Deine Mami, du und ich - Britta Frey - E-Book

Deine Mami, du und ich E-Book

Britta Frey

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Beschreibung

Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Die Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Der Blick, den Arthur Sievers, der Grundschullehrer von Ögela, seinem Freund Jens Butenbrink, seines Zeichens Kriminalkommissar in Wismor, zuwarf, war ausgesprochen mitleidig, wenn nicht sogar schon ein wenig verächtlich. »Sei mir nicht böse – aber deine panische Angst vor Ärzten ist schon krankhaft«, sagte er jetzt und lachte den Freund einfach aus. Jens Butenbrink schüttelte lebhaft den Kopf und beteuerte: »Du verstehst mich nicht, Arthur. Es ist keine Angst im üblichen Sinne – ich habe nur schon zuviel gehört und gesehen. Ich achte Ärzte, ich bewundere sie sogar. Nur, finde ich, ich sollte sie mir zehn Schritte vom Leibe halten. Chirurgen ganz besonders. Ich kenne da welche, bei denen ich ein ganz besonders unangenehmes Gefühl habe. Ich fühle mich von ihnen taxiert, wenn du verstehst, was ich meine.« »Und aus diesem Grund schlägst du dich seit Jahren mit deinen Magenschmerzen herum«, ergänzte Arthur spöttisch. Jens hob die Hand und sagte erbost: »Ich bin bei drei verschiedenen Ärzten gewesen. Bei einem in Lüneburg, bei einem in Celle und sogar bei einem in Hannover. Und alle drei haben gesagt, daß mir nichts fehlt. Was glaubst du, wie ich mir vorgekommen bin? Ich bin schließlich kein Simulant. Und alle meine Sinne habe ich auch noch zusammen.« »Wenn man Schmerzen hat, dann haben diese Schmerzen auch ihre Ursache«, erklärte Arthur Sievers energisch.

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Seitenzahl: 138

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Kinderärztin Dr. Martens Classic – 49 –Deine Mami, du und ich

Die Sorge hat uns fest zusammen geschmiedet

Britta Frey

Der Blick, den Arthur Sievers, der Grundschullehrer von Ögela, seinem Freund Jens Butenbrink, seines Zeichens Kriminalkommissar in Wismor, zuwarf, war ausgesprochen mitleidig, wenn nicht sogar schon ein wenig verächtlich.

»Sei mir nicht böse – aber deine panische Angst vor Ärzten ist schon krankhaft«, sagte er jetzt und lachte den Freund einfach aus. Jens Butenbrink schüttelte lebhaft den Kopf und beteuerte: »Du verstehst mich nicht, Arthur. Es ist keine Angst im üblichen Sinne – ich habe nur schon zuviel gehört und gesehen. Ich achte Ärzte, ich bewundere sie sogar. Nur, finde ich, ich sollte sie mir zehn Schritte vom Leibe halten. Chirurgen ganz besonders. Ich kenne da welche, bei denen ich ein ganz besonders unangenehmes Gefühl habe. Ich fühle mich von ihnen taxiert, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Und aus diesem Grund schlägst du dich seit Jahren mit deinen Magenschmerzen herum«, ergänzte Arthur spöttisch. Jens hob die Hand und sagte erbost: »Ich bin bei drei verschiedenen Ärzten gewesen. Bei einem in Lüneburg, bei einem in Celle und sogar bei einem in Hannover. Und alle drei haben gesagt, daß mir nichts fehlt. Was glaubst du, wie ich mir vorgekommen bin? Ich bin schließlich kein Simulant. Und alle meine Sinne habe ich auch noch zusammen.«

»Wenn man Schmerzen hat, dann haben diese Schmerzen auch ihre Ursache«, erklärte Arthur Sievers energisch. »Wahrscheinlich bist du nicht bei den richtigen Ärzten gewesen. Könnte doch sein, daß deine dauernden Magenschmerzen psychischer Natur sind.«

»Ach, hör mir doch auf mit diesem Unsinn. Ich bin das, was man in Süddeutschland ein gestandenes Mannsbild nennt. Ich habe nur manchmal Magenschmerzen. Meinetwegen nervöse Magenschmerzen, aber ich brauche keine psychische Behandlung, wenn du das meinst. Was ich brauche, ist der Tee von Kitty Born. Der hat mir bisher immer noch am besten geholfen.«

Der Lehrer griff das Thema bereitwillig auf.

