Deine Liebe war Gift - Luise Lindemann - E-Book

Deine Liebe war Gift E-Book

Luise Lindemann

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Beschreibung

"Es war unmöglich, wie du dich heute Abend bei unseren Freunden wieder aufgeführt hast. Sie haben auch gesagt, dass sie dich zum Kotzen finden." Solche Sätze hört Luise ständig. Dass sie gelogen sind, kann sie längst nicht mehr erkennen. Ihr Mann Jürgen ist süchtig nach Macht über seine Frau und manipuliert sie seit Jahren perfide. Luise fühlt sich klein und wertlos, sie traut ihrem Verstand nicht mehr. Erst als Jürgen seinen Psychoterror auf die Kinder ausweitet, besiegt die Mutterliebe ihre Angst und Luise schafft den Absprung in ein neues Leben.


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Seitenzahl: 325

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitatKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12

Über dieses Buch

»Es war unmöglich, wie du dich heute Abend bei unseren Freunden wieder aufgeführt hast. Sie haben auch gesagt, dass sie dich zum Kotzen finden.« Solche Sätze hört Luise ständig. Dass sie gelogen sind, kann sie längst nicht mehr erkennen. Ihr Mann Jürgen ist süchtig nach Macht über seine Frau und manipuliert sie seit Jahren perfide. Luise fühlt sich klein und wertlos, sie traut ihrem Verstand nicht mehr. Erst als Jürgen seinen Psychoterror auf die Kinder ausweitet, besiegt die Mutterliebe ihre Angst und Luise schafft den Absprung in ein neues Leben.

Über die Autorin

Luise Lindemann ist ein Pseudonym, welches die Autorin zu ihrem Schutz und zum Schutz ihrer Kinder gewählt hat. Luise lebt in einer Großstadt in Deutschland und ist zwischen 40 und 50 Jahre alt.

Luise Lindemann

Deine Liebewar Gift

Manipuliert und ausgelöscht – wie mein Mann mein Leben fast zerstörte

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Matthias Auer, Bodman-Ludwigshafen

Titelillustration: © Reilika Landen/plainpicture

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6155-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

»Niemand ist den Frauen gegenüber aggressiver oder herablassender als ein Mann, der sich seiner Männlichkeit nicht ganz sicher ist.«

Simone de Beauvoir

Kapitel 1

»Na, haben Sie Lust, mir ein bisschen Frankfurt zu zeigen?« Vor mir steht einer dieser typischen Anlageberater, wie man sie in jeder größeren Bank findet: perfekt sitzender dunkelblauer Anzug, hellblaues Hemd, blassrote Krawatte, seriöses Lächeln. »Ich bin Martin«, schiebt er hinterher und bemüht sich – vergebens –, möglichst klar zu artikulieren. Damit ich trotzdem weiß, mit wem ich den Abend verbringen kann, hält er mir zur Sicherheit seine Visitenkarte hin. »Ich komme aus München und bin fremd in der Stadt.« Während er das sagt, versucht er, mir mit einer verunglückten Mischung aus Selbstmitleid und herausfordernder Kühnheit verführerisch in die Augen zu schauen. Wenn er wüsste, wie mich dieser Blick langweilt.

Es ist bereits bald Mitternacht. In der riesigen Messehalle halten sich nur noch eine Handvoll Gäste auf. Zwei Drittel der Stühle sind schon zusammengestellt, das meiste Geschirr ist abgeräumt. Ich bin dabei, die letzten Gläser einzusammeln und in den Servierwagen zu stellen. Wenn alles glattläuft, kann der Chef in einer knappen Stunde die Türen schließen und uns, die Messehostessen, in den verdienten Feierabend schicken.

Doch jetzt steht Martin neben mir und bringt mit weiteren Fragen meinen Zeitplan durcheinander.

»Was ist denn nun, haben Sie Zeit?«, fragt er, und seine Stimme klingt jetzt schon ziemlich ungeduldig. Ich bin genervt, darf es mir aber nicht anmerken lassen. Er ist der Gast, ich bin die Hostess.

Martin ist nicht mehr ganz nüchtern, oder besser: Er ist deutlich angetrunken. Wie die meisten seiner über 500 Kollegen, die an diesem Dezemberdienstag in der Messehalle getagt haben. Jetzt sitzen nur noch ein paar Hartnäckige an einem Tisch zusammen und versuchen fast schon verzweifelt, noch ein allerletztes Bier auf Firmenkosten runterzubekommen.

Martin allerdings hat keine große Lust mehr auf Bier, dafür aber auf etwas anderes.

»Kommen Sie, wir machen uns noch einen schönen Abend«, drängt er.

Ich bleibe professionell, lächle weiter und meine nur knapp: »Sie sehen ja, ich habe keine Zeit, tut mir leid!«

Es ist immer das Gleiche. Mit der richtigen Menge Alkohol im Blut werden die Herren immer sehr »kontaktfreudig«. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie Banker oder Ingenieure sind, Versicherungen oder Autos verkaufen. Sie ticken alle gleich. Kaum sind sie von zu Hause weg, fühlen sie sich in der Gruppe stark, trinken weit über den Durst und wollen dann unbedingt zeigen, was sie doch für tolle Typen sind.

Aber bei mir beißen sie damit auf Granit. Ich habe keine Lust auf Abenteuer, und mit geistlosen Anmachsprüchen wie »Haben Sie schon etwas vor?« oder »Wissen Sie, ob um diese Zeit noch ein nettes Lokal geöffnet hat?« kann ich mittlerweile sehr gut umgehen. Ich ignoriere sie einfach!

Immerhin arbeite ich bereits seit mehr als fünf Jahren als Messehostess und halte mir auch den anhänglichsten Gast geschickt auf Distanz. Bei mir reicht ein Blick, und jeder weiß: Achtung, gleich wird’s ungemütlich!

»Du strahlst Selbstbewusstsein aus«, hat mir meine Kollegin Miriam einmal gesagt. Ich höre das häufig. Vermutlich stimmt es auch.

