Der Befreier - Alex Kershaw - E-Book

Der Befreier E-Book

Alex Kershaw

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

500 Tage Krieg im fernen Europa Felix Sparks (1917–2007) stammte aus einer Bergarbeiterfamilie in Arizona und ließ sich nach der High School von der Armee anwerben, weil er in der Großen Depression keine Arbeit fand. Dann ging er ans College, um Jura zu studieren, und wurde erneut einberufen, als die USA in den Krieg eintraten. Er nahm teil an der Invasion Siziliens 1943, war der einzige Überlebende seiner Einheit bei der Schlacht von Anzio, überlebte die deutsche Ardennenoffensive, den Häuserkampf in Aschaffenburg, wo der »Volkssturm« die Amerikaner aufzuhalten versuchte, und kommandierte die Einheit, die Dachau befreite. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 572

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Während der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau am 29.April 1945: Lieutenant Colonel Felix Sparks schießt mit der Pistole in die Luft, um seine Leute daran zu hindern, gefangen genommene SS-Soldaten zu erschießen.

(Mit freundlicher Genehmigung von David Israel)

Alex Kershaw

DER BEFREIER

Die Geschichte eines amerikanischen Soldatenim Zweiten Weltkrieg

Mit 83 s/w-Abbildungen und 13 Karten

Aus dem Englischen von Birgit Brandau

Deutscher Taschenbuch Verlag

Im Gedenken an Jack Hallowell

Verwundeter amerikanischer Soldat 1944 in Europa (National Archives)

Prolog

Die Gräber

Sie lagen unter Kreuzen aus weißem Stein, die sich wie mit dem Lineal ausgerichtet durch saftiges Gras zogen. Er wusste, wo sie begraben waren. Er kannte ihre Namen.1 Alle Gräber aufzusuchen, bedeutete, kreuz und quer über den Friedhof zu laufen, durch die Reihen Tausender Kreuze. Doch die Anstrengung nahm er auf sich. Seit Jahren hatte er Herzprobleme, aber immer noch die Kraft und den Willen, seine Männer zu suchen. Sie waren hier in der Nähe, in Anzio, gestorben, auf dem blutigsten Stück Erde, das amerikanische und britische Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg erobert hatten.2 Insgesamt waren 72000 Mann als Opfer zu beklagen – getötet, verwundet, verrückt geworden, zerfetzt, vermisst oder in Gefangenschaft geraten.3 Inzwischen nur noch eine Statistik in einem Geschichtsbuch.

Die Männer, über die er das Kommando gehabt hatte, hatten Großes geleistet, sie verdienten eine dauerhafte Erinnerung. Sie hatten die Barbarei besiegt. Er war Zeuge gewesen. Er war dabei gewesen, angeschlagen und oft der Verzweiflung nahe, aber aus irgendeinem Grund mit der Kraft gesegnet – oder besser dazu verdammt –, weiterzukämpfen, Hitlers Leute niederzuringen. Er hatte sich oft gefragt, was seine Männer dazu brachte, durchzuhalten. Die amerikanische Armee hatte in Europa ständig angegriffen. Er hatte immer wieder gedacht: Warum tun sie das? Es war kaum zu verstehen, warum sie nie zögerten.4 Viele Male hatte er gesagt: »Los!« Und jedes Mal waren sie losgezogen.5 Nun war er wieder in Europa und staunte erneut über den, wie er es nannte, amerikanischen Geist, der sie vorrücken ließ, obwohl der Tod oder schwere Verwundungen auf sie warteten. Dieser Kampfgeist hatte den Ausschlag gegeben, auch wenn es keine militärische Überlegenheit gab.6 Die Soldaten unter seinem Kommando hatten sich großartig geschlagen.7 Er wollte einigen von ihnen, die gefallen waren, die letzte Ehre erweisen. Deshalb war er noch einmal hierhergekommen. Damals im Krieg war keine Zeit gewesen, zu trauern, keine Zeit, Gefühle zu äußern, Zuneigung zu zeigen. Er konnte nur sein Möglichstes tun, um dafür zu sorgen, dass sie am Leben blieben. Und in diesem Punkt hatte er versagt, immer und immer wieder.

