme, sich mit den Frauen in deren Landessprache zu unterhalten.

»Und hier sind wir am Strawberry Field«, erklärte ­Valerie und deutete auf einen Kreis aus Mosaiken, in dessen Mitte das Wort Imagine zu lesen war. Dieser Platz im Park war im Jahre 1985 zum Gedenken an den von Chapman ­getöteten John Lennon errichtet worden.

»Und hier in der Nähe hat John Lennon gewohnt?«, wollte Louanne Sinne wissen.

»Ja … im Dakota-Gebäude.« ­Valerie deutete mit dem behandschuhten Finger in die besagte Richtung.

»Würden Sie bitte ein Foto von mir und Louanne machen, ­Valerie?«, bat Eloise Faure.

»Aber natürlich, sehr gern, Eloise.«