»Darf ich«, sage ich immer noch lächelnd, sehe Martin dabei aber so streng an, dass er mir sofort Platz macht und ich weiterarbeiten kann. Ich bin seit mehr als acht Stunden auf den Beinen. Es reicht!

Für mich ist diese Arbeit ein Traumjob. Die Frankfurter Messe ist berühmt. Hier finden die größten Veranstaltungen der Welt statt, mit Besuchern aus aller Herren Länder. Ich mag das internationale Flair, die Bewegung, das Tempo. Schon als Schülerin habe ich mich für diesen Job beworben und bin prompt genommen worden. Ich mache mir nichts vor: Es lag nicht an meinen guten Englischnoten. Aber ich bin rothaarig, gut proportioniert, mit den Kurven dort, wo sie sein sollen, und eben nicht auf den Mund gefallen. Ich kann mich verbal wehren, was nötig ist, wenn man in diesem Job arbeitet. Also konnte ich damals nach meinem Bewerbungsgespräch sofort anfangen und arbeitete dann fast an jedem Wochenende und in den Ferien. Ich verdiente so gut, dass ich mir schicke Kleidung und manche Reise leisten konnte. Ein gewisser Wohlstand, den ich sehr genieße.

Denn ich bin nun mal nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden. Mein Vater ist Elektriker, meine Mutter hilft stundenweise in einem Spielwarengeschäft aus. Wir leben in einer zwar sehr gemütlichen, aber keineswegs luxuriösen Drei-Zimmer-Wohnung im bürgerlichen Stadtteil Bornheim.

Gut, ich bin Einzelkind, und im Rahmen ihrer Möglichkeiten verwöhnen mich meine Eltern sehr. Aber ich weiß, dass es noch ein anderes Leben gibt. Besonders deutlich ist mir das geworden, als ich mich vor mehr als vier Jahren in Sören verliebt habe.

Sören, ein sportlicher, muskulöser Typ mit langen blonden Locken, ist zwei Jahre älter als ich und ging damals noch auf meine Schule. Sein Vater ist Anwalt. Die Familie lebt im schicken Westend, und damals habe ich gleich gesehen, wie angenehm es ist, wenn das Geld etwas lockerer sitzt. Sören spielte Tennis, trug nur Markenklamotten und besuchte bereits als Jugendlicher die schicksten Frankfurter Bars. Mit mir! Denn dank meines Jobs konnte ich mir das auch leisten. Ich musste mich nicht aushalten lassen, sondern konnte den bestellten Drink selbst bezahlen. Ein schönes Gefühl!

Ich mag es, frei zu sein, deshalb murre ich auch nicht bei einer Zehn-Stunden-Schicht und auch nicht bei so albern aufdringlichen Gästen wie diesem Martin aus München, der keine Ruhe gibt, immer noch neben mir steht und mir leicht schwankend bei der Arbeit zusieht. Aber Vorsicht! Aus den Augenwinkeln sehe ich dann gerade noch rechtzeitig, dass er in der linken Hand nervös sein Bierglas dreht und plötzlich mit der rechten versucht, nach meinem Po zu greifen.

Jetzt reicht es aber!

»Entschuldigen Sie bitte. Das lassen Sie mal besser sein!« Meine Stimme klingt jetzt scharf, und ich entziehe mich mit einem geschickten Hüftschwung der peinlichen Situation. Dabei lächle ich allerdings immer noch zuvorkommend, genauso wie es sich für eine Hostess gehört. Der Gast ist König, lautet die Devise. Aber ein König mit enggesteckten Grenzen: Die dusseligen Sprüche nehme ich hin. Aber Berührungen nicht. Der enthemmte »Lonely Wolf« neben mir scheint das aber nicht zu verstehen. Ja, er legt sogar noch eine Schippe drauf und wird noch dreister. »Schätzchen«, säuselt er. »Verrätst du mir, was du unter deinem Rock trägst?«

Ich bleibe ihm die Antwort schuldig, packe einfach weiter mein Tablett mit den leeren Gläsern voll und entscheide mich, dass es ab jetzt besser ist, ihn zu ignorieren. Er hat offenbar schon so viel Alkohol intus, dass er ein Lächeln nicht mehr als professionelle Geste der Höflichkeit, sondern als Aufforderung versteht, sich weit aus dem Fenster zu lehnen.

»Mir tun diese Typen richtig leid«, sage ich zu Miriam, meiner Kollegin, die mir in diesem Moment scheinbar zufällig zu Hilfe kommt, um die letzten Tische abzuräumen. »Zu Hause sitzen Frau und Kind, und hier spielen sie die Lebemänner, allerdings manchmal auf unterstem Niveau.«

Miriam verdreht die Augen. »Aber deiner ist ja wenigstens noch ganz ansehnlich. Sieh mal, der Dicke da hinten, der hat mich doch glatt gefragt, ob ich ihn ins Hotel begleiten wolle, weil ich so schöne Beine hätte. Unfassbar! Unsere kurzen Röcke machen die Typen ganz wuschig.«

Ich lege eine Hand auf ihren Arm.

»So sind halt die Männer, wenn sie Ausgang haben und weit weg von ihrer Familie sind.«

Miriam nickt. Sie ist fünf Jahre älter als ich und fing mit mir bei der Messe an. Miriam hat mal Kunst studiert, dann aber abgebrochen, und seitdem hangelt sie sich mit Messejobs durchs Leben. Ich habe sie als ausgesprochen faire Kollegin kennengelernt, auf die ich mich immer verlassen kann und die längst auch eine Freundin geworden ist.

Und sie ist ein Hingucker, eine wirklich bildhübsche Frau mit blondem Pagenkopf, langen Endlos-Beinen und blauen Strahle-Augen. Wäre ich ein Mann, ich würde mich sofort in sie verlieben. Aber Miriam ist schon jahrelang Single. Sie wartet auf den Richtigen und kümmert sich bis dahin um ihre beiden Katzen.

Zu denen will sie jetzt auch, denn sie gibt mächtig Gas. In Windeseile füllt sie einen großen blauen Müllsack mit alten Bierdeckeln und dem Inhalt der Aschenbecher.