Niemals aufgeben. Das war das Wichtigste. Er hatte nie aufgegeben, kein einziges Mal in seinem ganzen Leben. Seit er sich erinnern konnte, hatte er gekämpft – um zu essen, um zu überleben, um all das durchzustehen, was ihm ein rachsüchtiger Gott auferlegte. Irgendwie war er am Leben geblieben, vielleicht durch Mut und Wut, oder weil Gott die Guten zuerst holte und die Bösen bis zum Schluss übrig ließ. Gott oder die Menschen hatte er nicht gefürchtet. Angst hatte ihn nie aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber was mit seinen Leuten geschehen würde, darüber hatte er sich große Sorgen gemacht. Er konnte immer schnell denken und handeln. In der Schlacht hatte er sogar außerordentlich gut funktioniert, war in den meisten Fällen ruhig und konzentriert geblieben. Sein Urgroßvater hatte in der Schlacht von Alamo gekämpft.8 Etwas von einem irischen Kämpfer lag ihm wohl auch im Blut – und eine Menge Zorn.

Die Gräber seiner Männer waren in ganz Europa zu finden. Sie waren auf Sizilien gestorben, in Frankreich, im finsteren Herzen von Nazideutschland. Unter seinem Kommando waren mehrere Hundert Männer gefallen, die Hälfte davon war in Europa beerdigt. Nahe einer Brücke über die Mosel suchte er die letzten Ruhestätten von Sergeant Vanderpool und Lieutenant Railsback auf. Railsback hatte mit seinem unbeschwerten Lächeln und seinem ordentlichen Haarschnitt ausgesehen wie ein Highschool-Schulsprecher. Er war ein großartiger Offizier gewesen. Und Vanderpool hätte überhaupt nicht sterben dürfen. Er wollte unbedingt bei seinem Bruder an der Front bleiben. Das hätte Sparks ignorieren und ihn aus dem Schussfeld nehmen müssen. Aber er hatte zu lange gezögert.

An der deutschen Grenze, in der Nähe eines kleinen Dorfes, stieg er über den Hügelkamm, wo er das einzige Mal besiegt worden war, wo ihn die SS in Schnee und Eis gedemütigt hatte.9 Die Schützenlöcher gab es noch, ebenso die leeren Patronenhülsen.10 Über den Verlust seiner Leute war er nie hinweggekommen.11 Wie konnte irgendjemand auch den Verlust so vieler Männer überwinden? Dreißig Zugführer und 600 Soldaten, die nie gezögert hatten, seine Befehle zu befolgen.12

Dann ging es weiter durch die dunklen Wälder zur deutschen Grenze und zum Westwall mit seinen berühmten Drachenzähnen, die nun zu Betonplacken und rostigem Eisen zerfielen. Über den Rhein kam er in eine Stadt am Main, wo ihm der Bürgermeister und die Einwohner die Ehre erwiesen. Weiter südlich Richtung Alpen lag eine hübsche deutsche Stadt, wo er die guten Bürger dezidiert daran erinnerte, dass die deutsche Regierung den Bau eines Zentrums für Holocaust-Studien genehmigt hatte. Warum war es noch nicht gebaut worden?13 Auch wenn sie gern vergessen würden, künftige Generationen sollten das nicht.

Er hatte den Tag nie vergessen können. Er sah immer noch das Mädchen vor sich, das mit offenen Augen oben auf dem Berg von Leichen lag.

Warum hatte er sie nicht rechtzeitig retten können?

