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Der attraktive Bestatter Dennis Sardowski nutzt trauernde Frauen skrupellos aus. Er tröstet, gibt Halt, ist Vater, Bruder und Geliebter zugleich. Ein Traummann, dem die Frauen innerhalb kürzester Zeit ihr Vertrauen schenken. Sie geben ihm bereitwillig Geld, das er in vollen Zügen für sich und seine Kinder ausgibt. Lara Preckmann beginnt, an der Aufrichtigkeit des Bestatters zu zweifeln. Ihre Befürchtungen bestätigen sich. Sie ergreift die Initiative und gründet eine Trauergemeinschaft, um das Lügenkonstrukt des Bestatters zu Fall zu bringen und ihr Geld zurückzubekommen. Es besteht jedoch kaum eine Chance auf Erfolg. Bis schließlich eine aus der Gemeinschaft konsequent durchgreift.
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Seitenzahl: 261
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Susanne Kowalsky
Sardowski – Die Geschichte einer Trauergemeinschaft
Impressum
Text: © 2024 Susanne Kowalsky
Susanne Kowalsky behält sich eine Nutzung der Inhalte für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Umschlaggestaltung: © 2024 Susanne Kowalsky
Verlag: Susanne Kowalsky, Höhenweg 53, 46519 Alpen, [email protected]
Vertrieb: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der siebte Roman von Susanne Kowalsky befasst sich mit einem Mann, der es in den 2000er Jahren wie kaum ein anderer geschafft hat, arglose Menschen in seinen Bann zu ziehen. Inspiriert wurde die Geschichte durch einen Liebesbetrüger, der über Jahre hinweg ungestört sein Unwesen getrieben hat und erst 2023 dafür erfolgreich zur Rechenschaft gezogen worden ist. Bis auf diese Anregung aus der Realität sind alle Vorgänge und Personen frei erfunden.
Die Idee zu ‹Sardowski› ist im Oktober 2022 durch einen Schreibwettbewerb entstanden, bei dem der perfekte erste Satz gesucht worden war. Das grobe Raster für die Handlung sowie die Skizzierung der meisten Figuren stand kurze Zeit später bereits fest. Bis Kapitel eins jedoch in einem brauchbaren Entwurf vorlag, vergingen noch über zwei Monate; mehr als eineinhalb Jahre dauerte die weitere Arbeit an einer Version, die den Testlesern vorgelegt werden konnte.
Der Text wurde ohne die Zuhilfenahme einer KI erstellt, allerdings mit einer Autorensoftware, die ihresgleichen sucht.
Sardowski – Die Geschichte einer Trauergemeinschaft
Susanne Kowalsky wünscht gute Unterhaltung!
Noch merkten die Leute auf der Straße nichts von den verwesenden Fingern, die sie seit geraumer Zeit in ihrer Handtasche aufbewahrte.
Das Bärchen auf dem Boden, Ruhe, dann wieder Hektik, eine verschwommene Wahrnehmung, vernebelt, Klarheit, Gewissheit, lähmender Stillstand. War es unbedingt notwendig, den Schnuller und die Kuscheldecke einfach auf den Boden zu werfen? Sie machten ihre Arbeit. Nichts weiter. Kein Platz für Emotionen. Wozu auch? Schließlich gingen sie ihrem Job nach wie Bankangestellte oder Putzfrauen. Hießen die heute noch so? Das spielte keine Rolle mehr.
Verliebt war sie gewesen.
Der musste es sein, kein anderer. Da drüben lief die Inkarnation ihres Traumes. Sie versuchte, sich zu wehren. Erfolglos. Immer wieder musste sie hinsehen zu diesem Bild von einem Mann. Peinlich, fanden ihre Freundinnen, aber was sollte sie machen? Er zog sie in ihren Bann, mit seinem Lächeln und dem beispiellosen Blick, der etwas Hypnotisches an sich hatte. Sie trafen sich. Sie redeten. Sie hörten Musik. Jede freie Minute verbrachten sie in seiner Wohnung, schmiedeten Pläne für die Zukunft. Sie verschmolzen miteinander, liebten sich, als stünde das jüngste Gericht mit dem Klingeln des Weckers wenige Stunden später am Rande ihres Bettes, um sie abzuholen, als müssten sie es ein letztes Mal tun, um in den Tempel der Glückseligkeit aufgenommen zu werden.
«Was hältst du von Paul?»
«Wie meinst du das?»
«Wenn es ein Junge wird.» Sie strahlte.
Finsternis auf Marvins Stirn, erste Anzeichen einer Sturmflut, bei der es keine Überlebenden geben würde. Ein unheilbringendes Schweigen schwebte über ihnen und ihrem ungeborenen Kind.
Den Gedanken, die Finger in einem Blumenbeet verschwinden zu lassen, verwarf sie wieder.
«Wir müssen ihn ja nicht unbedingt Paul nennen.»
Sie hatte geglaubt, mit den Sternen spielen zu können, bis er sie ausgepustet hat.
«Das ist mir egal, hörst du? Scheißegal! Spinnst du eigentlich?»
«Freust du dich denn gar nicht?»
«Ich freue mich, wenn du deine Sachen packst und verschwindest!»
«Aber, Marvin, ich dachte, ich, ich dachte, wir würden, wir hatten doch so viel geplant, unsere Träume, was ist mit denen? Marvin, du kannst doch nicht ...»
