Denk an die Pralinen - Susanne Kowalsky - E-Book

Denk an die Pralinen E-Book

Susanne Kowalsky

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Beschreibung

Alexandra begann, gefährlich zu werden. Ihre Gier nach Luxus war dabei das kleinste Problem. Inzwischen wollte sie um jeden Preis geliebt werden. Sven träumte von einem Wochenende in Brüssel, an dem feinste Schokolade unerschöpfliche Lust weckt. Sein Traumschloss erbaute er auf der Magie einer süßen Versuchung, auf die Befreiung aus einer beengenden Gesellschaft und berauschender Erotik. Spuren von Erinnerungen vermischten sich mit der Sehnsucht nach tabuloser Hingabe.

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Seitenzahl: 203

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Denk an die Pralinen
Ich bedanke mich
Eine alltägliche Geschichte
1. Familienbande
2. Feierabend
3. Heiße Krönung
4. Verlockende Julia
5. Erlesener Zirkel
6. Süßes Vergnügen
7. Schöne Janina
8. Rosen im Herbst
9. Ehedrachen
10. Die Schlacht
11. Jennifer
12. Alltag
13. Zerplatzte Träume
14. Bittere Liebe
15. Aufbruch
Worte zum Schluss

Susanne Kowalsky

Denk an die Pralinen

Für Sandra W.

Impressum

Text: © 2019 Susanne Kowalsky

Umschlaggestaltung: © 2019 Susanne Kowalsky

Verlag: Susanne Kowalsky, Höhenweg 53, 46519 [email protected]

Druck und Vertrieb: epubli,

ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Ich bedanke mich

bei Peter Reinders für den bezaubernden Titel, seine Anregungen und die ehrliche Meinung, Silke Reinders-Garden für ihre Korrekturarbeit, die Zeit und Mühe, die sie in die Kritik dieses Werkes gesteckt hat und ihre konstruktiven Vorschläge zur Verfeinerung der Geschichte, den beiden Engländern, die wissen, wie man sein Publikum unterhält, dem Erfinder von Papyrus, der das Schreiben leichter gemacht hat, meinen ehemaligen Deutschlehrern und dem Bahnhof von Kalgoorlie, der mich überhaupt auf die Idee gebracht hatte, eine längere Erzählung aufzuschreiben.

Eine alltägliche Geschichte

«Schreib doch mal was Normales!»

Sandras Reaktion auf meinen zuletzt veröffentlichten Roman frustrierte mich zutiefst. Niedergeschlagen fragte ich: «Was ist denn normal?» Sandra sah mich verständnislos an: «Ein Liebesroman.»

Die Jahre vergingen. Ich war feige, hatte sogar Angst vor dem Liebesthema. Schließlich fasste ich mir ein Herz, was auch sonst, wenn man einen Liebesroman schreiben möchte?

Ich wünsche meinen Lesern gute Unterhaltung!

Susanne Kowalsky

1. Familienbande

Ein wolkenloser Himmel gab dem fantastischen Sommertag den letzten Schliff. Angenehm warmer Wind strich sanft durch die sorgfältig angelegten Gärten der Siedlung. Hinter einer Laube in der Nachbarschaft gab sich ein jugendliches Pärchen erste leidenschaftliche Küsse.

«Warum stöhnst du so?»

«Lass mich!»

«Du gehst mir auf den Wecker!»

Sie strich die Blümchentischdecke glatt.

«Die Kinder kommen gleich und ich bin nicht fertig.»

In solchen Momenten hatte Bernd seine Ingrid satt. Tobias und Sven als Kinder zu bezeichnen, ging ihm auf den Geist. Die beiden befanden sich immerhin in ihrer Lebensmitte. Hinzu kam das dämliche Gestöhne für ein bisschen Essen. Völlig unberechtigt. Er war schließlich derjenige, der den ganzen Nachmittag am Grill stehen musste. Frauen! Abartig, Ehefrauen im Besonderen.

Glück gehabt! Der Salat war gerade zubereitet, der Tisch gedeckt, die Deko an ihrem Platz, als es läutete.