Hier, am Rande dieser Stadt in Bayern, an diesem Ort des Bösen, hatte er die Kontrolle verloren. Vielleicht eine halbe Stunde lang. Er hatte nicht verhindern können, dass seine Männer durchdrehten. Der Horror hatte ihnen den Verstand geraubt. Er hatte nie gewollt, dass Menschen ohne Grund getötet wurden, egal, welcher Hautfarbe oder Nationalität sie waren oder welche schrecklichen Taten sie begangen hatten. Er hatte seinen Männern nie gestattet, ohne triftigen Grund zu töten. Er hatte versucht, Gefangene zu machen und sie mit Respekt zu behandeln. Doch am Ende, als er sich umdrehte, hatten seine Männer neben den Leichenbergen ohne triftigen Grund getötet.

Die Ereignisse jenes Tages, eines von über 500 Tagen an der Front, setzten ihm zu wie eine alte Wunde.14 Die Gerüchte, die veröffentlichten Lügen, nagten immer noch an ihm.15 Nur einmal, nur in diesem Moment, zwischen Tausenden von ausgemergelten, stinkenden Leichen, hatte er seine Männer nicht im Griff gehabt. Sie hatten kurzzeitig verrücktgespielt. Doch dann hatte er das Richtige getan. Er hatte dem Wahnsinn Einhalt geboten. Das Wissen, dass viele etwas anderes dachten, schmerzte.

Die Zeit hatte nichts geheilt. Sie hatte die Erinnerungen nicht ausgelöscht. In jenem Herbst 1989 wanderte der 72-jährige General Felix Sparks durch Städte, die er befreit hatte, über Schlachtfelder und Friedhöfe. Die weißen Kreuze blieben stumm. Die Männer, die für ihn gestorben waren, wurden nicht wieder lebendig. Nichts konnte sie zurückholen. Eines war für ihn gewiss. Es zählte nicht, dass er ein guter Soldat gewesen war. Der Preis war zu hoch gewesen.16

Erster TeilIm Staub der Prärie

IDer Westen

Corporal Felix Sparks, Artillerie der Küstenwache, US-Armee, Camp Kamehameha, 1936

(Mit freundlicher Genehmigung der Familie Sparks)

Miami, Arizona, 1931

Felix Sparks wachte früh auf. Draußen wurde es hell. Er zog die Jacke an, griff sich seine Schrotflinte und machte sich auf den Weg in die staubigen Canyons. An Bergarbeiterhütten und den Abraumhalden der nahe gelegenen Mine vorbei ging er zu den roten Felsen der Canyons und prüfte mit kurzen Blicken seine Fallen.1 Im Wald und in den Bergen um seinen Heimatort gab es viel Beute und viele Gefahren: bissige Krustenechsen, faustgroße Taranteln und mehrere höchst giftige Skorpionarten. Es war wichtig, die Schritte sorgfältig zu setzen, Stachelschweinen unter den Gelb-Kiefern auszuweichen und ständig vor gereizten Diamant-Klapperschlangen oder dem raschen Gleiten der beige und hellbraun gefleckten Seitenwinder-Klapperschlange auf der Hut zu sein.

Jeden Morgen prüfte er die Fallen und versuchte zu jagen, in der Hoffnung, nach nur einem Schuss eine Wachtel, ein Baumwollschwanzkaninchen oder eine Sonora-Taube einsacken zu können. Er konnte es sich nicht leisten, auch nur eine Patrone zu vergeuden. Wenn die Sonne dann die ruhige, kühle Luft am Boden der Canyons erhitzte, kehrte er zu dem kleinen Holzhaus zurück, in dem er, sein jüngerer Bruder und seine drei Schwestern mit den Eltern lebten. Seine Mutter Martha hatte englische Wurzeln und war in Mississippi aufgewachsen, der Vater Felix hatte irische und deutsche Vorfahren. Die Familie schätzte sich glücklich, fließend Wasser zu haben. Sie war ein Jahrzehnt zuvor auf Arbeitssuche nach Arizona gekommen. Aber jetzt gab es keine Arbeit mehr. Jedes Tier, das der älteste Sohn mit nach Hause brachte, wurde dringend benötigt, um die Familie zu ernähren.