«Besteht dein Traum aus einem sabbernden Schreihals und stinkenden Windeln? Ja? Sieht so dein Traum aus? Du haust mir einen Namen um die Ohren, ohne Vorwarnung, laberst rum. Freuen? Haha, ha. Geh zum Arzt. Mach was! Dann freu ich mich. Und wie. Haha.»
«Marvin. Was, wie, wir, wir wollten doch ...»
«... Spaß haben. Und jetzt hau ab. Verschwinde! Ich habe keinen Bock auf irgendwelche Scheiße.»
Sie hob das Bärchen auf. Den Schnuller legte sie zurück in die Wiege. Ob die Polizistin, die Pauls Sachen achtlos auf den Boden geworfen hat, eine Mutter war? Oder die Leute, die Pauls leblosen Körper nackt liegen ließen? Waren das Väter, die ihre Kleinen liebten? Sie hatten Lara zurückgelassen, ohne ein einziges Wort des Bedauerns. Nach Dienstschluss würden sie ihre Kinder in die Arme nehmen, die Partner begrüßen, zusammen essen. Eine Selbstverständlichkeit. Die Kuscheldecke hatte der Bestatter mitgenommen. Dennis Sardowski schien der einzig Normale in dieser nebulösen Situation zu sein, ein echter Mensch, keine endlos fragende Ermittlungsmaschine, kein eiskalter Typ, für den der Tod bedeutungslos war, nur weil er täglich damit umging. Er hatte Lara angeboten, Paul mit hinauszutragen. Der Klingelton riss sie aus ihren Gedanken. «Ja? Ja, Preckmann. Wie bitte? ... Ja. Ja, sicher hilft das. Ich komme. Danke.»
Mit zitternden Beinen steigt Lara aus dem Wagen. Gleich sieht sie ihn. Seinen kleinen, leblosen Körper. Ausgekühlt. Eine unnatürliche Blässe. Gerade mal 26 Wochen ist es her, dass Paul das Licht der Welt erblickt hat. Nun ist alles um ihn herum schwarz. Nie wieder wird sie an der Schäfchen-Spieluhr ziehen, aus, vorbei, nie wieder eine gute Nacht, kein Erwachen, nur Dunkelheit. Zerplatzte Träume. Paul, der süße Paul.
Marvin, dieses Miststück.
Lächelnd steht Herr Sardowski in der Tür. Sein Anzug sitzt perfekt. Die blank polierten Schuhe passen zur edlen Bundfaltenhose, weißes Hemd, eine dezente Krawatte, makellos gebunden. Hätte Marvin sich doch nur ein einziges Mal so in Schale geworfen.
«Schön, dass Sie da sind.» Sardowskis Stimme beruhigt Lara. Das Zittern in den Beinen hört auf. «Kommen Sie doch herein.»
Im Flur fallen ihr Bilder von grasenden Kühen vor einer alten Scheune auf und Aquarelle von blühenden Heidelandschaften. Sie gehen am Empfangszimmer vorbei in einen ansprechend eingerichteten Raum. In jeder Ecke stehen Blumen, in Vasen, in Töpfen, eine wahre Blütenpracht, die nichts gemein hat mit den typischen Beerdigungsblümchen.
«Ich hole uns einen Kaffee. Machen Sie es sich doch in der Zwischenzeit schon mal bequem.»
«Wo, wo ist Paul?»
«Wir müssten kurz ein paar Daten abklären, bevor wir zu ihm gehen.»
Sie entscheidet sich für die Sitzgruppe am Fenster mit den edel gepolsterten Designersesseln. Sardowskis Kaffee ist aromatisch, kräftig, doch nicht zu stark. Ein Geschmackserlebnis. Er mahle die Bohnen immer frisch. Außerdem müsse man Kaffee mit Liebe zubereiten, das Wasser weder zu lang noch zu kurz über das Pulver laufen lassen. Dann sei ein optimaler Geschmack garantiert. Er legt ihr einige Papiere zur Unterschrift vor und erklärt dabei die Aromen der unterschiedlichen Bohnen.
«Wollen wir jetzt zu ihm gehen? Wir können uns auch gerne Zeit lassen und noch einen Kaffee trinken. Oder Plätzchen essen? Die habe ich selbst gemacht.»
Marvin wäre nie auf die Idee gekommen, Plätzchen zu backen.
«Nein. Nein, danke. Ich möchte zu Paul.»
Die innere Leere ist unaussprechlich. Der Flur kommt ihr endlos vor. Nur wenige Schritte, noch einer, ein weiterer bis zur massiven Stahltür, hinter der sich ihr persönlicher Albtraum befindet.
«Möchten Sie mit ihm allein sein?»
«Ja. Ja, gern. Wenn das ginge.»
«Sicher. Ich bin gleich nebenan. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie so weit sind.»
Paul ist mit einem Laken bedeckt. Seine Sachen liegen ordentlich zusammengefaltet auf der blank polierten Ablage, seine Kuscheldecke gleich daneben. Sie möchte Paul knuddeln, lässt es bleiben, möchte ihn streicheln, ihm einen Kuss auf die Wange geben. Sie lässt es bleiben. Sie möchte weinen. Die Tränen kommen nicht. Auf Zehenspitzen schleicht sie zur Tür und öffnet sie, so leise es geht. Herr Sardowski kommt aus dem Nebenraum. Sein Timing beeindruckt Lara. Der Mann weiß, was Empathie ist, hat das richtige Feeling.