Alexandra erschien einwandfrei gekleidet wie immer. Ihr hochwertiges Outfit war viel zu schade, um damit im Garten zu sitzen, in unmittelbarer Nähe des Grills. Typisch Alex. Stets top frisiert, geschminkt, neue Klamotten am laufenden Meter. Ihrem Mann gefiel das offenbar, obwohl sie keine Anstalten machte, arbeiten zu gehen.

«Hallöchen, ihr beiden. Lass dich drücken, Schatz.» Sven wurde von seiner Mutter innig umarmt. Alexandra bekam distanziert höflich von ihrem Schwiegervater die Hand gereicht. «Willkommen. Möchtest du ein Bier?»

«Hast du keinen Chardonnay?»

Sven wollte sich einmischen, hatte aber nicht den Hauch einer Chance. Sein Vater reagierte pragmatisch: «Aber Alex, Bier passt doch viel besser zu würzigem Nacken, weil ...» Ein Klingeln unterbrach Bernds Überzeugungsversuch in Richtung rustikales Grillgetränk. «Das muss Tobias sein. Ich hol schon mal Bier aus dem Keller. Du machst auf.»

Ingrid rannte zur Tür. Alexandra verdrehte die Augen. Sie hasste die öden Nachmittage bei ihren Schwiegereltern. Allein die Wohngegend nervte sie. Haus an Haus, schlauchige Handtuchgärten, unmoderne Gardinen vor den Fenstern, nicht ihr Stil. Bernds Grillbesteck aus dem Regal mit den Sonderangeboten von Donnerstag, mehr als peinlich. Von Kultur keine Spur. Bloß Sven zuliebe gab sie sich dem sommerlichen Martyrium hin.

Gott sei Dank blieb ihr Claudias Anwesenheit erspart, von der sie überhaupt nichts hielt. Mode, Schmuck, Klamotten, Musik, Smartphone, Apps, Facebook, Twitter - Fremdwörter. Charisma? Ausdrucksloser konnte ein Mensch nicht sein. Kaum zu glauben, dass sie die leibliche Schwester von Tobias und Sven sein sollte. Sie erinnerte sich noch gut an Claudias Aufzug bei den Hochzeitsfeierlichkeiten, die ihre Eltern meisterhaft inszeniert hatten.

Renate Brunsick legte äußersten Wert auf ein Blumenbouquet, das farblich zu den Sitzflächen der Stühle passte. Servietten und Tischdeko fügten sich ebenso stimmig in die Herbstthematik der Festveranstaltung ein wie die passende Kleidung des Servicepersonals, das vor Eintreffen der Gäste von ihr persönlich inspiziert worden war. Die ungeliebte Schwägerin stach auf den ersten Blick aus dem Gesamtbild heraus. Scheußliche Haarspangen hielten einzelne Strähnen ihrer einfallslosen Frisur zusammen. Eine Kette mit Kunststoffperlen betonte Claudias aschfahles Gesicht. Das selbst genähte Kleid schlabberte an der ungünstigen Figur herab. Pantoffelartige Schuhe sorgten für Bequemlichkeit sowie das Gespött einiger Gäste. Am liebsten hätte Alexandra sie an einen Sondertisch verbannt.

Ihr Schwager holte sie mit einer unbedeutenden Frage ins Hier und Jetzt zurück: «Hi! Seid ihr schon lange da?»

Alexandra strahlte, als sie den Wein sah, den Tobias in der Hand hielt. «Ist der für heute Nachmittag?» Bevor ihr Schwager antworten konnte, kam Bernd mit dem Bier aus dem Keller. «Warum steht ihr hier rum? Setzt euch hin. Ingrid, holst du noch ein paar Kissen?» Fast zeitgleich nahm er Tobias den edlen Tropfen aus dessen exklusiver Weinhandlung ab. Er stellte ihn weg. Der gute Rebensaft sollte für besondere Gelegenheiten aufbewahrt werden.

Endlich zündete Bernd die Kohle an. Alexandra nippte an einem Glas mit fadem Mineralwasser. Sie schaffte es, von der Familie unbemerkt, flüchtig den Facebook-Account zu checken und noch kurz zu twittern: «Ödes Grillfest bei den Schwiegereltern. #Shopping-Queen mit #yasminafilali, aufregender multi-colour-look. schwarz, weiß, grau verboten. Muss ich sehen! #shoppen in Bremen hört sich ...» Erwischt! Sven stupste seine Frau mit dem Bein an, ohne zu wissen, welche Gefühle er damit bei ihr auslöste. Sie versank in Erinnerungen an das Konzert, bei dem ein knapper, zufälliger Blickwechsel ihr Leben schlagartig verändert hatte.