»Was glaubst du, wie lange brauchen wir noch, bis wir gehen können?«, frage ich. »Können wir um Mitternacht los?«

»Klar! Der Chef sagt, spätestens in einer halben Stunde ist Schluss. Sieh doch, es sind nur noch die paar Herren hier. Dein lästiger ›Verehrer‹ hat sich übrigens auch wieder zu ihnen gesellt. Den bist du los. Gut gemacht.«

Miriam knufft mir im Vorübergehen anerkennend in die Seite. »Apropos: Hast du noch etwas vor?«

Ich nicke. »Ja, Sören ist da!«

Miriam blickt mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen zu mir hin.

»Ich denke, ihr seid getrennt? Habe ich etwas verpasst? Ein Date mit dem Ex?« Sie rollt vielsagend mit den Augen.

»Nein, nein, wir sind kein Paar mehr. Wir sind jetzt bloß gute Freunde.«

»Gibt’s das?« Sie sieht mich immer noch ungläubig an.

»Bei uns ja. Immer wenn ich in Deutschland zu Besuch bin, holt er mich vom Flieger ab, und dann gehen wir zusammen essen und quatschen. Ich finde das klasse. Immerhin waren wir zwei Jahre zusammen.«

Seit einem knappen halben Jahr studiere ich für zwei Semester in England und habe deshalb auch mein Engagement bei der Messe auf einzelne Jobs reduziert, wenn ich gerade auf »Heimaturlaub« bin.

»Studiert Sören immer noch?«

»Ja, aber nächstes Jahr ist er fertig und geht dann in die Kanzlei seines Vaters.«

»Und du? Wie lange bleibst du noch in London? Ich habe bisher ganz vergessen, dich das zu fragen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so kurz vor Weihnachten plötzlich hier auftauchst und einen Job übernimmst.«

»Das war auch nicht geplant, Miriam. Ich bin erst seit zwei Tagen wieder in Frankfurt und ganz kurzfristig eingesprungen.«

Ich tausche schnell den vollen Servierwagen gegen einen leeren.

»Im Sommer ist Schluss. Meine Güte, das Jahr rast wirklich. Als ich im August ins Auslandsjahr gefahren bin, war Weihnachten noch so weit weg. Und jetzt – nächste Woche ist Heiligabend. Unfassbar.«

»Es ist toll, dass du diese Woche noch hier bist. Ohne dich wären die nächsten Tage echt hart geworden!«

Miriam balanciert gekonnt ein vollgepacktes Tablett zum Tresen und sieht mich über die Schulter hinweg an.

»Weißt du, du schaffst hier echt für zwei, bist pünktlich, zuverlässig, schnell. Dazu bleibst du immer souverän und meisterst jede Situation. Kein Wunder, dass du immer gebucht wirst.«

»Mir macht es aber auch Spaß, Miriam. Ich bin gern hier. Hier herrscht eine prima Stimmung. Nur zum Schluss wird es manchmal ein bisschen nervig. Aber damit können wir doch umgehen, nicht wahr?«, lächle ich und sehe beim Blick auf die Uhr, dass mich nur noch wenige Minuten vom Feierabend trennen.

Da machen sich auch die letzten sechs Banker auf den Heimweg, winken uns noch fröhlich zu, einer wirft sogar Kusshände. Nur Martin trottet mit gesenktem Kopf Richtung Ausgang.

»Feierabend!«, verkündet Miriam und bindet sich die Schürze los. »Komm, lass uns gehen. Wir machen uns auf den Weg. Weißt du, was ich heute noch mache?«

Sie wartet meine Antwort gar nicht erst ab, sondern plappert gleich fröhlich weiter. »Ich spurte nach Hause, und dann heißt es gleich ab ins Bett zu meinen Miezen und Licht aus. Ich bin hundemüde. Sehen wir uns morgen?«

»Ja, klar, ich arbeite noch die ganze Woche durch. Aber gleich mache ich mich erst mal hübsch für Sören. Er wartet bestimmt schon draußen auf mich. Wir sind mit Tina und ein paar anderen aus der Clique im ›Gibson‹ verabredet. Mal sehen, wie lange ich durchhalte.«

Miriam zwinkert mir zu. »Ich möchte wetten, dass du heute nicht allein im Bett schläfst.«

»Die Wette gilt, meine Liebe.« Ich schmunzle sie vielsagend an. »Aber das ist nicht unbedingt meine Entscheidung.«

* * *

Wir sind leider nur zu dritt in Frankfurts Clubszene unterwegs. Unsere Freunde haben abgesagt. Aber Sören, Tina und ich wollen uns den Abend davon nicht verderben lassen. Sören hat gerade einen Jugendfreund wiedergetroffen, mit dem er sich angeregt über Oldtimer unterhält, und ich stehe mit Tina, meiner allerbesten Freundin, etwas abseits an der Bar. Seit der Grundschulzeit sind wir beiden unzertrennlich, haben uns jeden Liebeskummer und jeden Zoff mit den Eltern anvertraut. Tina ist in vielen Dingen mein Abziehbild. Strebsam, ehrgeizig, fleißig. Deshalb verstehen wir uns auch so gut. Wir ticken gleich. Wir wollen beide etwas erreichen im Leben, sind auch bereit, uns für ein gutes Ziel zu quälen.

Äußerlich ist sie aber das genaue Gegenteil von mir. Tina ist groß, etwas stämmig, und mit ihren langen, glatten blonden Haaren und der hellen Haut hält sie eigentlich jeder für eine Skandinavierin. Eine nordische Schönheit! Und dazu mit ganz viel Charme. Wo sie auftaucht, sind immer alle hin und weg. So wie bestimmt auch der Unbekannte, der plötzlich neben uns steht und sein Bier auf die Theke stellt.

Aber er spricht nicht Tina an, sondern mich.

»Hey, ich habe gehört, du bist jetzt in London. Gefällt dir die Stadt?«

Ich blicke Tina zuerst fragend an und wende mich ihm dann zu. Vor mir steht ein großer, schlaksiger Typ mit kurzen dunkelbraunen Haaren, in Jeans und Sakko, und strahlt mich gewinnend an. Wieder ein Anmachversuch? Davon habe ich heute schon genug gehabt. Oder kennen wir uns tatsächlich? Aber ich weiß beim besten Willen nicht, woher das sein könnte.