«Wir werden Paul nicht stören. Das verspreche ich. Möchten Sie das Spray auftragen?» Eine Antwort bleibt sie schuldig, weiß überhaupt nicht, was das für ein Spray ist, wozu es gut sein soll, sieht abwechselnd ihren kleinen Schatz und den Bestatter an. «Ich übernehme das.» Er geht so sanft mit Paul um. Kein Vergleich zu den hemmungslosen Unmenschen, für die ihr Kleiner nur Arbeit bedeutet, eine Kinderleiche mehr und eine unter vielen Müttern, die behauptet, es sei alles wie immer gewesen bis ohne jede Vorwarnung die Atmung aussetzte. Wann genau? Wenn sie das wüsste. Paul hat friedlich geschlafen.
«Sie waschen Paul dann gleich. Ist das für Sie in Ordnung? Der Abschied wird Ihnen danach ein ganz klein wenig leichter fallen. Das verspreche ich.»
Jetzt kommen die Tränen doch. Der Bestatter reicht ihr ein Papiertuch. Sie lässt die Tränen laufen. Ein kurzer Blickwechsel. Er legt das Tuch beiseite.
«Wie, wie machen wir das? Ich, ich meine, sein kleiner Körper ist so ...»
«Sie machen es. Paul ist Ihr Sohn. Sie können ihn normal einseifen, wie Sie es gewohnt sind. Mit dem Waschlappen und kaltem Wasser waschen Sie ihm die Seife anschließend ab.»
«Muss es, ich meine, muss es kalt sein? Ich meine, ein so kleiner Körper. Wäre, wäre warm nicht besser?»
«Für Paul ist kaltes Wasser besser, glauben Sie mir, die Haut wird nicht mehr durchblutet. Deshalb dauert es nicht lange bis ... Frau Preckmann, ich denke, wir sollten uns momentan nicht mit solchen Details beschäftigen. Was meinen Sie?» Sie verkneift sich eine Antwort, sieht ihn kurz an, betrachtet Paul, lässt Herrn Sardowski gewähren. Er führt ihre Hand, nimmt ihr behutsam den Waschlappen ab, wäscht ihn aus und gibt ihn ihr zurück. Dabei lächelt er einfühlsam. Er versteht sein Fach. Dieser einzigartige Bestatter schafft es, eine Brücke zu schlagen zwischen den Lebenden und den Toten und ihr, einer verzweifelten Mutter.
Das Leben auf dem Anwesen, die jahrelange Illusion des eigenen Paradieses, eine Art Privathimmel auf Erden, alles dahin. Ihre Einkäufe waren erledigt, die Finger immer noch in der Handtasche.
Lara trocknet Paul ab, Herr Sardowski reinigt den Versorgungstisch, meint, sie könnten Paul jetzt eincremen.
«Darf, darf ich das machen?»
«Aber sicher. Massieren Sie die Creme richtig ein.»
Er sieht friedlich aus, riecht gut. Kaum zu glauben, dass er sie nie wieder anlächeln wird, obwohl das Verschließen der Körperöffnungen Pauls Ableben auf immer und ewig besiegelt. Sie zieht ihm das Baumwollhöschen an und sein Bärchen-T-Shirt, in dem er seinen letzten Atemzug getan hat.
«Paul wird auf seiner Kuscheldecke weich liegen. Möchten Sie ihn in den Sarg legen?»
«Mir, mir ist schwindelig.»
«Okay. Dann übernehme ich das.»
«Nein, nein. Ich möchte ihn selbst hinein legen. Ich, ich schaffe das, glaube ich.»
Dennis Sardowski ist hilfsbereit, schenkt ihr ein Lächeln und stützt sie auf dem Weg durch den Flur. «Wir gehen direkt ins Büro. Da stört uns niemand.»
«Ich, ich dachte, ich hätte alles unterschrieben.»
«Machen Sie sich keine Gedanken. Wir haben es fast. Da wären nur ein paar Fragen zur Trauerfeier. Wie Sie sich die Details vorstellen und so weiter. Gerne brühe ich Ihnen einen frischen Kaffee auf. Es dauert einen Moment. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.»
Ulrike Blechmüller hatte für einige Bestattungsunternehmen gearbeitet, für große Häuser und Familienunternehmen. In Dennis Sardowski sah sie letzten Endes den besten Arbeitgeber der gesamten Branche. Er ließ ihr freie Hand, vertraute auf ihre Expertise. Täglich ging sie mit ihrem Chef die Termine durch, besprach die Abschiedssprüche, die auf eine Freigabe der Angehörigen warteten und die Organisation der unmittelbar bevorstehenden Trauerfeiern in seinen Räumlichkeiten. Keine Einwände. Die hatte er nie.
«Ähm, wie sieht es mit den Vorbereitungen für den kleinen Paul Preckmann aus?»
«Darum kümmere ich mich persönlich.»
«Ähm. Auch um die Deko, den Blumenschmuck und all diese Dinge?»
«Ja. Machen Sie sich keine Gedanken. Das regel ich bei Frau Preckmann zuhause.»
«Aber wieso denn bei ihr?»
«Sie ist momentan nicht in der Verfassung, erneut hierher zu kommen. Das verstehen Sie doch sicher.»
