Der Weihnachtswald - Angelika Schwarzhuber - E-Book
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Der Weihnachtswald E-Book

Angelika Schwarzhuber

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Beschreibung

Wenn der Weihnachtsstern am hellsten leuchtet, ist es Zeit, einander zu vergeben …

Wie jedes Jahr an Weihnachten macht sich die alleinstehende Anwältin Eva auf den Weg zu ihrer Großmutter Anna. Das stattliche Anwesen der Familie, umringt von einem Garten mit einem Wald aus Tannenbäumen, ruft viele Erinnerungen hervor. Hier wuchs Eva auf, nachdem ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren. Im Haus trifft sie nicht nur auf ihren Jugendfreund Philipp, sondern auch auf das Waisenkind Antonie. Während draußen ein Schneesturm tobt, verschwindet das Kind plötzlich spurlos. Auf der gefährlichen Suche nach Antonie landen Eva und Philipp unversehens in der Vergangenheit ...

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Buch

Wie jedes Jahr vor dem Weihnachtsfest macht sich die alleinstehende Anwältin Eva auf den Weg zu ihrer Großmutter Anna. Das stattliche Familienanwesen, umringt von einem Garten mit einem Wald aus Tannenbäumen, ruft viele Erinnerungen hervor. Hier wuchs Eva auf, nachdem ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen. Inzwischen möchte eine Investorengruppe die hoch verschuldete Immobilie übernehmen, was Eva mit allen Mitteln verhindern will.

Nach ihrer Ankunft trifft Eva nicht nur auf ihren Jugendfreund Philipp, sondern auch auf das Waisenmädchen Antonie, das von ihrer Oma eingeladen wurde. Während draußen ein Schneesturm tobt, verschwindet das Kind plötzlich spurlos. Auf der waghalsigen Suche nach Antonie landen Eva und Philipp in der Vergangenheit und müssen vor der Familie ihrer längst verstorbenen Urgroßeltern verbergen, woher sie kommen.

Autorin

Die bayerische Autorin Angelika Schwarzhuber lebt mit ihrer Familie und einem äußerst willensstarken Kater, der in Eigenregie die Schlafzeiten der Autorin bestimmt, in einer kleinen Stadt an der Donau. Sie arbeitet auch als Drehbuchautorin für Kino und TV. Wenn sie nicht am Computer Texte dichtet, verzieht sie sich gerne mit Freunden in kleine Berghütten zum Schafkopfspielen.

Von Angelika Schwarzhuber ebenfalls bei Blanvalet erschienen:

Liebesschmarrn und Erdbeerblues ∙ Hochzeitsstrudel und Zwetschgenglück ∙ Servus heißt vergiss mich nicht

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

Angelika Schwarzhuber

Der Weihnachtswald

Ein Wintermärchen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2016 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Redaktion: Alexandra Baisch

Covergestaltung: Johannes Frick, Neusäß,

unter Verwendung von Motiven von Arcangel/Yolande de Kert und Shuttersock.com

LH ∙ Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-20009-1V005www.blanvalet.de

Für meine geliebten Großeltern Anna und Maximilian.Und für Opas vierzehn Geschwister.Insbesondere für die kleine Antonie.

Kapitel 1

Kommt Kinder, beeilt euch. Gleich bekommen wir Besuch! Auf geht’s!«, trieb die junge Erzieherin Christel die zehn Kinder an, die mit leuchtenden Augen den weihnachtlich dekorierten Aufenthaltsraum betraten. Sie waren alle zwischen fünf und acht Jahre alt und trugen zur Feier des Tages ihre schönsten Kleider. Die Kleinen plapperten aufgeregt und setzten sich rasch um den großen gedeckten Tisch, der mit Tannenzweigen, kleinen Figürchen und roten Kerzen liebevoll geschmückt war. Aus einem CD-Player lief das Weihnachtslied Leise rieselt der Schnee, und der Duft von brennenden Kerzen und frischem Tannengrün lag in der Luft.

Nur ein Kind ließ sich Zeit. Ein zierliches Mädchen, das so hübsch war, dass man kaum von ihm wegsehen wollte. Es war das älteste Kind in der Gruppe und hieß Antonie. Sie hatte goldbraune Locken, und ihre von seidigen Wimpern umrahmten Augen waren so blau wie der Himmel an einem strahlenden Sonnentag im Winter. Doch ihr Blick war gleichgültig, fast leer. Still setzte sie sich zu den anderen an den Tisch und senkte den Kopf. Antonie war vor neun Monaten aus einem Waisenhaus auf dem Land, das geschlossen werden musste, in dieser Einrichtung in München untergebracht worden. In ihrem kurzen Leben waren Waisenhäuser das einzige Zuhause, das sie kannte. An ihr früheres Daheim, aus dem eine Frau vom Jugendamt sie kurz vor ihrem dritten Geburtstag geholt hatte, konnte sie sich nicht mehr erinnern.

Irgendwann hatte ihr eine der vielen Erzieherinnen, die sich im Laufe der Jahre die Klinke in die Hand gegeben hatten, einfühlsam erzählt, dass ihre Mami jetzt im Himmel sei, bei ihrem Papi. Und dass die beiden als Engel von dort oben auf sie aufpassen würden.

»Vielleicht klappt es heute, Antonie«, sagte Christel und streichelte sanft über den Kopf des Kindes. Wie gern hätte sie das liebenswerte Mädchen selbst über die Weihnachtsfeiertage mit nach Hause genommen. Doch das war den Mitarbeitern nicht erlaubt, damit sich die Kinder emotional nicht zu sehr an sie gewöhnten.

Antonie hob den Blick und versuchte zu lächeln – was ihr jedoch gründlich misslang.

»Und wenn nicht, dann bleib ich morgen ein wenig länger hier und lese dir eine ganz besonders schöne Geschichte vor. Großes Ehrenwort!«, flüsterte die warmherzige Frau ihr leise ins Ohr und stupste Antonie liebevoll auf die Nase.

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Flur, und langsam, fast zögerlich, betraten einige Erwachsene den Raum. Es waren Ehepaare, die vorhatten, ein Waisenkind über die Feiertage zu sich zu nehmen und es vielleicht sogar zur Pflege aufzunehmen. Sie nickten den Kindern zu, einige lachten sogar, was ein klein wenig übertrieben wirkte. Doch wahrscheinlich waren die Erwachsenen heute sogar noch nervöser als die Kinder, von denen die meisten diese Prozedur nicht zum ersten Mal erlebten.

Christel drückte noch einmal aufmunternd Antonies Hand, dann ging sie den Besuchern entgegen.

»Herzlich willkommen«, sagte sie freundlich und forderte die Gäste auf, näher zu kommen und sich mit den Kindern zu unterhalten.

Antonies kleines Herz hüpfte plötzlich aufgeregt, als ein sehr sympathisch aussehendes Paar langsam auf sie zukam.

»Meine Güte, ist die süß, die Kleine. Peter, schau doch. Wie süß«, flüsterte die Frau ihrem Mann zu und hielt sich an seinem Arm fest.

»Aber wollten wir nicht ein jüngeres Kind? Und einen Jungen?«, fragte er, konnte den Blick jedoch selbst nicht von dem Mädchen wenden.

»Das ist doch egal. Bitte Peter, schau sie dir doch an.«

»Ja. Die ist wirklich besonders herzig«, gab er ihr schließlich recht.

Jetzt standen die beiden vor Antonie. Christel zwinkerte dem Mädchen aufmunternd zu und drückte hinter dem Rücken des Paares verstohlen beide Daumen.

Obwohl sie es eigentlich besser wissen müsste, entzündete sich in Antonie ein kleiner Funken der Hoffnung. Was, wenn es heute doch klappen würde? Es war schließlich Weihnachten! Und an Weihnachten passierten doch oft Wunder, hatte Christel ihnen erzählt. Dieses Paar sah so nett aus. Es wäre bestimmt schön, solche Eltern zu haben und für immer bei ihnen zu leben. Vielleicht hätte sie dort sogar ein eigenes Zimmer, das sie nicht wie hier mit drei weiteren Mädchen teilen müsste. Ach, sie wünschte es sich so sehr, in einer echten Familie zu leben. Sie musste sich jetzt nur zusammenreißen, damit sie es nicht wieder vermasselte.

»Hallo Kleine. Ich bin Peter, und das ist meine Frau Martina. Wie heißt du denn?«

Antonies Herz klopfte wild, und sie atmete schneller.

»Na? Magst du uns deinen Namen nicht verraten?«, fragte die Frau mit schmeichelnder Stimme.