»Die alte Kräuter-Kitty«, sagte er versonnen. »Sie versteht wirklich was von ihrer Sache. Sie sieht zwar aus, wie man sich als Kind eine böse Hexe vorgestellt hat, aber sie ist eine Seele von Mensch. Kaum zu glauben, daß Kitty auch mal jung und hübsch und begehrenswert gewesen ist. Kein Mensch weiß, wie alt oder wie jung sie eigentlich ist. Ich glaube fast, sie weiß es schon selbst nicht mehr. Kitty lebt nicht in der Vergangenheit, und in der Zukunft schon gar nicht. Das einzige, was für sie zählt, ist die Gegenwart. Und sie lebt sie sehr bewußt und ist mit ihrem Los zufrieden.«

»Solche Leute mußt du dir erst mal suchen, ich meine solche, die mit ihrem Los zufrieden sind. Ich könnte dir auf Anhieb nicht einen einzigen vorweisen, mich schon gar nicht.«

»Es ist ja auch eigentlich normal, daß ein Mensch immer weiter vorwärtsstrebt und so schnell nicht zufrieden ist. Das ist eben mal so eingerichtet. Aber ich würde trotzdem, wäre ich an deiner Stelle, noch einmal zu einer Untersuchung gehen.«

»Die dann doch nichts bringt und mich verunsichert, bis ich mich selbst fragen muß, ob ich vielleicht irgendeinen psychischen Knacks habe, was? Nein, danke.« Butenbrink stand auf. Nun sah man erst, wie groß er war, mindestens einsneunzig. Er war breit in den Schultern und schmal in den Hüften. Seine Figur war durchtrainiert, denn Butenbrink trieb viel Sport und war stolz, von sich selbst sagen zu können, daß er kein Gramm Fett zuviel auf den Rippen hatte.

Sein dunkles, in leichten Wellen fallendes Haar wies noch keine einzige graue Strähne auf. Die Nase war gerade, nicht zu kurz, nicht zu lang, der Mund energisch und die Augen stahlblau. Man konnte sich bei ihm schon sehr gut vorstellen, daß unter dem Blick dieser stahlblauen Augen so mancher Ganove schon zu zittern begonnen hatte. Dabei wußte jeder in der näheren und weiteren Umgebung, daß Jens Butenbrink zwar erfolgreich als Kriminalist war, aber niemals die Menschlichkeit vergaß. Menschlichkeit wurde bei ihm ganz groß geschrieben. Und er pflegte dann und wann zu betonen, daß die Paragraphen zwar sein müßten, daß sie aber von Leuten gemacht worden seien, die schon lange nicht mehr wüßten, was Menschlichkeit eigentlich bedeutete. Vielleicht war sein beruflicher Erfolg nur dieser Einstellung zu verdanken, wer weiß das schon?!

Arthur Sievers begleitete seinen Freund bis zum Gartentor. Butenbrink winkte ihm noch einmal zu und ließ den Wagen stehen. Ein Spaziergang zu der alten Kräuter-Kitty, die am Rande des Moors in einem kleinen Haus lebte, würde ihm guttun. Er saß sowieso viel zu lange am Schreibtisch und kam viel zu wenig an die frische Luft.

Seine Augen leuchteten auf, als er wenig später ein hellblaues Kleid erkannte und einfach am Gartenzaun stehenblieb. Minutenlang beobachtete er die hübsche junge Frau, die eifrig Unkraut aus dem Blumenbeet zupfte und dabei nicht ein einziges Mal aufschaute.