»Das ist Jürgen«, sagt Tina und scheint meine Gedanken lesen zu können. »Wir waren doch zusammen in der Schule. Erinnerst du dich nicht?« Damit scheint die Situation fürs Erste gerettet. Dann dreht sich auch Sören zu uns herüber und springt sofort auf den Zug auf. »Hey, Jürgen, du bist aber garantiert nicht mehr in Frankfurt. Ich habe dich vor einer gefühlten Ewigkeit das letzte Mal gesehen. Wo lebst du denn jetzt?«

»Nach wie vor am schönen Main!« Jürgen lächelt ihn auf einnehmende Weise an. »Wir haben vermutlich nur andere Stammlokale.«

Ich glaube allerdings, dass Sören blufft. Er kann sich garantiert genauso wenig wie ich an ihn erinnern.

Aus Tinas anschließendem Gespräch mit unserem Mitschüler entnehme ich, dass Jürgen vier Jahre über uns Mädels und zwei über Sören war. Warum weiß ich das nicht mehr? So unscheinbar sieht er ja nun wahrlich nicht aus. Ganz im Gegenteil …

Aber ich hatte damals eben nur Augen für Sören, der immer aussah wie ein kalifornischer Surfer und das süßeste Lächeln der Schule besaß. Dazu locker, offen, mutig war. Den hätte ich nie übersehen. Aber Jürgen? Während er erzählt, dass er Betriebswirtschaftler sei und in Frankfurt bei einer großen Bank als Trainee arbeite, mustere ich ihn gründlich: Er sieht wirklich gut aus, ist knapp 1 Meter 90 groß und irgendwie in seiner ganzen Art richtig sympathisch. So kann er in der Schule unmöglich gewesen sein, sonst wäre er mir sofort aufgefallen. Ich kann mich jedoch partout nicht an ihn erinnern.

Umgekehrt ist das anders. Jürgen erzählt lebhaft von diversen Begegnungen, die er bis heute nicht vergessen habe. Angeblich sind wir morgens gemeinsam im Bus gefahren, haben zusammen Karneval gefeiert, auf der Schulbühne im Chor gesungen, beim Sportfest der Unterstufe Hand in Hand beim Aufbau der Tribüne mitangepackt und, und, und. Es hört sich an, als hätten wir die halbe Schulzeit miteinander verbracht. Zumindest scheint er mich immer im Auge gehabt zu haben. Irgendwie komisch.

»Möchtet ihr noch etwas trinken?« Die Kellnerin steht vor uns.

»Sport gibt mir das Gefühl, nackt besser auszusehen. Wodka Lemon übrigens auch. Also, mal drei?«

Ich sehe Tina an und muss schmunzeln. Nicht schlecht. Der Kerl hat was.

Der Alkohol lockert mächtig die Stimmung. Wir lachen viel, ziehen über unsere gemeinsamen Lehrer her und lästern über unsere Mitschüler. Jürgen wird mir immer sympathischer. Am besten gefällt mir sein trockener Humor. Ich hätte die ganze Nacht mit ihm weitergealbert, wenn uns nicht einer seiner Freunde, die um einen nahegelegenen Tisch saßen, unterbrochen hätte.

»Komm, lass uns gehen! Es ist schon vier Uhr.«

Er ist stocknüchtern und offenbar als Fahrer eingeteilt.

»Schade«, murmelt Jürgen und zwinkert mir zu. Er nimmt einen letzten Schluck von seinem Drink und lässt sich die Rechnung geben. Als er zum Ausgang geht, sehe ich ihm nach. Stimmt. Echt schade. Jürgen hat eine einnehmende Art und einen ganz eigenen Humor.

»Und was machen wir Hübschen?«, frage ich Tina. »Na was wohl: die Nacht durch. Wer weiß, wann du das nächste Mal auf Besuch bist und Zeit für mich hast.«

»Übertreib nicht«, lache ich. »Im Juni bin ich wieder Frankfurterin.«

* * *

An Jürgen denke ich nach dem schönen Abend dann lange Monate nicht mehr. Ich bin mit vielem beschäftigt: zuerst mit meinem Studium in London, dann mit der Planung meiner Rückkehr. Erst Ende November, als ich schon wieder mehrere Monate in Frankfurt bin, ist er erneut Gesprächsthema. Denn Tina und ich sind auf dem Weg zu einem Klassentreffen. Es ist ein regnerischer Abend, und wir versuchen, unterwegs zu einer urigen Frankfurter Ebbelwei-Kneipe, in unseren Pumps um tiefe Pfützen herumzustöckeln. Mit durchwachsenem Erfolg.

»Mist, ich bin gerade voll in eine reingetreten und habe jetzt pitschnasse Sohlen. Da hole ich mir gleich wieder eine Erkältung!« Tina stapft mehrmals mit den Füßen auf, als könnte sie damit das Wasser abschütteln. »Ich bin den ewigen Regen so leid. Dieses Wetter bringt mich noch um«, schimpft sie. Solange ich sie kenne, regt sie sich immer über Regen auf. Ich höre gar nicht mehr hin, schiebe sie nur möglichst schnell in einen Hauseingang und damit ins Trockene.

Vor drei Jahren haben Tina und ich mit mehr als 100 Mitschülern unser Abitur gemacht. Mehr als die Hälfte von ihnen haben für den Abend zugesagt. Aber es kommen auch Schüler aus anderen Jahrgängen.

»Ob Jürgen auch da sein wird? Der war ja das letzte Mal ganz begeistert von dir. Erinnerst du dich?«, will Tina wissen.

»Allerdings, offenbar hat er mich seit Langem im Visier«, entgegne ich. »Lassen wir uns überraschen!« Ich bin aber eigentlich eher gespannt darauf, wie viele meiner Schulfreunde kommen und was aus ihnen geworden ist.