Ganz im Gegenteil. Ein Hausbesuch zur Besprechung einer Blumendekoration? Ein Novum in den letzten drei Jahren. Ulrike wunderte sich ohnehin darüber, wie sehr sich ihr Chef in gewissen Sterbefällen engagierte. Andererseits machte gerade das aus, was sie an ihm schätzte. Daher beschloss sie, nicht weiter darüber nachzudenken.
Die Verstorbene, die sie vom Kühlraum in den Versorgungsraum brachte, war während der Feier zu ihrem 92. Geburtstag eingeschlafen. Unzählige Lachfalten zierten ihr Gesicht. Sie musste ein glückliches Leben geführt haben, geliebt von ihrer Familie. Selten waren Angehörige derart bemüht, jedes kleinste Detail im Sinne der Entschlafenen zu regeln. Sie hatte Rehaugen, beachtliche Wimpern und schneeweißes, dichtes Haar. Ulrike versprach der Tochter, den langen Haaren bei der hygienischen Versorgung besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dafür bekam sie ein großzügiges Trinkgeld. Mehrfach lehnte Ulrike ab. Die Tochter bestand darauf. «Nehmen Sie nur. Bitte!» Auf einen weiteren Wunsch legte sie der Verblichenen eine Perlenkette von royaler Eleganz um den Hals, zog ihr ein seidenes Nachthemd an und Spitzenunterwäsche, die sicherlich aus Paris stammte. Die Fußnägel lackierte sie knallrot, weil sie dadurch mit den offenen Hausschuhen korrespondieren würden, was auch immer die Tochter damit gemeint haben mochte. Ulrike hinterfragte die Wünsche ihrer Kunden nicht.
Sardowski betrat die Wohnung. Hinter einem der Bilder im Flur, leider ein Kunstdruck, wie er schnell erkannte, fand er einen 200,-- €-Schein, eingeklemmt im Rahmen. Die Abstellkammer war vollgestopft mit Schuhen, wohlsortiert nach Winterstiefeln, Pumps, Wander- und Hausschuhen. Die Tür zur beengten Gästetoilette schloss er umgehend wieder. Im Wohnzimmer lagen Papiere in einer Schatulle herum. Damit würde er sich später genauer beschäftigen. In der Küche stand immer noch das Geschirr von der Geburtstagsfeier, penibel sortiert zwar, jedoch ungespült. Im nächsten Flur machte ihn ein beleuchteter Spiegel neugierig, mit einer Einfassung, die sich gut als Versteck eignete. Er wurde fündig. Weitere 50,-- € konnten der Portokasse kaum schaden. Vermissen würde das Geld ohnehin niemand. Das Schlafzimmer war ungewöhnlich eingerichtet, mit einem Klappbett aus den 1970ern und einem Schreibsekretär. Auf der schmalen Oberkante des Möbelstücks stand ein altmodisches Schmuckkästchen. Darunter lagen einige 5,-- €-Scheine, die Dennis liegen ließ. Er klappte das Bett auf, es klemmte, war lange unbenutzt gewesen. Suchen lohnte hier nicht. Hinter einem Vorhang verbarg sich ein Ankleidezimmer. In einem Regal lagen Seidenstrümpfe, größtenteils originalverpackt. An einer Stange hingen luxuriöse Nachthemden, ebenfalls aus Seide. Einige sahen ungetragen aus. Nie zuvor hatte er derart viel Unterwäsche gesehen. Die Regalflächen beherbergten wahre Schätze, sauber verstaut in Kunststoffbehältnissen. Alles hochwertig, selbst der Haarschmuck. Möglicherweise hätten Nico oder Pia eine Idee, wie man die Entdeckungen gewinnbringend einsetzen könnte. Sein Telefon klingelte. «Richtig, Dennis Sardowski. Ich bin jetzt ... Richtig. Möchten Sie die Wohnungsschlüssel wieder abholen oder soll ich sie Ihnen in den Briefkasten schmeißen? ... Wie? ... Ein Testament? Nein. Wenn Sie aber lieber ... Wollen Sie nicht? Na ja. Wozu auch? Ich erledige das für Sie. Machen Sie sich keine Gedanken.»
Zum Abschluss nahm er sich noch einmal die Schatulle im Wohnzimmer vor. Alte Zeugnisse, Sterbeurkunden aus dem letzten Jahrhundert, Dokumente einer Kriegsgefangenschaft. Nichts von Wert.
Ihre Entscheidung war gefallen. Sie entleerte die Handtasche im Trog, schmiss sie in die Mülltonne und begann mit der Arbeit. Erst versorgte sie die Katzen, dann Benito, den Labradorrüden, schließlich die beiden Stuten Daisy und Doreen, denen sie reichlich Heu gab und deren Boxen sie heute nur überstreute. Zum Schluss mistete sie den Schweinestall fein säuberlich, in der Hoffnung keine Überreste mehr zu finden.
Für die meisten Menschen war es ein Montag wie jeder andere, nasskalt, keine zehn Grad, Oktober eben. Für sie begann der Tag schon in der Nacht, mit Kopfschmerzen und Schweißausbrüchen. Alle zwanzig Minuten starrte sie auf den Wecker. Dazwischen nickte sie jeweils kurz ein. Babyschreie ließen ihr kalte Schauer über den Rücken laufen. Sie schleppte sich ins Bad, hörte ihren kleinen Schatz immer wieder weinen und lief mehrmals in sein Zimmer, um sich davon zu überzeugen, dass das Wimmern nur ein Echo aus der Vergangenheit war.
