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Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Die Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Hardy Winter schob mit einer unnachahmlichen Geste das kastanienfarbene Haar zurück. Die Haarfarbe war echt, und Hardy konnte fuchsteufelswild werden, wenn jemand sie fragte, welcher Friseur eine so aparte Farbe so naturgetreu zaubern konnte. Hardy hieß eigentlich Bernhardine. Sie konnte es ihren Eltern noch heute nicht verzeihen, daß sie ihr einen derart ausgefallenen Namen gegeben hatten. Weil er ihr viel zu lang und auch viel zu pompös erschienen war, hatte sie ihn kurzerhand in Hardy abgeändert und sich mit diesem Namen schnell ausgesöhnt. Hardy war Naturwissenschaftlerin mit abgeschlossenem Staatsexamen und hatte sogar ihren Dr. nat. gemacht, von dem man behauptete, er sei besonders schwer zu erlangen. Nun, Hardy hatte ihn erreicht, war eine Weile lang sehr stolz auf sich und den Titel gewesen, hatte sich endlich an ihn gewöhnt und fand heute nichts Außergewöhnliches mehr daran. Außergewöhnlich fand sie Hans Clausen, ihren Chef – und alles, was mit ihm zusammenhing. Dr. Hans Clausen war ebenfalls Naturwissenschaftler, aber einer, der ganz selbständig und auf eigene Rechnung arbeitete. Er führte Untersuchungen und Forschungsarbeiten für namhafte pharmazeutische Unternehmen durch. Das mußte eine lukrative Beschäftigung sein, denn nachdem ihm seine Frau mit einem guten Freund durchgebrannt war, lebte er in Ögela, wo er sich ein großes, weitläufiges Haus gekauft hatte, das mehrere Nebengebäude hatte und zu dem Zeitpunkt, da er es erwarb, ziemlich heruntergekommen war. Hardy, die kurz nach dem Kauf des Hauses zu ihm als Assistentin gekommen war, war ziemlich skeptisch gewesen. Sie hatte stark bezweifelt, daß er das riesige Anwesen einigermaßen wohnlich machen könnte. Aber Hans Clausen hatte die Aufgabe in einem Tempo angepackt, daß sich die Handwerker bald überfordert fühlten und damit drohten, die Arbeit hinzuwerfen, falls er sie weiter wie ein Sklaventreiber behandeln würde. Hans Clausen war damals überrascht und auch etwas beleidigt gewesen, als er sich bei seiner Assistentin darüber beschwerte, daß die Leute so langsam arbeiteten und es ihm sogar übelnahmen, wenn er ihnen gegenüber bemerkte, daß ihm eigentlich alles viel zu langsam ging. Erst da hatte Hardy eingegriffen und mit viel Charme und Einfühlungsvermögen erreicht, daß die Leute arbeiteten und dazu noch Freude daran hatten. Schließlich war es so weit gekommen, daß sie nur Hardys Wünsche erfüllen wollten und Hans Clausen an das »Fräulein Doktor«
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Seitenzahl: 136
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Hardy Winter schob mit einer unnachahmlichen Geste das kastanienfarbene Haar zurück. Die Haarfarbe war echt, und Hardy konnte fuchsteufelswild werden, wenn jemand sie fragte, welcher Friseur eine so aparte Farbe so naturgetreu zaubern konnte.
Hardy hieß eigentlich Bernhardine. Sie konnte es ihren Eltern noch heute nicht verzeihen, daß sie ihr einen derart ausgefallenen Namen gegeben hatten. Weil er ihr viel zu lang und auch viel zu pompös erschienen war, hatte sie ihn kurzerhand in Hardy abgeändert und sich mit diesem Namen schnell ausgesöhnt. Hardy war Naturwissenschaftlerin mit abgeschlossenem Staatsexamen und hatte sogar ihren Dr. nat. gemacht, von dem man behauptete, er sei besonders schwer zu erlangen. Nun, Hardy hatte ihn erreicht, war eine Weile lang sehr stolz auf sich und den Titel gewesen, hatte sich endlich an ihn gewöhnt und fand heute nichts Außergewöhnliches mehr daran.