Antonie nickte. Die beiden waren wirklich sehr nett. Es musste einfach klappen. Bei den anderen Kindern funktionierte es doch auch. Sogar bei den ganz kleinen. Sie holte tief Luft.

»Mmm-mmm-mm-mei…«, begann sie, und ihr Gesicht verzog sich dabei vor Anstrengung. Oh nein! Es passierte schon wieder.

»Trau dich ruhig!«, munterte Peter sie auf.

Panik stieg in ihr hoch. Doch noch schaute das Paar sie erwartungsvoll an.

»Mmm-mmmein-mmein N-Nnnn-Nnam-Nnnaaam-Nnname i-ii-iiist …«

Während sie stotternd versuchte, ihren Namen auszusprechen, verschwand das Lächeln aus den Gesichtern des Paares und machte einem betretenen Ausdruck Platz.

»Aaa-aann-nn-Antoonie!«, kam es endlich aus ihr hervor. Sie hatte es geschafft. Aber nicht so, wie sie es sich gewünscht hätte.

»Antonie … Das ist aber ein schöner Name«, sagte der Mann höflich. Dann wandte er sich leise an seine Frau. »Wie wäre es, wenn wir doch einen kleinen Jungen …?«

Sie nickte rasch.

»Ja. Das wollten wir ja eigentlich. Nicht wahr?« Sie schaute wieder zu Antonie und lächelte so übertrieben, dass ihre strahlend weißen Zähne nur so blitzten. »Wir wünschen dir noch schöne Weihnachten, Antonie.«

Dann wandten sie sich an den kleinen Rotschopf Sandro, der erst seit einigen Wochen im Heim war.

In Antonies Ohren rauschte es, und Tränen brannten in ihren Augen. Sie hatte es gewusst. Es war jedes Mal so. Niemand wollte sie haben. Zuerst waren sie immer von ihrem Anblick begeistert. Doch sobald sie versuchte, etwas zu sagen, wandten sie sich von ihr ab.

Antonie bemerkte nicht den mitfühlenden Blick der Erzieherin, die das Mädchen am liebsten in die Arme genommen und getröstet hätte. Sie schloss die Augen und hoffte, dass die Erwachsenen bald verschwinden würden, damit sie auf ihr Zimmer gehen konnte. Und dort würde sie endlich weinen können.

Doch ausgerechnet jetzt betrat ein Mann den Raum, der einen Rollstuhl schob. Darin saß eine betagte Dame in einem geschmackvollen dunkelblauen Kostüm. Ihre silbergrauen Haare waren hübsch frisiert, und sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der englischen Königin Elisabeth II. Das hohe Alter von fünfundneunzig Jahren sah man ihr nicht an.

Als Christel sie erblickte, ging sie sofort auf sie zu und begrüßte sie herzlich.

»Guten Tag, Frau Koffler. Wie schön, dass Sie hier sind.«

Anna Koffler war bekannt dafür, dass sie die Waisenhäuser in München und Umgebung schon seit vielen Jahren mit großzügigen Spenden unterstützte. Und jedes Jahr an Weihnachten kam sie persönlich hierher und brachte Geschenke für die Kinder mit.

»Ich freue mich auch, Frau …?«

»Nennen Sie mich doch bitte einfach Christel!« Sie nahm es nicht übel, dass die alte Dame ihren Namen seit dem letzten Jahr vergessen hatte.

»Ach stimmt«, schien Anna Koffler sich nun doch zu erinnern. »Christel … Das ist Philipp, der Sohn einer lieben Freundin.«

Der dunkelhaarige Mann, der sie begleitete, trug einen großen Sack und nickte der Erzieherin freundlich zu.

»Freut mich!«, sagte Christel.

»Schiebst du mich bitte näher zu den Kindern?«, bat Anna Philipp.

»Klar.«

Inzwischen hatten sich die Paare mit einigen der Kinder in einen Nebenraum zurückgezogen, um sich bei einem ersten Gespräch ein wenig kennenzulernen. Die übrig gebliebenen Kinder saßen mit mehr oder weniger enttäuschten Gesichtern am Tisch. Die Chance, von einem liebevollen Paar zur Pflege genommen oder wenigstens über die Feiertage eingeladen zu werden, war für heute vorüber.

Antonie ließ den Kopf hängen und zupfte unter dem Tisch am Saum ihres hellblauen Kleidchens.

»Guten Tag Kinder. Mein Name ist Anna. Anna Koffler.«

»Guten Tag«, grüßten die Kleinen im Chor und schauten die alte Dame im Rollstuhl neugierig an. Nur Antonie nicht. Sie hielt den Kopf weiterhin gesenkt.

»Das Christkind hat Geschenke bei mir abgeladen und mir aufgetragen, sie zu euch zu bringen. Aber auspacken dürft ihr sie natürlich erst morgen, am Heiligen Abend«, erklärte sie. Die Augen der Kinder funkelten vor Vorfreude, als Philipp den großen Sack auf den Tisch stellte und die liebevoll verpackten Überraschungen herausholte.

»Schau doch, Antonie. Es gibt Geschenke«, sagte Christel, um die Kleine ein wenig aufzumuntern.

Als Anna diesen Namen hörte, schien sie für einen Moment zu erstarren. Dann wandte sie sich an das Kind, räusperte sich und sprach es mit einem leichten Zittern in der Stimme an.

»Du bist Antonie?«

Das Mädchen nickte kaum wahrnehmbar.

»Magst du mich bitte anschauen?«

Zögerlich hob das Kind den Kopf. Als Anna die himmelblauen Augen des Mädchens sah, wurde sie blass im Gesicht.

»Geht es dir nicht gut, Anna?«, fragte Philipp besorgt.

»Doch. Es geht mir wunderbar. Alles ist bestens, Philipp«, sagte sie, und ihr Gesicht strahlte plötzlich. Dann wandte sie sich wieder an das Mädchen.

»Ich habe ein Haus mit einem großen Garten, und es wird morgen ein feines Essen geben. Antonie, ich möchte dich gerne einladen, das Weihnachtsfest bei uns zu feiern. Möchtest du das?«

Antonie schaute sie unglücklich an. Das sagte diese alte Frau doch nur, weil sie noch nicht wusste, dass sie nicht richtig sprechen konnte. Sobald sie zu stottern anfing, würde sie es sich bestimmt wieder anders überlegen und Sabrina oder Michi einladen.

Eine plötzliche Wut stieg in ihr hoch. Auf alle Erwachsenen, aber vor allem auf sich selbst, weil sie es nicht schaffte, normal zu sprechen, auch wenn sie es noch so sehr versuchte. Sie sah Anna trotzig an, verschränkte die Arme und schüttelte heftig den Kopf.

»Antonie«, mahnte Christel sie vorsichtig, »Frau Koffler hat dich gerade eingeladen. Freust du dich denn nicht?«

Sie schüttelte wieder den Kopf.

»Du würdest mich sehr glücklich machen, Antonie, wenn du morgen zu uns kommen würdest«, ließ Anna nicht locker.

Von wegen. Gleich würde die alte Dame es bereuen, dass sie gefragt hatte, dachte Antonie unglücklich.

»Iii-iiicchh kkk…«, begann sie mit verzweifeltem Trotz. Besser, sie brachte es gleich hinter sich, damit die Leute endlich gingen und sie sich keine weiteren Hoffnungen mehr machte und es ihr jedes Mal noch mehr wehtat, wenn sie sich wieder einmal nicht erfüllten. »Iii-ich kkk-kommm-me nni-nnicht.« So! Jetzt konnte die Frau sich ein anderes Kind suchen.

Doch Annas Lächeln wurde nur noch wärmer. Sie nahm die kleine Hand des Mädchens.

»Es fällt dir schwer zu sprechen. Ich weiß. Aber das macht nichts, Antonie. Wirklich nicht. Es reicht mir völlig, wenn du mit dem Kopf nickst, damit ich weiß, dass du kommen möchtest.«

Antonies Gesichtchen verzog sich zu einem ungläubigen Staunen. Wie? Hatte sie das eben richtig gehört? Diese Frau wollte sie trotzdem mitnehmen?

»Antonie ist ein ganz besonders liebes Mädchen, Frau Koffler«, sagte Christel, dankbar für das Feingefühl der liebenswürdigen Wohltäterin.

»Ja. Das glaube ich gerne«, antwortete Anna. »Es würde eine Freude sein, sie bei uns zu haben.«

»Und ich könnte morgen gut Hilfe gebrauchen, um den großen Weihnachtsbaum zu schmücken«, sagte Philipp und zwinkerte Antonie zu. »Hättest du denn Lust, mir zu helfen?«

Das Herz des Kindes machte einen freudigen Sprung. Die meinten es tatsächlich so!