Der Weg zum Friedhof glich einer Fahrt in der Geisterbahn mit neuen Schrecken hinter jeder Ecke. Vor ihr taten sich vernebelte Sequenzen auf wie in einem Horrorfilm. Sie folgte einer steinigen Route mit der unumstößlichen Gewissheit, dass sie nie wieder ihren Paul auf den Arm nehmen würde. Er wird nicht frieren. Er hat ja seine Kuscheldecke, sagte sich Lara immer wieder. Ihr war saukalt. Marvin fehlte. Er jedoch war da, dieser Mann, der ein guter Vater für den kleinen Paul gewesen wäre. Ein gefühlvoller Mensch mit Charakter, einer, der vermutlich niemals eine Abtreibung verlangt hätte, jemand, der erst recht keine Todesanzeige ... Sie verabscheute ihre Gedanken an einen nahezu fremden Mann, in diesem Moment, in Pauls ganz persönlichem Augenblick, jetzt, da der Pfarrer seine bewegende Grabrede hielt.
Nach der Beisetzung saß Dennis mit seinen Kindern zusammen. Nicos Vorlesungen starteten erst wieder am Donnerstag, sodass er sich gebannt nach den Aktivitäten seines Vaters erkundigte. «Übrigens, wie geht es bei der alten Schachtel weiter? Hast du dir die Wohnung angesehen?»
«Hab ich. Lohnenswert. Es ist eine Stadtwohnung, groß, geschmackvoll eingerichtet, nur wenig Krimskrams, etwas Bargeld, und ich kann die Schlüssel bis auf Weiteres behalten. Die Tochter wollte wissen, ob ich ein Testament gefunden hätte, ging aber nicht näher darauf ein.»
«Okay. Was ist mit den Nachbarn? Stellen die Fragen, wenn Nico und ich da auftauchen?» Auch Pia musste erst gegen Ende der Woche an der Uni mit ihrer Anwesenheit glänzen.
«Ach was. Macht euch keine Gedanken.»
Ein Nobelbau mit 26 Wohnungen, angeordnet um ein Atrium mit Bepflanzung und Teppichboden im Treppenhaus. Den Aufzug mieden die beiden. Im Nachhinein erinnerten sich die Leute an unbekannte Personen, wenn sie zusammen im Fahrstuhl standen, detaillierter. Eine ebenso flüchtige Begegnung in einem Hausflur nahmen viele Leute gar nicht erst wahr. Eine Erkenntnis, basierend auf Erfahrungswerten der Geschwister, wissenschaftlich unbelegt. Erwartungsgemäß wurden sie beim Betreten der Wohnung von niemandem bemerkt.
Die Schatulle stand noch genauso auf dem Wohnzimmertisch, wie ihr Vater sie zurückgelassen hatte. Nico befasste sich mit den Intarsien, machte Fotos, suchte sofort im Internet nach dem Wert des Holzes beziehungsweise der darauf befindlichen Schnitzereien. Er wurde fündig. Pia ging durch die Wohnung. Sie entdeckte die 5,-- €-Scheine, die ihr Vater liegengelassen hatte und steckte sie ein. «Den Krempel aus der Abstellkammer werden wir locker über Kleinanzeigen los», meinte sie. «Wenn wir diverse Portale nutzen, fallen wir am wenigsten auf.»
Ihr Bruder mahnte zur Vorsicht beim Verkauf der Schatulle, die vermutlich aus Palisander gefertigt worden war. Er wollte sicherheitshalber Erkundigungen einholen, ob man eine Sondergenehmigung für den Verkauf irgendwie umgehen oder aber einen Händler finden konnte, für den Handelsverbote für Edelhölzer kein Problem darstellten. «Okay. Mach das. Dann werde ich mich um die Wäsche kümmern. Alles, was original verpackt ist, kann ich locker über eine Freundin loswerden, die entsprechende Kontakte hat.»
«Hast du dir das Schmuckkästchen näher angesehen?»
«Du weißt genau, dass ich keine Ahnung davon habe. Sicher ist jedenfalls: Der Schmuck da drin ist echt, kein Modekram. Altmodisch zwar, doch ein Anhänger gefällt mir. Meinst du, Papa ist sauer, wenn ich ihn behalte?»
«Quatsch! Zeig mal her. Krass.»
«Was?» Pia sah ihrem Bruder über die Schulter. «Wa-has? Nico, sag schon!»
«Hier. Alles mindestens 18-Karäter. Echt krass.»
Im siebten Monat schwanger. Unmöglich, unter solchen Umständen tröstende Worte zu finden. Ihre Hände schwitzten, der Kopf hämmerte in Sekundenabständen. Ulrike Blechmüller grauste davor, der jungen Frau gegenüberzutreten, deren Zukunft zeitgleich mit dem Tod ihres Mannes in einer Sackgasse steckengeblieben war. Marco Klimmerz, ein Nichtraucher, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, verheiratet mit einer wahren Schönheit. Er verstarb wenige Tage vor seinem 33. Geburtstag nach einem kurzen, heftigen Kampf gegen den Lungenkrebs, der zu spät entdeckt worden war. Das letzte Foto zeigte ein glückliches Paar im Yachthafen von Cannes. Frau Klimmerz bat Ulrike, es mit in den Sarg zu legen. Sie nickte Jasmin zu, lud den Leichnam ein und fuhr zum Bestattungsinstitut zurück.