Die Wirtschaftskrise, die dem Zusammenbruch an der Wall Street im Oktober 1929 folgte, war wie ein Tsunami über Nordamerika gefegt. Über 9000 Banken waren pleitegegangen, und die Zahl der Arbeitslosen hatte sich fast verzehnfacht von rund 1,5 Millionen auf 13 Millionen. Rund ein Viertel der Erwerbstätigen waren betroffen. Es gab keine Konjunkturprogramme, und es wurde nichts getan, um der Katastrophe Einhalt zu bieten, die sich wie einer der Sandstürme, die ganze Städte in Oklahoma begraben konnten, auf das Land legte.

Im Jahre 1931 wurden die Kupferminen in Miami/Arizona geschlossen, und eine schreckliche Stille fiel auf die Stadt. Das Rattern der Maschinen weit unten im Berg, das ferne Dröhnen ihres Mahlens und Förderns war verstummt. Über Weihnachten war der 14-jährige Felix Sparks mit seinem Vater und dem Bruder Earl tief in die Berge gegangen. Sie hatten Fallen gelegt, geschlagene zwei Wochen gejagt, Felle abgezogen und getrocknet und auch Flussbarsche geangelt. Aber das reichte nicht.2

Als Sparks gerade 16 war, schickten ihn die Eltern zu seinem Onkel Laurence nach Glendale, Arizona. Es waren einfach zu viele Münder zu stopfen. Es tat ihm weh, die Trauer und das Schuldbewusstsein in den Augen seines Vaters sehen zu müssen, als sie sich verabschiedeten. In Glendale musste er sich seinen Lebensunterhalt mit Hausarbeit, dem Melken von Kühen und der samstäglichen Mithilfe im Laden seines Onkels verdienen.

Als er ein Jahr später, 1934, nach Miami zurückkehrte, war ein staatliches Programm angelaufen, um die Menschen mit den nötigsten Lebensmitteln zu versorgen. Es war Teil von Präsident Roosevelts New Deal und sorgte dafür, dass die Familien in Miami, wenn schon keine Arbeit, so doch wenigstens etwas zu essen hatten. Einmal pro Woche ging Sparks zum Bahndepot in der Stadt, wo er kostenlos Gemüse und Grundnahrungsmittel wie Mehl, Bohnen und Fett sowie Pökelfleisch entsprechend der Zahl der Familienmitglieder bekam. Nichts wurde verschwendet. Die Mutter Martha war eine einfallsreiche Frau, setzte ihnen Pökelfleischsauce und Brötchen zum Frühstück vor, ernährte ihre fünf Kinder, so gut sie konnte, nähte für sie auf einer alten Nähmaschine und schnitt ihnen selbst die Haare.3

Felix ging wieder an die Highschool und war regelmäßig in der Stadtbücherei von Miami zu finden. Seine Leidenschaft war die Militärgeschichte: die Indianerkriege, Geschichten über die mächtigen Cherokee, Custers letzte Schlacht und die Heldentaten von Alamo, wo sein Urgroßvater Stephen Franklin Sparks mitgekämpft hatte.4 Felix hoffte, eines Tages aufs College gehen zu können und Rechtsanwalt zu werden.5 Aber das Militär zog ihn auch an. Deshalb bewarb er sich für das Citizens’ Military Training Camp und wurde als einer von nur 50 jungen Männern aus seinem gesamten Bundesstaat in das Programm aufgenommen. Alle, die es abschlossen, wurden zu Second Lieutenants der US-Infanterie ernannt. Das Training fand jeden Sommer in Fort Huachuca, Arizona, statt, einem 240Kilometer von Miami entfernten alten Kavalleriestandort. Felix trampte zum Lager und sparte seine Reisekosten, bis er genug Geld beisammenhatte, um sich ein Paar neue Cordhosen aus dem J.-C.-Penney-Katalog zu bestellen.