»Nun. Was ist? Möchtest du?«, fragte Anna, die immer noch die Hand des Kindes hielt.

»Jjj-jjjj-jaaa!«, stotterte Antonie und nickte aufgeregt.

Kapitel 2

Etwa zur selben Zeit überholte Eva Lankers mit ihrem schnittigen Luxusgefährt eine Kolonne Lastwagen auf der Autobahn in Richtung München. Nebenbei diktierte sie ihrer Sekretärin Sandra einige Geschäftsbriefe und Memos, welche die Fünfundzwanzigjährige in das MacBook tippte, das sie auf dem Schoß hatte.

Eva war auf dem Weg zu ihrer Großmutter Anna Koffler, um mit ihr die Weihnachtsfeiertage zu verbringen. Anna war Evas letzte noch lebende Verwandte. Da ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als Eva gerade mal fünf Jahre alt war, hatte die Großmutter ihr einziges Enkelkind zu sich genommen und großgezogen.

»Sind die Weihnachtsmails alle draußen?«, fragte Eva. Eine Strähne ihres dunklen Haares hatte sich aus dem strengen Pferdeschwanz gelöst. Sie strich sie hinters Ohr. »Und die Weine verschickt?«

»Ja, natürlich. Alles erledigt, Frau Lankers. Und die Geschenke für Ihre Großmutter und die Haushälterin sind hübsch verpackt in meinem Koffer.«

»Sehr gut. Ich hoffe, Sie haben was Passendes besorgt?«

Eva war froh, dass sie eine Sekretärin hatte, die sich um so lästige Dinge wie den Einkauf der Geschenke kümmerte. Ein schlechtes Gewissen hatte sie deswegen nicht. Weder ihre Oma noch deren Haushälterin Margret würden jemals erfahren, dass sie die Sachen nicht selbst ausgesucht hatte. Und falls sie es doch herausfinden sollten, wäre es auch kein Beinbruch. Schließlich war sie eine schwer beschäftigte Anwältin und musste den Kopf für wichtigere Dinge freihalten, als sich um die ihrer Ansicht nach völlig überflüssigen Weihnachtsgeschenke zu kümmern.

»Ich denke schon. Für die Haushälterin Ihrer Großmutter habe ich feinste Champagner-Trüffel-Pralinen in einer edlen Geschenkdose aus Bleikristall.«

»Gut erraten! Margret nascht für ihr Leben gerne. Was man ihr auch deutlich ansieht … Und was haben Sie für meine Oma?«

»Nachdem Sie mal erwähnt haben, dass Ihre Großmutter oft Musik von Elvis Presley hört, habe ich für sie ganz besondere Aufnahmen besorgt.«

Eva warf ihr kurz einen überraschten Blick zu. Hatte sie das tatsächlich mal erwähnt? Anscheinend. Sie konnte sich jedenfalls nicht mehr daran erinnern.

»Musik-CDs? Ich weiß noch nicht mal, ob Oma ein Abspielgerät hat! Ich hoffe, Sie haben einen Player dazu besorgt!«

»Es sind Schallplatten«, beeilte sich Sandra zu sagen. »Echte Sammlerstücke.«

»Okay. Einen Plattenspieler hat sie jedenfalls.«

Evas Oma war in der Tat ein großer Fan von Elvis und hatte den Künstler 1972 sogar einmal live bei einem Konzert im Madison Square Garden gesehen. Für Anna war das ein unvergessliches Erlebnis gewesen, von dem sie bis heute noch immer mit einem Leuchten in den Augen erzählte.

»Elvis-Schallplatten … Gar keine schlechte Idee, Sandra.«

Diese Worte kamen einem Lob so nahe, dass eine freudige Röte das Gesicht der jungen Sekretärin überzog. Die netten Worte ihrer Chefin versöhnten Sandra sogar ein wenig damit, dass sie Weihnachten fernab von ihrer Familie verbringen musste. Seit sie für Eva Lankers arbeitete, gab es für sie keine regelmäßigen Arbeitszeiten mehr, und Sandra war inzwischen einiges gewohnt. Dafür zahlte ihre Arbeitgeberin gut. Mehr als eine Sekretärin üblicherweise bekam, und deswegen hatte Sandra sich nach einer längeren Arbeitslosigkeit vor einem halben Jahr auf diesen Job eingelassen.

Wenn man es nicht persönlich nahm, dass die taffe Singlefrau Eva Lankers für so etwas wie Freundlichkeit, Geduld oder gar Mitgefühl keinen Sinn zu haben schien, dann konnte man eigentlich gut mit der erfolgreichen Wirtschaftsanwältin auskommen, die aus eigener Kraft eine inzwischen große Kanzlei mit zahlreichen Angestellten aufgebaut hatte.

Eva war mit ihren Gedanken bereits wieder weit weg von Elvis-Schallplatten und Trüffelpralinen. Sie dachte über das Angebot eines kanadischen Großkonzernes nach, der über einen Anwalt vor einer Woche an sie herangetreten war. Das Unternehmen wollte das Anwesen ihrer Großmutter im Herzen von München für viel Geld erstehen, um an dieser Stelle einen Einkaufstempel zu errichten. Die alte Dame hatte bisher jedes Angebot ausgeschlagen und sich rigoros gegen einen Verkauf ausgesprochen. Deswegen hatte man versucht, die Gespräche über ihre Enkelin laufen zu lassen. Doch Eva hatte dem Mann deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nichts machen konnte, auch wenn sie selbst das Haus zu diesem Preis verkauft hätte, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch sie hatte in dieser Angelegenheit nichts zu sagen, denn Anna Koffler war die alleinige Besitzerin des Anwesens und würde es, solange sie lebte, unter keinen Umständen aufgeben.

Enttäuscht war der Anwalt abgezogen, jedoch nicht ohne darauf zu verweisen, dass er nicht lockerlassen würde. Eva musste beim Gedanken an ihre Großmutter fast schmunzeln. Stur wie sie war, würde der kanadische Konzern sich die Zähne an ihr ausbeißen.

Eva klappte die Blende herunter, um ihre Augen vor der gleißenden Sonne zu schützen, die an diesem ungewöhnlich warmen Dezembertag so strahlend vom Himmel schien, als stünde der Frühling vor der Tür.

»Geben Sie mir bitte meine Sonnenbrille, die ist im Handschuhfach«, bat Eva.

Die Sekretärin holte die Brille heraus und reichte sie ihrer Chefin.

»Schade, dass es in diesem Jahr schon wieder kein weißes Weihnachten gibt«, bemerkte sie etwas wehmütig und klappte dann ebenfalls die Blende nach unten. Für Sandra war Weihnachten die schönste Zeit des Jahres. Meist konnte sie es kaum erwarten, bis es endlich Advent wurde und sie mit dem Schmücken ihrer Wohnung beginnen konnte, in der inzwischen jeder freie Zentimeter von einem Sammelsurium aus kleinen Engeln und Weihnachtsmännern, Wichteln, Strohsternen und Kerzenleuchtern besetzt war.

»Quatsch. Wer braucht schon Schnee außer den Skifahrern in den Bergen? Und sogar das halte ich für eine gefährliche Freizeitgestaltung, die die Krankenkassen jährlich mehrere Millionen kostet«, warf Eva trocken ein. »Wenn es nicht schneit, sparen die Kommunen Unsummen an Geld für Streusalz und Personal. Und das kommt uns allen zugute. Außerdem bedeutet Schnee auf der Fahrbahn, dass man langsamer fahren muss«, fügte Eva hinzu und drückte lächelnd das Gaspedal durch.

Es war später Nachmittag geworden, als sie in München ankamen. Mit einer Fernbedienung öffnete Eva das große Tor und fuhr die lange Auffahrt durch den parkähnlichen Garten entlang bis zum imposanten Eingang des Hauses, das wie ein kleines verwunschenes Schlösschen zwischen uralten Bäumen stand. Das stattliche Anwesen war seit drei Generationen im Besitz der Familie Koffler. Die vielen Bäume und Sträucher verbargen die modernen Geschäfts- und Wohnhäuser ringsherum völlig, und man konnte fast vergessen, dass man sich im Herzen einer Großstadt befand. Eva parkte den Wagen neben der Treppe zum Eingang. Nirgends waren künstliche Lämpchen, blinkende Rentiere oder aus dem Fenster hängende Weihnachtsmänner zu sehen. Am Rand der Treppenstufen und vor der Haustür standen zwischen kleinen Buchs- und Tannenbäumchen in Tontöpfen verschiedene Laternen und Weckgläser mit dicken weißen und roten Stumpenkerzen, die die Gäste mit ihrem warmen Licht willkommen hießen. Alles war ganz einfach und gerade dadurch umso stimmungsvoller geschmückt.