Erst, als er zu sprechen begann, sah sie auf, richtete sich aus ihrer gebückten Haltung auf und kam zum Gartenzaun.

»Ihr Blumengarten ist mit Abstand der schönste und bunteste im ganzen Ort«, erklärte er voller Überzeugung und sah sie lächelnd an. Heide Wahlbusch strich sich das helle Haar aus der Stirn und lächelte sanft.

»Das sollten Sie nicht so laut sagen, Herr Kommissar. Meine Nachbarn könnten sonst ärgerlich werden.«

»Den Kommissar habe ich heute daheimgelassen, Frau Wahlbusch. Ich bin ganz privat in Ögela.«

Heide lachte ihn an. Butenbrink sah begeistert auf die beiden Grübchen, die sich dabei in ihren Wangen bildeten. Er schwärmte für die junge Witwe. Um ganz ehrlich zu sein, Jens Butenbrink war schon lange in Heide Wahlbusch verliebt. Nur – er wußte nicht, ob seine Gefühle erwidert wurden. Und er wußte auch nicht, wie er es anfangen sollte, das Gespräch auf dieses so ungeheuer wichtige Thema zu bringen. Mit einem Wort – der erfolgreiche Kommissar Jens Butenbrink war Heide Wahlbusch gegenüber schüchtern und unbeholfen. Daran änderte auch sein Ärger darüber nichts.

Heide war seit vier Jahren Witwe. Von ihrer Ehe hatte sie eigentlich nicht viel gehabt, denn gleich nach der Geburt der kleinen Silke war Klaus Wahlbusch krank geworden. Zuerst war es nur ein leichtes Unwohlsein, aber dann, als die argen Schmerzen dazugekommen waren, war Heide mit ihm nach Celle ins Krankenhaus gefahren, damit er sich untersuchen ließ. Von dort war er nie mehr wieder heimgekommen. Erst hatte man ihn geröntgt, dann hatte man ihm eröffnet, er leide an einem Magengeschwür. Und dann hatte man ihn operiert. Einen Tag nach der Operation hatte der Chefarzt Heide zu sich gebeten und ihr eröffnet, das vermeintliche Magengeschwür sei eine bösartige Krebsgeschwulst gewesen, die man entfernt habe. Aber es stehe zu befürchten, daß Klaus Wahlbusch das nächste halbe Jahr nicht mehr erleben werde, denn man habe lauter Tochtergeschwülste in seinem Körper festgestellt. Inoperabel hatte man es genannt. Heide war wie vor den Kopf gestoßen gewesen. Sie liebte Klaus, sie wollte ein Leben lang mit ihm zusammenbleiben. Sie hatte den Chefarzt ganz fest angesehen und ihn gebeten, Klaus nichts von dieser vernichtenden Diagnose zu sagen.

Es hatte lange gedauert, bis Heide sich vom Tod ihres Mannes erholt hatte. Die Nachbarn hatten ihr alles abgenommen, alles für sie erledigt und sie abgeschirmt, so weit es eben ging. Dafür war Heide ihnen noch heute dankbar.

Damals hatte sie auch Jens Butenbrink kennengelernt, denn er kam öfter zu Arthur Sievers, dem Lehrer. Und er ging öfter zu der alten Kräuter-Kitty, mit der Heide gern zusammen war, weil die alte Frau für ihre Begriffe abgeklärt und weise war und beruhigend auf sie wirkte.

Butenbrink hatte sie des öfteren heimbegleitet. Und eines Tages hatte Heide ihn gebeten, auf eine Tasse Kaffee mit hineinzukommen. Er hatte Silke kennengelernt, und seither verband sie alle drei eine gute Freundschaft miteinander. Jeder wünschte sich heimlich, es möge mehr daraus werden, aber keiner wagte, die Initiative zu ergreifen. Und so blieb es denn bei den heimlichen Wünschen.

