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Winterlich, weihnachtlich, wunderbar! Der perfekte Feel-Good-Roman für die kalten Tage.
Schneesturm im Bayerischen Wald! Kurz vor den Feiertagen bleibt Jana nach dem Besuch bei ihrer Familie mit dem Auto stecken. Hilfe findet sie in einem abgelegenen Haus bei ihrem altem Schulfreund Toni und dessen Neffen Finn, der kürzlich seine Mama verloren hat. Später am Tag stranden wegen der Witterung noch vier weitere Leute bei Toni. Einer ist Janas Ex-Verlobter Stephan. Die unfreiwillig zusammengewürfelte Gruppe ist eingeschneit und muss Heiligabend miteinander verbringen. Doch das Haus am See birgt ein Geheimnis – und nicht nur Jana wird ein ganz besonderes Weihnachten erleben …
Wohlfühllektüre für die schönste Zeit des Jahres – lesen Sie auch die anderen Weihnachtsromane von Angelika Schwarzhuber!
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Seitenzahl: 321
Veröffentlichungsjahr: 2025
Schneesturm im Bayerischen Wald! Kurz vor den Feiertagen bleibt Jana nach dem Besuch bei ihrer Familie mit dem Auto stecken. Hilfe findet sie in einem abgelegenen Haus bei ihrem altem Schulfreund Toni und dessen Neffen Finn, der kürzlich seine Mama verloren hat. Später am Tag stranden wegen der Witterung noch vier weitere Leute bei Toni. Einer ist Janas Ex-Verlobter Stephan. Die unfreiwillig zusammengewürfelte Gruppe ist eingeschneit und muss Heiligabend miteinander verbringen. Doch das Haus am See birgt ein Geheimnis – und nicht nur Jana wird ein ganz besonderes Weihnachten erleben …
Angelika Schwarzhuber lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Stadt an der Donau. Sie arbeitet auch als erfolgreiche Drehbuchautorin für Kino und TV, unter anderem für das mehrfach mit renommierten Preisen, unter anderem dem Grimme-Preis, ausgezeichnete Drama »Eine unerhörte Frau«. Ihr Roman »Hochzeitsstrudel und Zwetschgenglück« wurde für ARD/BR verfilmt. Zum Schreiben lebt sie gern auf dem Land, träumt aber davon, irgendwann einmal die ganze Welt zu bereisen.
Der Weihnachtswald · Das Weihnachtswunder · Das Weihnachtslied · Das Weihnachtsherz · Die Weihnachtsfamilie · Die Weihnachtsüberraschung
Angelika Schwarzhuber
Roman
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(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR.)Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Redaktion: Alexandra Baisch
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign; unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (Mumemories; TWINSDESIGNSTUDIO; Igor; Subbotina Anna; lauritta) und Bokeh Blur Background / Shutterstock.com
LH · Herstellung: DiMo
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-32173-4V001
www.blanvalet.de
Für Liam, Leonardo, Isabella und Naomi. Schön, dass es euch in meinem Leben gibt.
Bodenmais im Bayerischen Wald
Oh du fröhliche …« erklang es aus den Boxen des alten Plattenspielers, der noch von Janas Großeltern stammte. Die vier honiggelben Kerzen des Adventskranzes verbreiteten ein warmes, stimmungsvolles Licht. Im Wohnzimmer duftete es nach Bienenwachs und Tannengrün, nach Glühwein und Plätzchen. Im Backofen in der Küche nebenan brutzelte der Gänsebraten vor sich hin. Eigentlich war es wie in jedem Jahr an Weihnachten. Eigentlich!
Dennoch fühlt es sich ganz anders an. So als hätte man den Zucker in einer Torte vergessen oder die Gewürze im Lebkuchen, dachte Jana. Kein Wunder, denn es war noch gar nicht Weihnachten, sondern zwei Tage vor Heiligabend. Und zum ersten Mal seit Jana vor gut neunundzwanzig Jahren zur Welt gekommen war, gab es im Haus ihrer Eltern keine rot-gold geschmückte Nordmanntanne mit einem funkelnden Stern auf der Spitze.
»… oh du selige …«
Jana fiel in der zweiten Stimme mit ein und schielte zu ihren Eltern Almut und Franz, die das Lied trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – besonders inbrünstig schmetterten.
Janas sieben Jahre ältere Schwester Christa beschränkte sich wie immer darauf, so zu tun, als ob sie mitsingen würde, dabei bewegte die völlig unmusikalische Anwältin nur die Lippen.
»… freue dich, freue dich …«
Elina strahlte ihre Tante Jana mit einem breiten Lächeln an, als das Lied zu Ende ging. Dabei war die süße kleine Zahnlücke in der oberen Reihe besonders gut zu sehen. Jana zwinkerte zurück. Gleich war es Zeit für die Bescherung.
»Frohe Weihnachten, meine Lieben«, wünschte Franz seiner Familie und fragte dann etwas leiser: »Darf man das überhaupt schon vorher sagen?«
»Das nehmen wir in diesem Jahr einfach nicht so genau«, winkte Almut ab und umarmte erst ihren Mann, dann ihre beiden Töchter und schließlich die fünfjährige Elina.
»Eben. Und übermorgen feiern wir dann noch mal – und zwar ganz anders«, erklärte Christa mit einem zufriedenen Lächeln.
»Ich kann es immer noch nicht glauben. Weihnachten auf einem Kreuzfahrtschiff auf dem Nil und Silvester am Strand von Hurghada«, schwärmte Almut aufgeregt. »So ein großzügiges Geschenk!«
»Ihr habt mich die letzten Jahre mit Elina immer so viel unterstützt, das ist jetzt mein Dankeschön an euch!«, erklärte Christa, die noch vor der Geburt ihrer Tochter von ihrem Ehemann verlassen worden war. Franz und Almut waren vom ersten Tag an eingesprungen, damit die ehrgeizige Juristin weiterarbeiten und sich eine eigene Kanzlei aufbauen konnte, die inzwischen zu einer der Top-Adressen im Landkreis gehörte.