Außergewöhnlich fand sie Hans Clausen, ihren Chef – und alles, was mit ihm zusammenhing.
Dr. Hans Clausen war ebenfalls Naturwissenschaftler, aber einer, der ganz selbständig und auf eigene Rechnung arbeitete. Er führte Untersuchungen und Forschungsarbeiten für namhafte pharmazeutische Unternehmen durch. Das mußte eine lukrative Beschäftigung sein, denn nachdem ihm seine Frau mit einem guten Freund durchgebrannt war, lebte er in Ögela, wo er sich ein großes, weitläufiges Haus gekauft hatte, das mehrere Nebengebäude hatte und zu dem Zeitpunkt, da er es erwarb, ziemlich heruntergekommen war.
Hardy, die kurz nach dem Kauf des Hauses zu ihm als Assistentin gekommen war, war ziemlich skeptisch gewesen. Sie hatte stark bezweifelt, daß er das riesige Anwesen einigermaßen wohnlich machen könnte.
Aber Hans Clausen hatte die Aufgabe in einem Tempo angepackt, daß sich die Handwerker bald überfordert fühlten und damit drohten, die Arbeit hinzuwerfen, falls er sie weiter wie ein Sklaventreiber behandeln würde.
Hans Clausen war damals überrascht und auch etwas beleidigt gewesen, als er sich bei seiner Assistentin darüber beschwerte, daß die Leute so langsam arbeiteten und es ihm sogar übelnahmen, wenn er ihnen gegenüber bemerkte, daß ihm eigentlich alles viel zu langsam ging.
Erst da hatte Hardy eingegriffen und mit viel Charme und Einfühlungsvermögen erreicht, daß die Leute arbeiteten und dazu noch Freude daran hatten. Schließlich war es so weit gekommen, daß sie nur Hardys Wünsche erfüllen wollten und Hans Clausen an das »Fräulein Doktor« verwiesen, wenn er etwas wissen wollte.
Später pflegte Hans Clausen lachend zu betonen, daß das zuerst frustrierende Erlebnisse gewesen seien, die aber dann, als er erkannt hatte, daß mit Hardy alles viel schneller und besser lief, in ihm eine tiefe Zufriedenheit erweckt hätten. Er hatte sich darauf beschränkt, Hardy abends, wenn sie müde und abgespannt beisammensaßen, zu erklären, wie er sich dies oder jenes gedacht hatte, und Hardy sorgte bereits am nächsten Morgen dafür, daß all seine Anweisungen strikt befolgt wurden. Nur die Leute wurden von ihr in dem Glauben gelassen, daß die Änderungen auf ihre Ideen zurückgingen.
Der Zweck heiligt die Mittel, hatte sie damals gedacht und den Irrtum, in dem sich die Leute ganz offensichtlich befanden, nicht aufgeklärt. Hans Clausen war es recht gewesen. Er war ein besessener Arbeiter, der sich erst dann wohlfühlen würde, wenn alles fertig und so gelungen war, wie er es sich vorgestellt hatte.
Und eben, weil er wie ein Besessener arbeitete, war es ihm nicht eine Sekunde lang eingefallen darüber nachzudenken, wieso Hardy sich so einsetzte. Für ihn war sie einfach ebenso arbeitswütig wie er.
Wenn ihm jemand die Augen zu öffnen versucht hätte, wenn er ihn darauf aufmerksam gemacht hätte, daß es Liebe war, was Hardy zu ihrem Verhalten trieb, hätte er wahrscheinlich überrascht aufgeschaut und dann abgewunken.
