Dein Hut passt hier nicht - Frank Hahn - E-Book

Dein Hut passt hier nicht E-Book

Frank Hahn

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Beschreibung

''Dein Hut passt hier nicht'' ist ein auf über vierhundert Briefen basierender biografischer Roman über den Versuch eines deutschen Paares, in Kanada eine neue Heimat zu finden. Es ist ein präziser Blick auf den Alltag in Kanada - und eine Geschichte über großartige Natur, unerfüllte Erwartungen und Antworten auf die Frage ''was ist deutsch?'' Im vom Krieg zerstörten Gießen der frühen Fünfzigerjahre haben sich Gisela und Paul während des Studiums kennen gelernt. Die Aussichten auf Arbeit oder Wohnung sind schlecht. Als sie erfahren, dass Kanada Auswanderern die Passage vorstreckt, beschließen sie dort ihr Glück zu versuchen. Paul beginnt im Kuhstall, Gisela arbeitet als Haushaltshilfe und Kindermädchen. Nach der Geburt des ersten Kindes muss Gisela ihre Arbeit aufgeben, eine größere Wohnung wird notwendig. Alles sieht gut aus: Paul hat seinen Job als Lagerarbeiter gekündigt, am Wochenende ist der Umzug geplant, danach soll er die besser bezahlte Stelle antreten. Als er plötzlich starke Schmerzen bekommt, steht die Existenz der jungen Familie auf dem Spiel.

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Seitenzahl: 547

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meinen Eltern gewidmet

Inhalt

Auf See

Guelph

Die Millerfarm

Vom Regen in die Traufe

Howell

Die Katastrophe

Greenway 907

Pilkington

Der Besuch

Verlassen

Zauberworte

Das neue Jahr

Pläne, Glück und Träume

Endlich Sommer

Nr. 909

Hazel: Wind und Wasser

Howell

Verhakungen und Lichtblicke

Alles neu macht der Mai

Vorsommer

Die große Reise

Après Tour

Jahresende

In großer Erwartung

Besuch aus Berlin

Das Angebot

Dichte Tage

Gertruds Juni

Licht und Schatten

Gezählte Tage

Nach Hause

Epilog

Danke

Personen

„So ein Ozeandampfer ist eine seltsame Angelegenheit. Es ging mir durch den Kopf, als wir in New York ablegten. Genau in diesem Moment, weißt du? Es war wie ein Abkoppeln vom Rest der Welt. Das Schiff wird eine Zeitkapsel zwischen zwei Welten. Wenn ich jetzt zur Seite hinausschaue, merke ich gar nicht, dass wir uns fortbewegen. Es fühlt sich an wie ein Schweben in der Zeit. Als stände die Zeit still.“

„Wie eine ganz eigene Welt, eine merkwürdige Art von Stadt. Mit Läden wie denen einer Stadt, aber einer Stadt ohne festen Ort.“

„Für ein paar Tage ist gar nicht wichtig, was in Amerika oder Europa passiert. Es betrifft uns einfach nicht. Und dazu Zeit im Überfluss!“

„Gestern habe ich einen ganz besonderen Moment erlebt. Er hätte ewig dauern können. Vielleicht waren es bloß Minuten. Ich stand allein im Hemd auf dem Sonnendeck. Die Sonnenstrahlen durchfluteten mich, die Motoren brummten tief und beruhigend, ich sah in die unendliche Weite, im Kopf nichts als das Jetzt. Es war so wunderbar – ein besseres Wort fällt mir nicht ein. Ich fühlte mich so frei von jeder Verpflichtung, so paradiesisch. Dieses Träumen, einfach nur zu sein, das war so – beglückend. Es blieb das Gefühl einer tiefen Erholung und einer Kraft: ich hätte danach die bekannten Bäume ausreißen können. Sonne im November! Übermorgen ist Dezember, es ist verrückt. Und dieses Gleiten durch die Unendlichkeit des Meeres, einfach märchenhaft!“

„Die Sonnenuntergänge auf dem Ozean sind wirklich ein Erlebnis. Erinnerst du dich an den von gestern?“

„Ja, er erschien mir unglaublich lang. Und hinter dem Sonnenuntergang breitet sich Kanada aus. Wir lassen es einfach mit all den vergangenen Sorgen zurück. Das ist fast das Schönste.“

„Nach Westen zu blicken, in die sinkende Sonne zu sehen – eine schöne Form, unserem Kanada ade zu sagen! Es war ein wunderbares Scheitern, nicht wahr?“

Auf See

Jetzt lag das Meer offen vor ihnen, eine weiße milchige Zukunft, in der kein Horizont Klarheit über ihre Möglichkeiten zu schaffen vermochte. Unaufhaltsam und mächtig pflügte sich ihre Entscheidung Richtung Kanada. Als letzten europäischen Hafen hatten sie Le Havre hinter sich gelassen, und Irland als letzte Insel. Inzwischen befanden sie sich mitten auf dem Ozean. Hinter ihnen die Enge Europas, die Enge der Studentenzimmerchen, die Enge der Familienwohnungen – und deren Gemütlichkeit. Mit Pauls Schwestern in Bad Kreuznach und Vater Peps. Mit Giselas Eltern im Westerwald, in einer im Winter auf den schmalen Raum der beheizten Küche begrenzten Wohnung, mit ihren Berliner Brüdern, die im zerbombten Berlin des Jahres 1951 zu leben versuchten.

„Irgendwo dort hinterm Seenebel liegt Kanada!“

„Mmh! Wird noch ein paar Tage dauern, bis wir ankommen.“

„Ich weiß gar nicht so recht, was uns erwartet. Wir sind ganz schön mutig, findest du nicht?“

„Klar, Mut brauchen wir schon.“

„Wie ist das denn bei dir, Paul? Ich kann gar nicht sagen, ob ich mich freue. Ich hab ein Gefühl, als hätte ich einen Bienenschwarm in meinem Bauch.“

„So zappelig siehst du gar nicht aus, mein Giselchen!“ Paul legte einen Arm um sie und sah ihr ermunternd in die Augen. “Weißt du, ich denke, wir gehen erst einmal den ersten Schritt, dann den zweiten … ich mag mir nicht gleich Sorgen machen. Wir lassen die ersten Tage einfach auf uns zukommen, ganz offen, und machen das Beste daraus. Das wird schon! Du weißt ja auch, was hinter uns liegt. Wenn ich mir das bewusst mache, ist alles gleich viel leichter.“

„Ich hab noch keine Reise mit so einem großen Schiff gemacht. Selbst nach drei Tagen entdecke ich etwas Neues. Dass es hier eine Klinik auf dem Schiff gibt! Hättest du das gedacht? Sogar ein Schwimmbecken sollen sie haben, für die erste Klasse, ganz oben!“

„Gegenüber vom Tabakladen ist ein Kiosk, der verkauft Wurst in Brötchen, ‚Hot Dogs’ steht da dran. ‚Dog’ heißt Hund, oder? Ich nehme mal an, die meinen das nicht ernst. – Morgen gucke ich mal, ob ich eine Arbeit finden kann. Sie sagen ja dauernd irgendwelche Jobs an.“

Sie verließen das Oberdeck und schlenderten eine Weile durch die Stockwerke. Die große Lautsprecheranlage meldete eine verlorene Melina, ein paar Fundsachen, und lud zu den Vergnügungen des Abends ein. Im zweitobersten Stockwerk: edle Salons und Tanzsäle, weitläufige Sporträume mit allen Möglichkeiten zwischen Tischtennis und Punchingball, eine Lounge zum Radiohören – was es hier alles gab! Jeden Abend boten sich bunt beleuchtete Tanzbars mit Tanzkapellen – und unverschämt teuren Getränken – an. Schade! Wie gerne hätte Gisela dort gerne einen Abend verbracht!

In den Bullaugenetagen unten befand sich ihr Bereich, die Schlafräume der preiswertesten Kategorie. In Sälen mit doppelstöckigen Betten mischten sich vierzig Personen verschiedener Nationalitäten und gleichen Geschlechts. Deutsche, Italiener, Ukrainer, Ungarn, Franzosen, Kroaten, Polen und Österreicher teilten Nacht, Licht und Luft. Über die Eckpfosten der Betten drapierte Knoblauch- und Zwiebelzöpfe gaben dem ohnehin schlecht zu lüftenden Raum ein ganz spezielles Ambiente. Rundum regte man sich in fremden Lauten auf, freute oder tröstete sich, palaverte oder diskutierte. Als Folge der Geschlechtertrennung suchten sich Paare oder Familien ständig und brauchten endlos, um einander zu finden. Entsprechend gab es nach Männlein und Weiblein separierte Waschräume und Duschen mit heißem Meerwasser.