Passenger sang davon, dass man die Sonne nur vermisst, wenn es schneit. Alexandra wurde im Dunkel des E-Werks vom Frühling überrascht. Der hinreißende Typ war ziemlich groß. Unter seinem engen T-Shirt zeichnete sich ein muskulöser Oberkörper ab. Er lächelte sie an. Sie ging auf ihn zu, befürchtete, man könne trotz der Musik ihr pochendes Herz schlagen hören.

«Hi, ich bin Alexandra.»

«Hi, Sven.»

«Bist du allein hier?»

«Nee. Mit ein paar Freunden. Die sind da vorne. Und du?»

Für ein umfassenderes Gespräch war die Musik zu laut. Die Band spielte ihren Lieblingssong. Der Passenger-Text passte voll: «Ich habe gedacht, dass Liebe so gut versteckt sein könnte.» Alexandra rückte ein Stückchen näher an Sven heran. Die Enge des ausverkauften Konzertes half ihnen. Er nahm sie vorsichtig in den Arm. Es gefiel ihr.

Svens Freunde gingen ohne ihn nach Hause. In ihrem Schlafzimmer zähmte er die Bestie der Zügellosigkeit auf einem abenteuerlichen Ritt durch die Nacht.

«Hallo? Alexandra?»

«Was?»

Die Leute um sie herum schafften es immer wieder, seltene Glücksmomente in Bedeutungslosigkeit versinken zu lassen.

«Die ersten Würstchen sind fertig.»

Alexandra bemühte sich, ein angriffslustiges «Na und?» ihrem Schwiegervater gegenüber zu vermeiden, obwohl sie ansonsten ziemlich rücksichtslos mit ihm umging.

«Habt ihr vor, länger hierzubleiben?» Tobias und Sven saßen mittlerweile vor dem Gartenhäuschen, während sich der Rest der Familie belanglosen Themen rund um Rezepte und Biersorten widmete. Bernd redete hauptsächlich vom Gerstensaft. Ingrid stellte beinahe ununterbrochen Fragen zu Alexandras Aktivitäten am Herd. Diese wiederum schaute andauernd in ihr Smartphone.

«Keine Ahnung. Nicht mehr allzu lange.»

«Will Alex noch irgendwo hin?»

«Weiß nicht. Vermutlich twittert sie bis in die Nacht hinein oder telefoniert mit Nicole.»

«Die beiden könnten sich doch lieber treffen.»

«Na ja, am Sonntagabend? Wer weiß, wann wir hier wegkönnen.»

Sven blickte in die dunkelblauen Augen seines Bruders, entdeckte darin einen klaren See, auf dem ein Boot in der Abendsonne trieb. Ein Liebespaar genoss die grenzenlose Stille, teilte eine Leidenschaft, die ihm selbst verwehrt blieb. Er sehnte sich nach behaglicher Wärme. Seine Ehe war nicht nur in dieser Hinsicht von mäßigem Erfolg gekrönt. Tobias nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. «Lass uns zu den anderen gehen und die letzten Würstchen essen, bevor sie kalt sind. Um so schneller können wir alle wieder nach Hause fahren. Alex könnte dann doch noch mit Nicole ins Kino gehen oder so.»

Ingrid erschien mit dem Nachtisch, abgefüllt in ausgespülten Senfgläsern. Sven erwartete eine schroffe Beschwerde seiner Gattin wegen des mangelhaften Stils, Süßspeisen zu servieren. Sie blieb still, steckte den billig aussehenden Eierlöffel aus dem letzten Schlussverkauf ins Glas, führte den locker geschlagenen Schaum in den Mund, staunte. «Hey, echt lecker! Fehlen nur noch vernünftige Dessertschalen.»

Tobias kochte. Musste seine Schwägerin bei jeder Gelegenheit auf der anspruchslosen Lebensart seiner Eltern herumreiten? Mitleidig sprach er seine Mutter auf die Zutaten der absolut herausragenden Weinschaumcreme an. Mehr als glücklich ging sie auf die Frage ein. Damit war das Vorhaben, früh nach Hause zu kommen, gestorben.