Die langen Märsche und der Drill bei Temperaturen von über 40° C brachten auch ganz Abgehärtete an ihre Grenzen, und viele junge Leute kehrten nach einem Sommer nicht mehr zurück. Sparks machte es jedoch Spaß, mit echten Waffen in der Wüste und in den nahe gelegenen Canyons Krieg zu spielen. Mit 18 war er ausgewachsen, wog rund 63 Kilo, war schlank und groß, drahtig wie ein Mesquitebaum. Er hatte ein offenes Lächeln, dickes schwarzes Haar und ein klares, hübsches Gesicht.

In seinem letzten Highschool-Semester gewann er einen landesweiten Essay-Wettbewerb und erhielt dafür eine Taschenuhr im Wert von 100 Dollar. Im Juni 1935 schloss er die Highschool als bester Schüler seines Jahrgangs ab. Er wusste, er konnte es weit bringen. Eines war sicher: Er würde nie Minenarbeiter werden wie sein Vater. Er würde sein Geld mit dem Kopf verdienen, nicht mit den Händen. Doch er hatte nicht einmal genug Geld, um einen Anzug für den Abschlussball zu kaufen. Und er sah keinen Ausweg, um der Armut zu entfliehen, die so große Teile Amerikas im Würgegriff hatte. Es war kein Cent übrig, damit er aufs College gehen konnte, kein Darlehen war zu bekommen, keine Arbeit in Miami zu haben. Er musste die Heimat verlassen, um irgendeinen Job zu finden.

Im Spätsommer borgte sich sein Vater 18 Dollar von einem Freund und gab den Betrag seinem ältesten Sohn. Das war die Aussteuer für ein neues Leben irgendwo anders. Seine Mutter nähte ihm eine Geheimtasche in die Hose für das geborgte Geld, das reichen musste, bis er eine Möglichkeit gefunden hatte, Geld zu verdienen. Er hatte keinen genauen Plan, außer, sich Richtung Osten aufzumachen und vielleicht eine Koje auf einem der Schiffe zu bekommen, die Corpus Christi an der Golfküste verließen. Zumindest würde er wohl etwas von jener Welt sehen, über die er gelesen hatte.

Eines Morgens packte er Kleidung zum Wechseln und eine Zahnbürste zusammen, steckte einen kleinen Metallschläger, den er für einen Dollar gekauft hatte, in seine Tasche, nahm tränenreich Abschied von seiner Familie und ließ sich von einem Freund nach Tucson fahren und in der Nähe von Bahngleisen absetzen. Dort lungerten bereits weitere Wanderarbeiter herum, Hobos genannt, und warteten darauf, aufzuspringen. Einer zeigte ihm einen Zug, der ostwärts fahren würde, südlich der Gila Mountains durch die Chiricahua-Wüste Richtung El Paso, Texas. Der Hobo schärfte Sparks ein, unbedingt wieder vom Zug zu springen, ehe er das Bahngelände von El Paso erreichte. Sonst könne er von Wachmännern der Bahn – »Bullen« genannt –, die mit Schlagstöcken und Winchester-Gewehren ausgerüstet waren, zusammengeschlagen oder angeschossen werden.6

Sparks hievte sich in einen Güterwagen. Dampf und beißender Geruch nach heißem Öl schlugen ihm entgegen. Unvermittelt erkannte er dunkle Figuren in den Ecken, Bewegungen im Schatten, andere Männer. Ihm war klar, dass es besser war, für sich zu bleiben. Den Metallschläger hatte er für den Fall gekauft, dass er sich wehren musste. Statt den Rückzug anzutreten, ging er in eine leere Ecke und legte sich nieder.

Der Zug erwachte mit einem Ruck zum Leben und setzte sich zitternd in Bewegung. Langsam wurde aus dem Rütteln ein nahezu beruhigendes, rhythmisches Klick-Klack der Eisenräder auf den Schienen. Dann kam der Adrenalinstoß. Zum ersten Mal spürte Sparks die Heiterkeit und das intensive Freiheitsgefühl, die mit all den Gefahren des Reisens als blinder Passagier einhergingen. Er fühlte sich wie auf einem eisernen Pferd, das sich auf dem Weg nach Osten, zum Meer, durch Canyons und Wüste bewegte.