Sie schreckte hoch. Das mächtige Schiffshorn, das sich seit Le Havre nicht mehr hatte hören lassen, tönte mehrfach in einem solch lauten Bass, dass der ganze Rumpf mitvibrierte. Klingelschrillen im Dauerton. Merkwürdig, die See war seit Stunden ruhig gewesen. Nach dem gemeinsamen Essen hatte Paul, wie gestern, die Arbeitsvermittlung aufgesucht. Sie dagegen hatte der Verlockung nachgegeben, ein Mittagsschläfchen zu versuchen. Sie hatte den Widerwillen gegen den Gestank, der ihr entgegen kam, überwunden, die Tür zum Schlafsaal geöffnet und sich wie viele Passagiere in der Kleidung aufs Ohr gelegt. Sie war fast weggedämmert. „Alarm! Alarm!“ Benommen hörte sie die Worte und die darauf folgende Durchsage, jeder habe sich sofort nach draußen an den Bug oder das Heck des jeweiligen Stockwerks zu begeben. Ging das Schiff unter? Mein Gott, wo war Paul? Aber komisch – nichts wies auf ein Problem hin, alles war wie sonst. Die Lage des Schiffs hatte sich kein bisschen verändert, das Brummen der Motoren hörte sich an wie immer. Ein Feuer vielleicht? Was war los? In dem panischen Gewusel, das in der Großkabine einsetzte, gelang es ihr nur schwer, Schuhe und Mantel anzuziehen. Schnell griff sie nach der Schwimmweste unter dem Kopfkissen und warf sie sich über, mit dem unbestimmten Gefühl etwas Unnützes zu tun. Nie würde sie Paul in diesem Durcheinander finden können. Hektische Rufe in babylonischen Lauten. Kinder weinten, alles schrie durcheinander. „Alarm“ – das hatte jeder verstanden, so sehr er Kroate, Deutscher oder Italiener sein mochte. Mitten im Trubel versuchte ein einsamer Ire die Menschen mit Gesten zu beschwichtigen, als wolle er ein Orchester dirigieren, „please, please, there is no danger, no danger!“ – es überzeugte keinen in der aufgeregten Atmosphäre. Die meisten rannten so schnell sie konnten, manche barfuß und in Schlafanzügen. An den Türen stauten sich Menschen, drängten mit angsterfüllten Gesichtern. Gut, dass sie sich nur um sich selbst kümmern musste! Doch – sie war sich sicher: irgendetwas stimmte mit diesem Alarm nicht.

Auf dem Heck kühlte sich die Stimmung der ausströmenden Menschenmengen schnell auf die 12 Grad frische Außentemperatur ab. Stewards mühten sich mit der Autorität der weiß-blauen Uniform in Richtung der Ausgänge vor, um die Massen mit „there’s no danger, no danger“-Rufen zu beruhigen. Und dann erschreckte ein quäkendes Megafon die Menschenmenge von hinten. Das hatte sie sich ja schon gedacht! Ein Fehlalarm! Anschließende Hinweise zu den Rettungsbooten und dem Gebrauch der Rettungsweste. Na gut, wenn sie schon einmal hier war ... Die Crew hatte noch nie so aufmerksame Zuhörer erlebt.

Sah man nur über die Reling, war die Fahrt auf dem Atlantik recht eintönig verstrichen. Der gleiche leichte Nebel in der Ferne, vereinzelt blinkende weiße Kämme grauer Wellen unter bedecktem Himmel, wie gestern, wie vorgestern. Kein Schiff kam entgegen, kein Wal ließ seine Fontäne sehen, und keine Insel ließ sich blicken, an deren Vorbeiziehen sie ihre Fortbewegung hätten bemerken können. Das Schiff mühte sich in schwach holpriger See und schien nicht wesentlich voranzukommen. Seit heute Mittag dann der Blick auf einen gebirgiger werdenden Ozean. Lautes Dröhnen der Maschinen. Schiffsmasten, für die der rechte Winkel zum Horizont ein Durchgangsstadium blieb, und der unerwartet starke Seegang, den viele Mitreisende nur auf dem Oberdeck aushalten konnten. Einige Reisende verfassten ihr Testament, mochte die zur Schau getragene Zuversicht der Stewards und des Kapitäns, sicher anzukommen, noch so überzeugend wirken.

In vielen Mägen machte sich Verstimmung breit. Gisela blieb nicht davon verschont. Während Paul weiter Jobangebote der Borddurchsagen annahm und die ersten Dollars machte, saß sie bleich und dick eingepackt auf einer Bank in der Nähe der Reling, bis sie zu frösteln begann und zum Aufwärmen einen der Innenräume aufsuchen musste, ohne sie würdigen zu können. Den „Writing Room“ in moosgrün zum Beispiel mit dem Fußboden in schrägen breiten Streifen, den Bibliotheks- und Spielesalon mit seinen bequemen Sesseln und dem so reichen Angebot an Büchern und Brettspielen oder den Radio-Raum, in dem aus stoffbespannten Lautsprechern viel Musik und kaum verständliche Nachrichten drangen.

In Modezeitschriften lustlos blätternd versuchte sie sich abzulenken, bis es nicht mehr ging. Von neuem begann die Übelkeit dem restlichen Mageninhalt einen Weg nach oben zu bahnen: Bloß raus hier! Sie stürmte aus dem Gang die Treppe hinauf, die Hand auf dem Mund. Da die Tür nach draußen, da der Putzeimer in der Hand eines entgegenkommenden Matrosen, den sie ihm entriss, bevor sie die Reling erreichen konnte und – rein damit! Das war knapp! Ein Blick verlegener Entschuldigung ihrerseits, ärgerliches Gemurmel des Matrosen andererseits, dem sie die Worte ‚damned’ und ‚shit’ entnehmen konnte – dann half das Schlingern des Schiffes nach rechts ihrem Körper unsanft an die Reling. Sie ergriff das Gestänge und hielt bei der Gegenbewegung daran fest so gut sie konnte, den Blick fest auf das gerichtet, was ein Horizont sein konnte.

Wer war das? „Gisela, stell dir vor, elf Dollar!“, rief Paul freudig seiner Gisela an der Reling zu. Es fiel ihr schwer ihm den Kopf zuzudrehen. Und so brachte sie nur eine durch die Übelkeit schräg wirkende Freude über seinen Erfolg zusammen. „Für fünf Stunden Arbeit ist das ganz passabel, finde ich, oder? Morgen kann ich wieder in die Kantine kommen, um zu helfen“, sprudelte der quicklebendige Paul weiter, bis er ihre Augen sah.

„Oje, du Arme! Dir geht es aber wirklich schlecht. Komm, wir setzen uns!“

„Ach, lass mich, Paul, ich bleib lieber stehen. An der frischen Luft geht es am besten. Mir ist so elend. Hoffentlich sind wir bald an Land.“

Zum wiederholten Male stampfte das Schiff mit der ganzen Langsamkeit und dem Nachdruck seiner großen trägen Masse. Beschämt von seiner blinden Dollarfreude legte er vorsichtig und wortlos den Arm um sein mutiges Mädchen, das ihn, ganze 23 Jahre alt, so tapfer auf diesem Abenteuer begleitete. Ja, was lag da vor ihnen? Wie lange würden die knapp hundert Dollar reichen? Wann würden sie ihre ersten selbst verdienten kanadischen Dollars in der Hand halten? Wie würde das alles werden, wenn es richtig losging in Kanada? Diesem Land nördlich der Vereinigten Staaten, in dessen weiten Wäldern es um Holzfällen und Tierfelle ging, soweit er es wusste.

Wo war er denn hier gelandet? Er musste sich in den vielen Stockwerken verlaufen haben. Hinter der Schwingtür roch es nach Maschinenöl und – einem schweren, süßlichen Geruch, der nicht dazu passen wollte. Nach zehn Metern führte auf der linken Seite des Ganges eine schmale Treppe steil in die Dunkelheit hinab. War das Licht dort defekt? Er blieb stehen und hielt die Nase nach unten: Tatsächlich, von dort kamen die Dufttupfer in der Luft! Er irrte sich nicht, Spuren von Parfum suchten sich ihren Weg nach oben. Moschus? Patschuli? In diesen Dingen kannte er sich nicht aus. Ohne das von unten heraufschallende Gelächter und Türenschlagen wäre er hinabgestiegen, aber eine Frauenstimme hatte „see you tomorrow, darling!“ gerufen, ein männlicher Bass Unverständlich-Einvernehmliches zurückgeraunt, gekontert durch vieldeutiges weibliches Lachen. Er ließ davon ab. Als entschlossene Männerschritte nahten, setzte er seinen Weg oben im Gang fort, als habe er nichts bemerkt. Als sich das kräftige Auftreten im Kabinengang, den der Mann nach dem Erklimmen der Steiltreppe erreicht hatte, in die andere Richtung hin entfernte, drehte er sich nicht um. Die Schwingtür auf der anderen Seite knallte deutlich zu. Ruhe im Gang. Nachsehen? Er zögerte und entschloss sich dann für die nächsten breiten Stufen nach oben. Links oder rechts? Kein Wegweiser, der weiterhalf, kein Steward, keine Menschenseele in der Nähe. Es blieb nur das Ablaufen der Gänge, die sich an verschiedenen Stellen verzweigten. Befand er sich in der Mitte des Schiffes? An einer Seite? Die Spülküche, so hieß es, sei in den unteren Stockwerken des Liners untergebracht. Aber sie konnte doch nicht im finsteren Abgang liegen! Hätte nicht in diesem Flur der Hintereingang zu ihr sein müssen?

Ein „Bloody Bastard!“ aus den Tiefen des Gangs vor ihm erschreckte ihn, kurz bevor er auf den Quergang stieß, auf dem ein kleiner Mann mit etwas Gelbem in der Hand vorbeiflitzte, nicht ohne kurz in seine Richtung gesehen zu haben. Auf Englisch schimpfend verfolgte ihn aufgebracht ein dicklicher Mann in blauer Mechanikeruniform. Langsam bog Paul in die Gegenrichtung ein. Da, der Schrubber! War er nicht schon einmal an dieser Tür vorbeigelaufen, vor der eine Rolle gelben Kabels gelegen hatte? Ein junger Mann hatte davor in der Hocke gesessen und eine Dose Lötzinn mit der deutschen Aufschrift ‚Lötzinn’ in der Hand gehalten, es war ihm sofort aufgefallen. Der Schrubber hatte in der gleichen Position an der Wand gelehnt und da lehnte er noch. Das Lötzinn befand sich an derselben Stelle, nur das gelbe Kabel fehlte und die Tür stand auf. Was ging hier vor? Es gab definitiv keine Küche in diesem Gang. Vielleicht einen Stock darüber? Verdammt unübersichtlich, diese tieferen Schiffsetagen!