»Wow!«, sagte Sandra beeindruckt, nachdem sie ausgestiegen waren. »Das ist ja wie im Märchen hier.«

Eva sparte sich eine Antwort darauf. Als sie den imposanten weihnachtlichen Kranz an der Haustür hängen sah, zog sich ihr Magen zusammen. Anscheinend war ihre Großmutter noch immer nicht zu alt, um diesen Weihnachtsschnickschnack endlich aufzugeben.

Sie seufzte. Zwei Tage würde sie es aushalten müssen, bevor sie wieder zurück nach Frankfurt fuhren. In ihrer modernen Penthouse-Wohnung, die völlig frei von kitschigem Weihnachtskram oder gar einem Weihnachtsbaum war, würde sie sich dann endlich ein wenig erholen können. Oder besser gesagt in Ruhe einen Stapel Unterlagen aufarbeiten, die zu Hause auf sie warteten. Darauf freute sie sich jetzt schon.

Als sie gerade aufsperren wollte, öffnete sich die große Eichenholztür, und Margret Zierl blickte ihnen strahlend entgegen.

»Eva! Wie schön, dass du endlich da bist!«, rief sie und wollte Annas Enkelin in einem ersten Reflex umarmen. Doch Eva streckte ihr rasch die Hand entgegen, und Margret trat wieder einen kleinen Schritt zurück.

»Guten Tag, Margret«, begrüßte Eva die langjährige Haushälterin und Freundin ihrer Großmutter freundlich, aber nicht sonderlich überschwänglich. Sie schüttelten sich die Hände.

»Hallo Frau Zierl …«, begann Sandra.

»Margret. Ich bin einfach nur Margret. Herzlich willkommen in München! Sie müssen die Sekretärin sein.«

Sandra fühlte sich in Gegenwart der sympathischen, etwas rundlichen Frau sofort wohl, die sie mit ihren graublauen Augen freudig anstrahlte.

»Ich heiße Sandra.«

»Sandra … Kommt doch bitte rein. Ich habe eine kleine Stärkung für euch vorbereitet.«

»Ich muss nur noch das Gepäck aus dem Wagen holen«, erklärte Sandra, während Eva bereits die große Diele betrat, die ebenfalls von zahlreichen Kerzen beleuchtet wurde und weihnachtlich dekoriert war.

»Anna hat sich ein wenig hingelegt. Deswegen trinken wir jetzt erst mal ein Tässchen Tee. Das Gepäck holen wir später«, sagte Margret bestimmt.

»Na gut«, sagte Sandra mit einem vorsichtigen Blick auf Eva, die jedoch nichts dagegen einzuwenden hatte.

»Es ist wunderschön hier!«, schwärmte die Sekretärin aufrichtig und sah sich neugierig um. Nachdem ihre Chefin so ein ausgesprochener Weihnachtsmuffel war, hätte sie nie und nimmer damit gerechnet, in ein weihnachtliches Paradies zu kommen. Alles war geschmackvoll dekoriert, und neben der großen Treppe war eine Weihnachtskrippe aufgebaut, von der Sandra vermutete, dass sie schon mehrere Jahrzehnte zum Weihnachtsfest hier ihren Platz hatte.

Eva verdrehte die Augen und schnaubte. Margret bemerkte das, lächelte aber nur milde. Sie kannte Eva schon, seit sie auf der Welt war, da sie mit ihren verunglückten Eltern befreundet gewesen war. Deswegen sah die Haushälterin meistens über ihre ruppige Art hinweg.

Nach dem Tee, zu dem es Gewürzkuchen gab, machten sich Sandra und Margret daran, das Gepäck ins Haus zu bringen.

Eva ging inzwischen in den ersten Stock und öffnete leise die Tür zum Zimmer ihrer Großmutter. Langsam betrat sie den Raum, der nicht nur als Schafzimmer diente, sondern auch eine Art kleines Wohnzimmer war. Mit einem bequemen großen Sofa, auf dem Anna nun schlafend mit leicht geöffnetem Mund lag, zugedeckt mit einer handgearbeiteten Wolldecke.

Als Eva näher trat und ihre Großmutter sah, erschrak sie. Seit dem vergangenen Jahr war Anna sichtlich gealtert, auch wenn sie im Vergleich zu anderen Senioren immer noch deutlich jünger aussah, als sie tatsächlich war. Doch letztlich hatte der Zahn der Zeit auch an ihr zu nagen begonnen.

Schon Wochen vorher war Eva die Vorstellung unangenehm, an Weihnachten nach München zu fahren, und am liebsten hätte sie diese Besuche gestrichen. Auch dieses Mal war es nicht anders gewesen. Doch immer wenn sie ihre Großmutter dann sah, war sie froh, hier zu sein, und es überkam sie eine Art innerer Frieden. Zumindest für einige Stunden. Bis dann wieder unweigerlich irgendetwas passierte, das sie auf die Palme brachte. Doch in diesem Moment überwog noch das schöne Gefühl.

Vorsichtig, sodass sie ihre Großmutter nicht berührte, ihr jedoch ganz nah war, setzte sie sich an den Rand des Sofas.

Sie wird bald sterben, ging es ihr plötzlich durch den Kopf, und bei diesem Gedanken gab es ihr einen Stich ins Herz. Nach dem Tod ihrer Eltern war die verwitwete Großmutter der einzige Mensch gewesen, den sie gehabt hatte. Mit einem ängstlichen Blick in die Zukunft hatte sie sich als Kind und Jugendliche oft gefragt, wie lange die Oma wohl leben würde. Damals hätte sie nie zu hoffen gewagt, dass Anna einmal so alt werden könnte.

»Eva! Mein Liebes …« Anna hatte die Augen geöffnet und schaute ihre Enkelin sanft lächelnd an.

»Hallo Oma.« Eva lächelte ebenfalls. »Bleib ruhig noch liegen.«

Anna griff nach ihrer Hand und nahm sie zwischen ihre faltigen Finger.

»Danke, dass du gekommen bist.«

»Tu ich das nicht jedes Jahr?«

»Doch. Aber …« Sie sprach nicht weiter.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Eva und genoss die Wärme der Hände ihrer Großmutter.

»Ich fühle mich großartig, Eva. Ganz großartig. Wir werden ein wunderschönes Weihnachtsfest verbringen.«

Sie schauten sich in die Augen, und jede der beiden ahnte tief in ihrem Inneren, dass es womöglich das letzte gemeinsame Weihnachtsfest sein könnte.

Anna konnte sich kaum sattsehen an ihrer geliebten Enkeltochter. Eva hatte genau die gleichen bernsteinfarbenen Augen wie ihr Vater Albert. Der frühe Tod des einzigen Sohnes und seiner Frau Charlotte hatte Anna damals fast das Herz aus dem Leibe gerissen. Doch sie hatte für ihre Enkeltochter stark sein müssen. Und tatsächlich hatte ihr das kleine Mädchen schneller wieder neuen Lebensmut geschenkt, als sie es sich hätte vorstellen können.

»Ja, das werden wir. Es wird ein wunderschönes Weihnachtsfest sein«, sagte Eva und versuchte, sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen. »Und damit wir deine unausweichlich kommende Frage gleich am Anfang hinter uns gebracht haben: Nein. Es gibt keinen Mann in meinem Leben, Oma«, sagte Eva in unmissverständlichem Tonfall. Eine Frage, die Anna jedes Mal stellte, wenn sie telefonierten. Ihre Großmutter konnte es offenbar nicht glauben, dass Eva nach einer gescheiterten Ehe mit einem Orthopäden, die noch nicht einmal alle vier Jahreszeiten überdauert hatte, keinen neuen Mann in ihr Leben ließ.

Anna schien jedoch nicht enttäuscht darüber zu sein. In Wahrheit verkniff sie sich ein Lächeln.

»Das wird sich bald ändern«, sagte sie.

Eva sparte sich eine Antwort.

In diesem Moment klopfte es an der Zimmertür.

»Ja bitte!«, rief Anna mit einer für ihr Alter immer noch sehr kräftigen Stimme.

Margret kam herein. Ihr Blick war besorgt.

»Ich wollte euch nicht stören, aber ein Herr Simon Urbaneck ist hier und möchte dringend mit dir sprechen, Anna.«

»Urbaneck? Kenn ich nicht.« Ihre Großmutter schaute verwundert drein.

»Er kommt von der Bank.«

»Ach, von der Bank …« Anna wurde blass.

Eva versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Was machte denn ein Bankangestellter um diese Zeit einen Tag vor dem Heiligen Abend hier?