Wenn der Zug Geschwindigkeit aufnahm und sich wie ein durchgegangenes Fohlen gerierte, war es besser, aufzustehen und sich festzuklammern. Wenn die Waggons langsamer wurden, konnte man sich entspannen, mit dem Bündel als Kopfkissen auf dem Rücken liegen und durch die offenen Türen die Wüste vorbeiziehen sehen: die Mesquitebäume, die Sarcobatus-Büsche und die Kakteen, die am Horizont standen.

Er wollte wach bleiben, damit er nicht von den anderen Hobos bestohlen wurde, aber die Synkopen der Räder auf den Schienen und die ruckelnden Zugbewegungen versetzten ihn schließlich in einen tiefen Schlummer.

»Junge, es ist Zeit, abzuspringen!«

Der Zug näherte sich San Antonio, Texas, der Stadt, in der Sparks am 2.August 1917 geboren worden war. Das Bahngelände, auf dem Polizisten patrouillierten, lag vor ihnen.

»Wir müssen hier runter, Kumpel«, sagte der Hobo. »Wenn sie dich erwischen, legen sie dich in Ketten oder zwingen dich, in die Armee zu gehen.«7

Als der Zug langsamer wurde, sprang Sparks ab. Er trampte in die Innenstadt von San Antonio und übernachtete in einem Obdachlosenheim. Am nächsten Morgen lief er zum anderen Stadtrand und sprang auf einen neuen Zug, der Corpus Christi zum Ziel hatte. Über mehrere Tage hinweg beobachtete Sparks, was die anderen »Fahrgäste« taten, und machte es ihnen nach: Er lernte, wie wichtig es war, Wasser bei sich zu haben und auf geschlossene Güterwagen zu springen, wo man vor Sonne, Sandstürmen und Regen geschützt war. Er passte sich schnell den Regeln der »Dschungel« – der Lager entlang der Gleise – an, genau wie eine Viertelmillion anderer Jungen im Teenageralter auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, von denen Tausende bei Unfällen oder Zusammenstößen mit den Wachmannschaften oder gewalttätigen älteren Männern starben.

In Corpus Christi angekommen, suchte Sparks vergeblich nach Arbeit. Hunderte Familienväter standen Schlange für nur ein paar Angebote. Es war aussichtslos. Als er hörte, dass es draußen im Westen besser sei, sprang er auf einen anderen Güterzug und fuhr durch die Mojave-Wüste nach Los Angeles. Den Pazifik erblickte er erstmals von einem ratternden Güterwagen aus. Aber auch hier standen wieder zahllose Männer für jede einzelne Stelle an. Da er nicht wusste, wohin er sonst gehen sollte, lungerte er ein paar Wochen herum, übernachtete in Parks, erlernte die rauen Sitten der Stadtstreicher und lebte von nur 25 Cent am Tag: Pfannkuchen für 10 Cent am Morgen, mittags einen Schokoriegel und zum Abendessen einen Hamburger.

Er beschloss, sein Glück weiter nördlich zu versuchen, sprang wieder auf und beobachtete bald, wie die Gipfel der Sierra Nevada langsam im Osten verschwanden. In San Francisco ging er wiederum in eine Arbeitsvermittlungshalle, diesmal an einem Kai. Es gab Arbeit, aber um eine Stelle zu bekommen, hätte er 15 Dollar bezahlen und in eine Gewerkschaft eintreten müssen. Er besaß nur noch zwei Dollar. Er übernachtete weiter im Freien. Dann war sein Geld aufgebraucht.

Als er eines Morgens hungrig und ohne einen Cent in der Tasche durch die Market Street ging, begegnete er einem Mann in Uniform.

»He, Kumpel«, sagte der Mann, »willst du nicht in die Armee eintreten?«

Sparks ging weiter.

Was zum Teufel kann ich sonst tun?

Er drehte sich um.