Nein, Hardy Winter war eine phantastische Mitarbeiterin, und er war glücklich, sie für sich gewonnen zu haben. Aber mehr sah er nicht in ihr. Er wollte keine Frau mehr lieben. Er wollte keiner Frau mehr Vertrauen schenken. Zu tief hatte ihn Elviras Verrat getroffen. Er hatte doch keine blasse Ahnung gehabt, daß sie ihn ausgerechnet mit seinem besten Freund betrog. Eine solche Geschmacklosigkeit hätte er beiden nicht zugetraut.
Das aber, was er noch heute ganz und gar nicht begreifen konnte, war die Tatsache, daß Elvira anscheinend nur an sich gedacht und keinen einzigen Gedanken an Tim verschwendet hatte. An Tim, ihren gemeinsamen kleinen Sohn, der damals erst zwei Jahre gewesen war und nicht begriff, was da zwischen seinen Eltern geschah.
Es war eine fürchterliche Zeit gewesen. Hans Clausen hatte jemanden gebraucht, der für ihn und Tim sorgte. Dutzendweise hatten sich Frauen und Mädchen gemeldet, doch immer, wenn er geglaubt hatte nun aber wirklich die richtige Haushaltshilfe erwischt zu haben, war es ein Irrtum gewesen. Sie glaubten alle, daß sie ihn, den Arbeitgeber, erobern mußten und waren beleidigt, wenn er versuchte ihnen klarzumachen, daß er kein Verhältnis wünschte, außer einem normalen Arbeitsverhältnis natürlich.
Aber dann, kurz nach Tims drittem Geburtstag, hatte ihm die Mutter eines Studienkollegen eine Haushälterin empfohlen, die auch prachtvoll mit Kindern umzugehen verstand. Seither war Therese, von Tim zärtlich Tessy genannt, bei ihnen, und Hans Clausen hatte es noch keine einzige Sekunde bereut. Immerhin waren seither fast vier Jahre vergangen. Tessy war das, was man heutzutage als alte Jungfer bezeichnen würde. Sie hatte den Anschluß verpaßt, wie sie selbst lächelnd betonte. In Dr. Clausen sah sie so etwas wie einen Sohn, den man verwöhnen und umsorgen mußte. Und in Tim sah sie selbstverständlich so etwas wie ihren Enkel, der abgöttisch von ihr geliebt wurde, ohne daß sie das Kind mit ihrer Liebe erdrückte.
Wie gesagt, Tessy war das Goldstück in der Familie, das dazugehörte und in alles einbezogen wurde. Tessy wußte alles, Tessy hatte für alles einen Ratschlag und wußte auch immer einen Ausweg. Tessy bestrickte die Familie, einschließlich Hardy, und Tessy war der ruhende Pol, weil sie mit ihrem Dasein restlos zufrieden war. Es war immerhin eine altbekannte Tatsache, daß ein zufriedener Mensch eine positive Atmosphäre um sich verbreitete. Und das war sehr wichtig.
Im Augenblick ging es im Hause Clausen aber gar nicht so harmonisch zu, und das lag ausgerechnet an Tim.
Der sonst so lebhafte Siebenjährige, der immer zu irgendwelchen Streichen aufgelegt war, war jetzt apathisch und still.
»Tim gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Tessy zu Hardy, die zu ihr in die Küche gekommen war, um ihre gewohnte Tasse Kaffee zu trinken. Die selbstgebackenen Kekse ließ sie stehen, obwohl Tessy manchmal ganz schrecklich beleidigt war. Aber Tessy konnte machen, was sie wollte – Hardy blieb fest. Und dabei war sie nach Tessys Meinung nichts weiter als ein Strich in der Landschaft. Jedenfalls drückte Tessy sich so aus.
Hardy hatte die herrlichen Kekse noch nicht einmal versucht, hinter denen Tim und sein Vater gleichermaßen her waren wie der Teufel hinter der Seele. Tessy hatte immer so treffende Vergleiche.
Hardy blickte nachdenklich in Tessys besorgtes Gesicht und nickte.