»Vielleicht bringt er ja ein Geschenk vorbei?«, spekulierte sie.

Anna bemühte sich um einen erfreuten Blick, auch wenn sie ahnte, dass das bestimmt nicht der Fall sein würde.

»Natürlich. Das wird es sein!«

»Weißt du was Oma? Ich kümmere mich darum.«

Eva stand auf und ging zur Tür.

»Das musst du nicht, Eva. Margret, sag ihm bitte, dass ich unpässlich bin und er ein anderes Mal …«

»Ach was, ich kläre das«, unterbrach Eva sie. »Mach dir keine Gedanken.«

»Nein bitte …«, versuchte Anna sie zurückzuhalten, doch Eva war bereits hinausgegangen.

Kapitel 3

Im Büro im Erdgeschoss ging Simon Urbaneck ungeduldig auf und ab und sah immer wieder auf seine Armbanduhr. Er trug einen dunkelgrünen Anzug über einem beigen Hemd mit einer hellgrünen Krawatte und hielt eine farblich dazu passende Aktentasche in der Hand. Seine spärlich vorhandenen aschblonden Haare waren seitlich kurz geschnitten und zur Mitte hin modisch nach oben geföhnt, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Kakadu verlieh.

Eva betrat den Raum.

»Herr Urbaneck?«

Er ging auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen, die sich verschwitzt anfühlte. Eva unterdrückte den Impuls, sich die Hand an ihrer schwarzen Hose abzuwischen.

»Der bin ich. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«, fragte er in einem übertrieben freundlichen Singsang.

»Eva Lankers. Ich bin die Enkeltochter. Meine Großmutter lässt sich entschuldigen, es geht ihr leider momentan nicht so gut.« Eva bemühte sich, höflich zu sein, obwohl der Mann ihr unsympathisch war.

»Oh, das tut mir leid. Ausgerechnet so kurz vor Weihnachten«, sagte er übertrieben bedauernd.

Sie ging nicht darauf ein.

»Nehmen Sie doch bitte Platz.« Eva setzte sich an den großen imposanten Schreibtisch, der schon zu Zeiten ihres Ururgroßvaters hier gestanden hatte, und deutete auf den Ledersessel gegenüber.

Urbaneck setzte sich und legte die Aktentasche auf seinen Schoß.

»Nun, was führt sie zu so später Stunde noch hierher?«, fragte sie ihn ganz direkt. Ihr war vom ersten Moment an klar gewesen, dass er nicht gekommen war, um ein Geschenk abzugeben.

»Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen über die Angelegenheit reden darf.«

»Herr Urbaneck. Meine Großmutter hat mich gebeten, die Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen. Außerdem bin ich Anwältin und vertrete Frau Koffler in allen Belangen.« Das entsprach zwar nicht so ganz der Wahrheit, aber Eva wollte herausfinden, was los war, denn sie hatte kein gutes Gefühl. »Also, bitte. Worum geht es?«

Urbaneck zögerte kurz, öffnete dann aber doch seine Aktentasche und holte ein Dokument heraus, das er Eva reichte.

»Ihre Großmutter ist seit zwei Monaten mit der Zahlung der Kreditzinsen im Rückstand.«

Rasch überflog Eva die Seiten und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie betroffen sie war. Das Haus war mit einem hohen Kreditbetrag belastet. Dabei war sie immer davon ausgegangen, dass ihre Großmutter über genügend finanzielle Rücklagen verfügte, um das Haus zu unterhalten. Sie blätterte zur letzten Seite, und weder sie noch der Bankangestellte bemerkten, dass die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde. Margret stand draußen, um das Gespräch zu belauschen, wie Anna es ihr aufgetragen hatte.

Nachdem Eva die wichtigsten Daten nun kannte, hob sie den Kopf und schaute Urbaneck an.

»Na ja. Zwei Monate Rückstand sind sicher kein Beinbruch. Soweit ich sehe, wurden Zinsen und Tilgung bisher stets pünktlich bezahlt. Und das Anwesen ist ja wohl Sicherheit genug.«

Urbaneck wiegte mit dem Kopf hin und her.

»Bisher war das so. Das mag schon sein. Aber unsere Bank ist selbstverständlich allen Kunden verpflichtet. Wir können nicht riskieren, dass Frau Koffler womöglich zukünftig noch öfter mit der Zahlung in Verzug kommt.«

In Eva schrillten alle Alarmglocken. Durch ihre Arbeit wusste sie nur zu gut, was das bedeutete. Und als Urbaneck weitersprach, bestätigten sich ihre Befürchtungen.

»Frau Lankers, es tut mir leid. Aber wenn die komplette Kreditsumme in Höhe von fünfhundertzwanzigtausend Euro bis zum Ende dieses Jahres nicht zurückgezahlt ist, dann müssen wir den Vertrag kündigen.«

Eva ballte die Fäuste unter dem Tisch, denn ihr war klar, was das bedeutete. Sie würde den Vertrag mit der Bank genau prüfen müssen, aber sie befürchtete, dass eine bestimmte Klausel eingebaut war, welche Bankkunden bei Vertragsabschluss meist ignorierten, weil sie nicht davon ausgingen, jemals so hoch verschuldet zu sein. Wenn ihre Großmutter die Kreditsumme nicht bezahlte, die trotz der Höhe natürlich weit unter dem Wert des Hauses lag, würde das Anwesen in den Besitz der Bank übergehen, die es dann um ein Vielfaches mehr verkaufen würde. Und Eva ahnte auch schon, an wen. Es war Praxis einiger wenig seriöser Banken, die damit finanziell angeschlagenen Kunden das Messer an die Brust setzten, wenn die Immobilie interessant genug war. Und meistens leider mit Erfolg. Denn wer konnte schon innerhalb weniger Tage so eine hohe Summe aufbringen, wenn er ohnehin schon mit der Zahlung in Verzug war? Offenbar hatte Anna all die Jahre viel mehr Geld in die Instandhaltung und Renovierung des im zu Ende gehenden 19. Jahrhundert erbauten Hauses stecken müssen, als Eva gedacht hatte. Warum nur hatte ihre Großmutter nichts von ihren Geldproblemen gesagt? Niemals hätte sie ihr erlaubt, einen solchen Vertrag zu unterschreiben.

Eva suchte fieberhaft nach einer raschen Lösung. Wenn ihr mehr Zeit geblieben wäre, hätte sie selbst versucht, das Geld aufzubringen, um den Kreditbetrag abzulösen. Aber diese Summe war sogar für sie auf die Schnelle unmöglich aufzutreiben. Vor allem nicht jetzt, da sie vorhatte, demnächst in eine Expansion ihrer Kanzlei zu investieren, und damit keinen Spielraum hatte, ihre private Immobilie als Sicherheit für einen Kredit zu belasten.

Am liebsten wäre sie dem Mann ins schlecht rasierte Gesicht gesprungen. Aber sie musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Und genau das war ja eigentlich auch ihre Spezialität. Sie setzte eine undurchdringliche Miene auf, mit der sie ihren Gegnern schon in vielen Verhandlungen Respekt eingeflößt hatte.

»Herr Urbaneck. Könnte es sein, dass Ihre Bank von einem gewissen Unternehmen aus Kanada ein Angebot für das Anwesen bekommen hat?«

Urbaneck fasste sich kurz an die Krawatte, und sein Gesichtsausdruck bewies, dass Eva mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. Nach der Absage, die sie dem Anwalt des kanadischen Großkonzerns erteilt hatte, versuchten sie es nun auf diesem Weg. Wie sie an die Informationen über den Kredit gekommen waren, war Eva schleierhaft. Aber sie wunderte sich nicht weiter darüber. Hier ging es um eine Menge Geld, und da war einigen Menschen jedes Mittel recht. Trotzdem war es eine gute Nachricht. Denn jetzt hatte sie ein Mittel, um den Banker unter Druck zu setzen.

»Frau Lankers, es geht einzig und allein darum, dass wir Sorge haben, Ihrer Großmutter könnte die finanzielle Belastung über den Kopf wachsen«, säuselte er scheinheilig. »Um die Aufwendungen für den Unterhalt und die umfangreichen Renovierungen zu decken, mussten in den letzten Jahren immer wieder neue Gelder aufgenommen werden. Das hat natürlich auch automatisch die laufenden Kosten noch mehr erhöht.«

Eva holte die Visitenkarte, die sie vor ein paar Tagen von dem kanadischen Firmenanwalt bekommen hatte, aus ihrer Tasche und hielt sie Urbaneck unter die Nase.

»Jetzt hören Sie mir mal zu, lieber Herr Urbaneck«, sagte sie kühl und schaute ihm eindringlich in die Augen.