Franz linste zu seiner jüngeren Tochter, und das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Wirklich schade, dass du nicht dabei sein kannst, Janinchen«, meinte er etwas bedrückt, und ihm rutschte dabei auch ihr Kosename aus Kindertagen heraus, den er nur ganz selten noch benutzte.
»Janinchen hört sich an wie Kaninchen«, giggelte Elina vergnügt.
»Schon gut, Papa. Ist nun mal so«, sagte Jana. Sie war zwar noch immer sauer auf ihre Schwester, ließ es sich jedoch nicht anmerken, um den anderen den Tag nicht zu verderben. Tatsächlich wäre sie nämlich wirklich auch gerne nach Ägypten mitgekommen. Doch Christa hatte noch nicht einmal daran gedacht, sie zu fragen, sondern die Reise einfach als Überraschung für ihre Eltern gebucht. Sie hatte die Bombe aber erst vor fünf Tagen platzen lassen und damit die Pläne aller für die Weihnachtszeit gehörig durcheinandergewirbelt.
Während Almut vor Freude ganz aus dem Häuschen war, wusste Franz noch nicht so recht, was er von diesem mehr als großzügigen Geschenk seiner Tochter halten sollte. Heiligabend auf einem Deck in der Sonne? Die Pyramiden von Gizeh anstatt des traditionellen Eisstockturniers mit seinen ehemaligen Kollegen aus der Glasfabrik am zweiten Weihnachtsfeiertag? Spaziergänge am Strand und nicht durch die hiesige Schneelandschaft? Für ihn hörte sich das ehrlich gesagt wenig verlockend an. Dennoch hätte er das Geschenk nie und nimmer ausgeschlagen. Damit hätte er seine älteste Tochter brüskiert. Außerdem wollte er seiner Frau die Freude nicht verderben. Almut hatte schon immer von exotischen Reisen geträumt, doch weiter als bis zur oberen Adria waren sie bisher nie gekommen.
Trotzdem nagte es an ihm, dass seine jüngste und heimliche Lieblingstochter nicht dabei sein würde und die Weihnachtszeit zum ersten Mal ohne die Familie verbringen musste. Und er ohne sie.
»Warum bleibst du nicht einfach trotzdem hier?«, schlug er vor. »Du kannst am Silberberg Skifahren gehen, dich bei uns mit deinen alten Freundinnen treffen und es dir hier im Haus gemütlich machen.«
Eigentlich hatte Jana tatsächlich geplant, die Zeit bis Neujahr bei ihren Eltern zu verbringen. So wie jedes Jahr in den Winterferien, wenn der Kindergarten in München, in dem sie seit sechs Jahren als Erzieherin arbeitete, geschlossen war. Sie liebte ihre alte Heimat im Bayerischen Wald und hatte sich schon auf das Skifahren mit ihren Schulfreunden gefreut, zu denen sie immer noch Kontakt hatte, auf das Schlittschuhlaufen oder die Schneewanderungen mit ihrem Vater. Doch fast zwei Wochen so ganz ohne ihre Familie in dem großen Haus? Da würde sie sich bestimmt einsamer fühlen als in ihrem WG-Zimmer in der Wohnung in München, die sie sich mit zwei Mitbewohnerinnen teilte. Die verbrachten die Feiertage zwar ebenfalls bei ihren Familien, kamen danach aber wieder zurück und hatten sogar eine kleine Silvesterparty geplant, bei der Jana nun dabei sein würde.
»Und Tante Wally würde sich bestimmt auch freuen, wenn du ab und zu bei ihr vorbeischaust, während wir weg sind«, warf ihre Mutter ein.
»Die besuche ich morgen im Seniorenheim, bevor ich nach München zurückfahre«, sagte Jana. Nur wegen der gelegentlichen Besuche bei ihrer Großtante wollte sie auch nicht unbedingt allein im Haus in Bodenmais bleiben.
»Wann gibt es denn die Geschenke?«, drängte Elina, schon ein wenig ungeduldig. Sie war ganz begeistert, dass das Christkind bei ihnen schon ein paar Tage früher kam als bei ihren Freundinnen und Freunden aus dem Kindergarten.
»Jetzt, Spätzchen«, antwortete ihre Oma mit einem breiten Lächeln und reichte Elina eines der Päckchen, die auf dem Tisch neben dem Adventskranz standen.
Während Elina es mit vor Aufregung rosigen Wangen öffnete und sich riesig über einen Lego-Bauernhof freute, reichte Christa ihrer Schwester die obligatorische Flasche Champagner, welche auch die wichtigen Klienten der Kanzlei bekamen, wie Jana wusste.
»Aber wir haben doch letztes Weihnachten ausgemacht, dass wir beide uns gegenseitig nichts mehr schenken«, wandte Jana ein, die sich selbst an die Vereinbarung gehalten und somit kein Präsent für Christa dabeihatte.
»Ist auch eher als kleine Entschuldigung gedacht, weil ich deine Pläne für die Feiertage doch ein wenig durcheinandergebracht habe.«
»Nicht nur für die Feiertage«, konterte Jana. Diesen Einwurf konnte sie sich nicht verkneifen, doch ihre Schwester hatte sich bereits wieder den anderen zugewandt, und es ging weiter mit der Bescherung.
Ihrer Mutter schenkte Jana eine teure Gesichtscreme, die sich die sparsame und in solchen Dingen fast ein wenig knauserige Almut niemals selbst gönnen würde. Und ihr Vater bekam seinen Lieblingswhisky, von dem er sich nur zu besonderen Gelegenheiten ein Gläschen einschenkte.
»Und das hat das Christkind noch für dich gebracht, Elina«, sagte Jana und reichte ihrer Nichte ein größeres Paket.
»Was ist das denn?«
»Pack es aus, dann weißt du es.«
»Schlittschuhe!«, rief die Kleine kurz darauf begeistert und fiel ihrer Tante um den Hals. Die hatte Elina sich schon seit Wochen sehnlichst gewünscht.