Nachdem er endlich auf die Küche gestoßen war – im vorderen ‚Kellerbereich’ der Nelly – hatte er die Spülerei, vor allem Gläser, erledigt. Diesmal gab es acht Dollar (acht!!) auf die Hand, mit der Empfehlung, sich am nächsten Morgen für die Inventur des Getränkeshops zu bewerben.

Eine gute Stunde bis zum Abendessen blieb. Da war doch ... Er erinnerte sich an das Mysterium süßlichen Geruchs in öliger Luft. Ob er die Treppe per Zufall wiederfinden würde? Sie musste in der Nähe zu den Maschinenräumen liegen. Oben war die Orientierung an den Salons und Außendecks ein Kinderspiel. Das Gängelabyrinth breitete sich erst im Unterbauch der Nelly aus. Manche Schwingtüren fielen lautlos zu, andere schlugen knallend aneinander, wenn die Aufhängung sich verkantet hatte. Nach zig Türen und endlosen abgelaufenen Fluren, da! Trotz des vorherrschenden Gestanks nach Maschinenöl in den Gängen zog es ihm in die Nase, warm, erdig und süß. Diesmal kam der mysteriöse Geruch, der sich durch das Gewirr der Gänge ausbreitete, von der anderen Seite, die Treppe führte rechts hinab. Sollte er? Das Motorenbrummen, lauter als oben auf den höheren Decks, gleichwohl leise genug, um Schritte zu hören. Er stieg rückwärts hinunter ins fahle Licht, das Gesicht zu den Stufen. Als er sich dem Geruchsrätsel zudrehte – es war wie ein Schlag von der Seite gegen seinen Kopf. Verdammt, das tat vielleicht weh! Unwillkürlich befühlte er die Stelle im Haar. Die Kopfhaut schien heil geblieben zu sein. Brummten die Motoren oder der Schädel? Kein Mensch in der Nähe. Er blickte vorsichtig hoch. Da, dieses Miststück von Metallöse! Gab es keinen besseren Platz für sie? Stille bis auf das Maschinengrummeln. Er fand sich, fünf Meter weiter in Gangrichtung, einer Tür mit mattgeschliffenem Glas gegenüber. So dunkel war es gar nicht, ein schummriges Gelb von Glühbirnen mit geringer Leuchtkraft dämmerte dahinter. Was stand dort? In geschwungenem Schriftzug? Ins Glas graviert, durch das rötliche Lichter des dahinterliegenden Flures glommen? Er traute seinen Augen kaum: ‚Pigalle’, präsentiert von einer vielversprechenden Dame, die die Reize ihres unbekleideten Oberkörpers zeigte und die tieferen Regionen mit dem Schriftzug des französischen Nachtlokals auf eine Weise und mit einem Blick verbarg, der unverschämte Lüste versprach. Schnell weg aus diesen Gemächern, bevor jemand kam! Das hatte er weder gesucht noch erwartet. Die ‚Nelly’ und ihre Reize! In der Beule am Kopf pochte der Puls. Seine blöde Neugier! Unglaublich! Gisela erzählte er nichts davon.

Am 29. September hatte es aufgeklart, der Ozean schien beruhigt. Gisela ging es besser. Zum ersten Mal saßen sie zusammen im ‚grünen Salon’, dem ‚Writing Room’. Eine angenehm ruhige Atmosphäre atmete dieser Raum – mit Stoff bespannte Wände, Stiche alter Segelschiffe, die zum Betrachten einluden, verzierte Holztische, auf denen sich exquisite Briefbögen mit Briefkopf und Logo der Nelly zum Beschreiben anboten. Helle Bordlampen beschienen jede Tischfläche und konzentrierte Gesichter blickten, wenn sie nicht schrieben, auf die vor ihnen trocknenden Zeilen, oder sie suchten den Raum nach Fixpunkten für ihre Blicke ab, mit dem Unterschied, dass die Personen und Gegenstände, auf denen die Augen ruhten, nicht selbst gemeint waren, sondern nur als Sprungbrett für Einfälle dienten. Paul zögerte nicht lange und begann seinen ersten Brief. Über die letzten Tage hätte er einen halben Roman schreiben können, über die Arbeiten, denen er nachgegangen, die Menschen, die er dabei erlebt hatte oder über das seltsame Ereignis mit dem Kabeldiebstahl. Gisela ließ ihre Gedanken einige Zeit schweifen und begann am Tisch zu dösen, während Paul die seinen mit Tinte ins Papier kratzte.

Laute Rufe draußen, Treppengelaufe hinter der Wand. Gisela blickte hoch, Paul fragend zurück. „Was ist das?“ und auf das Schulterzucken Pauls hin: „Ich seh mal nach“, verschwand sie, um gleich danach wieder zu erscheinen. „Komm Paul, schnell, man sieht schon Land draußen, komm!“ Das ‚Na-gut’-Gesicht, in das sie sah, bezeugte die kleine Verstimmung über die Unterbrechung seines Schreibflusses, der gerade in Gang gekommen war. Er stand auf, nicht unbedingt in größter Eile. Jedermann stürmte an Deck, vor allem das Vorderdeck, so dass sie nur an der rechten Seite Platz fanden. Glücklicherweise änderte das Schiff seinen Kurs nach links und gab so die Sicht auf einen dünnen, grauen Streifen am Horizont frei, der um eine Nuance dunkler schien als der Blick aufs offene Meer. Herrlich war es an Deck, dieser Blick auf das stahlblaue Wasser in Azur und der Sonne darüber, die sich endlich einmal zeigte. Wie die Borddurchsage verlauten ließ, lag Neufundland rechts vor ihnen. Nach und nach entstanden graublau ferne Hügelketten, die umso höher wurden, je näher sie kamen. Und – roch die Luft nicht ein wenig nach Harz und Erde? Wie ein Wunder mussten die ersten Entdecker diesen Anblick nach all der Wasserwüste erlebt haben!

Neufundland also! ‚Neufundland’ – wie das klang! Neugefundenes Land. Neuland. Es klang nach Abenteuer und Freiheit, nach der Möglichkeit, ganz eigene Wege zu gehen. Er merkte, wie ein ganz eigenartiges Gefühl in ihm aufstieg, ein sich seltsam anfühlender Anflug von Aufbruch, eine große Lust anzupacken, was immer es sei, ein unbändiger Wille zu gestalten, erwartungsvolle Unruhe. Nach einer verfrorenen Dreiviertelstunde kehrten sie in das grüne Reich des Schreibens zurück. Pauls Schreiblaune hatte sich erheblich abgekühlt.

Am folgenden Tag glitt die Anticosti-Insel an ihnen vorbei, unwirtlich und kalt. Kontinentale Kühle umströmte sie an Deck, obwohl die Sonne freundlich strahlte. Die Nelly hatte die Fahrt erheblich verlangsamt. Das alles um sie herum war also Kanada, dieses Riesenland mit seinen unendlichen Wäldern, mit Fallenstellern und Indianern. Das Land, in dem alles möglich war, ein Land des Aufbruchs, nicht des Zusammenbruchs. Links und rechts kamen in weiter Ferne die ersten bunten Farmhäuser und Hausansammlungen ins Visier des für einen Moment ausgeliehenen Fernglases. Ein wenig Schnee schien die Höhen der Insel und der steil ansteigenden Küste des Stromes zu bepudern. Der Winter schien unmittelbar bevorzustehen. Ein zunehmend kalter Wind zwang nach unten ins geschlossene Deck. Immer enger rückten die beiden Küsten auf dem Weg nach Québec zusammen. Paul schrieb an seinem Brief weiter, Gisela sah durch die Zwischendeckfenster dem Dunkelwerden zu. Dann die Durchsage „In einer halben Stunde wird die MS Nelly in Québec anlegen“ mit zahlreichen weiteren Hinweisen.

Québec – ein verspieltes Backsteinschloss auf einer Anhöhe neben dem Strom zog die Blicke von weitem an. Türme und Türmchen wurden sichtbar, schälten sich aus der Dunkelheit heraus und erstrahlten im gelben Glanz zahlreicher Lichter. Hell erleuchtete Fenster und Fensterchen belebten die Fassaden und glitzerten wunderlich im kräuselnden Wasser. Wie ein Château in Frankreich, ging es Paul durch den Kopf.

Längst hatte der Wind nachgelassen, jedermann war an Deck und besah sich das Schauspiel. Gisela und Paul standen eng zusammen über die landseitige Reling gelehnt. Der riesige Dampfer verlor an Fahrt, ein Schlepper übernahm, der Koloss kam fast zum Stehen. Mit sanfter Schlepperkraft nahte sich die Nelly dem hell erleuchteten Kai, auf dem sich Buden drängten und Hunderte von Menschen warteten. Noch nie waren sie Kanada so nah. Und nun warfen die Matrosen Taue hinüber, zogen sie fest an, verknoteten sie. Das landseitige Ende der Passagierbrücke fiel mit metallischem Knall auf den Kai, wurde zurechtgerückt. Paul blickte ernst nach links, suchte ihre Augen, bis sie ihn anschaute, nahm sie in den Arm:

„Jetzt sind wir angekommen, Gisela!“

„Fürs Erste jedenfalls!“, gab sie zurück.

Das Deck begann sich zu leeren. Als die Passkontrolle auf dem Schiff hinter ihnen lag, betraten sie die kleine Metallbrücke und danach – mit den ersten Schritten kanadischen Boden! Von den Imbissständen her duftete es verführerisch nach Pfannkuchen und Würstchen.