»Wir beide wissen genau, was dieses Haus und vor allem das Grundstück in dieser Lage wert sind. Es wäre mir ein Leichtes, meine Großmutter zu überreden, das Anwesen selbst an die Kanadier oder einen anderen Interessenten zu verkaufen. Damit könnte sie Ihnen auf einen Schlag den Kredit zurückzahlen und hätte noch genügend Geld übrig, um sich ein schönes Häuschen auf dem Land zu kaufen, und könnte vom restlichen Geld noch weitere fünfzig Jahre gut leben.«

»Aber es bleibt Ihnen nur noch eine Woche Zeit. Und ich bezweifle …«, begann Urbaneck, der vom selbstsicheren Auftritt seines Gegenübers inzwischen etwas verunsichert war. Als er hierhergekommen war, hatte er nur mit einer alten Dame gerechnet, die er leicht hätte einschüchtern können. »Ich bezweifle, dass Sie und Ihre Großmutter diese Summe so kurzfristig aufbringen können.«

»Glauben Sie mir, das ist das kleinste Problem. Die kanadischen Investoren würden die Verträge sicherlich sogar noch am Heiligen Abend mit uns aushandeln. Denn dafür spart sich der Konzern eine Menge Geld, das er ansonsten an Sie bezahlen müsste. Ich gehe davon aus, dass Ihre Bank deutlich mehr für das Anwesen verlangen würde als meine Großmutter.«

Unruhig rutschte Urbaneck auf dem Stuhl hin und her. Er hatte einen ganz klaren Auftrag von seinem Arbeitgeber bekommen. Wenn er dieses Millionengeschäft vermasselte, wäre das für seine Karriere nicht sonderlich hilfreich.

»Hören Sie, Frau Lankers …«

»Nein!«, unterbrach sie ihn. »Jetzt hören Sie mir zu. Meine Großmutter möchte nicht verkaufen, weil ihr viel an diesem Haus liegt. Doch ich würde nicht zögern, ihr dazu zu raten, sollte es zum Äußersten kommen. Das möchte ich jedoch vermeiden. Ich werde noch heute anweisen, dass die ausstehenden Rückzahlungsbeträge samt einer Vorauszahlung für die nächsten sechs Monate an Ihre Bank gehen.«

So viel Geld konnte sie auf die Schnelle problemlos überweisen.

Als Margret draußen im Flur diese Worte hörte, seufzte sie vor Erleichterung auf. Eva war ein gutes Kind und würde es nicht zulassen, dass das Anwesen unter den Hammer kam.

»Aber …«, begann Urbaneck.

Doch Eva ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Meine Großmutter ist in einem Alter, in dem man damit rechnen muss, dass sie nicht mehr lange leben wird. Sie ist gesundheitlich sehr angeschlagen.«

Eva versuchte, das so kühl wie möglich zu sagen, um Urbaneck auf ihre Seite zu ziehen.

»Ich bin ihre alleinige Erbin. Und ich habe kein Interesse an diesem alten Gemäuer. Sobald es mir gehört, werde ich es verkaufen, weil es dann für mich keinen Grund mehr gibt, nach München zu kommen. Und was der neue Besitzer damit macht, ist mir egal. Womöglich mag Ihrer Bank jetzt ein fetter Gewinn entgehen, aber das würde nicht ausschließen, dass ich ihr ein Vorkaufsrecht einräume, sobald ich die Besitzerin bin. Und Sie, lieber Herr Urbaneck, könnten in einem absehbaren Zeitraum auch persönlich davon profitieren, wenn Sie das Ihren Vorgesetzten schmackhaft machen würden. Denn für Ihr Verständnis für diese Lage würde ich mich natürlich auf großzügige Weise erkenntlich zeigen.«

Eindringlich schaute sie ihn an. Und natürlich kapierte der Bankangestellte sofort, worum es ging. Eva war es zutiefst zuwider, diesem Mann auch nur einen Cent anzubieten, aber sie sah im Moment keine andere Möglichkeit.

»Das wäre … nun, das wäre eine Option.« Urbanecks Augen funkelten. Eva hatte ihn mit der Aussicht auf Geld um den Finger gewickelt.

»Selbstverständlich muss niemand davon erfahren. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»So sehe ich das auch.« Er nickte. »Natürlich werden Sie für dieses ähm … besondere Arrangement eine Vereinbarung unterzeichnen. Die im besten Fall außer uns beiden niemand zu sehen bekommen wird.«

Urbaneck war vielleicht etwas einfältig, aber er war nicht dumm. Und sie durfte ihn nicht unterschätzen.

»Selbstverständlich.« Sie nickte entschlossen. »Sie werden nun Ihrer Bank erklären, dass das einzige Geschäft, das sie vorläufig mit uns machen wird, in der Bezahlung der Kreditzinsen und Darlehensraten liegt. Sollten Ihre Vorgesetzten trotzdem auf die Rückzahlung in diesem Jahr drängen, verkaufen wir noch morgen an die Kanadier. Wenn ich bis morgen Mittag keine Bestätigung über die Verlängerung des Kreditvertrages von Ihrer Bank habe, werde ich mich mit Kanada in Verbindung setzen. Aber ich denke, so weit wird es nicht kommen, nicht wahr, Herr Urbaneck?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, so weit wird es nicht kommen, Frau Lankers.«

»Schön. Sobald ich alles schriftlich habe, werde ich auch das andere Dokument unterzeichnen.«

Nun ging es darum, ob er ihr so weit vertraute. Urbaneck schüttelte grinsend den Kopf. Er tat es nicht.

»Tut mir leid. Aber das sollten wir doch besser sofort erledigen.«

Eva seufzte. Dieses kleine Scharmützel hatte sie verloren, aber die große Schlacht würde sie gewinnen! Und das war das Entscheidende. Denn sie würde einen Teufel tun und ihm irgendwann auch nur einen Cent geben. Urbaneck hatte nicht bemerkt, dass sie das Gespräch von Anfang an mit ihrem Handy aufgezeichnet hatte. Sobald ihr die schriftliche Bestätigung der Bank vorlag, dass wieder alles in Ordnung war, würde sie ihn über die Tonaufnahme informieren. Und wenn er nicht Gefahr laufen wollte, seinen Job zu verlieren, würde sich die ganze Angelegenheit wieder in Wohlgefallen auflösen. Eva hatte deswegen auch nicht den Funken eines schlechten Gewissens. Die Bank hatte ihre Oma ohne Not unter Druck gesetzt, um ein äußerst lukratives Geschäft zu machen, und Urbaneck – nun, Simon Urbaneck war genau so, wie sie ihn von der ersten Sekunde an eingeschätzt hatte: ein auf seinen Vorteil bedachter korrupter Handlanger, dem sie eine Lektion erteilen würde.

Eva holte ein Blatt Papier aus der Schublade und notierte, dass sie Herrn Urbaneck beim Verkauf des Anwesens mit einer Summe im fünfstelligen Bereich bedenken würde. Schwungvoll setzte sie ihre Unterschrift darunter und schob das Blatt dann über den Schreibtisch. Er überflog es.

»Aber da steht kein genauer Betrag drin.«

»Stimmt. Doch in diesem Fall werden Sie mir vertrauen müssen. Falls nicht, werde ich diese Vereinbarung sofort zerreißen und die Kanadier anrufen.«

Ihre Miene war ernst, und er gab schließlich klein bei. Ohne ein weiteres Wort faltete er das Blatt zusammen und steckte es ein.

»Gut. Dann will ich Sie nicht mehr länger aufhalten. Sie finden bestimmt selbst hinaus.«

Margret war bleich geworden, als sie mit anhören musste, was Eva vorhatte. Sie hatte immer gedacht, dass die Enkelin ihrer Freundin trotz ihrer barschen Art ein gutes Herz hatte. Doch nun musste sie sich eingestehen, dass sie sich bitter getäuscht hatte. Eva war es egal, was nach dem Tod von Anna aus diesem Haus wurde, das schon seit Generationen Heimat der Familie Koffler war. Offenbar hatte sie keinen Bezug dazu, sondern wollte nur das Geld einheimsen, das es bei einem Verkauf einbrachte. Wenigstens würde Anna das nicht miterleben, und Margret würde es ihr auch bestimmt nicht sagen, denn damit bräche sie ihrer alten Freundin das Herz. Rasch, damit Urbaneck sie nicht entdeckte, verschwand sie in die Küche. Unschlüssig, was sie tun sollte, rief sie ihren Sohn Philipp an. Gemeinsam mit ihm musste sie einen Weg finden, Eva von ihrem Vorhaben abzuhalten. Denn es betraf auch ihn.