Tina hat bereits ihre Ausbildung zur Mediendesignerin abgeschlossen und arbeitet seit Kurzem in einer großen, renommierten Agentur in der Innenstadt, und ich, ja, ich bin in zwei Jahren, sofern alles klappt, Innenarchitektin. Mein Traumberuf! Ich habe mindestens genauso viel zu erzählen wie die anderen, die ich gleich treffen werde. Nicht nur von meinem Auslandsjahr in London. Auch sonst ist viel passiert, seitdem ich wieder in Frankfurt bin.

Ich habe eine eigene Wohnung. Obwohl ich ganz gern bei meinen Eltern geblieben wäre, haben die beiden gemeint, es sei nun Zeit für mich, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie könnten mein Kinderzimmer auch ganz gut für sich nutzen.

Ehrlich gesagt, war ich ein bisschen beleidigt. Nach dem Jahr in England habe ich mich gefreut, nicht mehr allein zu sein und wieder das elterliche Verwöhnprogramm genießen zu können. Ich bin gern mit meinen Eltern zusammen. Meine Mutter ist eine quirlige, gertenschlanke Endfünfzigerin mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Sie erzählt gern von ihren vielen Freundinnen, mit denen sie regelmäßig zum Sport geht und auch ansonsten ständig auf Achse ist. Mein Vater ist der ruhigere von den beiden. Etwas kräftiger gebaut und auch gemütlicher. Er werkelt gern in seiner Garage und hält sich am liebsten aus allem heraus. Das Kommentieren überlässt er seiner Rosi, bei den beiden ist alles ein eingespieltes Miteinander.

In meinen Augen galt das aber auch für uns drei. Ich fand immer, wir waren ein perfektes Trio. Aber die beiden sahen das anders. Irgendwie hatten sie sich in meinem Auslandsjahr offensichtlich daran gewöhnt, ihr Reich ganz für sich allein zu haben. Und als Papa mir dann auch ein wirklich schönes Apartment im Zentrum von Bockenheim präsentierte, habe ich den Schritt in mein neues Leben recht entspannt gewagt.

Mein Vater hat mir sogar ein neues Bett spendiert, und ich richtete mir von meinen Ersparnissen ein ganz schickes Wohnzimmer ein. Doch mit dem Umzug ist auch die schon in England empfundene Einsamkeit zurückgekehrt: niemand, der mit einem fernsieht, niemand, der abends noch mal bei einem gemütlichen Glas Wein mit einem den Tag Revue passieren lässt.

Und die Hoffnung auf ein Wiederaufflammen der Gefühle zwischen Sören und mir habe ich zwischenzeitlich auch aufgegeben. Anfangs dachte ich ja, wir kämen vielleicht doch noch mal zusammen. Die »Wir sind nur Freunde«-Nummer war für mich eine Notlösung. Ich habe immer noch gehofft, dass wir irgendwann wieder ein Paar sein würden. Aber mittlerweile sehe ich der Wirklichkeit ins Auge: Sören hat seit einiger Zeit eine andere und wirkt richtig glücklich.

Also bin ich seit meiner Rückkehr auf Single-Partys aktiv und habe schon herrliche Begegnungen gehabt. Davon erzähle ich Tina, als wir jetzt immer schneller durch die nasskalte Stadt tippeln, weil wir pitschnasse Füße haben.

»Wie war das denn mit diesem Medizinstudenten? Davon hast du mir noch gar nichts erzählt.« Tina hakt mich unter, als wir die letzte Querstraße erreicht haben und das milchig gelbe Eingangsschild schon erkennen können.

»Lars, ja, auch ein Flop. Anfangs gefiel er mir so gut, dass ich mich sofort mit ihm für den nächsten Tag in einem Bistro verabredet habe. Aber nach einer halben Stunde schon musste ich ihn von meiner Kandidatenliste streichen und gab vor, einen Termin beim Zahnarzt vergessen zu haben und dringend loszumüssen …«

Tina kichert. »Was war denn an ihm wieder falsch?«

»Irgendwie alles. Jedenfalls hatte ich einfach keine Lust mehr, mir seine endlosen Fußballgeschichten anzuhören. Es war reine Zeitverschwendung, denn ich wusste sofort, dass wir niemals ein Paar werden würden.«

»Und der Ingenieur mit der Vorliebe für schöne Autos?«

»Der hat sich nie mehr gemeldet!«, beichte ich ehrlich und schniefe theatralisch.

»Wie bitte? Du hast doch gesagt, er sei ganz wild auf dich gewesen!«, meint Tina jetzt und sieht mich ungläubig an.

»Dachte ich ja auch«, murmle ich ein bisschen kleinlaut. »Aber vermutlich habe ich mir das eingeredet. Oder wollen wir uns darauf einigen, dass sein Telefonanschluss außer Betrieb ist und das Auto in der Werkstatt? Dabei komme ich besser weg.«

»Keine Ausreden!«, ermahnt mich Tina auf spielerische Art und Weise. »Wir stellen uns der Wahrheit, auch wenn sie schmerzhaft ist. Aber Ingenieure gehen sowieso nicht.« Wir prusten beide gleichzeitig los.

Blöd nur, dass mir die Partnersuche ganz ernst ist, denn ich wünsche mir wirklich einen Mann. Ich lebe nicht gern allein.

»Glaubst du, das wird noch was mit mir?«, hake ich bei ihr mit großen Augen nach.

Tina legt mir tröstend den Arm um die Schulter. »Nun krieg mal keine Panik. Wenn ich sehe, wie die Typen dich immer anstarren, steht dir die Zukunft offen.«

»Und warum ist keiner dabei, mit dem ich gut zusammenpasse?«

»Die Frage stellt sich meistens gar nicht. Ich denke, die Jungs kriegen schnell Angst. Du bist den meisten Kerlen wahrscheinlich zu eigenständig. Du weißt doch: Männer mögen die anschmiegsamen Kätzchen, die keine Widerworte geben.«

»Und warum hast du dann deinen Toby gefunden? Du passt ja nun gar nicht in das Schema lieb und unkompliziert!«, kontere ich ernst.