«Gut, was? Das Rezept habe ich von einer Bekannten, Mathilde, Sven, die musst du doch noch kennen, die, mit der ich mich früher öfter getroffen habe, um Hühnchen zu rupfen, Tobias, weißt du noch? Das war, als wir die Hühner noch auf dem Hof geholt haben. Ihr wart noch ganz klein, weißt du das denn nicht mehr, Sven? Das musst du doch noch wissen. Nicht? Ist ja auch egal, jedenfalls hat sie mir den Tipp gegeben, wo ich die königliche Mädchentraube im Angebot krieg und dabei kostet sie doch eh nur 1,79 €, wenn man Glück hat und lieblich ist sie auch, nicht wahr, Tobias, schmeckt doch, oder?»

«Ja, ist lecker. Fürs nächste Mal empfehle ich dir einen sizilianischen Dessertwein. Damit könnte selbst ein Profi deine Creme nicht toppen. Ich würde dir zu einem Cantine Florio Marsala Gran Chef raten. Der verleiht deiner Nachspeise einen Hauch Mandelaroma.»

«Wie heißt der? Mit Mandeln? Die erinnern mich an Weihnachtsgebäck. Das können wir ja mal im Winter ausprobieren.»

«Dann sollte unser Sohn dieses Chef-Zeugs aber mitbringen. Ist bestimmt mal wieder unbezahlbar.»

«Bernd! Tobias bringt doch wohl oft genug was mit!»

«Ist ja gut. Ich mein doch nur. Wegen Nachtisch und so.»

«Kinder, seht doch nur, der Sonnenuntergang. Herrlich! Könnt ihr wirklich nicht öfter vorbei kommen? Ich liebe unsere Grillwochenenden.»

Ingrids Begeisterung war echt. Bernd ging es genauso, glaubte aber, Männer sollten das nach außen verbergen. Es erschien ihm lächerlich, offen zu zeigen, wie viel ihm die Familie bedeutete. Er unternahm dennoch einen Versuch, die Familienbande enger zu knüpfen. «Alex, was ist denn mit deinen Eltern? Sollten wir nicht mit denen mal zusammen einen schönen Nachmittag verbringen? Wir haben sie seit eurer Hochzeit kaum gesehen.»

«Mist», dachte Sven, schwieg jedoch, weil er befürchtete, diesen ohnehin schrecklichen Sonntag durch eine ungeschickte Bemerkung noch furchtbarer zu machen.

Alexandra wich Bernd mit einer hektischen Verabschiedung aus. «Wir sind dann weg. Sven muss morgen früh raus. Tschüs.» Mit einem geschickten Griff nach ihrer Handtasche ließ sie hastig ihr iPhone darin verschwinden. Ihren Mann schliff sie lieblos hinter sich her.

«Ehrlich? Es ist doch erst halb zehn.», erwiderte Bernd. «Wartet doch!» Ingrid raste in die Küche. «Ihr müsst was vom Salat mitnehmen. Es ist noch genug da.»

Doch die beiden ließen sich nicht aufhalten. Tobias nutzte die Gelegenheit, verabschiedete sich ebenfalls, wartete aber höflich auf die Salatreste. Eine derartige Unverschämtheit, wie sie bei Svens Gattin an der Tagesordnung war, brachte er nicht übers Herz. Was denn auf einmal los gewesen sei, wollte Ingrid wissen. Bernd vermutete, wieder einmal einen falschen Satz zur falschen Zeit gesagt zu haben.

«Macht euch keine Gedanken. Ihr wisst schließlich, wie sie ist.»

«Aber es war doch ein schöner Nachmittag, oder?»

«Doch, Mama. Alles bestens. Wie gesagt. Liegt nicht an dir.»

«Vielleicht war sie sauer, weil ich deinen Wein gleich weggestellt habe.»

«Nee. Schon gut. Die ist eben manchmal komisch. Mit dem Wein hat das nichts zu tun. Ich muss jetzt auch gehen. Morgen früh erwarte ich einen Lieferanten, mit dem ich neue Preise aushandeln will. Da muss ich ausgeschlafen sein. Also dann.»