»Haben Sie Lust auf eine kalte Orangenlimonade?« fragte Heide und wurde tatsächlich rot. Manchmal empfand sie es wie Verrat an ihrem toten Mann, weil sie an Butenbrink ganz anders dachte als zum Beispiel an Arthur Sievers.

Jens Butenbrink ließ sich das nicht zweimal sagen. Er öffnete das Gartentor und sah sich suchend um.

»Wo ist denn Silke?« fragte er und wunderte sich, daß das kleine Mädchen nicht zu sehen war.

»Oh, sie wollte das Mittagsgeschirr in den Schrank räumen und dann mit ihren Puppen auf die Terrasse gehen.«

Heide lächelte unwillkürlich zärtlich. Silke war eine zärtliche und liebevolle Puppenmutter.

Als sie die Küche betraten, blieben sie beide wie vom Donner gerührt stehen. Da stand Silke wie eine kleine Elfe auf der Fensterbank und war dabei, das Fenster zu putzen.

Beim plötzlichen Eintritt ihrer Mutter und Jens Butenbrinks erschrak Silke und ließ das Fensterkreuz, an dem sie sich festgehalten hatte, los und begann zu schwanken, weil sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte.

Mit einem Blick erkannte Jens Butenbrink die Gefahr, in der das kleine Mädchen schwebte, und sprang vorwärts. Er bekam Silke nur noch an einem Knöchel zu fassen. Mit einem Schrei fiel sie nach hinten und prallte mit dem Hinterkopf gegen die Hauswand.

Jens Butenbrink spürte einen schmerzhaften Ruck in der Schulter, aber er ließ nicht los. Fast merkte er nicht, daß Silkes Fuß aus seiner Hand glitt. Schließlich hatte er nur noch die Sandale in der Hand, und Silke stürzte mit dem Kopf zuerst nach unten ins Blumenbeet.

Heide hob die Hand an den Mund, als wolle sie einen Schrei unterdrücken. Jens Butenbrink jedoch war schon aus der Küchentür nach draußen gelaufen.

Reglos lag Silke da, auf dem Bauch. Hellrotes Blut quoll aus einer Platzwunde und sickerte in ihr silberblondes Haar. Ein dünner Blutsfaden rann aus ihrer Nase.

Schädelbruch, durchfuhr es Jens Butenbrink. Er drehte Silke vorsichtig auf den Rücken, brachte sie dann in die Seitenlage, wie er es im Erste-Hilfe-Kursus gelernt hatte, und lief ins Haus zurück. Ohne auf Heide zu achten, die ihn aus brennenden Augen anschaute, lief er zum Telefon in der Diele und wählte den Notruf, bat um den Krankenwagen und machte es sehr dringend.

Und jetzt endlich wandte er sich Heide zu, die entsetzt ausrief: »Warum haben Sie Silke einfach draußen liegenlassen? Sie muß doch hereingeholt werden und…« Sie machte Anstalten, hinauszulaufen. Aber Butenbrink hielt sie sanft und trotzdem energisch fest.

»Nein. Bitte, seien Sie jetzt vernünftig. Wir wissen nicht, welche Verletzungen Silke erlitten hat. Wir könnten ihr nur schaden, wenn wir sie jetzt aufheben würden. Kommen Sie mit, wir warten bei ihr, bis der Krankenwagen kommt.«

Heide lief voraus und hockte sich draußen vor Silke, strich ihr über das Gesicht und rief zärtlich ihren Namen. »Silke, mein Liebes, wach doch auf. Ich bin’s, deine Mami!«

Aber Silke rührte sich nicht. Nur der Blutflecken in ihrem silberblonden Haar wurde zusehends größer.