„Mesdames, Messieurs, allez y, des crêpes extraordinaires“ – ein stämmiger Franko-Kanadier mit kräftigem Schnäuzer pries der vorbeiströmenden Prozession aus kofferschleppenden Europäern seine Pfannkuchen an. Na, sie hatten ja Appetit, doch da hinten standen gestikulierende Frauen mit Willkommenslächeln und großen Schildern: ‚Destination Toronto’, ‚Destination Québec, ‚Destination Montreal’. Gisela und Paul mussten zu den Bussen rechts. Bloß nicht die Abfahrt verpassen! In aufgekratzter Müdigkeit bestiegen sie mit ihrem Handgepäck den Hafenbus, der sie zum Bahnhof schaukelte. Zum Glück war die Weiterreise der Koffer und Kisten geregelt. Die ‚Destination Toronto’-Frau wies ihnen den Weg zur Bahn, die sie 800 km weiter nach Guelph in Ontario bringen würde. Sie ließen sich in die Sitze fallen. Wie müde sie waren, merkten sie erst jetzt. Ka-nada, da-dam, da-dam, die gan-ze Nacht.

Im Takt des Da-dam, da-dam der Bahn zog am frühen Morgen die wunderbare Landschaft zwischen Toronto und Guelph fast wie im Traum an ihnen vorbei. Ein leicht welliges und fruchtbares Hügelland dehnte sich da vor ihnen aus, die rechte Freude für einen Landwirt. In weiten Abständen darauf verstreute Farmen, frohbunt und hölzern, inmitten ausgedehnter Felder, Kirchen dann und wann, Laubwälder, fast schrill in ihrem herbstlichen Blätterkleid. Pappelgesäumte Straßen und Wege zogen sich durch das Paradies in einem Zustand, der mit deutschen Verhältnissen nicht zu vergleichen war. In dieser Gegend als zukünftiger Heimat würden sie sich wohlfühlen können.

Guelph

‚Out of Office!’ verkündete ein schräg an der Tür des zuständigen ‚Inspector in Charge’ hängender Zettel und freundlich-bedauernde Angestellte hinter den Nachbartüren bestätigten ‚very sorry’ dessen Abwesenheit. Gab es keine Schalterstunden? Am folgenden Tag stellten sie sich erneut darauf ein, beim ‚Inspector’ auf einen Termin zu warten, Anträge auszufüllen und in einer Woche wiederzukommen. Stattdessen verblüffte sie ein fabelhaft hilfsbereiter ‚Inspector’, der ohne Papier auskam. “Hello! Mr. and Mrs. Hahn? I see. Have a seat, please!“, und schon rückte er zwei Stühle heran, auf die sich Paul und Gisela artig setzten. “Would you like some coffee?” Ja, gerne. Er turnte ins Nachbarzimmer und gab seine Bestellung durch. Zwischen freundlichen Blicken bearbeitete er energisch die Wählscheibe des Telefons, darum bemüht, seine Ungeduld zu verbergen, wenn der Angerufene nicht sofort abhob. Während beide seine Aktivitäten bestaunten – Gisela verglich ihn mit einem Tornado, Paul nahm einen Wirbelwind wahr – telefonierte er nach hier und da, murmelte unter Kopfschütteln ein „what the hell?“ vor sich hin, fragte im Nachbarzimmer nach, kam wieder und so fort – ein undenkbares Vorgehen, wenn man es mit der Trutzburgmentalität deutscher Bürokratie verglich. Mit einem Mal war es geschehen. Inspector Blue nannte Paul, dem er nach einigen Antworten ein ‚bemerkenswert gutes’ Englisch attestierte, zwei bis drei große Viehfarmen als Arbeitsmöglichkeit, bei freier Kost und Logis und dem recht ansehnlichen Monatslohn von 75 Dollar. Er wolle ihnen, und das klang recht glaubwürdig aus dem Munde dieses sympathischen Menschen, unter den Höfen die beste Farm heraussuchen. Sie würden alsbald von ihm hören. Wie leicht sich das alles anfühlte! Konnten sie es besser treffen?

‚Indian Summer’ nannte man das Naturereignis, in das sie nach dem Besuch beim Inspector eintauchten, der sie für eine Weile sprachlos zurückließ. Hatten sie auf dem Hinweg zum kanadischen Arbeitsamt vor allem darauf geachtet, den Weg zu finden, so waren jetzt Kopf und Sinne frei für das ungeheure Farbspektakel, das sich im daneben liegenden Parkgelände vor ihnen ausbreitete. Sie ließen sich auf einer von Ahorngelb umkränzten Parkbank nieder und verputzten ihre geschmierten Brote, den Blick auf das Tiefrot amerikanischer Roteichen und das sonnenbestrahlte Orange einer Hecke gerichtet, das vor dem Knallblau eines Sees brannte. Der umtriebige Mr. Blue vom Amt – ein Wort, das nicht nach Kanada passte – geisterte noch lang durch ihren Kopf, selbst nachdem sie ihre überraschende Erfahrung miteinander besprochen hatten.

Zum Tagesabschluss flanierten sie durch die Straßen Guelphs, ganz erfüllt vom Wohlgefühl des nachsommerlichen Tages. Wie üppig die Auslagen der Obstgeschäfte mit den exotisch anmutenden Früchten in allen Farben! Vor dem großen ‚Supermarket’ war eine Unzahl moderner Autos abgestellt. Sie staunten über die Vielfalt der Radios, über die ‚Television’ genannten Kisten mit Glasscheibe, über Waschmaschinen und elektrische Kühlschränke, die in riesigen Schaufenstern für den Kauf warben. War dies nicht das gelobte Land?

„Mensch Rudi!“

„Mensch Paule!“

Die zwei Männer drückten sich auf eine Weise, dass man sich sorgen konnte, ob dabei alle Rippen heil blieben. Rudis Familie, wenige Wochen vor ihnen ausgewandert, wohnte im zwanzig Kilometer von Guelph entfernten Fenelon Falls. Im herrlich eingerichteten Wohnhaus einer Farm hatten nicht nur die Wendemanns mit ihren Kindern, sondern auch Herr Hollatz, seine Ilse und die lustige Lilo Unterschlupf gefunden. Lilo, die Paul wie seinen Freund Rudi Wendemann seit 1948 aus Praktikumszeiten in Ditterke bei Hannover kannte. Alle wohnten und arbeiteten auf diesem Betrieb, der so zu einem kleinen deutschen Auswandererasyl geworden war. Gisela und Paul halfen gleich im Farmgarten bei der Ernte der großen, herbstfarbenen Ontario-Äpfel mit. Was war das für ein Herbstvergnügen! Wie rasch verging die Zeit im Rausch der Wiedersehensfreude und des Erinnerungsaustauschs! Und wie schön war es, diese Freunde in der Nähe zu haben. Erinnerungen und Ontariowein flossen in Strömen. Eigentlich vermisste man nur den legendären Schnaps des ‚ollen Herrn Garben’, des Gutsherrn von Ditterke.

Am folgenden Mittwochnachmittag chauffierte sie der im wahrsten Sinne des Wortes hemdsärmelige ‚Inspector in Charge’ in seinem eigenen Wagen schnurstracks zur Farm von Mr. Miller. Sie hielten vor einem Backsteingebäude an und blickten durch die Seitenfenster ohne auszusteigen. Mr. Blue suchte nach etwas im Handschuhfach. Wunderschön lag das Farmhaus da – mit verzierten Holzgiebeln und Dachschrägen im ersten Stock. Drei gemauerte Schornsteine ragten aus dem Dach und die Fenster, mit in schwacher Rundung gemauertem Sturz und hellblauen Läden, erinnerten Gisela an die des Häuschens ihrer Großmutter. Lebendig frisch leuchteten sie vor dem stumpfen Rot der Backsteine! Der hölzerne Zaun, unterbrochen von einem ganz mit Rosen beblühten Türbogen, umgab das mit Büschen und Apfelbäumen bepflanzte Areal auf eine liebevoll behütende Art. Der Inspector suchte, „where the hell ...“, immer noch, inzwischen in der Aktentasche im Kofferraum. Links neben dem Gebäude breitete sich ein abgeernteter Gemüsegarten aus, auf dem noch vereinzelte Kürbisse an vertrockneten Ausläufern hingen. Bohnenstangen zeigten gelbes Laub, ein Teil der Fläche war umgegraben. Auch sein Vater würde den Garten in diesen Tagen für den Winter vorbereiten, dachte Paul. Unter einem großzügigen hölzernen Vordach – wie schön müsste es sein, dort zu sitzen! – befand sich die schmucke Eingangstür. Ob sie einmal ein so wunderschönes Haus besitzen würden? Endlich hatte Blue seinen Zettel gefunden und bat sie, aus seinem staubigen Chevrolet auszusteigen. Der Wagen wirkte etwas schäbig, im Gegensatz zu dem vor dem Wohnhaus parkenden, in der Sonne blitzenden neuen Chrysler, einem Prachtstück von Auto, wie Paul mit einem Seitenblick beim Vorbeigehen feststellte. Merkwürdig! Warum lief der Inspector an der Haustür vorbei und ging gleich um das Schlösschen herum? Sie trabten ihm hinterher. Ihr Blick fiel nun auf eine große Scheune und ein daneben liegendes Silo. Zehn Männer waren mit dem Abladen des Trecker-Anhängers und dem Einfüllen einer gelblichen Masse in den Trichter einer Maschine mit laut tosendem Gebläse beschäftigt. Heller Staub quoll aus undichten Teilen des Rohrs, das aus der Maschine hinaus und oben in das Silo hinein führte. Er malte sich schmutzig gelb vor dem Blau des Himmels ab. Jetzt hatte er sie entdeckt. Ein großer kräftiger Mann in hohen Stiefeln löste sich aus der Gruppe, kam auf sie zu und begrüßte die drei mit unerwarteter Freundlichkeit. Der Inspector stellte sie mit zwei, drei verbindlichen Worten vor, witzelte über seine Frau, die ihn längst erwarte und kam zum Wetter. Mr. Miller sah Paul aus seinem staubbepuderten Gesicht forschend in die Augen, Paul sah mit einem Ausdruck zurück, der seine Bereitschaft hier zu arbeiten erkennen ließ. Als der Chef der Farm mit den Worten „o.k., 75 Dollars, I’m Fred“ seine schwielige Hand ausstreckte, schlug Paul in einen Schraubstock ein. Das schien der Arbeitsvertrag zu sein, denn Mr. Blue sah nun keinen Anlass mehr, den vielbeschäftigten Chef weiter in seiner Tätigkeit aufzuhalten. Nach einem abschließenden Scherz übergab er sein mühevoll gesuchtes Formular, wünschte alles Gute und verschwand mit einem „O.k., that’s fine. See you!“ Millers Frau, gut in den Vierzigern, mit Brille und einer etwas strengen Frisur, war kurz nach ihrer Ankunft aus dem Haus getreten. Sie hatte sich zu ihnen gesellt und nur mit einem „Hello!“ begrüßt. Fred bedauerte, dass keine Zeit übrig und die Maisernte in vollem Gange sei, „you know“, und so wandte er sich mit einer um Verständnis heischenden Geste in Richtung der Männer am Silo um und ging. „Hi! I’m Joy“ – so stellte sich Mrs. Miller vor – und begleitete sie anschließend durchs Haus, gefolgt von ihrem achtjährigen Sohn, dem man die Lästigkeit der Führung deutlich ansah. Bemüht um Liebenswürdigkeit zeigte sie ihnen Küche, Aufenthaltsraum, Toilette und Wasserstelle. Warum ging sie nur so komisch? Sie bewegte sich in krummsteifer Haltung, als ob sie Schmerzen vermeiden wollte. Von den zwölf Räumen das Hauses war nur die Hälfte bewohnt. Nachdem sie Gisela und Paul einen Wohn- und Aufenthaltsraum, sowie einen weiteren als Schlafzimmer zugeteilt hatte, empfahl sie sich mit „just make yourselves comfortable, see you supper“ und überließ sie sich selbst. Gisela und Paul sahen sich ohne Worte an.