Tobias gab seiner Mutter einen Kuss auf die Stirn. Seinen Vater umarmte er kurz. Gerne hätte er einige Themen mit ihm besprochen, die ihm schon lange auf dem Herzen lagen. Er war überzeugt davon, dass sein Vater ebenso empfand, doch zu einem echten Gespräch kam es nie.

Bernd setzte sich auf die Terrasse und sah Ingrid bei deren Aufräumarbeiten zu. Sie rannte hin und her. Sein Teil der Arbeit war fast erledigt: Die Restglut lag in einer rostigen Feuerschale hinter dem Gartenhäuschen, die er extra zu diesem Zweck aufbewahrt hatte. Nach dem Auskühlen würde die Asche hervorragender Dünger für die liebevoll angelegten Blumenbeete sein. Insbesondere Rosenstöcke danken solche Zugaben mit einer wochenlangen, wunderbaren Blütenpracht. Die leeren Bierflaschen befanden sich bereits im Kasten, den er nur noch in den Keller bringen musste. Er verschob die Aktion, um ein letztes Fläschchen zu genießen, bevor die Dunkelheit der lauen Sommernacht belebende Frische einhauchte, genau so, wie ein Enkelkind frischen Wind in den angestaubten Ziegler-Haushalt bringen könnte. Er stellte sich ein Svenchen vor, der ungeschickt hinter einem Plastikball her rennt. Oder einen kleinen Tobi, laut kreischend im Tor stehend. Wobei Tobias bislang kein Interesse an einer festen Beziehung zeigte. Wenn er doch mal eine Freundin mitbrachte, verschwand sie nach kurzer Zeit wieder in der Versenkung.

Ohne etwas von Bernds Sehnsüchten zu ahnen, vermisste auch Ingrid Familienzuwachs. Beide Söhne waren mittlerweile überfällig. Was ihre Tochter betraf, gab es null Hoffnung auf Enkelkinder. Claudia glich einer Nonne. Als Jugendliche hatte sie den Tanzkursus verweigert, Freundinnen, geschweige denn einen Freund, hatte es niemals gegeben. Aber Kinder liebte Claudia abgöttisch. Damit war von Anfang an klar, dass sie um jeden Preis Kinderkrankenschwester werden würde. Hingebungsvoll beaufsichtigte Claudia von der ersten Sekunde an ihre jüngeren Brüder, die keinerlei Interesse an ihrer Schwester zeigten. Sie rannte los, um Pflaster zu holen, sie schmierte Butterbrote, band die Schuhe der Jungs wieder und wieder zu. Im Gegenzug verwehrten die beiden ihr jeglichen Zugang zu ihrem Geheimbund. Nur selten durfte sie mitspielen. Ingrid litt noch heute unter dem Verhalten der Brüder gegenüber der älteren Schwester. Alljährlich musste sie ihre Söhne an Claudias Geburtstag erinnern. Wenn sie ihr wenigstens die Freude über Nichten und Neffen gönnen würden. Und ihrer Mutter könnten sie endlich die lang ersehnten Enkel schenken, Jungs, Mädels, einer nach dem anderen, niedliche Rabauken, die jede Menge Leben in den Alltag bringen.

Zuhause startete Alexandra direkt zum Fernseher durch, wobei sie ihre Schuhe abstreifte, die sie mittendrin liegen ließ. Sie hoffte darauf, noch den Rest von Shopping Queen sehen zu können. Sie war scharf auf Einblicke in die Bremer Modewelt. Besonderes Interesse hatte sie an den nordischen Accessoires, zu denen ihr nur Leuchttürmchen auf dunkelblauen, überdimensionierten Taschen oder niedliche Seerobben einfielen. Gleichzeitig loggte sie sich bei Twitter ein, vollbrachte nebenher die Kunst mit Nicole zu chatten, die sie über die Einkäufe der Kandidatinnen während der Sendung aufklärte. Im Fernsehen lief im selben Augenblick eine Zusammenfassung der bisherigen Einkaufsergebnisse.