»Ja, will ich.«8

»Nimmst du mich auf den Arm, Kumpel?«

»Nein, ich nehme dich nicht auf den Arm – ich will in die Armee.«9

Der Anwerber gab ihm einen Gutschein und zeigte auf eine Straßenbahn.

»Nimm diese Bahn. Um zwei Uhr kommt ein kleines Schiff von Angel Island herüber.«

Schon bald befand sich Sparks auf dem Weg quer durch die Bucht nach Angel Island. An einem klaren Tag hätte er vom Schiff aus das berüchtigte Gefängnis Alcatraz sehen können, auf einem schroffen Felsen erbaut, der wie ein ausgemustertes Kriegsschiff aus den Rippströmungen ragte. Hier saßen Mörder der Prohibitionszeit wie Al Capone oder »Machine Gun« Kelly im Hochsicherheitstrakt ein.

Sparks wurde im Armeestandort auf Angel Island vereidigt und konnte unter verschiedenen Dienstorten wählen. So kam es, dass er sich an einem Herbsttag des Jahres 1936 auf einem Truppentransporter befand, der unter den Drähten und Eisenträgern der halb fertigen Golden Gate Bridge hindurchfuhr. Sparks machte sich auf die Suche nach seinem Schlafplatz in dem stinkenden Frachtraum inmitten Hunderter anderer in dreistöckigen Etagenbetten. Es war unerträglich. Er trug seine Matratze an Deck. Die Fahrt nach Honolulu dauerte eine Woche. Auf dem Weg ins Land des ewigen Sonnenscheins und der Drinks in Kokosnussschalen schlief Sparks jede Nacht unter dem Sternenhimmel und verzehrte drei ordentliche Mahlzeiten am Tag.

Camp Kamehameha, Hawaii, 1936

Die Kasernengebäude waren luftig und geräumig, unter den hohen Holzdecken drehten sich langsam Ventilatoren. Die Palmen, die dem Stützpunkt an der Mündung eines Kanals nach Pearl Harbor Schatten spendeten, waren höher als die in Arizona, der Wind war warm, und die Luft war schwül. Sparks’ Tag begann morgens um sechs mit einem schrillen Hornsignal, gefolgt von Übungen mit riesigen Sechzehn-Zoll-Geschützen.

Das Militärleben gefiel ihm. Die Routine und Disziplin, die Bürokratie mit ihrem Gehetze und ihrer Warterei, die langweiligen Aufträge, das endlose Rasenmähen, der ständige Drill auf dem von Zuckerrohrfeldern umgebenen Exerzierplatz störten ihn nicht. Er hatte es warm und bekam gut zu essen. Hier lauerten keine Hobos, um ihn im Güterwagen oder im Dschungel neben den Gleisen zu bestehlen. Seine Kaserne hatte eine Bücherei, einen Billardtisch und ein Klavier. Am Wochenende und ab halb fünf nachmittags hatte er frei, was ihm viel Zeit ließ, das 13Kilometer entfernte Honolulu zu erkunden.

Eines Tages kaufte er einem Soldaten für zwei Dollar eine Kamera ab und begann, den Stützpunkt und die Soldaten zu fotografieren. Er stellte fest, dass er seine Bilder nur in einem teuren Fotogeschäft in Honolulu entwickeln lassen konnte. Einige Männer sparten sich das Geld und die Zeit, indem sie ihre Negative in den Kasernentoiletten entwickelten, aber die Abzüge waren unscharf und blass. Rasch erkannte er seine Chance. Er kaufte sich in Honolulu ein Buch über Fotografie und bat dann den Chef seiner Kompanie, ihm einen Termin beim Post Exchange Council zu machen, das ein großes Warenhaus auf dem Stützpunkt betrieb. Dort behauptete er, er sei ein erfahrener Fotograf, und schlug vor, einen Laden einzurichten, in den die Soldaten ihre Filme zum Entwickeln bringen könnten. Zu seiner Freude lieh ihm das Council das Geld für die Ausrüstung eines Fotoladens. Eine Woche später stand das Geschäft, er entwickelte Rollfilm um Rollfilm per Hand und beugte sich über die Entwicklerschalen in einer mit Rotlicht beleuchteten Dunkelkammer. Schon bald musste er sich einen Kameraden als Gehilfen suchen. Nach einem Monat »schwamm« er »in Geld«, wie er sich später erinnerte. Er verdiente mehr als der Bataillonskommandeur und zahlte das gesamte Geld auf ein Postsparkonto, das ihm zwei Prozent Zinsen einbrachte.10