Die Millerfarm

Zu Beginn des nächsten Tages vermieden sie die Anrede. Die Millers, ihre neuen Chefs, einfach mit ihren Vornamen ansprechen? Sie hatten sich ja selber so vorgestellt, aber – kannte man sich nicht erst seit gestern? Es kostete Überwindung. Da weder „Joy“ noch „Fred“ bei dieser Benennung mit der Wimper zuckten, verflog die anfängliche Scheu. Sie hielten es offensichtlich für selbstverständlich und das so persönliche „Fred“ und „Joy“ kam den beiden immer leichter über die Lippen.

„Wie war dein Tag, Paul?“ Paul antwortete mit einem lange ausgeatmeten „Puuh!“ und ließ sich aufs Bett fallen.

„Ach mein Mädi! Ich bin so was von erledigt, du glaubst es nicht. Wenn ich an morgen früh denke, ist es besser, ich gehe gleich in die Kiste. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich heiße.“

„So anstrengend war es? Ich kann nicht klagen. Joy hat mir morgens das Gröbste im Haushalt gezeigt und ist ins Bett gegangen. Morgens ins Bett! Es muss ihr wirklich schlecht gehen. Danach kam Verwandtenbesuch, ich sollte Kaffee kochen. Ich habe alles Mögliche suchen müssen. Der Junge quengelte die ganze Zeit. Joy lässt ihn, sagt nie ‘was. Er ist ‘ne heilige Kuh.“

„Heilige Kuh?“

„Allerdings! Ob er im Essen herumstochert, sich einfach auf den Küchenboden legt, viel zu spät schlafen geht, seine Sachen nicht aufräumt, oder kleinste Bitten unwillig ablehnt – ‚Mummy’ ermahnt ihn niemals, alles lässt sie ihm durchgehen, nie wird sie laut. Billy hat alles, darf alles und nörgelt trotzdem. Erst um zwölf ist sie wieder aufgestanden, um mich ins Mittagessen einzuweisen. Sie sagt ständig ‚my dear’ zu mir, kann sich wohl ‚Gisela’ nicht merken.“

Paul bemühte sich zuzuhören. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer und hätte das Lallen eines Betrunkenen sein können: „Der Mais ist im Silo, morgen Kartoffeln, zwei Morgen, das ist ‘ne Menge. Alle Nachbarn, sogar die Jungens, helfen mit. Danach die Rinder, Fred und ich machen die alleine. 200 acres hat Fred unterm Pflug.“

„Das habe ich gemerkt, bei den Massen von Leuten, die wir zu viert versorgen mussten, zwanzig Personen waren es bestimmt! Die arme Joy jammerte die ganze Zeit, obwohl Helen und Betty von den Nachbarn mithalfen. Schließlich ließ sie uns alleine, zu dritt mit Abwasch und Aufräumerei, und verschwand im Bett. Wieder hat der Junge über das Essen gemeckert, es war ihm nicht fein genug. So ein verwöhntes Balg! – Ich weiß nicht einmal, ob ich etwas für meine Hilfe bekomme. Aber ich kann doch nicht gleich am Anfang danach fragen, oder?“ Gisela wirkte noch frisch nach ihrem Tagwerk. „Ich hoffe unsere Kisten kommen bald, dann haben wir wenigstens unsere eigenen Sachen, unsere Kissen vor allem. Die Dinger, die wir da haben, sind ja zum Abgewöhnen.“

„Ich glaub, du kannst mir heut’ Nacht ‘n Stein untern Kopf legen. Ich merk das nicht. Und – wollten wir nicht schreiben? Unsere Lieben warten doch darauf. Weiß gar nicht, wann das gehen soll ... Kannst du das übernehmen? ... Ich schaff das nicht.“ Er blickte sie nicht mehr an.

„Ich hab von Helen schon ein bisschen kanadisch kochen gelernt, einen Pie mit Rosinen, Äpfeln und Kürbismehl, zum Beispiel.“

„Na, kannst mich später mal damit bekochen ... Hab zwei neue Freunde: Goldie, die Dogge und Laddie, ‘ne Windhündin, die die Rinder scheucht ... 150 Rinder, ich sag dir, 150 ...“, murmelte er, von Sprechpausen unterbrochen, vor sich hin.

„Goldie ist also die Dogge, der sie die Reste vom Kürbispie gegeben haben. Dass sie einen Hund so etwas fressen lassen, der Arme! Eine Dogge und Kürbis! Hätten sie den Rest nicht im Eisschrank aufbewahren können? So was verstehe ich nicht, so eine Verschwendung!“ Und – er war eingenickt.

Morgens um acht stand das Frühstück bereit – das Frühstücksbuffet! Mit Apfelsinen, Bananen, Äpfeln, Pfirsichen, Melonen, Eingemachtem und Porridge, Toast, Butter, Marmelade, Tee, Kaffee, Zucker, Sahne und Gebäck bildete es einen Höhepunkt des frühen Tages – nach zwei Stunden Stall- und Küchenarbeit, die ohne Essen um sechs begonnen hatten. Mittags zwischen zwölf und eins folgte ein reichhaltiges Lunch mit Salaten, vielen Fleisch- und Käsesorten, allerdings mit dem ewig gleichen Weißbrot, das nach Hefekranz schmeckte, dem einzigen Manko auf dem Speiseplan. Auf eine Kaffeeauszeit wie auf deutschen Bauernhöfen verzichtete man. Abends um sechs beendete das Supper den kulinarischen Tageslauf: Kartoffeln mit Butter, Tomaten, Schweinebraten, Brot, Butter, Käse, Wurst, Tee und Sahne, Ananas mit Sahne, Rosinen- und Citronatkuchen, zwei Sorten Torte, Pfannkuchenringen, ‚Donuts’ genannt, Biskuits und Eiscreme – man konnte einfach nicht alles probieren. Schade, dass noch Arbeit auf sie wartete!

Am Sonntag, nach Wochen, so erschien es Paul, trat ein wenig Ruhe in das Landleben ein. Nach dem ausgiebigen Sonntagsfrühstück leisteten sich Gisela und Paul einen ersten Spaziergang auf dem Farmgelände. Bezaubernd war dieses Hügelland mit den Ausblicken ins weite Land, mit den kleinen Laubwäldchen, in denen sich besonders das Rot austobte, mit den Farben der verschiedenen Felder, mit dem Fluss, an dem die Kühe lagen und sich die Pferde hinterher liefen. Außer einem gelegentlichen Blöken der Rinder war kaum ein Laut zu hören. Wie schön es hier war, wie friedlich! Würde man auf einem deutschen Hof ebenso empfinden können? Bei der Fragilität der politischen Lage im Osten und Westen Europas? Mit Deutschland als Schnittstelle? Wie weit doch lag die Farm der Millers von Russland entfernt!

An einem solchen müßigen Herbsttag kamen die Gedanken, ließen sich nieder und man schrieb sie auf, oder sie flogen wieder sanft davon. Gisela knabberte an ihrem Füllfederhalter. Was Papa wohl gerade beschäftigte? Ob er am dritten Brief an sie schrieb? Wie mochte er sich als Königsberger Stadtmensch im Westerwald fühlen? Ob Mutter noch ihre Beschwerden hatte? Doch, heute Abend würde sie endlich Muße haben zu schreiben. Sie ging auf einen Ahornbaum zu und suchte sich ein besonders rotes Blatt aus, das sie in einen Brief einlegen würde, als kanadischen Gruß an ihre Eltern.

„Es ist nicht so einfach, aber fürs Erste sind wir untergekommen“, beendete sie ihren Brief an Schwester und Eltern.