»Es gibt Ausnahmen. Aber da muss man ganz schön lange nach suchen. Vergiss nicht, ich war auch schon Single.«

»Meine Liebe, darf ich dich erinnern: Sören ist vor zwei Jahren plötzlich eingefallen, dass er noch Erfahrungen sammeln und keine feste Bindung mehr wolle. Also so langsam kann ja jetzt mal ein anderer kommen.«

Tina bleibt abrupt stehen, sieht mich liebevoll an, und dann nimmt sie mich fest in den Arm. »Ach, meine Liebe, das wird schon noch. Jetzt machen wir uns erst einmal einen schönen Abend, und, wer weiß, vielleicht steht Mr. Right schon in den Startlöchern.«

Mit einem Klaps auf den Rücken schiebt sie mich regelrecht nach vorn.

»Komm, noch die paar Meter. Dann haben wir es geschafft. Aber ich habe eiskalte Füße. Und du?«

»Keine mehr, aufgeweicht!«, lache ich.

* * *

»Kannst du dich an mich erinnern?« Ich bin baff. Wir sind locker 150 Ehemalige, die sich zünftig bei Ebbelwei und Handkäs mit Musik amüsieren. Es wird natürlich kräftig geprahlt, aber auch viel gescherzt. Ich weiß jetzt, dass Einser-Torben immer noch nicht weiß, was er mal werden will, und die schüchterne Carla mit einem Musiker zusammen in Miami lebt. Das Leben schreibt wirklich die tollsten Geschichten. An Überraschungen herrscht heute kein Mangel – und ich erlebe dann gerade die nächste, denn vor mir steht wirklich und leibhaftig Jürgen und sieht mich verschmitzt an.

»Ich weiß ja nicht, wie gut dein Gedächtnis dieses Mal funktioniert. Immerhin liegt unser letztes Treffen schon ein paar Monate zurück, und du bist ja ziemlich vergesslich. Zumindest was deine Mitschüler anbelangt.«

»Nicht alle«, entgegne ich eine Spur zu frech und versuche meine forsche Art mit einem strahlenden Lächeln auszugleichen.

Jürgen scheint mir die flapsige Antwort nicht übelzunehmen. Im Gegenteil. Er zwinkert mir lässig zu und fragt mich zuvorkommend, was ich trinken möchte.

Er sieht richtig gut aus. Beigefarbene Chino, weißes Hemd, nougatbraune Lederschuhe. Der Typ hat Stil, denke ich. Er gefällt mir. Und als er mir eine Weinschorle reicht, schnuppere ich ein feines Eau de Toilette.

Tina hat ihre zweitbeste Freundin wiedergetroffen und stellt hartnäckige Fragen nach deren Studium.

Jürgen und ich stehen allein an der Bar, und er erzählt von seinem neuen Job als Anlageberater und schwärmt von den Reisen. Jürgen war letzte Woche in Hamburg und fliegt demnächst mit seinem Chef nach München.

Das Ausland reizt ihn nicht, er gibt sogar zu, dass seine Englischkenntnisse dafür nicht ausreichten. Dafür bewundert er meinen Mut, ein Jahr in London gelebt zu haben. Ich fühle mich geschmeichelt.

Jürgen wirkt heute noch viel lässiger und selbstbewusster als bei unserem letzten Treffen. Er scheint auch einen wirklich tollen Job zu machen. Die kompliziertesten Begriffe aus der Businesswelt fliegen mir um die Ohren, und alles klingt viel spannender und wichtiger als meine Semesterarbeit, bei der sich gerade alles um Stoffe und Farben dreht. Jürgen, den ich in der Schule gar nicht gesehen habe, ist anscheinend auf dem Weg, eine fulminante Karriere zu machen. Ich bin ganz beeindruckt von seiner Zielstrebigkeit und seinem Ehrgeiz.

»Na, du kriegst ja nur von einem Ehemaligen etwas mit!«, zieht mich Tina auf, als sie mich auf dem Weg zur Toilette abpasst. »Ich dachte mir, dass der kommt – wegen dir! Was hat er dir denn in den Drink getan, dass du heute so an seinen Lippen hängst.«

»Du, das macht mir echt Spaß mit ihm. Er hat mir ganz viel von seinem Job erzählt. Und er kommt in Deutschland herum und hat schon richtig tolle Leute kennengelernt.«

Tina schmunzelt.

»Ich weiß, er gefällt dir auch, man sieht förmlich das Funkeln in deinen Augen.«

»Ach Quatsch«, wiegle ich ab, spüre aber, dass ich rote Wangen bekomme.

»Leugnen zwecklos!« Tina knufft mir spielerisch in die Seite. »Zumal Schwindeln noch nie deine Stärke war.«

Sie beugt sich jetzt zu mir herüber.

»Ich glaube, er findet dich mehr als sympathisch, so wie der um dich herumscharwenzelt. Ich habe euch eine Zeitlang beobachtet. Der nimmt nichts und niemanden mehr wahr außer dir, lässt dich keine Sekunde aus den Augen. Wenn du ihn willst, hast du ein leichtes Spiel.«

»Ach, meinst du wirklich?«

»Ach, Luise, das sieht doch jeder. Sören hat schon gefragt, ob er etwas verpasst habe und seit wann ihr beide denn ein Paar seid.«

»Na, bislang haben wir gerade mal ein bisschen die Rahmenbedingungen abgeklopft«, dämpfe ich die Erwartungen. Und dann bin ich mutig. »Aber mal sehen …«

Tina wirft mir eine Kusshand zu, bevor sie mit unserem Mathe-Ass aus dem Abi-Jahrgang auf der Tanzfläche verschwindet, und ich will gerade zurück an die Bar, als mich Jürgen schon an der Hand nimmt und an einen gerade freigewordenen Tisch zieht. »Komm, hier ist es gemütlicher«, meint er und schiebt mir einen knorrigen Holzstuhl hin. »Warte einen Moment, ich hole uns was Leckeres zu trinken.«

»Gern, ich möchte ein richtig schönes, kaltes Bier!«

Jürgen lächelt mir im Gehen zu.