»Wenn ihr aus dem Urlaub wieder zurück seid, besuche ich dich gleich am Wochenende, und dann üben wir zusammen«, versprach Jana, die selbst schon als Vorschulkind angefangen hatte, Pirouetten zu drehen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, in den Ferien so oft wie möglich mit Elina aufs Eis zu gehen. Überhaupt hätte sie gern viel Zeit mit ihrem Patenkind verbracht. Doch auch diese Pläne hatte ihre Schwester mit der Überraschungsreise zunichtegemacht.
»Lass uns gleich mal nachsehen, ob sie dir passen«, sagte Jana, die ihre Mutter vor dem Kauf extra nach der aktuellen Schuhgröße der Nichte gefragt hatte.
Eifrig zog Elina die Hausschuhe aus und setzte sich auf einen Hocker. Jana half ihr in die roten Kinderschlittschuhe.
»So, jetzt steh mal auf!«
Sie hielt Elina an den Händen fest, während sich das Mädchen wackelig auf dem dicken Teppich erhob.
»Und?«
»Das drückt ein bisschen, Tante.«
»Echt? Wo denn?«
»An der großen Zehe … Aber das macht nichts. Das geht schon«, beteuerte sie mit einem nicht ganz überzeugenden Lächeln.
»Was für eine Größe ist das denn?«, wollte Christa wissen.
»Die Schuhe sind verstellbar und sollten eigentlich von Größe 26 bis 28 passen«, antwortete Jana.
»Oje – das ist knapp. Elina ist in den letzten Wochen noch mal ziemlich gewachsen, auch die Füße. Sie braucht inzwischen mindestens Größe 28, wenn nicht sogar 29.«
»Da hat das Christkind sich wohl etwas verschätzt.« Jana sah zu ihrer Mutter, die bedauernd mit den Schultern zuckte.
»Ich dachte wirklich, dass es noch locker reichen würde«, murmelte sie. »Tut mir leid.«
Jana unterdrückte ein Seufzen.
»Kann ich jetzt nicht Schlittschuh fahren?«, fragte Elina enttäuscht, und in ihren großen grüngrauen Augen schimmerten Tränen.
»Doch. Auf jeden Fall kannst du das!«, rief Jana rasch. »Wenn du wieder zurück bist, hat das Christkind schon längst welche gebracht, die dir passen, und dann gehen wir beide aufs Eis.«
»Versprochen?«
»Aber klar. Ganz fest versprochen!«
Sie würde die Schuhe gleich nach den Feiertagen im Sportladen in München umtauschen.
Nun wartete noch ein Geschenk von ihren Eltern auf Jana. Normalerweise bekam sie immer einen Gutschein für ein Modegeschäft vor Ort und eine Schachtel mit ihren Lieblingspralinen sowie ein wohlduftendes Duschbad. Auch diesmal hatten ihre Eltern diese Tradition beibehalten. Doch es gab noch eine weitere Überraschung. Almut reichte ihrer Tochter einen kleinen Samtbeutel.
»Was ist das denn?«, fragte sie neugierig.
»Du musst es auspacken, wenn du es wissen willst«, forderte ihr Vater sie lächelnd auf.
Jana staunte, als sie ein Paar goldener Ohrhänger mit Brillanten und jeweils drei nach unten hin größer werdenden hellgrünen Peridot-Steinen herausholte.
»Das sind ja die Ohrringe von Oma Luise!«, rief Christa und hörte sich fast ein wenig neidisch an, wie Jana fand.
»Ja. Und sie sind viel zu schön, um nur im Schmuckkästchen zu liegen. Mir stehen sie leider nicht so gut, aber zu deinen rotbraunen Locken und den hellgrünen Augen passen sie perfekt, Jana«, sagte Almut.
»Die sind wirklich wunderschön! Vielen Dank!«, murmelte Jana berührt und steckte sie gleich an.
»Toll«, schwärmte Franz. »Meine Mutter würde sich freuen, wenn sie dich jetzt damit sehen könnte. Ihr wisst ja, dazu gibt es diese besondere Geschichte.«
»Du meinst, dass Oma Luise am Abend vor ihrer Hochzeit ein Päckchen mit den Ohrringen bekam, auf dem nur ihr Name stand?«, erinnerte sich Christa.
»Für meine Luise stand darauf, und sie dachte damals, dass sie ein Geschenk ihres Bräutigams waren, also hat sie sie zur Hochzeit angesteckt«, bestätigte er. »Erst im Laufe des Tages hat sich herausgestellt, dass sie nicht von meinem Vater waren. Danach hat sie den Schmuck nie mehr getragen.«
»Und sie hat echt niemals herausgefunden, von wem das Päckchen stammte?«, wollte Jana wissen.
»Nein. Und falls doch, hat sie keinem Menschen etwas davon erzählt«, antwortete Franz.
Ob da wohl ein geheimnisvoller Verehrer dahintersteckte?, fragte sich Jana. Sie liebte Geheimnisse. Und mit diesem rätselhaften Hintergrund bedeutete ihr der wunderschöne Schmuck gleich noch viel mehr.
»Auf dich wartet übrigens auch noch ein Geschenk, Christa«, sagte Almut. »Aber das bekommst du erst auf dem Schiff.«
Diese Information schien Christas Laune prompt wieder zu heben, und sie machte ihrer Schwester sogar ein Kompliment. »Die Ohrringe passen perfekt zu dir, Jana! Du siehst Oma in jungen Jahren echt auch ein wenig ähnlich, wenn man sich die alten Fotos so anschaut.«
Jana warf einen Blick zu den vielen Bildern, die gerahmt auf der Kommode standen. Und nicht zum ersten Mal entdeckte auch sie eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer vor zehn Jahren verstorbenen Oma Luise, die auf dem alten Hochzeitsfoto aus den Fünfzigerjahren genau diese Ohrringe trug.
»Vielen Dank. Ich freue mich wirklich sehr!«, sagte Jana und umarmte nacheinander ihre Mutter und ihren Vater. Sie würde das Geschenk in Ehren halten.
»So. Und ich geh jetzt mal in die Küche und schau nach dem Braten!«, verkündete Almut.
»Moment, Mutter!«, hielt Christa sie zurück. »Elina hat noch Geschenke für euch.«
Sie nickte ihrer Tochter zu, und die Kleine flitzte hinaus in den Flur zur Garderobe. Kurz drauf kam sie mit ihrem Rucksack zurück.