Sven stolperte über Alexandras Schuhe. Um ein Haar wäre er gestürzt. Unter Umständen hätte er schwere Knochenbrüche davon getragen. Allein der Gedanke daran brachte ihn in Rage. Ursprünglich wollte er sich zu seiner Frau setzen, um noch gemeinsam eine Flasche Wein zu genießen, wozu er nun keine Lust mehr verspürte. Sie schenkte ihrem Mann ohnehin nicht die geringste Aufmerksamkeit. Eine gute Gelegenheit, mit Tobias zu telefonieren, mit dem er schon nachmittags sprechen wollte, aber keine Gelegenheit dazu gefunden hatte.

«Nein, ja. Ich bin in der Küche. Alex hängt im Wohnzimmer rum. Vielleicht spreche ich sie noch mal darauf an. Du hast recht. Anders geht es nicht ... Wobei, eigentlich macht es keinen Sinn, weil sie verdammt zickig ist, insbesondere was das Thema Kinder angeht. ... Was heißt, sie soll sich nicht anstellen? Ich kann sie wohl kaum zwingen. Was meinst du mit doch? Natürlich nicht. Hör zu, ich bin eh geladen. Was? Nein. Ja. Dann eben doch. Du? Auf keinen Fall! Das mache ich selbst. Sonst rastet die total aus. Was? Ja. Tschüs.» Das Telefonat hätte er sich schenken können. Nun holte er doch den Weißwein aus dem Kühlschrank.

Frustriert saß er mit seinem Glas an der Frühstückstheke. Mit den Fingern spielte er ratlos am Brotkorb herum. Einzelne Krümel verteilte er mit dem Zeigefinger auf der Hochglanzoberfläche. Sämtliche Versuche, mit seiner Frau über die Gründung einer Familie zu reden, endeten generell im Streit. Sie wollte frei sein, träumte von endlosen Partys, ewiger Jugend, Schmuck, teuren Klamotten. Auch ihm gefielen diese Dinge, das gab er offen zu, doch sehnte er sich mittlerweile immer mehr nach einer eigenen Familie. Für das Wunder der Geburt fehlte Alexandra der Sinn. Sie dachte in erster Linie an ihre Figur, die ohne Frage umwerfend war. Nahezu panisch reagierte sie auf das Risiko von Schwangerschaftsstreifen. Svens gut gemeinter Vorschlag, der unschönen Hautveränderung mit sportlichen Aktivitäten vorab entgegenzuwirken, stieß bei Alexandra auf wenig Gegenliebe. Sie fand es ekelerregend zu schwitzen. Körperliche Anstrengungen betrachtete sie ohnehin als überflüssig. Außerdem waren ihr Arztbesuche verhasst. Jede andere Frau schäumt über vor Glück, das Ungeborene auf einem Ultraschallbild zu sehen. Alexandra sah die Freude über unscharfe Schwarz-Weiß-Aufnahmen als absolut lächerlich an. Und dann die Horrorvorstellung auf das Leben nach der Geburt. Marathonschreierei, Aufstehen in der Nacht, Windeln wechseln, Füttern, widerwärtiges Gespucke eines kleinen Ungeheuers und anschließend das Ganze von vorne. Noch schlimmer war die Vorstellung, ein stinkender Schreihals könnte ihre teuren Gläser herunterwerfen, nicht etwa aus Sorge, dem Baby könne etwas passieren, sondern aus Angst um ihre Investition in ein Stückchen Luxus. In puncto Wohnraum verstand Alexandra ebenfalls keinen Spaß. Obwohl sie über ausreichend Platz verfügte, vermisste sie einen persönlichen Shopping-Queen-Fernsehraum. Svens unumstößliche Ablehnung hierzu sah sie halbwegs ein. In keinem Fall wollte sie ein Zimmer opfern. Nur, damit ein störender Plagegeist sein eigenes Reich hat.

Wenn ihr die Zeit für nächtelange Partys in den Nobeldiscos fehlte, würden ihre besten Freundinnen kein Interesse mehr an Alexandra haben. Sven wagte trotzdem zu fragen, ob sie in letzter Zeit über Kinder nachgedacht hätte sowie seinen Vorschlag, der womöglich akzeptabel erscheinen könnte.

«Fängst du wieder mit dem Thema an? Ich habe dir schon hunderttausend Mal gesagt, dass ich mich nicht darauf einlasse. Hast du überhaupt mal an mein Alter gedacht? Wer will denn mit 38 noch Mutter werden? Oder anders herum: Glaubst du etwa, dein Kind will eine Mutter haben, die praktisch seine Oma sein könnte?»