»Hier gibt es etwas Besseres. Lass dich überraschen!«

Wenig später halten wir beide einen Caipi in der Hand, und ich lasse mit dem Strohhalm die Eiswürfel im Glas klackern, während wir uns weiter angeregt über unsere Jobvorstellungen unterhalten. Ich erzähle von meinem Traum, später mal ein Hotel einzurichten, und es ist das erste Mal, dass mir jemand bei dem Thema aufmerksam zuhört. Es geht um neue Materialien und ungewöhnliche Formgebung, und normalerweise interessiert das niemanden. Aber Jürgen nimmt Anteil. Er fragt genau nach, wie man Skizzen erstellt und was für Innenarchitekten wichtig ist. Es tut mir gut, dass jemand wissen will, mit was ich im Moment meinen Tag verbringe und womit ich irgendwann meinen Lebensunterhalt verdienen möchte.

Ich weiß nicht, wie lange wir reden. Jedenfalls sparen wir nichts aus. Erst als uns Tina fragt, ob wir Lust auf eine Partie Billard hätten, sehen wir beide auf die Uhr. Es ist bereits nach Mitternacht, und ich weiß jetzt alles über ihn. Er ist Single, hat sich vor drei Monaten von seiner Freundin, einer Kollegin, getrennt und wohnt nun in einem kleinen Apartment im Westend. Seine Eltern haben eine Wohnung in Eschborn, da ist er regelmäßig. Sein Vater ist Kaufmann, seine Mutter Verkäuferin, hat aber nie gearbeitet.

Jürgen ist wie ich ein Einzelkind, aber offenbar noch viel verwöhnter, als ich es jemals war, zumindest in materieller Hinsicht. In emotionaler Hinsicht muss seine Jugend nicht so toll gewesen sein. Zumindest nehme ich das so wahr, denn er scheint im Gegensatz zu mir keine innige, herzliche Verbindung zu seinen Eltern zu haben. Besonders mit seinem Vater scheint es Probleme zu geben.

Ich weiß jetzt auch, dass er supersportlich ist, gern joggt und sich Familie und Kinder wünscht, ein Haus im Grünen, ein schnelles Auto und dass er einen festen Zeitplan hat. In fünf Jahren sollen seine Lebenswünsche Realität geworden sein. Ich mag, wenn jemand weiß, was er will, und nicht ziellos durchs Leben torkelt. Jürgen ist mir sehr ähnlich. Ich bin auch ehrgeizig und zielstrebig und lebe genau wie er mit einem Plan. Einer meiner Lehrer hat einmal gesagt, dass eine Frau mit 25 Jahren unter der Haube sein müsse, denn Schönheit sei vergänglich. Bis heute ist mir dieser Satz nie wieder aus dem Kopf gegangen. Ich möchte mit 25 Jahren auch vergeben sein und am liebsten schon ein Kind haben. Klar ist das recht früh, aber ich träume nun mal davon, es ist eben meine Perspektive fürs Leben. Und idealerweise decken sich unsere Pläne. Vielleicht verstehen wir uns deshalb so gut.

* * *

Ich liege das zweite Mal in Führung. Aber Jürgen jagt mir auch dieses Mal den Vorsprung ab. Er sieht das Spiel analytisch, lässt sich Zeit, plant genau, bevor er den Queue gegen die Kugel schnellen lässt. Zack, bumm, zack.

Die Kugel schießt ins Loch. »Na bitte«, sagt er genüsslich und nippt siegessicher an seinem alkoholfreien Bier.

»Er gibt dir aber mächtig Paroli«, flüstert mir Tina leise zu. Sie spielt die Partie mit Sören. »Wie läuft es denn?«, will sie neugierig wissen.

»Jürgen führt!«

»Das meine ich nicht!«

»Ach so, na gut.« Ich zwinkere Tina vielsagend zu. »Ich habe echt Schmetterlinge im Bauch, na ja, zumindest mal einen. Du, Tina, der gefällt mir von Mal zu Mal besser. Das könnte etwas werden mit uns beiden.«

»Also eine Partie Billard ist zumindest erfolgreicher als irgendwelche Single-Partys«, ulkt Tina. »Wer hätte das gedacht, als wir beide hier durch die frühherbstliche Nacht gelaufen sind. So schnell wendet sich das Blatt.«

»Na, mal abwarten«, dämpfe ich ihre Euphorie. »Seine Art verunsichert mich schon etwas. Er wirkt manchmal richtig undurchsichtig auf mich. Außerdem hat er etwas Arrogantes an sich. Ich kann ihn noch nicht wirklich einschätzen, werde noch nicht wirklich schlau aus ihm.«

»Für mich hat er auch etwas Machohaftes. Das stört mich«, sagt Tina ganz direkt.

»Ich weiß, mich auch. Aber das Unnahbare, Ungewöhnliche, das macht ihn auch interessant. Ich bin neugierig und möchte herausfinden, wie er wirklich ist.«

»Zum Glück hast du Zeit. Prüf ihn ganz in Ruhe. Verabrede dich mit ihm, und lass ihn auf dich wirken.«

»Na, du glaubst doch nicht, dass ich den ersten Schritt mache. Nee, dazu bin ich zu altmodisch. Ich frage ihn auf keinen Fall nach einem Date, niemals, den Gefallen tue ich ihm nicht«, entgegne ich sofort. Tina nimmt mir das nicht ab. »Warte mal ab, wozu du heute noch fähig bist, du verliebtes Huhn. Vermutlich steckst du ihm gleich deine Telefonnummer zu und schnalzt mit der Zunge.«

»Tina!!!! Du kennst mich genau. Ich mag Männer mit Manieren, ›alte Schule‹ eben. Er muss sich schon um mich bemühen. Ich mache jedenfalls nichts, da kannst du sicher sein! Magst du wetten? Um ein Bier, schlag ein.«

»Ich bin dabei!«

Als wir gegen zwei Uhr nachts die letzte Partie gespielt haben, signalisiert uns der Wirt vorsichtig, dass er schließen wolle und wir an der Theke zahlen sollten.

»Und?«, flüstert mir Tina zu, während sie Geld aus dem Portemonnaie kramt und ganz dicht an mich heranrutscht.

Ich zucke kaum sichtbar mit den Schultern, murmle: »Keine Ahnung!«

Tina macht jetzt eine Geste, als schriebe sie etwas auf, und ich schüttle energisch den Kopf, formuliere mit den Lippen ein klares »Nein!«.