»Das hab ich im Kindergarten gemacht!«, erklärte Elina und holte für ihre Großeltern zwei selbst gebastelte Weihnachtswichtel und für Jana ein kleines Album heraus, das sie mit Fotos und Deko-Sachen beklebt und bemalt hatte.
Jana drückte die Kleine fest an sich.
»Wie toll! Danke, du Süße. Ich freue mich riesig darüber.«
Auch ihre Oma und ihr Opa waren begeistert über das putzige Geschenk ihrer Enkelin.
Während Almut, Franz und Christa sich in der Küche um das Essen kümmerten, hockte Jana mit Elina im Wohnzimmer auf dem Teppich und blätterte durch das Album. Im Hintergrund lief leise Weihnachtsmusik.
»Das sind die Kinder von der roten Gruppe!«, erklärte die Kleine ihrer Tante bei einem Bild vom ersten Kindergartentag im vergangenen September. Elina stand zwischen einem blonden Mädchen und einem rothaarigen Jungen, der eine grasgrüne Brille trug. Einige der Kinder kannte Jana von Elinas letztem Kindergeburtstag, von Besuchen auf dem Spielplatz oder aus der Nachbarschaft.
Ein weiteres Bild zeigte Elina und einen etwas kleineren Jungen, der eine rote Schirmmütze bis über die Nasenspitze gezogen hatte, wie sie Händchen haltend und mit kleinen Rucksäcken auf dem Rücken durch den herbstlichen Wald stapften.
»Wer ist das denn?«
»Finn. Aber der kommt nicht mehr«, erklärte die Kleine, und ihr Lächeln war plötzlich verschwunden.
»Du meinst, nach den Ferien.«
Sie nickte.
»Warum das denn?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Weiß nicht.«
»Hm. Das ist wirklich schade. Zieht er denn um?«
Wieder zuckte sie mit den Schultern, und Jana hatte das Gefühl, dass Elina nicht mehr dazu sagen wollte, obwohl sie noch nicht alles erzählt hatte.
»Schau Tante, da war der Nikolaus im Kindergarten!« Elina deutete auf ein anderes Bild mit einem etwas moppeligen Jungen. »Der Flori hat sich gefürchtet, weil er immer so frech ist.«
»Ach je, der arme Kerl«, meinte Jana. Sie selbst hatte sich als kleines Mädchen vor allem vor dem Krampus gefürchtet, der den Nikolaus meistens begleitet und die Kinder mächtig erschreckt hatte. Schon Tage vorher hatte sie vor Aufregung kaum mehr schlafen können und war zu ihrer großen Schwester ins Bett geschlüpft.
»Aber es war gar nicht schlimm«, beteuerte Elina.
»Na dann ist es ja gut.«
»Essen ist fertig!«, rief Franz ins Wohnzimmer, und Jana und Elina standen auf und gingen ins Esszimmer.
Gänsebraten mit Blaukraut und Knödeln war eines von Janas Lieblingsgerichten, das es nur an Weihnachten bei ihren Eltern gab.
»Mama, das kriegst nur du so gut hin!«, schwärmte Jana, die selbst keine allzu talentierte Köchin war.
»Aber ich habe das Blaukraut geschnitten. Das war auch ganz schön viel Arbeit!«, erinnerte Franz.
»Wir wissen es alle: Du bist der wahre Küchenheld, Papa!«, meinte Christa trocken.
»Allerdings. Die Nachspeise hab schließlich auch ich gemacht!«
»Was gibt es denn heute zum Dessert?«, fragte Jana neugierig.
»Ein weihnachtliches Schwarzwälder-Kirsch-Tiramisu!«, verriet Franz.
»Und Plätzchen!«, ergänzte Almut.
»Ich mag Plätzchen!«, rief Elina mit großen Augen.
»Aber nicht zu viele, nicht, dass du Bauchweh kriegst«, meinte Christa, die etwas streng sein konnte, was den Süßigkeitenkonsum ihrer Tochter betraf.
»Ach, übrigens. Ich habe gehört, dass ab März eine Stelle als Erzieherin im Kindergarten frei wird!«, meinte Franz plötzlich, während er sich noch mehr Soße über den Braten goss.
»Bitte, Franz! Denk an dein Cholesterin«, ermahnte Almut ihren Mann und wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, gleich darauf an Jana: »Dort suchen sie wohl schon länger. Warum bewirbst du dich nicht? Die würden dich bestimmt mit Handkuss nehmen.«
»Ich hab doch meinen Job in München.«
»Aber kein richtiges Leben. Wenn du dir noch nicht mal eine eigene Wohnung leisten kannst«, ließ Christa in ihrer überaus direkten Art verlauten. »Mit fast dreißig noch immer in einer WG?«
»Für mich ist das okay. Außerdem könnte ich es mir leisten, wenn ich es wollte«, beteuerte Jana ein wenig trotzig. Bei den hohen Mietpreisen würde aber tatsächlich der größte Teil ihres Gehalts für eine eigene Wohnung draufgehen.
»Denk einfach darüber nach«, empfahl ihre Mutter. »Nach so langer Zeit kannst du doch wirklich …«
»Wann geht euer Flug morgen noch mal?«, unterbrach Jana sie, da sie auf das, worauf ihre Mutter gerade anspielte, ganz bestimmt nicht eingehen wollte.
»Um zwölf Uhr fünfzig«, antwortete Christa. »Und nachdem für morgen Vormittag hier in der Gegend Schneefall angesagt ist, sollten wir zur Sicherheit spätestens um halb neun Uhr losfahren.«
Bis zum Flughafen in München brauchte man mit dem Auto normalerweise knapp zwei Stunden, wenn nichts dazwischenkam. Allerdings konnte einem das Winterwetter im Bayerischen Wald da manchmal durchaus einen Strich durch die Rechnung machen.
»Wäre es nicht besser, schon um acht Uhr aufzubrechen?«, überlegte Almut. Sie wollte den Flug auf keinen Fall verpassen, nur weil sie aus irgendeinem Grund nicht rechtzeitig am Flughafen ankämen.