Während der Wanderung mit seinem Vater ‚Peps’, seinen beiden Schwestern und den befreundeten Melsheimers durch ein enges Seitental bei Bingen hatte er austreten müssen. Der Landvogt stand plötzlich vor ihm und forderte ihn auf, augenblicklich seinen Frondiensten nachzukommen. Dabei wies er auf den zu beerntenden Kartoffelacker. Ein bildhübsches Mädchen saß am Rande des Feldes, sah ihn offen und warmherzig an, streckte ihre Hand nach seiner aus, fasste sie und hatte nur Augen für ihn. Ganz hypnotisiert ließ er sich durch sie von den leiser werdenden Vorhaltungen ihres Vaters wegziehen und führte ihn hin zur Burg Liebenstein, mitten hinein in die im Burgsaal fröhliche feiernde Gesellschaft. Saßen da nicht seine Eltern und Geschwister? Und am Ende des Saales rannte ein kleiner Gnom mit einem gelben Kabel über der Schulter durch eine offen stehende Tür. Und da, die Nachbarn, seine Schulkameraden, sein alter Klassenlehrer Auf der Haar, und schon ließen die Füchse, Burschen und Altherren seiner Chattia die beiden hochleben, man trank, man sang und ließ es sich ...

„Good morning!“ rief ihn Fred wie jeden Morgen in den Tag.

Es war Sonntag und sechs Uhr früh. In völliger Dunkelheit aufgestanden, um Gisela nicht aufzuwecken, machte er sich frisch, stieg ohne zu frühstücken in den ausgeliehenen Stalloverall, legte die Miststiefel an und verschwand im Kuhstall zwischen den Milchkühen. Morgens konnte er gut zupacken. Die Fütterung der Kühe und Schweine ging leicht von der Hand und bald lockte das richtige Frühstück. Die Zeit verdunstete wie ein Tropfen auf der heißen Herdplatte.

Seine Gisela. Kaffeeduft! Kaffee mit echter Sahne! Toast mit Butter und Marmelade, für jeden eine Apfelsine, Porridge-Haferbrei mit Zucker und Sahne, Tee – dafür allein lohnte es sich. Als er die Küche betrat, grinste Fred breiter denn je, griff nach einer Zeitung, die aufgeschlagen auf der Sitzbank lag und las laut:

„Mimosa, Oct 15. – Mr. Fred Miller has engaged a young couple, not long out of Germany, to assist with the farm work. Mrs. Miller is making a nice recovery from her illness.” Schwang da nicht ein wenig Stolz in seinen Worten mit? „And – just one thing: Would you like to join us and attend a church service?”

Warum nicht einmal einen Gottesdienst besuchen? Längst war es an der Zeit innere Einkehr zu halten, nach diesen zwei ereignisreichen Monaten, an der Zeit, die Stille einer Andacht zu erfahren.

„Oh thank you! Yes, we’d like to join you.”

Nach dem Melken sollte es los gehen.

Die Mimosa Church lag einsam an einer befahrenen Straße in lichtem Wald. Fred Miller kutschierte sie in seinem neuen, schlammbespritzten Chrysler Windsor vor den Haupteingang der Kirche, vor dem bereits viele Autos parkten, riss jovial-ungelenk die Tür auf, um erst seiner Frau und nachfolgend ‚my dear’ aus dem Wagen zu helfen. Das Auto blieb an Ort und Stelle zurück – unabgeschlossen. Millers betraten mit ihnen gemeinsam das turmlose Backsteingebäude durch den Haupteingang und nahmen in einer der vorderen Reihen Platz, nicht ohne dass Joy alle Bekannten laut gegrüßt und bewundernde Worte für die Garderobe der anderen Frauen gefunden hatte. Jeder hatte sie jetzt gesehen. Die Kirche füllte sich zusehends und bald schon mussten später eintreffende Besucher stehen.

Die Pfarrerin („you will like her!“) erschien vor dem Altar, ohne dass der Schallpegel spürbar nachließ. Um sich bemerkbar zu machen, begann sie selbst mit dem Gesang des ersten Kirchenliedes. Bis der Letzte miteingestimmt hatte, mochten wohl fünf Strophen gesungen worden sein. Nun schien die Gemeinde gottesdienstbereit – wenn man vom Nachwuchs absah. Viele Kirchenbesucher hatten ihre Kinder mitgebracht und das wäre ja in Ordnung gewesen. Nur, deren Eltern schienen nicht in der Lage, ihre Brut zur Ruhe zu ermahnen. Es quäkte hier, es jammerte da, selbst nach Beginn des ‚Service’ machte keine der Mütter Anstalten, mit dem schreiendem Balg vor die Tür zu gehen, um den Besuchern des Gottesdienstes das Zuhören zu ermöglichen. Es ging so laut her, dass Gisela und Paul kaum die Worte der Pfarrerin erlauschen konnten. Keinen schien das ernsthaft zu stören. Erst recht fiel den beiden schwer, das ungewohnte Hin und Her der in altertümlichem Englisch gehaltenen Liturgie zu verstehen. Der Inhalt der viertelstündigen Predigt erschloss sich ihnen ebenso wenig. Überraschend allerdings, dass die gesamte Gemeinde an mehreren Stellen der Predigt lauthals zu lachen begann, als befinde man sich im Kabarett. Es stand in krassem Widerspruch zur ernsten Miene der Pfarrerin. Ruhe, Andacht, innere Einkehr, Besinnung oder gar – das Zwiegespräch mit Gott? Fehlanzeige. Zwei im Trubel verlorene deutsche Seelen drückten verlegen die Kirchenbank. Wider Erwarten war der ‚Service’ beileibe nicht zu Ende.

Das mit vielen Worten bedeutungsvoll angekündigte ‚Konzert’ gab dem Gottesdienst eine neue Wendung: Bis auf zwei Orientierungslampen brannte kein Licht mehr. Erst so fiel auf, dass der Bereich rechts neben dem Altar in ein blaues Licht getaucht war, aus dem es schwach und gläsern blitzte. In magisch wirkendem Lichterschein erzeugten mit einem Mal fingerfertige Gemeindemitglieder auf 20 bis 30 Wassergläsern mit unterschiedlich hohem Wasserstand eine mit Löffelschlagen erzeugte Kling-Klong-Musik. Andere bliesen auf Kämmen dazu, die mit Pergamentpapier umwickelt waren. Ein adventlicher Charakter der vernommenen Klänge war vor allem in Hinblick auf die Hässlichkeit des Tones der geblasenen Kämme nicht zu erkennen, die dem Ganzen den Eindruck schäbiger Straßenmusik verliehen. Großer, langanhaltender Beifall ertönte, in den die deutschen Hände pflichtschuldigst, aber nicht überzeugt miteinstimmten. Weitere Beiträge der Kammbläsermusik folgten, mit wohlwollend beklatschtem Ende. Das einzige Stück ohne die saxophonen Kämme entfaltete dagegen tatsächlich einen Reiz, dem man sich nur schwer entziehen konnte.

Als schließlich ein junger Mann mit Cowboyhut unter einem mit Scheinwerfern angestrahlten Jesusbild Moritaten zur Gitarre sang, zu denen kostümierte Personen witzig schauspielerten (wie bei einem Krippenspiel in äußerster Verfremdung), begleitet von lautem Applaus und ständigem Babygeschrei, war die Stimmung auf dem Höhepunkt. Das Kirchenschiff tobte auf seinem Kurs durch dieses Meer von Weltlichkeit, während sich Gisela und Paul immer wieder verstohlen, vielsagend und kopfschüttelnd ansahen. Wenn man nicht sah, dass dies alles unter Kanzel und Heiligenbildern geschah, ein Jahrmarkt mochte ähnliche Bilder bieten. Wer würde ihnen das Erlebte glauben? War es als Parodie gemeint? War das Gotteshaus der rechte Ort dafür? Man konnte es sich in dieser Absurdität gar nicht vorstellen.

Nach dieser Posse schlossen sich Kirchenlieder an und milderten ihre Verstörung. Sogar bekannte Weisen waren darunter, und die Gemeinde sang sie unerwartet schön – ein wenig versöhnliche Gemeinsamkeit und Balsam auf die frischen Wunden, die der Seele des deutschen Paares entstanden waren. Der Wohlklang gemeinsam gesungener Melodien bildeten so das einzige Bindeglied zum Gottesdienst, wie sie ihn kannten. Das also war ein kanadischer ‚Service’ – ein Erlebnis, in der Tat. Eine Erfahrung, die sie sprachlos zurückließ. Hochbefriedigt und im Gefühl eine besonders schöne Feier erlebt zu haben, fuhren die Millers mit ihnen nach Hause, während der Scheibenwischer die ersten Schneeflocken des Jahres von links nach rechts wischte.

Am Nachmittag entschlossen sie sich, bei dichtem Schneetreiben ein paar Meter vor die Tür zu gehen. Sie kamen nicht weit. Schnell waren Hosenbeine und Schuhe nass, der pappige Schnee klebte bald in dicker Schicht an ihnen und ihre Mäntel wurden schwer. Die Zeit bis zum Supper verbrachten sie auf ihrem Zimmer. Gisela hatte eine kleine Kerze angezündet und kramte in ihren Sachen, während Paul im Sessel versunken lag, Briefpapier und einen geschlossenen Füllfederhalter in der Hand. Der neue elektrische Heizapparat von Fred summte, verströmte wohlige Wärme und Gemütlichkeit. Draußen schneite es unaufhörlich, und im Handumdrehen hatte sich die Landschaft in eine weiße Wunderwelt aus runden Formen verwandelt.

Gisela schaute sich zufrieden im Zimmer um. Was ein bisschen Wandschmuck doch ausmachte! Das Zimmer sah ganz verändert aus, nachdem die Kisten mit ihren Sachen gekommen waren. Die Kreuznacher Brückenhäuser zierten die Wand über dem Tisch, daneben hingen der Stich des Dürerhasen und das Portrait des ‚Alten Fritz’. Die Gardinen ihrer Eltern umrahmten tagsüber das Fenster und waren jetzt zugezogen. An der Fensterwand hing die rote Mütze von Pauls Studentenverbindung Chattia mit Band und Bierzipfel. Sie um sich zu haben war ihm ebenso wichtig gewesen wie das Säckchen mit deutscher Erde, das er von Pfarrer Knab als Erinnerung an Deutschland mitbekommen hatte. Neben der Tür hing sein Nahetal-Kalender, der noch mit dem Oktober-, dem November- und dem Dezemberblatt aufwarten konnte.