Ulrike entkleidete Marco. Sie legte ihm eine Stütze in den Nacken. Nach der Desinfektion rasierte sie ihn, reinigte seine Fingernägel, schnitt sie und überlegte dabei fieberhaft, welche Trauersprüche sie der jungen Witwe vorschlagen könnte.
«Sind die Schlüssel vom A8 hier irgendwo? Im Büro liegen sie nicht.»
«Dennis! Ich hab Sie gar nicht kommen hören.»
«Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Wie sieht es aus? Hat das mit dem Bodylifter geklappt?»
«Ja, hat geklappt. Ich vermute ein Problem mit dem Akku. Solange der am Strom ist, funktioniert er tadellos.»
«Bestens. Ich sehe, Sie haben alles im Griff. Ah. Da liegen die Schlüssel ja. Dann bin ich wieder weg. Wenn Frau Preckmann anruft, versuchen Sie mich aufzutreiben. Bis morgen.»
Die Trauersprüche lagen ihr im Magen. Jedem ihrer Einfälle folgten gedankliche Attacken auf die Ideen für einen ansprechenden Textvorschlag. ‹Die Hoffnung ist der Regenbogen.› Ein Hoffnungsschimmer mit einem Kind im Bauch, das nie den Vater kennenlernen würde? Fraglich. Der Spruch von Nietzsche, einem eigenwilligen Kopf, der nach allem, was sie von ihm wusste, die Frauen höchstwahrscheinlich als Geißel empfand? Nein. Gandhi? Erst recht nicht. Zu politisch. Goethe, ja, Goethe. Ulrike war kurzzeitig zuversichtlich. Aber nein, ein klassischer Dichter und diese Dame, die vom Aussehen her in eine Castingshow für Models gepasst hätte, eine dilettantische Kombination. Ulrike fiel Thomas Mann ein. ‹Die Bande der Liebe werden mit dem Tod nicht durchschnitten.› In Jasmins Lage wirkte das erst recht deplatziert. ‹Das Sonnenlicht ist nur ein Schatten.› So oder ähnlich hatte es Schopenhauer formuliert. Mit einem Baumwollfaden band sie von innen den Unterkiefer mit der Nasenscheidewand zusammen. ‹... von welchem unser Sonnenlicht nur der Schatten ...›. Die Augenlider zog sie wieder über die Augäpfel. Marco Klimmerz sah friedlich aus, beinahe sogar zufrieden. An diesem Zustand würde sich bis zur Beisetzung nichts mehr ändern. Ulrike verstand ihr Handwerk. ‹Das kurze Leben ist eingebettet in einen langen Schlaf. Und wenn der Tod dann unsere Augen auf ewig schließt, werden wir im Lichte stehen.› Frei nach Shakespeare und Schopenhauer. Das passte. Ulrike hievte Marco Klimmerz vom Versorgungstisch auf die Bahre, mit der sie ihn zurück in den Kühlraum schob.
Sie begann mit dem Entwurf der Trauerkarten.
Jasmin Klimmerz blätterte in der Vogue. Der Gucci-Gürtel gefiel ihr. Er wäre ideal in Kombination mit dem Midikleid, das ein zartes Blumenmuster der kommenden Saison zierte. Marco hätte ihr den passenden Blazer dazu spendiert. Stattdessen suchte sie sich Trauerkleidung aus. Schön sein, ein letztes Mal, für Marco, den Mann ihrer Träume, für ihn, mit dem sie sich auf das Baby gefreut hatte, für das sie schon Spielzeug ausgesucht hatten, in der irrsinnigen Annahme, Marco könnte doch noch gerettet werden. Die Medizin schritt voran. Fast täglich. Deutsche Ärzte waren die Besten weltweit. Unumstritten. Dennoch hatte ihm niemand helfen können. Sie streichelte über ihren Bauch. Ava, Bea, Cara. Mädchennamen, die für Marco in die engere Wahl gekommen waren. Liam war ihr persönlicher Favorit für einen Jungen.
Sie stöberte in den Urlaubsfotos, erinnerte sich an jede einzelne Sekunde, als sei sie eben erst vergangen. Die Filmfestspiele waren vorbei, der Trubel verebbt. Sie genossen den Frühling in Cannes auf dem Boot von Marcos Geschäftsfreunden. Morgens frühstückten sie ausgiebig, gammelten an Deck herum, malten sich aus, wie die Promis auf den Nachbarbooten übereinander herzogen, weil ihnen weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden war als irgendeiner B-Tussi, nur weil eben jene mit einem pralleren Busen aufwartete. Dabei amüsierten sie sich wie kleine Kinder. Nachmittags flanierten die beiden Hand in Hand über den Boulevard de la Croisette. Marco machte ihr die Markenboutiquen schmackhaft, in denen er ihr knappe Skirts, Heels mit Glitzerapplikationen und drei Blusen kaufte. Er geizte nie. Im angesagten Beach Club ‹Thon Rouge de Méditeranée› schossen sie ein Selfie nach dem anderen.