»Mir ist auch aufgefallen, daß er beängstigend brav und ruhig ist. Ob er wohl eine Krankheit ausbrütet?«
»Wer brütet eine Krankheit aus?« klang es da von der Tür her. Hans Clausen, hochgewachsen, dunkelhaarig mit blauen Augen, breiten Schultern und schmalen Hüften, kam in die Küche, setzte sich auf seinen gewohnten Platz und langte zu Tessys Zufriedenheit gleich in die Keksdose.
»Tim! Und Sie scheinen noch nicht einmal etwas davon zu bemerken, Dr. Clausen.« Tessy vergaß niemals, ihn mit seinem Titel anzureden. Schließlich wußte sie, was sich gehörte, übrigens auch Hardy gegenüber. Es wäre Tessy nicht im Traume eingefallen zu vergessen, daß Hardy eine »Frau Doktor« war.
»Was ist denn mit Tim?« erkundigte sich Hans Clausen besorgt.
»Seit einiger Zeit mag er nicht mehr essen, ist oft müde, und aus dem sonst so lebhaften Kind ist ein verschlossener kleiner Junge geworden.«
Tessys Ton und auch ihr Gesichtsausdruck waren ein einziger Vorwurf, wie Hans Clausen fand, und er fühlte auch gleich so etwas wie Schuldbewußtsein in sich emporsteigen. Hilfesuchend sah er Hardy an. Sie erwiderte seinen Blick und hob die Schultern. Dann sagte sie gedehnt: »Jetzt, da Tessy es betont, möchte ich ihr recht geben. Tims Wangen sind in letzter Zeit verflixt blaß. Vielleicht sollte man ihn mal untersuchen lassen. Schaden kann es nichts, aber wenn da irgend etwas ist, kann man auch gleich etwas dagegen unternehmen.«
Hans Clausens Gesicht nahm einen hilflosen Ausdruck an. Und dann druckste er kleinlaut: »Das Übel ist nur, daß ich hier gar keinen Arzt kenne, Hardy. Meint ihr, ich soll mit Tim nach Celle fahren oder sicherheitshalber gleich nach Hannover?«
»Wozu in die Ferne schweifen?« meldete sich Tessy zu Wort. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie noch nie von der Kinderklinik Birkenhain gehört haben, Dr. Clausen!« Tessy sah ihn ausgesprochen mitleidig an. Hans Clausen jedoch nickte und gestand: »Tut mir leid, ich kenne diese Kinderklinik wirklich nicht. Wo liegt sie?«
»Na, hier, in Ögela natürlich.« Tessy war versucht, den Kopf zu schütteln ob soviel Unwissenheit. »Birkenhain ist eine Privatklinik mit ausgezeichnetem Ruf. Sie wird von einem Geschwisterpaar geführt, und zwar vorbildlich, denn sonst würden nicht sogar Leute aus dem Ausland ihre Kinder herbringen, wenn sie krank sind.«
»Ich hatte wirklich keine Ahnung. Aber ich werde mit Tim hinfahren, und zwar sofort.«
In diesem Augenblick betrat der siebenjährige Tim die Küche und sah uninteressiert auf die heiße Schokolade und den Berg von selbstgebackenen Plätzchen.
Hans Clausens Herz zog sich zusammen, als er das blasse Gesicht seines Jungen sah. Er machte sich heimlich die schwersten Vorwürfe, daß er das nicht schon längst erkannt hatte. Er erhob sich von seinem Platz am Küchentisch und fragte, während er Tim liebevoll an sich drückte: »Möchtest du dich zu uns setzen und Schokolade trinken, Tim?«
Der Kleine schüttelte den Kopf und sagte ernsthaft: »Lieber nicht, ich hab sowieso schon Bauchweh. Aber ich habe nichts gegessen, was ich nicht darf.«
»Hast du dieses Bauchweh schon lange, Tim?« erkundigte sich Hans Clausen und wurde immer besorgter. Tim sah wirklich krank aus, wie er fand. Der Junge nickte.