Butenbrink erhob sich und lief in die Küche zurück, holte Eis, ein sauberes Küchenhandtuch, gab das Eis in einen Gefrierbeutel und schlang das Handtuch darum. Das alles legte er wenige Minuten später auf Silkes Kopf. Er wußte, daß man so etwas tun sollte, wenn man die Möglichkeit dazu hatte.

Als der Krankenwagen nach zehn Minuten kam, war das Eis, mit dem Butenbrink Silkes Kopf gekühlt hatte, fast geschmolzen. Und weitere zehn Minuten später lag Silke in der Notaufnahme der Kinderklinik Birkenhain.

Martin Schriewers, der den Krankenwagen gefahren hatte, und Karsten Famula, der große Krankenpfleger von der Kinderklinik Birkenhain, hatten Heide nur schwer davon abbringen können, mit in den Krankenwagen zu steigen. Kommissar Butenbrink hatte Heide einfach in den Arm genommen und an sich gedrückt, um sie festzuhalten. Dann hatte er Martin Schriewers und Karsten Famula zugenickt.

»Fahren Sie nur los. Ich komme mit Frau Wahlbusch in meinem Wagen nach.«

Er hielt die plötzlich haltlos schluchzende Heide Wahlbusch immer noch fest in seinen Armen. Endlich stieß sie hervor: »Ich will sofort in die Klinik. Ich – ich werde versuchen, ein Taxi zu bekommen.«

»Ich habe den Wagen nur ein paar Häuser weiter beim Lehrerhaus stehen. Während ich ihn hole, könnten Sie vielleicht inzwischen schon ein paar Sachen für Silke zusammenpacken. Ich bin in wenigen Minuten wieder hier.«

Damit stürmte er schon mit großen Schritten los. Heide sah ihm nach, dann ging sie schnell nach oben in Silkes Zimmer und zerrte wahllos Pyjamas und alles mögliche hervor, was sie für Silke mitnehmen wollte. Als sie merkte, daß sie kurz davor stand, die Nerven zu verlieren, zwang sie sich, still stehenzubleiben und ein paarmal tief Luft zu holen. Nun hörten die feurigen Kreise auf, vor ihren Augen zu tanzen. Noch ein tiefer Atemzug – die feurigen Kreise waren verschwunden, und Heide Wahlbusch konnte wieder folgerichtig denken und handeln.

Umsichtig packte sie alles, was sie mit in die Klinik nehmen wollte, in eine Tasche und legte Silkes Lieblingspuppe obenauf. Silke würde sicher froh sein, ihre Puppe bei sich zu haben.

Gerade kam sie die Treppe herunter, als Butenbrink durch die Kü­chentür hereinkam. Er nickte ihr zu und sagte: »Geben Sie mir die Tasche. Wir fahren sofort los.«

Wortlos ließ sie sich die Tasche abnehmen und setzte sich still neben ihn in seinen Privatwagen. Butenbrink fuhr sofort los. Er machte gar nicht erst den Versuch, mit Heide zu sprechen. Er wußte, daß sie wahrscheinlich gar nichts verstehen würde. Er wußte aber auch, daß er bei ihr bleiben würde, bis entweder der Zusammenbruch kam oder aber sie den Eindruck machte, sich wieder gefangen zu haben.

Schwester Trude saß hinter dem Aufnahmetresen, als sie die Klinik betraten. Und Oberschwester Elli kam gerade aus einer Tür, erkannte sie und ging ihnen entgegen.

»Mein Kind!« stammelte Heide jetzt endlich. »Ich muß zu Silke. Ich muß wissen, was mit ihr ist.«

»Später, Frau Wahlbusch. Im Augenblick kümmern sich die Ärzte noch um Silke. Kommen Sie nur mit in den Aufenthaltsraum. Dort ist niemand, der Sie stören wird. Ich bringe Ihnen eine Tasse Kaffee, wenn Sie mögen. Ich schwöre Ihnen, daß Sie sofort Bescheid bekommen, wenn die Untersuchungsergebnisse vorliegen.«

»Ja, natürlich… Danke.« Heide schien es ganz selbstverständlich zu finden, daß Jens Butenbrink bei ihr blieb. Sie war ihm dankbar dafür und gab ihm das mit einem Blick zu verstehen, unter dem er schier zu zerschmelzen drohte.