Eva hatte sich inzwischen die Ordner mit den Kontoauszügen geholt, um sich ein exaktes Bild vom tatsächlichen Stand der Dinge zu machen. Nachdem sie eine Weile darin geblättert hatte, schüttelte sie fassungslos den Kopf.

»Das kann doch nicht sein«, murmelte sie ungläubig.

Kein Wunder, dass ihre Großmutter so tief in der Kreide stand. Neben den nicht gerade geringen Unterhalts- und Instandhaltungskosten für das Anwesen und den Krediten, die sie für die Renovierungen aufgenommen hatte, entdeckte Eva in regelmäßigen Abständen größere Überweisungen, die vor allem als Spenden an Kinderheime gegangen waren. Im Laufe der Jahre war hier eine stolze Summe zusammengekommen, die mit zum derzeitigen großen Minus auf dem Konto beigetragen hatte. Eva wusste, dass es ihrer Oma schon immer besonders wichtig gewesen war, Waisenhäuser und Waisenkinder zu unterstützen, aber dass sie dafür auch Geld ausgab, das sie inzwischen längst nicht mehr hatte, grenzte an Verantwortungslosigkeit. Sie musste unbedingt mit Anna reden. Da sie wusste, dass dieses Gespräch sicher nicht einfach werden würde, wollte sie Anna erst nach dem Heiligen Abend darauf ansprechen. Bis dahin wäre ja auch mit der Bank geklärt, wie es weitergehen würde.

Kapitel 4

Nachdem Eva ihre Sekretärin angewiesen hatte, das Geld an die Bank sofort zu überweisen, saßen sie nun am großen Eichentisch im Esszimmer und ließen sich ein leichtes Abendessen schmecken. Es gab gebratenen Fisch mit Gemüse und Rote-Bete-Salat mit Walnüssen. Anna hatte auf dem Zimmer gegessen und sich bereits schlafen gelegt, um für den kommenden Tag ausgeruht zu sein.

»Warum isst du denn nicht mit uns, Margret?«, fragte Eva, als diese ihnen Wasser nachschenkte.

»Ich habe schon gegessen, danke«, antwortete die Haushälterin so unbeteiligt wie möglich. In Wahrheit hatte es ihr vor lauter Kummer und Ärger den Appetit verschlagen, und sie musste sich zusammenreißen, um sich vor Eva nichts anmerken zu lassen.

»Es schmeckt übrigens ausgezeichnet«, schwärmte Sandra.

»Das freut mich«, sagte Margret und nickte der Sekretärin zu.

Die junge Frau war wirklich eine äußerst nette Person, und unter anderen Umständen hätte Margret sich nur zu gern zum Plaudern zu ihr an den Tisch gesetzt. Doch sie hätte es im Moment nicht geschafft zu verbergen, wie enttäuscht sie von Eva war.

Nach dem Essen zog Sandra sich gleich in ihr Zimmer zurück, um mit ihrer Familie zu telefonieren, und Margret räumte den Tisch ab. Eva überflog auf ihrem Smartphone die eingegangenen E-Mails.

Plötzlich waren von draußen Männerstimmen zu hören.

»Das ist Philipp mit dem Weihnachtsbaum«, sagte Margret. Sie ließ das Tablett stehen und ging hinaus in die Diele.

Eva versuchte, ruhig zu bleiben, aber sie spürte, dass ihr Puls anstieg. Sie kannte Philipp, der nur wenig älter war als sie, seit ihrer Kindheit. Schon seit vielen Jahren lebte und arbeitete er als Landschaftsgärtner in Salzburg. Doch jedes Jahr an Weihnachten trafen die beiden hier aufeinander, wenn er seine Mutter und sie ihre Großmutter besuchte. Und wie jedes Jahr kümmerte er sich darum, dass im Wohnzimmer ein Weihnachtsbaum stand. Eva verdrehte innerlich die Augen über diesen ihrer Ansicht nach völlig veralteten Weihnachtsbrauch. Sie überlegte kurz, ob sie ihm aus dem Weg gehen sollte, doch dann legte sie das Smartphone zur Seite und ging ebenfalls hinaus, um ihn zu begrüßen.

Im Wohnzimmer schleppten Philipp und zwei stämmige Männer einen riesigen Tannenbaum im Topf genau an dieselbe Stelle vor dem großen Fenster neben dem Sofa, an der er jedes Jahr stand. Margret hatte bereits eine weiße Tischdecke auf dem Boden ausgebreitet, auf welcher der Baum abgestellt wurde. Nach den Feiertagen, oder genauer gesagt, einen Tag nach dem Fest der Heiligen Drei Könige, würde der Baum abgeschmückt und mitsamt Topf auf die Terrasse gestellt werden. Sobald der Boden nicht mehr zugefroren war, würde er dann im hinteren Teil des großen Gartens eingepflanzt. Das war seit vielen Jahrzehnten Tradition im Hause Koffler. Im Laufe der Jahre war dadurch ein richtiger kleiner Tannenwald aus lauter ehemaligen Weihnachtsbäumen entstanden. Für die kleine Eva war dieser damals noch kleinere Wald ein magischer Ort gewesen, und sie hatte dort viele Stunden mit ihren Puppen gespielt.

Philipp bedankte sich bei den Männern für die Hilfe.

»Bitte kommt noch mit mir in die Küche, ich gebe euch ein paar Plätzchen mit«, sagte Margret, die bisher geschwiegen hatte, und die Männer folgten ihr hinaus.

Nun waren Eva und Philipp allein.

»Wow! Diesmal hast du dich aber selbst übertroffen. Der Baum ist ja … gewaltig!«, rutschte es ihr heraus. Und es stimmte. Es war der größte Baum, den es in diesem Haus gegeben hatte, seit sie sich erinnern konnte.

Philipp drehte sich zu ihr um und schaute sie an, ohne eine Miene zu verziehen.

»Extra für dich. Ich weiß doch, wie gern du Weihnachten magst, Eva.«

»Genauso gern wie Windpocken.«

Und nun musste er doch lächeln, als er daran dachte, wie sie beide als Jugendliche ausgerechnet in den Sommerferien gleichzeitig an den Windpocken erkrankt waren. Während Philipp nur ein paar kleine Pusteln bekommen hatte, war Evas Körper so übersät damit gewesen, dass sie ausgesehen hatte wie ein Streuselkuchen. Um sie aufzumuntern, hatte Philipp Eva in ihrem Zimmer auch dann noch Gesellschaft geleistet, als es ihm längst wieder besser ging. Sie hatten stundenlang Karten gespielt, Musik gehört, und er hatte sie abgelenkt, wenn sie sich wie wild kratzen wollte.

Philipp erinnerte sich gern an diese Zeit zurück, in der die beiden noch die besten Freunde gewesen waren. Und für kurze Zeit waren sie sogar mehr als das gewesen.

»Ich freue mich schon aufs Schmücken morgen früh mit dir«, flötete er mit einem boshaften Grinsen.

Sie schnaubte.

»Das kannst du schön alleine machen. Wahrscheinlich schlafe ich ohnehin bis Mittag.«

»Eine Eva Lankers, die bis Mittag schläft? Niemals! Aber falls doch, werde ich dich höchstpersönlich aus dem Bett werfen!«

Eva zuckte mit den Schultern.

»Das kannst du ja versuchen.«

»Lass es besser nicht darauf ankommen.« Seine Stimme klang nur wenig scherzhaft. Er zupfte ein vertrocknetes Blatt zwischen den Zweigen des Baumes hervor.

»Und, wie läuft es in Salzburg?«, fragte sie nach einer Weile, nachdem er keine Anstalten machte, das Gespräch wieder aufzunehmen.

»Keine Ahnung. Ich bin schon seit einem Dreivierteljahr nicht mehr dort gewesen.«

»Was?« Eva war überrascht. »Wo bist du denn jetzt?«

»Hier. In München.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Aber hat deine Dauerverlobte sich nicht immer geweigert, hierher zu ziehen?«

»Zwischen Paula und mir ist es aus. Deswegen hat mich auch nichts mehr in Österreich gehalten«, sagte er schlicht und drehte sich dann um, um hinauszugehen.

»Hey, warte.« Sie folgte ihm und hielt ihn am Arm fest. Philipp blieb stehen.

»Was denn?«, fragte er.

»Das mit Paula tut mir leid.«

»Muss es nicht.«

Sie grinste schief.

»Eigentlich tut es mir auch gar nicht leid.«

»Hab ich mir schon gedacht.«

»Ich konnte sie nie leiden.«

»Du hast auch niemals versucht, das zu verbergen.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Und wo arbeitest du in München?«, wollte sie wissen.