»Mal mehr und mal weniger. Aber das kann einen ganz schön fertigmachen, Vati.«
»Gut.« Wenn Clausen sich einmal zu etwas entschlossen hatte, pflegte er auch gleich zu handeln und es nicht auf die lange Bank zu schieben. »Dann werden wir der Ursache mal auf den Grund gehen. Komm, wir fahren zur Kinderklinik Birkenhain. Ich bin sicher, daß wir da am richtigen Platz sind.«
»Muß das sein? Die drücken einem doch nur auf dem Bauch herum und wissen dann eh nicht, was sie dazu sagen sollen.«
»Mag schon sein, mein Sohn. Trotzdem werden wir jetzt gleich hinfahren. Ich will wissen, was dir fehlt. Daß dir etwas fehlt, sieht man dir doch gleich an.«
»Mir fehlt nichts, Vati, wirklich nicht«, beteuerte Tim hastig. Aber Hans Clausen sah ihn nur ernsthaft an und erwiderte: »Das glaube, wer will, ich jedenfalls nicht. Und nun komm. Je eher wir losfahren, desto schneller sind wir wieder hier.«
Tim senkte den Kopf. Wenn Vati in diesem Ton sprach, hatte es keinen Zweck, zu widersprechen. Da war es besser, daß man tat, was er wollte. Und so griff Tim nach der Hand des Vaters und ging neben ihm durch den Küchenausgang zur Garage hinüber.
Tessy sah ihnen zufrieden nach und sagte dann zu Hardy, die plötzlich ein ungutes Gefühl, fast die Vorahnung eines drohenden Unheils, hatte: »Na endlich! Man muß ihn nur darauf stupsen, damit er handelt. Er ist sowieso viel zu sehr in seine Arbeit vergraben. Das gilt auch für Sie, Frau Doktor.«
»Ach, Tessy.« Hardy lachte und dehnte die schlanke, ranke Gestalt. Tessy erwiderte nichts. Sie schüttelte nur den Kopf. Das war ihrer Meinung nach eine deutliche Geste. Und dann schwang sie sich doch noch zu einem Kommentar auf: »Sie gehen beide am Leben vorbei und sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht.«
»Amen!« sagte Hardy und lachte fröhlich auf. Tessy warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Zu meiner Zeit war das jedenfalls ganz anders, das kann ich Ihnen versichern.« Ahnungsvoll sah Hardy sie an und tat ihr den Gefallen, sich zu erkundigen: »Was war anders, Tessy?«
»Na, früher fand ein Mann sehr schnell heraus, ob ihn eine Frau mochte. Und dann warb er um ihre Aufmerksamkeit. Der eine temperamentvoller, der andere weniger, je nach Charakter. Aber das gab’s zu meiner Zeit nicht, daß ein Mann mit einer jungen, bezaubernden Frau zusammenarbeitete und nicht merkte, daß sie bis über beide Ohren in ihn verliebt ist.«
»Tessy!« rief Hardy erschrocken und fuhr, sich zur Ruhe zwingend, fort: »Wie können Sie nur so etwas sagen?«
»Na, hören Sie! Sie machen mir vielleicht Spaß. Ich habe doch Augen im Kopf, nicht wahr? Und dumm bin ich auch nicht.«
»O nein, sind Sie wirklich nicht, und ich würde so etwas auch nie behaupten.«
»Na also!« Tessy nahm noch einen Schluck des wirklich ausgezeichneten Kaffees. »Dann sind wir uns ja einig, oder?«
»Woran haben Sie gemerkt, daß ich in ihn verliebt bin, Tessy? Ich habe mich doch so bemüht, es zu verbergen.«
»Bei ihm brauchen Sie sich wirklich keine große Mühe zu geben. Der merkt so etwas sowieso erst, wenn man ihn draufstößt. Davon haben wir ja gerade eben geredet. Aber mich kann man nicht so schnell täuschen. Ich bin zwar eine alte Frau, aber ich habe noch lange nicht vergessen, daß ich auch einmal jung und des öfteren sehr verliebt gewesen bin.«
Da lachte Hardy auf und umarmte Tessy, während sie erklärte: »Ach, Tessy! Sie sind wirklich ein wahres Goldstück.«
»Wenn Sie das man nur wissen«, brummelte Tessy, bar jeder falschen Bescheidenheit. Und brummeln mußte sie, weil sie verbergen wollte, daß sie gerührt war…
*
Martin Schriewers saß hinter dem Aufnahmetresen und sah Hans Clausen aufmerksam an. Er kannte ihn vom Ansehen, aber er war sicher, daß Clausen ihn noch nie beachtet hatte.