Jasmin zoomte immer wieder auf Marcos Gesicht, seine Augen – ein Gedicht, ein faltenfreies Antlitz, volle Lippen, polierte Zähne. Kurze Zeit später war es Marco kaum mehr möglich, zu lächeln.
Es klingelte. Die Bilder der Überwachungskamera, die auf dem Display der Heimkinoanlage projiziert wurden, zeigten einen vortrefflich gekleideten Mann. Groß, schlank, bestens gepflegt. Jasmin quälte sich von der Couch. Ihre Kurzatmigkeit nervte sie enorm. Ein stechender Schmerz im Rücken. Erneut die Türklingel.
«Ja?»
«Frau Klimmerz. Schön, Sie zu sehen.»
«Oh, Sie. Kommen Sie herein. Ich hatte Sie im ersten Moment nicht erkannt. Das ist wohl den Umständen geschuldet. Denen mit Marco, meine ich.»
«Machen Sie sich keine Gedanken, Frau Klimmerz. Ich dachte mir, ein kleiner Ausflug würde Ihre Psyche vielleicht ein wenig entlasten.»
An Jasmins Gesicht ließ sich leicht ablesen, dass eine bloße Spazierfahrt in einem Mittelklassewagen nur bedingt ihren Geschmack treffen würde. Sie erwartete etwas Glamouröses, vermutete Dennis. Eine Shoppingtour in Düsseldorf erschien ihm zu gefährlich für sein Portemonnaie. Er malte sich aus, wie sie mit Bergen von Einkaufstaschen von einer Boutique zur nächsten marschierte. Armbänder. Ohrringe. Parfum. Erlesene Marken. Exklusivität durch und durch.
Jasmin sah auf ihre Uhr. «Haben wir ein bestimmtes Ziel?»
«Shoppen auf der Kö ist zu ordinär für eine Perle, wie Sie es sind. Ihre Eleganz passt eher in die Pariser Noblesse.»
«Elegant? Mit diesem Bauch?»
«Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Nach der Geburt werden Sie noch umwerfender aussehen, wenn ich das so sagen darf.»
«Ist das Ihre Art, Trost zu spenden? Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Lassen Sie das. Ich weiß sowieso nicht, warum ich mich mit Ihnen abgebe.»
«Aber Frau Klimmerz. Sie werden doch keine voreiligen Schlüsse ziehen. Was halten Sie von einem Kaffee an der Rheinuferpromenade?»
Jasmin lehnte ab. Sie vertrüge derzeit keinen Kaffee. Daher entschloss sich Dennis, sie auf ein veganes Tartelette einzuladen. Ebenfalls Fehlanzeige. In der gegenwärtigen Lage sei es überhaupt ein Fehler gewesen, zu ihm ins Auto zu steigen. «Bringen Sie mich bitte nach Hause.»
«Machen Sie sich keine Gedanken. Wir ...»
«Sofort!»
«Entschuldigen Sie meine Dreistigkeit. Ich muss eine Zumutung für Sie sein. Es tut mir aufrichtig leid. Ich bedaure diese nachlässige Respektlosigkeit meinerseits zutiefst. Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen.»
Bis zu ihrer Haustür redeten sie kein Wort mehr miteinander. Gentlemanlike öffnete er ihr die Wagentür, doch sie verweigerte ihm seine Hilfe beim Aussteigen.
Die Schweine hatten ganze Arbeit geleistet. Als Nächstes würde sie sich um die Leichen in der Scheune kümmern. Es wäre vernünftig gewesen, die Behörden zu verständigen. Doch wozu? Den Toten dürfte es egal sein, wie sie gelagert werden. Andererseits taten ihr die Hinterbliebenen leid, die davon ausgegangen waren, alles wäre ordnungsgemäß verlaufen. Sie hatten ein Recht auf die Wahrheit. Dennoch galt es, die Nerven im Zaum zu halten, Ruhe zu bewahren, anstatt sich selbst in Erklärungsnot zu bringen.
Den Schlüssel zum Vorhängeschloss an der Scheune fand sie in der unteren Schublade der Garderobe, zusammen mit einem weiteren Schlüssel, der ihr inmitten des Krempels vorher nie aufgefallen war. In der Scheune gab es keinen abschließbaren Schrank. Im Wohnhaus ebenso wenig. Ihre eigenen Schlüssel hingen alle neben der Haustür am Brettchen. Sie steckte ihn in die Hosentasche. Die Leichen würden warten müssen. Der Schlüssel ließ ihr einfach keine Ruhe. Zu einem Tresor konnte er nicht gehören. Davon hätte sie gewusst, obwohl sie inzwischen von dem Gefühl beschlichen wurde, auf dem Hof wie eine Fremde zu leben. Entgegen ihres ursprünglichen Plans widmete sie sich der Hausarbeit. Sie saugte, sie wischte den Boden, wusch die Möbel ab. Die Staubschicht auf Dennis Schreibtisch hatte eine bemerkenswerte Höhe erreicht. Sie holte heißes Wasser, räumte ihn komplett ab, reinigte auch die Fronten der Schubladen und entdeckte das leere Schlüsselloch. Sie kramte in ihrer Hosentasche. Der Schlüssel passte. Sie zog die Lade auf. Smartphones, Bargeld, Ringe, Goldketten, Armbanduhren. Melanie stockte der Atem.
«Und? Wie war’s?»