»Na gut. Meinetwegen schon um acht Uhr«, stimmte Christa zu.
»Jetzt bin ich aber pappsatt!«, verkündete Franz nach dem Dessert und zahlreichen Plätzchen mit Punsch und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.
Und auch Jana würde keinen weiteren Bissen mehr runterbekommen.
»In meinen Bauch passt bestimmt noch ein Vanillekipferl«, beteuerte Elina und wollte sich gerade eines aus der Schale nehmen, doch ihre Mutter zog sie vor ihrer Nase weg.
»Das reicht jetzt wirklich, Schatz.«
»Ach je. Und es ist immer noch so viel übrig!« Almut seufzte.
»Weil du auch immer viel zu viel kochst!«, meinte Franz lakonisch.
»Pack es doch einfach in den Gefrierschrank!«, schlug Christa vor.
»Der ist doch schon rappelvoll«, erklärte ihre Mutter. »Ich hatte das meiste für die ganzen Feiertage schon längst eingekauft, als wir von deiner Überraschung erfahren haben.«
»Du hättest uns wirklich schon ein wenig früher von der Reise erzählen können!«, platzte es nun auch aus Jana heraus. Aber wie üblich reagierte Christa nicht auf etwaige Vorwürfe.
»Jana, du kannst doch alles mitnehmen, was sich nicht bis zu unserer Rückkehr hält!«, schlug sie stattdessen vor.
Da Jana für sich selbst noch nichts eingekauft hatte, war das tatsächlich eine gute Idee.
Sie unterhielten sich noch eine Weile über die bevorstehende Reise, dann stand Christa auf.
»Elina, hol bitte deinen Rucksack, wir sollten uns so langsam auf den Heimweg machen. Du musst ins Bett und ich noch die restlichen Sachen packen.«
»Aber ich wollte noch mit Tante Jana Lego spielen«, protestierte Elina.
»Das machen wir, wenn du wieder zurück bist«, versprach Jana.
Zwanzig Minuten später verabschiedeten sie sich vor dem Haus. Jana knuddelte Elina und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ich wünsche euch ganz viel Spaß auf der Reise«, sagte sie. »Und wenn du am Strand eine Muschel findest, bringst du sie mir dann mit?«
»Eine ganz große, Tante!«
»Das ist leider nicht erlaubt. Das fällt doch unter Artenschutz!«, warf Christa ein.
»Dann macht einfach schöne Bilder davon und schickt sie mir!«, sagte Jana und umarmte zuletzt auch ihre Schwester. »Habt eine gute Zeit in Ägypten.«
»Und du in München!«
»Wir holen euch morgen pünktlich um acht Uhr ab!«, rief Franz den beiden hinterher, bevor sie ins Auto stiegen.
Jana half ihrem Vater, die Küche aufzuräumen, während Almut die Weihnachtsdekoration im Wohnzimmer in Kartons verstaute, in denen sie nun wieder ein Jahr lang im Keller auf ihren nächsten großen Auftritt wartete.
»Am liebsten würde ich hier bei dir bleiben und die drei alleine nach Ägypten fliegen lassen«, verriet Franz leise, während er Teller, Gläser und Besteck in den Geschirrspüler räumte. »Ich hab sogar schon überlegt, ob ich vielleicht so ganz zufällig meinen Reisepass verlegt haben könnte.«
Jana grinste.
»Mama würde dir den Kopf abreißen.«
»Ja. Das würde sie. Und Christa würde sie anschließend vor Gericht verteidigen.«
»Und gewinnen.«
Die beiden kicherten.
»Jetzt komm, Papa. Freu dich einfach. Und mach dir meinetwegen bitte keine Gedanken, nur weil ich an den Feiertagen alleine bin«, sagte sie dann. Sie wollte nicht, dass ihr Vater sich deswegen schlecht fühlte. »Ich bin schon ein ziemlich großes Mädchen und komme klar. Und vielleicht ist es ja sogar eine schöne Erfahrung, die Weihnachtsferien mal in München zu verbringen und mich dort mit Freunden und Kolleginnen zu treffen.«
»Trotzdem … Ich finde, dass …«
»Franz?«, rief Almut aus dem Wohnzimmer. »Kannst du mir bitte schnell mal helfen?«
»Komme schon!«
Er lächelte seiner Tochter zu und verschwand aus der Küche.
Und die Ananas hält sich auch nicht mehr bis zu unserer Rückkehr«, sagte Almut und legte die aromatisch duftende Frucht in die große Klappbox, die schon bis oben hin mit Gemüse und Obst, angebrochenen Packungen Toast, Keksen und Nüssen, sowie den Resten des gestrigen Abendessens gefüllt war. Dann reichte sie ihrer Tochter eine Thermotasche. »Da drin sind die Sachen aus dem Kühlschrank, die in den nächsten zwei Wochen ablaufen. Und auch die französische Salami, die du so gern magst und der Feigenkäse.«
»Mama! Das reicht jetzt aber wirklich. Ich kann das doch nie im Leben alles futtern!«, protestierte Jana.
»Ach, das geht schon. Deine Mitbewohnerinnen freuen sich bestimmt auch darüber, wenn sie nach den Feiertagen zurückkommen«, meinte ihr Vater. »Und Almut, gib unserer Kleinen auch noch zwei Flaschen vom guten Pinot Noir mit, den ich extra wieder für Heiligabend im Elsass beim Weingut Bernard Beaulieu bestellt habe.«
»Hab ich doch schon längst eingepackt!«, antwortete Almut und verschwand noch mal in der Speisekammer. Den edlen Wein hatte Jana vorhin bereits mit den Weihnachtsgeschenken in ihrer Reisetasche verstaut.
Sie sah auf die Armbanduhr.
»Ihr müsst in zehn Minuten los«, mahnte sie, als ihre Mutter mit zwei Blechdosen wieder zurück in die Küche kam.
»Die Plätzchen sind für dich. Und die hier …«, sie nickte zur kleineren Dose, »… sind für Tante Wally. Und sag ihr einen ganz lieben Gruß von uns. Wir rufen sie an den Feiertagen auf jeden Fall mal an.«
»Falls wir Handy-Empfang haben!«, warf Franz ein.