»Ich möchte gern, daß jemand meinen Sohn untersucht. Er scheint krank zu sein.« Hans Clausen fühlte sich irgendwie beengt in diesem stillen, ruhigen, wunderschönen Haus, das früher einmal ein Schlößchen gewesen war. Krankenhäuser können einen schon allein durch ihre sterile Ausstrahlung krank machen, dachte er und wünschte sich, alles so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, damit er wieder mit Tim nach Hause fahren könne.
Dem Jungen schien es ähnlich zu gehen, denn er klammerte sich an der Hand des Vaters fest. Er hatte Angst, aber Vati würde ihn schon beschützen, wie er sich einredete.
Martin Schriewers sah auf Schwester Claudia, die eben vorüberkam, und bat sie: »Würden Sie Vater und Sohn mit zur Chefin nehmen? Ich glaube, sie ist noch in der Ambulanz, oder?«
Schwester Claudia nickte Hans Clausen zu und beugte sich dann zu Tim, der sich womöglich noch dichter an seinen starken Vater drängte.
»Hallo kleiner Freund, möchtest du mir sagen, wie du heißt? Ich bin Schwester Claudia.«
»Tim!« sagte Tim, und fand es im gleichen Augenblick doch ein bißchen unhöflich. »Ich heiße Tim Clausen.«
»Fein, jetzt kennen wir uns schon.« Claudia lachte und wandte sich Clausen zu: »Kommen Sie mit mir? Ich bringe Sie zu Frau Dr. Martens, unserer Chefärztin.«
»Gibt es hier auch einen männlichen Chefarzt?« fragte Hans Clausen und setzte sich mechanisch in Bewegung. Claudia nickte freundlich.
»Aber ja, Dr. Kay Martens. Er und Dr. Hanna Martens sind Geschwister. Ihnen gehört diese Klinik. Aber im Augenblick ist Dr. Kay Martens unabkömmlich, weil er eine akute Blinddarmentzündung operieren muß.«
»Aha, ich verstehe.« Hans Clausen schauderte innerlich. Krankheiten und sogar Operationen waren ihm ein Greuel, weil er sie nicht verstand und auch eigentlich noch nichts mit ihnen zu tun gehabt hatte.
Da hielt Schwester Claudia schon vor einer breiten, weißen Flügeltür und wollte gerade eben anklopfen, als sie von innen geöffnet wurde. Hans Clausen sah auf eine bildhübsche, blonde, junge Frau im weißen Arztkittel, die ihn anlächelte und dann mit ruhiger Stimme fragte: »Sie wollten wahrscheinlich zu mir, oder? Handelt es sich um diesen kleinen Mann, der da so ängstlich dreinschaut?« Sie kniff Tim ein Auge zu, was verschwörerisch wirkte und ihn sofort für sie einnahm. Die Angst, die ihn ergriffen hatte, seit sie die Klinik betreten hatten, fiel ganz plötzlich von ihm ab. Er nickte und erwiderte: »Ich habe so oft Bauchweh und bin auch immer müde.«
»Na, dann schlage ich vor, wir sehen uns die Geschichte einmal an, was? Kommst du mit?« Hanna sah ihn auffordernd an. Und da ließ Tim die schützende, starke Hand des Vaters los und ging, wie selbstverständlich, hinter ihr her. Sie hob ihn hoch und setzte ihn auf die Untersuchungsliege, während Hans Clausen dazu trat und sich scheußlich überflüssig vorkam.