Das eigene Geschirr sowie das Silberbesteck hatte Gisela geschickt in der Glasvitrine arrangiert, den ollen kleinen Tisch mit einem freundlich wirkenden Leinenstoff bedeckt und in die Ecke gerückt. Eine Vase mit einem Ahornzweig verschönerte ihn.

„Mit den Bildern ist unser Zimmer richtig gemütlich geworden, finde ich. Außerdem glotzen uns die Tapeten nicht mehr so blöde an.“

„Ich fühle mich jetzt viel wohler hier, es sieht so heimelig aus.“ Paul ließ seinen Blick über das Wandensemble schweifen und verweilte ein wenig länger auf dem Kupferstich mit den Bad Kreuznacher Brückenhäusern.

„Hast du gemerkt, wie scharf sie am Mittwoch darauf waren, beim Auspacken unserer Sachen dabei zu sein?“

„Sie kamen ziemlich oft ‚zufällig’ vorbei, findest du nicht?“

„Joy kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus! Als sie den Zwiebelmusterteller betrachtete – sie hat sich ja kaum eingekriegt vor Begeisterung. Ob sie das ernst meint?“

„Über das Rehgehörn haben sie sich sehr gewundert. Ich glaube, sie haben nicht verstanden, warum wir so was aufhängen!“

„Die Möbel hier find ich schrecklich – nur die Vitrine gefällt mir. Aber die furchtbare Schlafcouch, der unförmige Esstisch, der hässliche Kleiderschrank – na ja!“

„Also, im Sessel hier sitz ich sehr bequem. Er ist nicht schön, aber genau richtig, ich möchte gar nicht mehr daraus aufstehen.“

Gisela hatte sich das Strickzeug genommen und hatte bald eine Socke in rot-weißem Muster fertig. Die Nadeln klapperten. Paul wandte sich in einem neuen Anlauf seinen Briefbögen zu. Warum fiel ihm nichts ein? Diese Müdigkeit! Und wenn er es recht überlegte, war er hungrig. – Gut, vom Schnee konnte er berichten und vom Scheitern ihres Spaziergangs.

„Weißt du, was ich wirklich vermisse?“, fing er nach einiger Zeit wieder an, „unser Brot. Das Weißbrot schmeckt nur nach mehr. Wenn ich an das Kreuznacher Steinofenbrot denke, Gisela, das dunkle Roggenbrot, da bekomme ich einen unglaublichen Appetit. Oder: guten Nahewein. Wein haben sie bisher nicht auf den Tisch gestellt. Na ja, und Peps fehlt mir.“

„Wie ich deinen Vater kenne, kommt er uns bestimmt mal besuchen, meinst du nicht?“ Sie sah unwillkürlich auf den schräg auf dem Tisch stehenden Bilderrahmen, der ihre Eltern zeigte.

„Ich denke oft an Papa. Es fiel ihm so schwer, mich gehen zu lassen. Er brachte kaum ein Wort heraus beim Abschied. Er hat versucht, es sich nicht anmerken lassen. Leider ist er kein guter Schauspieler.“

„Er hat uns seit unserer Ankunft fünf Briefe geschickt.“

„Ja, er fragt dies und das, will sich ein möglichst genaues Bild von unserer Lage machen. Du weißt ja: ‚Liebstes Giselchen’, ‚meine geliebte Gisela’ – das ist nicht nur so dahin geschrieben, das weiß ich, er macht sich große Sorgen um mich, um uns, und hat tausend Ratschläge bereit. Ich hab schon ein bisschen Heimweh.“

„Ich würde mir gern mal einen Film ansehen, aber wie? Abends einfach mal rausgehen, weißt du, in die Bahn steigen und durch die Stadt laufen. Hier sind wir von allem abgeschnitten. ‚Diaspora’ nennt man das, was uns und die Kultur angeht. Man braucht einfach ein Auto. Muss ja kein Chrysler Windsor sein.“

„Freds Auto ist toll. Wie viel Platz da drin ist! Nur der Straßendreck – man kann ja kaum das Schwarz darunter erkennen. Aber richtig gut sitzt man darin! – Na ja, und dann dieser ‚Service’ heute! Das war vielleicht ein Tag!“

„Ich werd mal Rudi fragen, ob er so was schon erlebt hat. – Sag mal, hat sich Joy eigentlich einmal dafür interessiert, wo wir herkommen? Was wir vorher gemacht haben, solche Dinge? Fred ist ja fast stumm.“

„Puhh! Da muss ich überlegen. Nein, ich glaube nicht. Sie will eher wissen, ob ich ‚Plum Pie’ kenne oder weiß, wie man ‘ne Waschmaschine bedient. Wenn sie den Mund aufmacht, geht es um den Haushalt, Klamotten oder Billy. Übrigens eine Waschmaschine, so was müssen wir uns unbedingt bald anschaffen, am besten gebraucht. Ich durfte unsere Wäsche damit waschen, bis auf das Aufhängen ist das keine Arbeit!!“

„Lass uns erst mal unsere Passage abzahlen. Ich hätte eigentlich auch gerne einen Wagen, ich möchte nicht immer auf Fred angewiesen sein. Eine ‚Second-hand-car’ soll mindestens 300 $ kosten, meinte er. Gut, er fährt uns, wenn wir irgendwo hin müssen und du kannst mit Joy zusammen einkaufen. Aber ich fühle mich so angekettet an diese Farm. Das ist jedenfalls kein Dauerzustand. Na ja – ich mach mich mal stallfertig.“

Draußen begann es zu dunkel zu werden. Die letzte Misten-und-Melken-Runde stand an und Paul machte sich auf den Weg. Gisela musste erst ab sieben in der Küche, um das Supper vorzubereiten. Für ihren Brief an Papa, den nimmersatten Briefempfänger, blieb eine Stunde. –

Nach dem Abendessen zogen sie sich in die so wohnlich gewordenen eigenen Wände zurück. Das Luftpostpergament mit den Umschlägen, das Kohlepapier und die Briefmarken lagen in einem flachen Stapel auf dem Miller-Tisch in Schreibtischgröße, in einer Ecke zur Wand. Das Ensemble verfehlte auch auf Paul nicht seine Wirkung als Mahnung. Da breitete sich nun der Briefbogen vor ihm aus, ein weites Feld für Gedanken, Überlegungen und Berichte. ‚Lieber Peps, liebe Alli und liebe Lori!’ begann er, ‚Heute haben wir ...’ Sein Blick fiel auf das Bild seiner lieben Mutter, die ihn in Sorge und Güte anschaute. Den Kopf in die Hand gestützt versuchte er sich treiben zu lassen. Wie gerne hatte er in seinem bisherigen Leben Briefe geschrieben, seinem Denken eine Form gegeben. Doch die Hand schwieg. Was waren die rechten Worte, jetzt, wo Zeit und Gelegenheit war? Nichts, aber auch gar nichts fiel ihm ein. Und – die Finger waren gar nicht in der Lage, einen Stift zu halten. Ungelenk blieben die zwei schwarzblauen Zeilen, die er da hingekritzelt hatte, grob, holperig und seelenlos. Es war verhext, nein, schlimmer, es war zum Heulen. Das „weite Feld“ – es blieb ein weißes Feld. Er verlor sich in Gedanken an morgen, an das, was sie von diesem Land erwarteten, er verlor sich zunehmend, und dann den Stift aus der Hand. Als Gisela ihn sanft an der Schulter fasste, schreckte er auf, fühlte sich unbeschreiblich müde, es blieb nur noch der Weg ins Bett. Mit einem traurigen Blick auf die Chattenmütze, die nicht nur an den Nagel der Fensterwand gehängt worden war, schlief er ein.

Der Platz am Tisch war frei. Ein paar Zeilen an Papa und Mutti, dann könnte der Brief in die Post. Sie schwärmte noch ein wenig von Joys verrückten Rezepten und ihren Haushaltshelfern. Und davon, wie schnell alles ging, wenn man diese Geräte hatte! Zum fehlenden Ausguss in der Küche, zur Tatsache, dass der einzige Wasserhahn innerhalb des Hauses der in der Küche war und von der abseits gelegenen Lokusbretterbude, die man unter gegebenen Umständen nachts bei Kälte und Wind aufsuchen musste, schrieb sie nichts.

Von unten anfangen. Beim Misten kamen ‚Hardy’ die Gedanken. Fred rief ihn so, er hatte eine Schwäche für Pauls zweiten Namen ‚Eberhard’, den er auf Mr. Blues Zettel entdeckt hatte. Entfernt war ein Klingeln zu hören, dem er weiter keine Bedeutung schenkte, ‚five long rings’, ein Anruf für die Farm. Irgendjemand rief, ohne dass Paul es wahrnahm. Wie kam es, überlegte er, dass er mit einer Mistgabel in der Hand in diesem Rinderstall voller Kühe stand? Er, ein Offizier, mit einem Diplom der Agrarwissenschaften? Er würde durchhalten müssen, wenigstens für ein paar Monate. Aber sie würden einen Weg finden müssen aus dem Einerlei, bei dem sich trotz der üppig gedeckten Tische der Samstag in die Werktage einreihte und der Sonntag kaum vom Werktag unterschied.

„Hardy!“ In dem Ruf lag etwas Dringliches. Ja, ja, er kam ja schon. Rudi war am Telefon, es gäbe viel zu erzählen.