«Du weißt genau, worum es geht. Ich zwinge dich nicht in die Mutterrolle.»

«Verdammt, du bist doch selbst schon 40! Schluss, Ende, aus.»

Das Argument war neu, zumal Alexandra glaubte, für die Klubs jung genug zu sein. Es ging ihr wohl eher darum, Verantwortung abzulehnen. Er wollte Leben im Haus, träumte von einem Stammhalter, dem er beim Aufwachsen zusehen kann. Vor ihm erschienen Bilder von Vätern mit Jungs, die auf den Feldern außerhalb der Stadt ihre Drachen steigen lassen.

Seine Wut schlug in Frust um. Warum war es ihm versagt, einen kleinen Helden oder eine zierliche Prinzessin heranwachsen zu sehen? Wieso nur durfte er kein Kinderzimmer mit Wölkchen und Schäfchen an den Wänden einrichten? Räume genug waren vorhanden, ganz zu schweigen vom ausreichend verfügbaren Geld. Seinen Nachwuchs wollte er auf die beste Privatschule schicken, die es in Köln gibt. Alexandra müsste sich um rein gar nichts kümmern. Für den Fall der Fälle gab es auch noch Claudia. Ganz wollte er die Hoffnung nicht aufgeben. Andererseits scheute er sich, seine Schwester um Rat zu fragen.

«Alex?»

«Was ist jetzt wieder? Kann ich mir wenigstens noch das Ende von Shopping Queen ansehen?»

«Es ist aber wichtig.»

«Komm bloß nicht auf die Idee, meine Eltern müssten mit aller Gewalt in die Heerscharen der Ach-So-Glücklichen-Großeltern aufgenommen werden. Ich habe dir eben was Passendes dazu gesagt!»

«Tatsächlich geht es um deine Eltern.»

«Sven!»

«Reg dich ab. Ich meine was ganz Anderes. Es wäre bestimmt keine gute Idee, wenn deine und meine Eltern sich intensiver miteinander anfreunden würden.»

Verblüfft wandte Alexandra ihren Blick endlich vom Bildschirm ab. «In dem Punkt muss ich dir tatsächlich zustimmen. Allerdings ist das nicht mein Problem. Schließlich sind es deine Eltern, die unbedingt die Familie enger zusammenbringen wollen.»

«Aber was sollen wir denn dagegen machen?»

«Weiß ich doch nicht. Was meinst du wohl, warum ich plötzlich weg wollte, als das Thema aufkam?» Sie konzentrierte sich wieder auf den Fernseher.

«Wir müssen darüber reden!»

«Sven, ich hab da absolut keinen Bock drauf. Weder auf Diskussionen noch auf die bescheuerte Grillerei.»

2. Feierabend

Ungeachtet eines langen Bürotages machte Sven auf dem Nachhauseweg einen kleinen Umweg zur Weinhandlung seines Bruders. Breit lächelnd betrat er den Laden.

«Hi, Tobi.»

«Hi!»

«Bist du alleine?»

Svens Frage erübrigte sich in exakt diesem Moment. Im gleichen Atemzug verfinsterte sich seine Miene. «Ich wollte eh nur kurz reinschauen. Der Tag war hart. Ich suche was im mittleren Budget, zur Entspannung. Du weißt schon.»

«Klar», entgegnete Tobias, «ich hab genau das Richtige. Sieh mal hier. Der wäre was für dich, ein Pinot Gris. Oder du nimmst einen roten, einen Trollinger. Der ist sehr süffig, harmonisch und leicht.»

«Ich dachte eher an was Schweres.»

«Hey, Mann. Es ist Sommer! Selbst an kühleren Abenden trinkt man da nichts Schweres, es sei denn, du suchst das Passende für ein Festessen?»

«Nein. Ist o. k. Hast wahrscheinlich recht.»

«Die Flasche von neulich war gar nicht teuer. Geschmeckt hat sie. Den Tatort haben sie gezeigt. Klar, war ja Sonntag. War doppelt so spannend mit dem Zeugs. Kann ich empfehlen. Wie hieß denn der, Herr Ziegler? War mit Riese oder Riesel oder so.»