Ich bin unsicher. Verdammt, was mache ich denn bloß? Wenn ich jetzt nichts sage, sehe ich ihn vielleicht erst in einem Jahr wieder. Oder sogar nie mehr.

»Kommt ihr?«, ruft Sören und stößt schon die Kneipentür auf. Die kalte Herbstluft zieht mir ins Gesicht. Ich bin nervös.

»Und?«, frage ich jetzt mutig und sehe Jürgen an. Und dann ist er da, dieser undurchdringliche Blick, und während ich schon hinaus auf die Straße trete, höre ich ihn noch hinter mir sagen: »Ich stehe im Telefonbuch!«

Autsch, das hat gesessen. Kein liebevolles »Sehen wir uns wieder?« oder »Wie erreiche ich dich?«.

Nein, ein stumpfes »Ich stehe im Telefonbuch!«.

»Komm, Süße«, drängt Tina. »Ich habe keine Lust, mir schon wieder nasse Füße zu holen. Lass uns ein Taxi nehmen.«

»Was bildet sich dieser Kerl eigentlich ein?«, schimpfe ich später im Auto, als wir durch die menschenleere Stadt kutschiert werden. »Niemals rufe ich den an. Als ob ich das nötig hätte!«

»Das musst du auch nicht. Der bleibt am Ball, garantiert. Der wirkt richtig besessen von dir. Entsprechend komisch finde ich auch seine Antwort. Pass auf, so ganz normal wirkt der jedenfalls nicht.«

Ich atme tief ein. Mit dieser Abfuhr muss ich erst einmal klarkommen.

»Dieser Blick, du hättest diesen Blick sehen müssen. Er ist echt arrogant.« Und dann muss ich über mich selbst schmunzeln, weil ich gleich anschließend wieder von ihm schwärme. »Aber auch intelligent, schlagfertig und unterhaltsam. Jedenfalls gefällt er mir schon einmal besser als all meine bisherigen Dating-Partner.«

»Dann weiß ich ja schon, was du morgen machst: Du rufst ihn an!«

Und während ich wieder ein »Auf keinen Fall« herauspruste, steht das Taxi schon vor meiner Haustür, und Tina schiebt mich aus dem Auto.

»Komm, los, husch, husch nach Hause ins Bett. Ich bin todmüde. Und träum was Schönes.« Sie zwinkert mir zu. »Den Hauptdarsteller kenne ich schon.«

* * *

Tina hat unrecht. Ich rufe Jürgen nicht am nächsten Tag an, auch nicht am übernächsten – aber am überübernächsten halte ich es nicht mehr aus. Schlimm genug, dass ich damit meinem Grundsatz widerspreche, es bringt mich noch nicht einmal weiter. Denn Jürgen ist gar nicht da, und es geht nur sein Anrufbeantworter an. Auflegen kann ich jetzt nicht mehr. Meine Nummer ist vermutlich längst gespeichert. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als eine Nachricht zu hinterlassen. Aber ich bitte nicht um einen Rückruf, nein, ich sage nur meinen Namen, aus, das war’s.

Allerdings kommt es für mich noch schlimmer, denn er ruft nicht zurück. Das ist richtig peinlich und für mich eine ganz neue Erfahrung. Denn normalerweise laufen mir die Typen nach. Jetzt ist es mal andersherum, was mich zwar kräftig wurmt, aber auch wieder neugierig macht.

Doch Jürgen lässt mich zappeln, drei Tage lang. Dann ist er in der Leitung, zuckersüß und lieb wie noch nie. Nach ein bisschen Geplänkel über Job und Uni kommt endlich der entscheidende Satz: »Hast du Lust, mit mir was trinken zu gehen?« Und wie! Aber ich juble nur innerlich, äußerlich gebe ich mich gelassen. Er soll bloß nicht denken, dass ich auf ihn gewartet habe.

Jürgen holt mich schon am nächsten Tag an der Bushaltestelle in der Nähe der Uni ab. Er ist pünktlich. Als ich zu ihm ins Auto steige, begrüßen wir uns mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange. Da ist es wieder. Das Eau de Toilette. Ich mag das. Ich mag ihn überhaupt riechen, und ich mag seine schöne Haut.

Im Auto erzählt Jürgen von seinem Job. Es sei jetzt in der Vorweihnachtszeit besonders hektisch im Büro, und er komme immer erst spät nach Hause. Ich deute das als Entschuldigung, weil er erst so spät zurückgerufen hat, und verzeihe ihm nur zu gern. Er ist toll.

Und unser erstes Date wird richtig schön. Wir fahren in eine kleine Bar im Westend. Es gibt zig Sorten frisches Bier, kleine Snacks, Live-Musik, herrlich. Jürgen ist schnell ganz vertraut. Er streichelt mir mehrmals über den Arm, schließlich nimmt er wie selbstverständlich meine Hand und lässt sie auch nicht mehr los.

Ich genieße es, seine Wärme zu spüren. Es fühlt sich schön an, nicht mehr allein zu sein, zumindest für heute. Aber wir sind dabei nicht übertrieben romantisch. Wir lachen auch viel, albern herum. Jürgen kann herrlich unkompliziert sein. Ich mag seinen Witz. Ach was, ich mag eigentlich alles an ihm. Er vermittelt mir Sicherheit und Halt, allein schon durch seine beachtliche Größe. Nicht dass ich das brauche. Ich komme bestimmt auch sehr gut allein durchs Leben. Aber es ist schön, wenn jemand zu einem gehört, der Stärke vermittelt.

»Du bist eine tolle Frau, Luise! Weißt du das?«, fragt Jürgen. Er scheint meine Gefühle für ihn zu spüren und sieht mir jetzt tief in die Augen.

»Möchtet ihr noch etwas?« Der Kellner reißt uns jäh aus der innigen Stimmung.

»Ja, bitte zahlen!« Jürgen ist knapp. Er hat nur noch Zeit und Augen für mich, und in meinem Bauch dreht mittlerweile ein ganzer Schwarm Schmetterlinge seine Loopings.