»Das wird schon klappen.« Almut war guter Dinge.
»Ich richte es Tante Wally aus«, versprach Jana.
Dann beeilten Franz und Almut sich, ihre Koffer und Taschen ins Auto zu laden. Die Verabschiedung fiel kurz, aber herzlich aus. Schließlich winkte Jana ihnen hinterher. In diesem Moment trieb ein pfeifender eisiger Wind einzelne kleine Schneeflocken vor sich her. So langsam setzte der angekündigte Schneefall wohl ein. Fröstelnd eilte Jana zurück ins Haus und schloss rasch die Tür hinter sich. Sie trank noch in aller Ruhe ihren Kaffee aus, spülte das Geschirr vom Frühstück, kontrollierte, ob alle Geräte im Haus auch wirklich ausgeschaltet waren, packte dann die Reisetasche in den Kofferraum und ihren Rucksack, den sie statt einer Handtasche nutzte, und die Lebensmittel auf die Rückbank. Sie war schon im Begriff einzusteigen, als ihr einfiel, dass sie ja auch noch den Karton mit den Schlittschuhen mitnehmen musste, die sie in München umtauschen wollte. Sie stellte sie neben die Reisetasche und ihre eigenen Schlittschuhe.
Als sie losfuhr, fielen schon größere Schneeflocken vom Himmel. Kurz überlegte sie, ob sie besser gleich nach München aufbrechen sollte, bevor es richtig losging. Aber sie hatte versprochen, Wally zu besuchen, und die kinderlose und seit wenigen Jahren verwitwete Großtante wäre sicher sehr enttäuscht, wenn sie ihr so kurzfristig absagte. Auf einen Sprung würde sie auf jeden Fall bei ihr vorbeischauen.
Da sie wusste, wie sehr die Tante ihrer Mutter Blumen liebte, hielt sie unterwegs an einer Gärtnerei und besorgte rosafarbene Rosen mit einer glitzernden weihnachtlichen Deko.
»Ach, du bist wirklich ein Engel, Jana«, schwärmte Wally, die eigentlich Waltraud hieß. »Wie schön, dass du gekommen bist. Und die Blumen – einfach herrlich! Vielen, vielen Dank, meine Liebe!«
Die erstaunlich rüstige Sechsundachtzigjährige holte für die Rosen eine Kristallvase aus einer Kommode und stellte sie auf den Tisch, der schon für den Besuch ihrer Großnichte gedeckt war. Jana und Wally nahmen Platz, und die alte Dame schenkte dampfend heißen Pfefferminztee ein, den sie in der kleinen Küchenzeile ihres gemütlich eingerichteten Apartments zubereitet hatte.
»Die Plätzchen soll ich dir von Mama geben.« Jana reichte Wally die kleinere Dose. »Sie werden sich irgendwann an den Feiertagen aus dem Urlaub bei dir melden. Und wenn sie zurück sind, kommen sie dich gleich besuchen, soll ich ausrichten.«
»Schon gut. Die sollen jetzt einfach mal ihre Reise genießen. Ägypten – das ist ja wirklich mal was ganz Besonderes.«
Jana nickte.
»Wieso fährst du eigentlich nicht mit?«, wollte Wally wissen.
»Irgendwie hat sich das nicht ergeben«, wich sie aus, ohne zu verraten, dass sie gar nicht erst gefragt worden war.
Wally öffnete den Deckel der Dose und schnupperte mit einem verzückten Ausdruck im Gesicht an den Plätzchen.
»Ach, wie gut die duften. Da läuft einem doch gleich das Wasser im Mund zusammen«, schwärmte sie und seufzte dann.
»Ist was, Tante Wally?«, fragte Jana.
»Eigentlich nicht. Aber … na ja, meine Ärztin meinte letzte Woche, dass ich dringend mit den Süßigkeiten bremsen muss. Irgendwelche Werte sind wohl neuerdings etwas zu hoch bei mir.«
»Aber wenn du nur ab und zu eines isst, kann das doch nicht so schlimm sein, oder?«
»Das Problem ist, wenn ich erst mal anfange, dann verputze ich gleich die halbe Dose«, gab sie zu und fügte noch hinzu: »Oder die ganze.«
»Das solltest du vielleicht wirklich lieber nicht machen, Tante Wally. Das kommt bei deiner Ärztin sicher nicht so gut an«, sagte Jana.
»Stimmt. Andererseits – ich werde in acht Wochen siebenundachtzig. Wer weiß schon, wie viele Weihnachten ich noch erlebe?«, meinte Wally plötzlich mit einem verschmitzten Lächeln. »Und diese Haselnuss-Kringel von deiner Mama, die sind einfach unwiderstehlich. Nicht wahr?«
Jana nickte. »Oh ja. Da kann ich mich auch kaum zusammenreißen.«
Wally griff in die Dose und nahm sich ein Plätzchen, das sie genussvoll in den Mund schob. Gleich darauf folgten eine Mini-Nussecke und eine Kokosmakrone mit Schokoladenüberzug.
»Hm. Und diese schwarz-weißen hier – die liebe ich ganz besonders. Die sind doch nach dem Rezept von Cousine Elly, oder?«
Jana nickte, während Wally sich auch noch dieses Plätzchen gönnte.
Schließlich seufzte sie erneut, schloss den Deckel und schob die Dose zu Jana.
»Siehst du? Ich kann einfach nicht aufhören. Besser, du nimmst sie wieder mit. Sonst habe ich sie noch vor dem Mittagessen aufgefuttert.«
»Bist du dir wirklich sicher, Tante Wally?«
»Nein. Aber nimm sie trotzdem mit.«
Vermutlich war das am vernünftigsten. Trotzdem tat sie Jana ein klein wenig leid.
»Aber dafür habe ich die herrlichen Blumen. Die halten auf jeden Fall länger als so ein schneller Genuss, der mir sowieso nur schadet«, tröstete sich Wally und lächelte tapfer. »Und ich hab hier noch was für dich, Jana.«
»Aber du sollst mir doch nichts schenken, Tante Wally!«, protestierte Jana. Schließlich wusste sie, dass das Seniorenheim den Großteil der Rente der ehemaligen Sekretärin verschlang.