«Schwangere sind eine Nummer für sich. Sie ist eine harte Nuss. Ich werde versuchen, ihr auf der Beerdigung ein wenig näher zu kommen.»
«Krass. Bleib dran. Hier sind übrigens die Schlüssel von der alten Schachtel. Wir haben gut die Hälfte mitgehen lassen.»
«Seid vorsichtig. Bietet nicht alles auf einmal an. Wie hoch ist die Ausbeute?»
«Schwer zu sagen, Papa. Wird sich jedenfalls lohnen. Sieh dir den Anhänger an. Wunderschön, oder?» Pia holte das Schmuckstück unter ihrem Pullover hervor.
«Bist du wahnsinnig? Lass dich damit bloß nicht blicken! Warte wenigstens, bis wir einen ordentlichen Abschluss mit der Familie haben. Die Alte ist erst vor knapp zwei Wochen gestorben. Du hast manchmal Nerven.»
Wegen des mittlerweile aufkommenden Geruchs griff sie zu Branntkalk. Einige Säcke lagerten ohnehin im Stall, den er längst gekälkt haben wollte, einmal zur Desinfektion des Schweinestalls und zum Anderen, um die Wände der Pferdeboxen in einem Atemzug aufzuhübschen sowie gleichzeitig zu säubern. Fleißig war sie von Anfang an gewesen. Doch seit jeher hatte sie Respekt vor dem Mittel. Es entzündete sich leicht und man durfte nichts in die Augen bekommen. Aufgrund ihres Unbehagens gegenüber Branntkalk erwies sie sich als zickig, sodass er gezwungen war, das Kälken selbst vorzunehmen. Derzeit war sie froh, dass es einige Säcke an Vorrat gab. Die Wertgegenstände legte sie in einen leeren Sarg. Das Bargeld steckte sie ein. Sollte sie zur Polizei gehen, die Sachen abgeben und doch die Störung der Totenruhe anzeigen? Sie kramte das Geld wieder hervor, legte es zu den Wertsachen, verteilte den kompletten Branntkalkbestand auf den leblosen Körpern und schloss die Scheune hinter sich ab. Sie setzte einen Schlussstrich unter die Sache mit den Leichen, ein für alle Mal. Den Schlüssel ließ sie im Brennnesselfeld oberhalb der Weiden verschwinden.
Ein überdimensionierter Hut verdeckte Jasmins Gesicht. Der für diese Jahreszeit außergewöhnlich warme, sonnige Tag verschmolz mit der Schönheit einer Frau in den besten Jahren, die ihren Mann auf dem letzten Weg begleitete. Cannes, bloße Erinnerungen. Lebensfreude, verblasst auf ewig. Glück, ein verlorenes Spiel.
«Sind Sie zufrieden mit der Aufmachung des Kondolenzbuches?» Dennis’ Frage direkt nach der Beisetzung sorgte für tadelnde Blicke der Trauergesellschaft.
«Ich denke, das ist Ihrer Mitarbeiterin geschuldet. Sprechen Sie ihr meinen Dank aus.»
«Machen Sie sich keine Gedanken. Ich werde ihr das Lob zukommen lassen. Sind Sie immer noch erbost wegen neulich?»
«Ihr Verhalten war inakzeptabel.»
«Das ist mir durchaus bewusst. Ich hatte mich dafür entschuldigt.»
Jasmin würdigte Sardowski keines Blickes.
«Wir könnten das Treffen vergessen», meinte er.
«Das wäre wohl das Beste.» Sie rückte ihren Hut zurecht. Ihr Gesicht war nun zumindest in Teilen zu erkennen. Kaum etwas zeugte von Eleganz. Verheulte Augen, verwischte Schminke. Selbst im jetzigen Zustand sah sie besser aus als manch andere mit fröhlichem Gesicht. «Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?»
Dennis gab ihr sein Ehrenwort, kein besonderes Ansinnen zu haben. Ihm täten die ganzen Umstände unglaublich leid. Er würde sich fragen, ob sie denn ausreichend abgesichert wäre. Wie ein Todesfall die Hinterbliebenen ruinierten, hätte er oft genug schon miterleben müssen. Darum machte er sich Sorgen. Er könnte ihr den einen oder anderen Tipp geben bezüglich allzu hoher Erbschaftssteuern, uneindeutige Testamente et cetera. Je nach Problemfall würde er die richtigen Kontakte kennen. Jasmin schien ungläubig, dass Dennis seine Kunden bis weit über den Tod hinaus betreute. Er versicherte ihr, dass ein derartiger Service zu seinem Standardprogramm gehörte. Der Bestatterberuf beinhaltete eine gewisse Verantwortung, auch der Gesellschaft gegenüber. Er verabschiedete sich mit einem Handkuss, einer Verbeugung und einer erneuten Beileidsbekundung. «Sie wissen, wo Sie mich finden, wenn Sie Hilfe – jeglicher Art – brauchen. Ich werde für Sie da sein. Versprochen.»
Am Donnerstag nach der Beerdigung fuhr Jasmin zum Bestattungsunternehmen. Ulrike bot ihr einen Platz im Gesprächszimmer an. «Herr Sardowski wird in ein paar Minuten zurückkommen. Er hat mir gesagt, dass Ihnen meine Trauerkarten gefallen haben. Das freut mich. Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen?»
«Nein, danke. Ich vertrage zurzeit keinen ... Oh, da sind Sie ja schon.»