Sie trafen im Dunkeln bei Hilde und Rudi ein. Fünf Wochen waren seit dem fröhlichen Apfelpflücken verstrichen. Die Einladung hatte Gisela und Paul nicht gut gepasst. Fred war über seinen Schatten gesprungen, hatte ihnen bis Sonntagabend freigegeben und sie die 15 Meilen zur Bushaltestelle kutschiert. Er ahnte nicht, dass er es bereuen würde.

Die Wendemanns waren umgezogen und hatten mit ihren beiden Töchtern Gerlind und Ute im alten Farmhaus neben einem großen Rinderbetrieb vier Zimmer zur Miete bezogen. Der Besitzer wohnte seit einiger Zeit nicht mehr dort und hatte auf seine alten Tage einen Verwalter engagiert, der den Betrieb managte. Das große Haus war entsprechend gut ausgestattet und stand Farmarbeitern gegen Miete zur Verfügung.

Rudi begrüßte sie mit seiner derben Herzlichkeit, aus der tiefe Freundschaft, Verlässlichkeit und der Wille sprachen, in der Fremde fest zusammenzustehen. Er hatte Bier und Wein besorgt, Hilde wirkte in der Küche und kam kurz danach mit belegten Broten und Knabberzeug auf unterschiedlichsten Tellerchen herüber. Die Millers seien anständige Leute, schwärmten sie, freundlich und hilfsbereit, rissen sich ein Bein aus für sie, führen sie überall hin. Sie beschrieben das neu eingerichtete Zimmer, den neuen Heizofen, das gute Essen, die Arbeit im Haushalt, die im Stall und auf dem Feld, Joys Kindererziehung, den Kirchbesuch.

„Wie bist du an den Wein gekommen? Aus Kalifornien ist der? Schmeckt ganz passabel.“

„Den hat mir Smith empfohlen, der mit mir in Viehhalle 2 zusammenarbeitet. Den bekommst du nur in einem ‚Liquor Store’, so einem extra Laden für Alkoholika. Du musst deinen Ausweis vorzeigen und darfst um Himmels Willen nicht die Flaschen unverpackt nach draußen nehmen oder gar in der Öffentlichkeit trinken. Trinken ist absolute Privatsache.“

„Das ist aber umständlich! Ich dachte, Kanadier wären unkompliziert.“

„Wart ihr einmal in einem Secondhand-Laden? Das ist eine prima Einrichtung, so was gibt es in Deutschland nicht. Man bekommt fast alles für kleines Geld. Ich hab mir dort einen Hammer und eine Zange gekauft, Hilde fand einiges an Geschirr und Besteck, so kommt eins zum anderen.“

„Hört sich gut an! – Wir haben mal so ein bisschen herumgesponnen. Was wir machen, wenn die Passage abgezahlt ist. Vielleicht könnten Paul und ich eine Farm bewirtschaften. Wir hätten Kühe, Pferde, Hunde, Katzen und ... Hühner würde ich gerne halten.“

„Für mich wäre das nichts, Gisela. Ich und Hühner? Das passt gar nicht zusammen, im Gegensatz zu dir.“

Hilde fand, sie habe beim Ehenamen ‚Hahn‘ der beiden einen guten Witz gemacht. Nachdem sie ausgiebig über ihren Witz gelacht hatte, zog sie in kleinen Bewegungen abwechselnd ihre Schultern hoch, drehte dabei den Kopf kaum wahrnehmbar nach links und rechts und richtete sich hoch. Es war also mit einem weiteren Beitrag von ihrer Seite zu rechnen. Gisela hatte dieses Getue bereits beim ersten Besuch beobachtet.

„Also, ich stelle mir etwas anderes vor, so etwas für den Kopf, zum Beispiel eine mobile Leihbücherei. Bis Toronto ist es weit und ich glaube, es gibt auf dem Land Menschen, die gerne lesen und nicht in die Stadt fahren wollen, um an ein vernünftiges Buch zu kommen. Außerdem müssen sie sich das Buch dann nicht kaufen. Die Kinder könnte ich mitnehmen.“

„Stimmt, ich war mit Joy ein paar Mal in Rockwood. Es scheint da keine Buchhandlung zu geben, jedenfalls habe ich keine entdeckt. Ich wollte Peps eine Landkarte von Südontario zum Geburtstag besorgen. Erst an der Tankstelle haben wir eine bekommen.“

„Habt ihr mal Fotoabzüge bestellt? Die scheinen gar kein Fotopapier in Chamoisweiß zu haben. Wir mögen es einfach, wenn die Fotos auf dieses gelbliche Papier kopiert werden, es wirkt so warm. Im Fotoladen sahen sie uns ratlos an, als wir versuchten zu beschreiben, was wir wollten. Wir haben unsere ersten Negative nach Deutschland geschickt, um schöne Bilder zu bekommen, wir zeigen sie euch mal. Peps kennt in Kreuznach einen preiswerten und guten Fotografen.“

„Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Fotos in Deutschland bestellen?“, ließ sich Rudi hören.

„Ich finde, die Kanadier sind ein verrücktes Volk. Rückständig und hochmodern zugleich. Und alle so offen und freundlich; sie sind sofort zur Stelle, wenn sie sehen, dass jemand Hilfe braucht. Der Inspector in charge! Wie der sich um uns kümmerte! Mit dem eigenen Wagen fuhr er uns zu den Millers hin. Undenkbar im Old Country! Helfen ist hier offenbar so eine Art Volkssport!“

„Kennt ihr Professor Frank Mayfield? Mein Vater hat Briefkontakt zu einer Familie Cardinal, in Guelph, die ihn uns dringend empfohlen hat. Wir sind dann hin. Er hat uns begrüßt, als ob wir ihn schon lange kennen, hat gleich seine Arbeit unterbrochen und uns zu sich nach Hause eingeladen. Wir haben uns lange mit ihm unterhalten. Er meinte sogar, wir könnten ihn als Referenz angeben! Bei der Verabschiedung hat er gesagt, wir sollen auf den blöden ‚Professor’ verzichten und ihn einfach ‚Uncle Frank’ nennen, das wäre ihm lieber. Wirklich ein beeindruckender Mensch! Seitdem haben wir ihn allerdings nicht mehr gesprochen.“

„Ich hab den Namen schon mal gehört – warte mal – hast du mir das nicht mal gesagt, Hilde? Dass er sich um Einwanderer kümmert?“

„Kann sein, Rudi, ist aber eine Weile her. Uns war das zuviel, bei ihm aufzukreuzen.“

„Na ja, der Professor teilte uns leider mit, dass wir erst nach der Einbürgerung an einem kanadischen Institut eine Chance hätten. Fünf Jahre sind das! So weit mag ich gar nicht denken.“

„Ja, es war verrückt. Wir haben gesehen, wie er deutsche Flüchtlinge unterstützt! Man kann fast sagen, er wohnt in einem Kleiderlager. ‚I’ve got to show you something!’ sagte er und führte uns in ein riesiges Zimmer, voller gestapelter Kartons, aus denen vereinzelt Kleiderzipfel heraushingen. ‚Men’, ‚Women’, ‚girls’, ‚boys’ las man auf jedem Pappkarton, bei den Kindern mit Altersangaben. Ein Kleiderlager, ‚for German refugees’, so erklärte er. Er habe Mitleid mit den vertriebenen Deutschen, von denen manche in völlig zerstörten Städten leben müssten.“

„Na, ich hätte da so eine Idee ...“

„Stimmt, Rudi, wir auch. Er sagte, er sehe keinen Sinn darin Geld anzuhäufen und so gibt er, was er übrig hat, für Pakete nach Deutschland aus. Acht Tonnen Kleidung hat er in den letzten Jahren dorthin geschickt. Das sind 8000 Kilogramm! Unvorstellbar! Und das für Menschen in einem Land, das den Krieg angezettelt hat! Er tickt einfach anders als andere. Das ist vielleicht ein Professorchen! Wir dachten wirklich: Jesus lebt!“

„Was mir zu ‚verrückten Kanadiern’ einfällt, Paul: Habt ihr am Highway nach Brampton die neuen Warnschilder gesehen, die vor Fußgängern auf der Straße warnen? Die wurden aufgestellt, nachdem Hilde dort ein paar Mal zu Fuß unterwegs war! Auch Margarete und Heinz Behrens, die nur einen Kilometer von uns weg wohnen, haben kein Auto und laufen. Wenn jemand auf der Straße zu Fuß geht, kann es ein Elch sein, ein Stinktier, ein Deutscher – es wird nie ein Kanadier sein. Und auf jeden Fall ist es ein Ereignis. Fußgänger sind Exoten in diesem Land, oder ‚Idioten’sogar , zumindest für Kanadier.“

Idiot, das war ein Stichwort! Ziemlich idiotisch fand Gisela zum Beispiel das rosa Keramikkätzchen im Regal, das alle von oben aus seinen übergroßen Augenschlitzen dämlich angrinste. Das hatte bestimmt Hilde ausgesucht, im Second-Hand Shop, diese Möchtegernliteratin und Kulturförderin in spe mit blauer Schleife im Haar. Dieser blödsinnige Dünkel, den sie da vor sich hertrug! Wer hatte denn studiert? Warum musste sie so austeilen? Würde sie, Gisela, sich lustig machen über das ‚niedliche’ Hundegesichtchen auf dem Keramikteller an der Wand? Oder sich mokieren über die Lieblosigkeit dieses Haushalts? Über das Kunterbunt an Tellern, Tassen und Besteck, das sie Gästen anbot? Die Möbel hätte sie anders gestellt. Die Lampe hing nicht über der Tischmitte, sondern beleuchtete Hildes Kopf mit Schleife. Aus der Ecke kam man kaum heraus, zwei Personen mussten dafür aufstehen. Hätte man den Schrank um wenige Zentimeter weitergerückt, wäre die Tür ganz aufgegangen. In der Unterhaltung ging es immer noch um die Fußgänger im Verkehr und Rudi war in Fahrt.