Monika Reimanns mischte mal wieder mit, obwohl sie eine ausdrückliche Ansage dazu hatte. Regelmäßig musste Tobias sie mit aller Deutlichkeit an ihre Kernaufgabe erinnern. Sie war für die tägliche Reinigung der Geschäftsräume und des Büros zuständig. Sämtliche Winkel der Lagerflächen sollten jederzeit tipptopp in Ordnung sein. Des Weiteren war sie für die Sauberkeit des Kellers verantwortlich. Hin und wieder durfte sie einzelne Käufer zu den Luxusweinen begleiten, um die Zeit zu überbrücken, wenn Tobias noch in einem Kundengespräch festgehalten wurde. Er zahlte ihr weit mehr als den Mindestlohn, verlangte im Gegenzug absolute Gründlichkeit und vor allem Zurückhaltung.

«Sie wollen doch bestimmt was Gutes für Ihren Bruder. Ich mein nur, weil der lecker war.»

«Frau Reimanns, bitte!»

«Bitte, was? Putzen, nicht reden, Herr Ziegler?»

«Richtig.»

Ein wenig pikiert verschwand sie hinter den Kisten mit der Lieferung von morgens.

«Wir sehen uns», sagte Tobias an Sven gewandt.

«O. k. Bis demnächst.»

Sven bewunderte seinen Bruder für dessen beispiellose Fähigkeit, mit lästigen Angestellten umzugehen. Bei ihm hätten Leute wie diese Reimanns keine Chance gehabt. Er legte zwar Wert auf ein gutes Betriebsklima, weil er davon überzeugt war, dass nur zufriedene Angestellte Leistung erbringen. Doch für alles gibt es Grenzen. Frau Reimanns überschritt sie mit einer ihr vollkommen eigenen Systematik.

Mittwoch. Ein schrecklicher Tag. Alexandra stöberte gelangweilt in den aktuellen Modetrends. Sollte sie die schwarzen Stiefel mit der mega Schnürung bestellen? Ohne einen passenden Rock wären sie allerdings wertlos. Die abgeleierte Diskussion, ob neue Kleidung schon wieder nötig wäre, wollte sie um jeden Preis vermeiden. Der Akku ihres Tablets machte ohnehin schlapp. Im Fernsehen lief Werbung sowie eine Sendung über die Terroranschläge der letzten Wochen und unzählige Filme, in denen eine Explosion auf die nächste folgt. Zeit zum Abschalten. Smartphone raus, Quickcheck. Status Nicole: online. Alexandras Freundin schickte ein paar Katzenvideos. Manchmal gibt es trotz aller Anstrengungen, einen Abend aufzupeppen, keine Rettung. Die Bemühungen ihres Mannes waren wesentlich erfolgreicher.

Sie liebte Svens feinsinniges Gespür, öde Wochentage in romantische Landschaften zu verwandeln. Geheimnisvoll schimmernder Chablis begleitete die letzten Lichtstrahlen des Tages, der sich gemächlich verabschiedete. Von der Galerie erklang Antonin Dvořáks Humoresque.

Poco lento e grazioso, ein verspieltes Motiv, ein Klavier, die Einladung zu einer malerischen Reise. Blumen in schillernden Farben zeigen ihre prachtvollen Blütenkelche. Vorbeiziehende Wolken nehmen die Sorgen der Welt in unerreichbare Fernen mit, schaffen Platz für den Sonnenschein des Frühjahrs. Uralte Bäume inspirieren zu famosen Träumen. Dazu tanzen bunte Schmetterlinge auf dem schweren Duft graziler Rosenblätter. Sängen die Vögel nicht mehr und versuchten, klamme Nebelnächte das Gemüt zu trüben, würde beim Erklingen der Frühlingsmelodie jeglicher Kummer schwinden.

Perfekt unterstrich die klassische Musik das geschmackvolle Ambiente. Auf dem Tischchen in der Bibliothek umrahmten liebevoll platzierte Sommerblüten eine Auswahl exquisiter belgischer Pralinen. Sven kannte sie aus dem L’Homme, einem Café in Brüssel, mit dem er eine überwältigende Sinnlichkeit verband. Der letzte Besuch war Sven noch gut in Erinnerung. Außergewöhnliches Konfekt hatte in ihm ein unstillbares Verlangen entfacht.