»Hier.«

»Wie hier?«

»Hier.«

Sie schaute ihn verdutzt an.

»Was bitte meinst du mit hier?«

»Ich meine mit hier: hier.«

»Hat Oma dich als Gärtner angestellt?«, fragte Eva verwundert. Das Grundstück war zwar groß, aber für einen eigenen Gärtner auch wieder zu klein.

»Anna hat mich nicht eingestellt. Ich habe einen Teil des Gartens gepachtet und baue mir hier gerade meine eigene Gärtnerei auf.«

Mit so einer Antwort hatte Eva nicht gerechnet.

»Was?«, fragte sie nur und schüttelte ungläubig den Kopf.

Er schaute sie mit kühlem Blick an.

»Ich weiß, dass dir das nicht ins Konzept passt. Aber sowohl für deine Großmutter als auch für mich schien das eine gute Lösung für unsere Probleme zu sein. So, und jetzt hab ich zu tun.«

Mehr wollte er im Moment nicht dazu sagen, sonst hätte er womöglich für nichts mehr garantieren können. Seitdem ihn seine Mutter angerufen und von Evas Plänen erzählt hatte, kochte er innerlich vor Wut, und er musste sich zusammenreißen, damit man ihm nichts anmerkte. Es fiel ihm schwer, sie nicht auf ihren Deal mit dem Banker anzusprechen. Aber er und Margret hielten es für klüger, wenn Eva vorerst nicht wusste, dass sie ihre Pläne kannten. Sie mussten einen Verkauf des Hauses unbedingt verhindern. Nicht nur, damit er seine berufliche Grundlage nicht verlieren würde und wieder von vorn beginnen müsste, weil er sein ganzes Geld in diese Gärtnerei gesteckt hatte. Philipp war auch überzeugt davon, dass Eva es später bedauern würde, sollte sie das Familienanwesen verkaufen.

Eva schaute Philipp hinterher, als er ohne ein weiteres Wort das Zimmer verließ. Sie wusste nicht so recht, ob sie ihm wirklich glauben sollte. Er hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, sie bei jeder Gelegenheit aufzuziehen. Doch das konnte sie ja leicht überprüfen. Sie zögerte kurz, ging dann in die Diele und holte aus der Schublade einer alten Kommode eine Taschenlampe, die dort mit einem Satz Reservebatterien für Notfälle bereitlag. Dann ging sie ins Wohnzimmer und verließ das Haus durch die Terrassentür. Nach dem frühlingshaften Tag war es inzwischen empfindlich kalt geworden. Doch die frische Luft tat ihr gut, und sie würde ohnehin nicht lange draußen sein, deswegen verzichtete sie darauf, einen Mantel anzuziehen.

Der Vollmond erleuchtete den Garten so hell, dass sie die Taschenlampe gar nicht brauchte. Wie durch Watte hindurch hörte sie leise den Verkehrslärm der umgebenden Straßen. Ansonsten war es still. Nachdem sie über den Rasen zu einer dichten, mannshohen Ligusterhecke gelaufen und durch ein kleines Gartentor geschlüpft war, entdeckte sie auf der anderen Seite tatsächlich ein neu gebautes Gewächshaus. Der große Gartenteich war verschwunden, und an seiner Stelle waren Reihen von Sträuchern und jungen Bäumen gepflanzt. An der Außenseite eines hölzernen Schuppens lehnten einige gefällte Weihnachtsbäume in verschiedenen Größen, die wohl noch an diejenigen, die auf den allerletzten Drücker vor dem Fest einen Baum brauchten, verkauft werden sollten. Ein mit Kies aufgefüllter Weg führte zum anderen Ende des Gartens, wo jetzt ein zusätzliches Tor war, durch das die Kunden zu den Geschäftszeiten von der Straße her auf das Gelände fahren konnten. Der private Teil mit dem Haus auf der anderen Seite war jedoch durch die dichte Hecke und den kleinen Tannenwald aus Weihnachtsbäumen der vergangenen Jahrzehnte abgetrennt.

Eva überlegte, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollte. Insgeheim war sie sauer auf ihre Großmutter, weil sie nicht mit ihr darüber gesprochen hatte. Wenn Philipp schon Geld in eine eigene Gärtnerei investierte, war das sicher langfristig gedacht. Doch wie sollte das laufen, wenn das Anwesen einmal Eva gehörte? Sie hatte ihr eigenes Leben in Frankfurt und keine Lust, das Haus zu behalten, geschweige denn selbst hier zu wohnen. Ganz abgesehen davon, war es für eine Person viel zu groß. Und eine Vermietung würde bei Weitem nicht genug einbringen, um den Kredit damit zurückzuzahlen, und schon gar nicht, um auch noch die Unkosten für die Instandhaltung zu decken.

Doch warum machte sie sich darüber überhaupt Gedanken? Philipp war selbst schuld, wenn er sich darauf eingelassen hatte, seine Gärtnerei hier anzusiedeln. Gerade er müsste eigentlich wissen, dass sie kein Interesse daran hatte, das Haus ihrer Großmutter später zu behalten. Sie erschrak, als sie merkte, wie sehr sie davon ausging, dass ihre Oma nicht mehr lange leben würde. Und doch hoffte sie, sich zu irren. Auch wenn sie sich nur ein- oder zweimal im Jahr sahen, so telefonierten sie doch oft miteinander, und Eva konnte sich ein Leben ohne Anna kaum vorstellen. Trotzdem musste sie realistisch bleiben.

Plötzlich spürte sie deutlich die eisige Kälte, die unter ihre Kleider kroch, und sie beeilte sich, zurück ins Haus zu kommen.

Jetzt lag sie schlaflos im Bett und versuchte, ihre kalten Füße aufzuwärmen, indem sie sie aneinanderrieb. Doch es half nichts. Sie blieben kalt wie zwei Eisklötze. So konnte sie nicht einschlafen. Schließlich stand sie auf und ging in die Küche. In der großen Abstellkammer suchte sie nach einer leeren Flasche und füllte sie mit heißem Wasser aus dem Hahn. Ein praktischer Ersatz, wenn man gerade keine Wärmflasche zur Hand hatte.

Dann nahm sie eine angefangene Packung Milch aus dem Kühlschrank, goss sie in einen kleinen Topf und erwärmte sie auf dem Herd. Eine Mikrowelle gab es nicht. Margret weigerte sich standhaft, ein Gerät, das Lebensmittel mit Hilfe von unsichtbaren Wellen erwärmte, im Haus zu haben. Das war ihr suspekt.

Mit einer großen Tasse heißer Milch und der Ersatzwärmflasche war Eva schon auf dem Weg aus der Küche, da blieb sie plötzlich stehen. Auch wenn sie für Weihnachten nichts übrig hatte, so gab es doch etwas, das sie an dieser Jahreszeit mochte: Plätzchen. In Frankfurt konnte sie gut darauf verzichten, denn das Gebäck, das es in den Geschäften zu kaufen gab, reizte sie nicht. Doch die liebevoll selbst gemachten Plätzchen von Margret waren etwas ganz anderes, und Eva konnte der Versuchung plötzlich nicht mehr widerstehen. Sie wusste genau, in welchem Schrank Margret die Blech- und Keramikdosen mit dem Weihnachtsgebäck immer aufbewahrte.

Ein paar Minuten später saß sie im Bett, nippte an der Milch und blickte dann voller Vorfreude in die Schale auf ihrem Schoß. Zimtsterne, Haselnuss-Spritzgebäck, mit Schokolade überzogene Mandelstangen, Hirschknöpf, Glühweinplätzchen, Spekulatius, Spitzbuben, Kokosmakronen – und ihre heiß geliebten Vanillekipferl! Eva lief das Wasser im Mund zusammen, und sie griff nach ihrem Lieblingsgebäck. Als das zarte Kipferl buchstäblich auf ihrer Zunge zerging, schloss sie für einen Moment glücklich die Augen. Mhmmm. Nichts war zu vergleichen mit dem wunderbaren Geschmack von selbst gemachten Weihnachtsplätzchen. Rasch griff sie ein weiteres Mal in die Schale.

Ihre Füße waren inzwischen warm geworden, und die Milch hatte sie schläfrig gemacht. Zufrieden wie lange nicht mehr, stellte sie die Schale zur Seite, in der nur noch ein kleiner Rest übrig war, und schaltete das Licht aus. Das schlechte Gewissen, weil sie sich die Zähne nicht mehr geputzt hatte, verdrängte sie einfach. Und kaum lag ihr Kopf auf dem Kissen, war sie auch schon eingeschlafen.

Kapitel 5

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