Jemanden, den man nicht mag, wirft man nicht solche Blicke zu, durchfuhr es ihn. Sofort rief er sich innerlich zur Ordnung. Jetzt war wirklich nicht der Zeitpunkt, sich mit solchen Dingen zu befassen. Das mußte warten.

Alles, was die junge Frau jetzt brauchte, war Schutz und Trost und Zuspruch. Sie mußte das Gefühl haben, daß da jemand war, der sie nicht im Stich ließ und sich um sie kümmerte. Das würde ihr mehr helfen als alles andere.

So legte er einfach den Arm um ihre zarten Schultern und dirigierte sie hinter Oberschwester Elli her.

Heide Wahlbusch hatte das Gefühl, als sei sie es gar nicht selbst, als stehe sie gleichsam neben sich und beobachte sich, was sie tat, und was sich da alles mit ihr ereignete.

*

Inzwischen wurde die immer noch leblose Silke ans Infusions- und Sauerstoff-Gerät angeschlossen. Dr. Küsters spritzte Mittel gegen Tetanus, solche zur Stärkung des Kreislaufs und ein Antibiotikum gegen Hirnhautentzündung.

Während Dr. Kay Martens die Kopfschwartenarterie, die so stark blutete, vernähte, maß seine Schwester Silkes Lungen-Funktion, ebenso Herz- und Hirnströme.

Schädel und Wirbelsäule wurden durchleuchtet. Ein Kontrastmittel wurde gespritzt, damit das Gehirn geröntgt werden konnte. Ein Blasen-Katheter wurde angelegt, Blut und Urin abgenommen und zum Labor geschickt, um es sofort untersuchen zu lassen.

Ein Venen-Katheter, den Hanna anlegte, ermittelte den Blutverlust.

Schwester Barbara rasierte Silkes Schädel und desinfizierte ihn anschließend. Das war gleichsam ein Mammut-Programm, das drei Ärzte, zwei Schwestern und drei Laborantinnen in knapp 40 Minuten bewältigten. Dann stand die vorläufige Diagnose fest: Beim ­Aufprall gegen die Hauswand war Silkes Hinterhauptbein gebrochen. Eine Hirnhaut-Schlagader war gerissen.

Dadurch hatte sich zwischen Schädelknochen und Gehirn ein lebensgefährlicher Bluterguß gebildet.

Aber die tiefe Bewußtlosigkeit war durch eine schwere Gehirnerschütterung eingetreten.

Beim Aufprall in das Blumenbeet war Silkes Hals-Wirbelsäule schwer gestaucht worden.

All diese Unfallschäden würde man jedoch erst behandeln können, wenn der Unfallschock wenigstens halbwegs unter Kontrolle gebracht worden war.

*

Als Hanna Martens in den Aufenthaltsraum trat, brachte Oberschwester Elli gerade frischen Kaffee. Sie sah Hanna an und nickte ihr zu.

»Gerade frisch gekocht, Chefin. Sie können bestimmt auch eine Tasse vertragen, oder?«

Hanna nickte und warf Oberschwester Elli einen dankbaren Blick zu. Dann wandte sie sich Heide Wahlbusch zu, die ängstlich nach Butenbrinks Hand gegriffen hatte und Hanna nun stumm anstarrte.

»Ja, da hat die kleine Silke noch einmal unverschämtes Glück gehabt«, sagte Hanna und ließ sich neben Heide nieder.

Sie schluchzte vor Erleichterung einmal auf und fragte eindringlich: »Dann – dann schwebt sie also nicht mehr in Lebensgefahr, nein?«