»Es ist wirklich nur eine Kleinigkeit«, sagte Wally und holte ein Päckchen aus der Schublade.
»Vielen Dank! Darf ich es gleich aufmachen?«, fragte Jana neugierig.
»Normalerweise erst an Heiligabend! Aber … eigentlich ist es auch egal. Du kannst ruhig schon reinschauen. Dann sehe ich wenigstens, ob du dich darüber freust.«
Jana öffnete das hübsch verpackte Päckchen und holte eine kleine Schachtel hervor, die sie aufklappte. Darin lag auf Watte gebettet eine kleine Schildkröte aus Glas.
Jana sah ihre Tante verdutzt an.
»Aber Tante Wally, das ist ja deine Glücksschildkröte!«, rief sie.
»Schön, dass du sie noch kennst«, sagte Wally mit einem Lächeln.
»Natürlich. Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich manchmal damit spielen durfte, wenn ich dich als Kind besucht habe.«
»Und du warst immer sehr vorsichtig damit«, sagte die Tante.
Für Jana war es als Kind immer etwas ganz Besonderes, wenn sie die kleine Glasfigur in die Hand nehmen durfte. Vor allem, nachdem Wally ihr erzählt hatte, dass sie die Schildkröte selbst als kleines Mädchen von ihrem Vater bekommen hatte, der genau wie Janas Vater Glasbläser gewesen war. Er hatte sie für Wally selbst angefertigt. Als Glücksbringer.
»Das ist wirklich total lieb, Tante Wally, aber ich kann doch unmöglich deinen Talisman annehmen.«
Die alte Dame lächelte.
»Meine liebe Jana, das kannst du sehr wohl. Ich hatte in meinem Leben immer sehr viel Glück. Auch wenn es mal Probleme gab. Ich glaube fest daran, dass mir die Schildkröte in ganz vielen Situationen Glück gebracht hat. Und es würde mich besonders freuen, wenn ich wüsste, dass sie zukünftig bei dir in guten Händen ist. Und vielleicht bringt sie dir genau so viel Glück wie mir.«
Jana schluckte.
»Aber Tante Wally …«, begann sie. Doch diese unterbrach sie.
»Jetzt hör mir mal zu. Ich habe keine Kinder, und nach meinem Tod – der hoffentlich noch eine Weile auf sich warten lässt – hättest du sie ohnehin bekommen. Da ist es doch viel schöner, wenn ich sie dir noch selbst geben kann, nicht wahr?«
»Ja … schon … das ist wirklich schöner«, sagte Jana und betrachtete das kleine Tier aus Glas, das im Licht der Kerzen funkelte.
»Und es ist ja nicht so, als würde ich dir die blaue Mauritius oder ein Fabergé-Ei schenken«, scherzte sie und zwinkerte vergnügt.
»Für mich ist die kleine Schildkröte aber genauso kostbar. Danke, Tante Wally. Ich werde gut darauf aufpassen«, versprach Jana.
»Aber gerne doch, meine Liebe!«
Während sie Tee tranken und Wally sich doch noch ein weiteres – allerletztes – Plätzchen aus der Dose stibitzte, erzählte die Seniorin unterhaltsame Anekdoten von ihren Mitbewohnerinnen und dem Personal und vor allem von der bevorstehenden großen Feier an Heiligabend, auf die sie sich schon freute.
»Stell dir vor: In diesem Jahr soll ich die Weihnachtsgeschichte vorlesen! Ich bin schon jetzt ein wenig aufgeregt.«
»Das kann ich mir vorstellen, aber du machst das bestimmt mit links«, ermunterte Jana sie und bemerkte bei einem Blick aus dem Fenster, dass der Schneefall deutlich stärker geworden war. Es war vernünftiger, bald aufzubrechen. Und so verabschiedete sie sich früher, als sie ursprünglich vorgehabt hatte. Doch Wally hatte dafür Verständnis.
»Komm gut nach Hause, meine liebe Jana, und fahr vorsichtig!«
»Das mache ich. Und dir ganz schöne Feiertage, Tante Wally.«
»Oh, die werde ich bestimmt haben. Die lassen sich hier ja immer ein ganz besonderes Programm für unsere Rentnergang einfallen.«
Jana lachte und war froh, dass Wally in jeder Lage ihren Humor behielt und sich im Seniorenheim so gut aufgehoben fühlte.
Der Schnee knirschte unter ihren Füßen, als Jana zum Auto ging und die Scheiben erst mal freikehren musste, bevor sie losfahren konnte. Jana hoffte, dass ihre Eltern problemlos und rechtzeitig am Flughafen ankommen würden. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor halb elf. Eigentlich müssten sie bald dort sein.
Das Fahrzeug vor ihr hatte ein Kölner Kennzeichen und fuhr extrem langsam. Vermutlich Urlauber, dachte sie. Der schon etwas betagt aussehende Mann am Steuer war solche Wetterbedingungen offenbar nicht gewohnt, und sie kamen nur schrittweise voran. Kurz überlegte sie, ob es vielleicht schlauer wäre, heute doch noch im Haus ihrer Eltern zu bleiben. Aber vorhin hatte die Wettervorhersage im Regionalradio gemeldet, dass in großen Teilen Niederbayerns auch für die nächsten Tage Schneefälle zu erwarten waren, die Fahrt nach München würde somit nicht sehr viel einfacher werden. Eher das Gegenteil wäre vermutlich der Fall.
Plötzlich waren an den Fahrzeugen vor ihr die Bremslichter zu sehen, und der Verkehr kam völlig zum Erliegen. Jana schaltete den Motor ab und wartete geduldig. Nach einer Weile fuhr ein Rettungswagen mit Blaulicht an ihr vorbei. Es sah ganz nach einem Unfall aus, und erst einmal ging für sie gar nichts weiter.
»Na toll!«, murmelte sie und vertrieb sich die Zeit mit dem Handy auf ihrem Instagram-Kanal.
Sie wartete schon fast fünfzehn Minuten, und inzwischen war ihr kalt geworden. Die Verkehrsapp zeigte zwei Kilometer vor ihr eine Vollsperrung nach einem Unfall. Sie seufzte. Das konnte sich noch länger hinziehen! Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie musste nicht warten, bis die Straße wieder frei war. Schließlich war sie hier aufgewachsen und kannte viele Schleichwege. Damit würde sie die Sperrung umgehen und später auf die Bundesstraße 11 Richtung Deggendorf kommen. Beherzt startete sie ihren Kleinwagen und machte mit einigem Hin- und Herrangieren auf der Straße kehrt. Als sie langsam in die Gegenrichtung der wartenden Autos davonfuhr, sah sie im Rückspiegel, dass auch andere Fahrzeuge dasselbe machten.
Im Radio lief eines ihrer liebsten Weihnachtslieder: Driving Home for Christmas von Chris Rea. Bei ihr war es in diesem Jahr genau umgekehrt, dachte sie. Dabei fiel ihr auf, dass sie nicht die Wohnung in München mit dem WG-Zimmer als ihr Zuhause betrachtete, auch wenn sie schon einige Jahre dort lebte, sondern nach wie vor das Haus ihrer Eltern in Bodenmais.
Obwohl sie die Gegend gut kannte, verlor sie im immer dichter werdenden Schneetreiben bald die Orientierung, weil die Sicht sich auf wenige Meter beschränkte. Selbst das Navi schien Probleme zu haben und schickte sie auf seltsame Wege.
»Jetzt rechts abbiegen!«, sagte die Stimme an einer Abzweigung.
»Aber das kann doch überhaupt nicht sein«, murmelte Jana verwirrt und entschied sich dann aus dem Bauch heraus für links. Die kleine abgelegene Straße war noch nicht geräumt und offenbar schon eine Weile lang von niemandem mehr befahren worden, es waren nämlich keine frischen Reifenspuren im Schnee zu sehen. Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, war es düster. Immer weniger Häuser tauchten in der Nähe auf. Wo war sie denn jetzt nur gelandet?
»Bitte in einem Kilometer wenden!«
Also hatte sie sich doch verfahren? Oder wollte das Navi sie einfach nur auf eine andere Strecke führen, die kürzer war?
Das Vorankommen wurde auf der schneeglatten Fahrbahn immer mühsamer und gefährlicher. Alles um sie herum war nur noch weiß! Obwohl sie überaus langsam fuhr, hätte sie im dichten Schneetreiben fast die nächste enge Kurve übersehen und wäre im Graben gelandet. Ihr Herz klopfte schneller. Es war wohl eine blöde Idee gewesen, bei dem Wetter nach München fahren zu wollen. Auch wenn sie es sich immer noch nicht vorstellen konnte, die Feiertage ganz allein im Haus der Eltern zu verbringen, gestand sie sich ein, dass es vernünftiger wäre, hier in Bodenmais zu bleiben. Zumindest bis die Straßen geräumt und wieder gut befahrbar waren. Sie würde umkehren. Doch da sie angesichts der Schneemenge und der schlechten Sicht nicht mehr richtig einschätzen konnte, ob sie beim Zurücksetzen gegen einen Pfosten stoßen oder in einem Graben landen würde, musste sie weiterfahren, bis sie eine sichere Gelegenheit zum Wenden fand. Sie konzentrierte sich darauf, auf der kleinen Straße zu bleiben. Aber war sie überhaupt noch auf einer befestigten Straße? Langsam zweifelte sie daran, und sie wollte einfach nur noch so schnell wie möglich auf eine Hauptstraße kommen und zum Haus der Eltern zurückfahren. Als sie um eine weitere abschüssige Kurve fuhr, bemerkte sie im Licht der Scheinwerfer irgendetwas, das vor ihr vorbeihuschte! Eine weiße Katze! Die sie im Schnee fast übersehen hätte!
Obwohl sie wusste, dass sie genau das Falsche tat, konnte sie den Reflex nicht unterdrücken, auf die Bremse zu treten, um das Tier nicht zu überfahren. Was dann geschah, fühlte sich an, als würde alles in Zeitlupe und gleichzeitig ganz schnell im Bruchteil einer Sekunde passieren. Sie schrie auf und versuchte, das Lenkrad herumzureißen. Doch sie hatte bereits die Kontrolle über den Wagen verloren. Das Auto rutschte einen Abhang hinunter und blieb nach einigen Metern in einem Graben leicht auf die Beifahrerseite gekippt im Tiefschnee stecken.
Einen Augenblick dachte Jana, das wär’s jetzt gewesen. Ihr Herz klopfte bis zum Zerspringen, und sie zitterte wie Espenlaub. Der Sicherheitsgurt drückte unangenehm gegen ihre Brust. Zum Glück trug sie eine dick wattierte Jacke, die den Aufprall etwas abgemildert hatte.
»Heiliger Scheibenkleister«, keuchte sie heiser. Vor Schreck platzte dieser Spruch aus ihr heraus, den ihr Vater so gern verwendete.
Jana hatte Angst, sich zu bewegen, weil sie befürchtete, dass das Auto dann noch weiter kippen und sich womöglich den restlichen Hang hinunter überschlagen könnte. Einige Minuten lang blieb sie starr sitzen und wagte kaum zu atmen. Doch irgendwann wurde ihr klar, dass sie aussteigen musste. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr in der abgelegenen Gegend bei diesem Wetter bald jemand zu Hilfe kam, war eher gering. Vermutlich konnte man sie von der Straße oben gar nicht sehen. Das Handy hatte sich vom Verbindungskabel gelöst und lag irgendwo im Fußraum der Beifahrerseite. Nach ein paar Minuten gelang es ihr endlich, sich aus dem Sicherheitsgurt zu befreien, wobei sie auf die Beifahrerseite rutschte. Ihre Angst, dass der Wagen noch weiter kippen könnte, stellte sich als unbegründet heraus. Das Auto steckte im tiefen Schnee regelrecht fest.
»Du kommst hier raus, Jana. Ganz bestimmt«, machte sie sich selbst Mut.