Er eignete sich die Fähigkeit an, hochklassige Porträts aufzunehmen, und begann, Offiziere, ihre Familien und die verschiedenen Touristenattraktionen abzulichten. In den Zeitungen suchte er nach Informationen über den Aufenthalt von Hollywoodstars im rosafarben gestrichenen Royal Hawaiian Hotel in Honolulu, um sie zu fotografieren, wenn sie sich unter den Sonnenschirmen räkelten. Musicalstar Alice Faye, eine 22-jährige Blondine, war eine von mehreren Schauspielerinnen, die sich fotografieren ließen – ungeachtet der Proteste ihres Freundes. Im Stützpunkt verkaufte Sparks diese Bilder als Pin-ups. Bis zum Ende seiner Dienstzeit hatte er 3000 Dollar angespart, mehr als genug, um aufs College zu gehen.

Sparks kehrte zurück, wie er gekommen war: per Schiff, das nun unter der fertiggestellten Golden Gate Bridge, der längsten Hängebrücke der Welt, hindurchfuhr, die sich 1280Meter weit über den Pazifik spannte. In San Francisco gönnte er sich seinen ersten Anzug, maßgeschneidert, zum Preis von 15 Dollar. Dann fuhr er ins nahe gelegene Palo Alto, wo er den Campus der Stanford University besichtigte. Die Einrichtungen beeindruckten ihn, aber die Studiengebühren waren selbst bei seinen Ersparnissen zu hoch. Also fuhr er mit dem Bus zurück nach Arizona und sah endlich seine Familie wieder. Kurz danach schrieb er sich an der staatlichen Universität in Tucson ein. Hier betrugen die Studiengebühren pro Semester nur 25 Dollar.

Er studierte fleißig und war bei den anderen Erstsemestern beliebt, die fast alle zwei Jahre jünger waren. Zwei der Studenten kamen aus seiner Heimatstadt Miami: die Geschwister Mary und John Blair. Die 18-jährige Mary, ein unbeschwertes und lernbegieriges Mädchen, studierte im Hauptfach Betriebswirtschaft. Sie war schlank, hatte eine hübsche Figur, rotblonde Haare und liebte es, zu Swing-Musik zu tanzen. Sparks war Mary vier Jahre zuvor in der Miami Highschool zum ersten Mal unter die Augen gekommen. Da war sie nicht sonderlich beeindruckt gewesen. Er war in eine Schlägerei verwickelt, die der Direktor beenden musste. Jetzt war Sparks größer und stattlicher geworden, ein gut aussehender Mann mit zurückgekämmtem dichtem schwarzen Haar und einem Ziel vor Augen, viel reifer als die Altersgenossen. Genau wie Mary wollte er es zu etwas bringen.11 Sie gingen miteinander aus und verliebten sich bald. Auf einem Foto, das Mary immer in Ehren hielt, posierten sie als berühmtes Liebespaar – sie kauerte als Julia auf einem Felsen, während er ihr vor der Kulisse der Wüste von Arizona als Romeo seine Liebe erklärte.

Nach dem ersten Studienjahr kehrte Sparks in das Sommer-Trainingslager für Offiziersanwärter zurück, das er während der Highschool-Zeit besucht hatte. Dank seiner Ausbildung in Hawaii wurde er rasch als herausragender Kadett eingestuft und bekam eine der begehrten Pershing-Auszeichnungen, was eine kostenlose Fahrt nach Washington, D.C., bedeutete. Anfang 1940 besuchte er mit acht anderen den Kongress und wurde George C. Marshall vorgestellt, dem Generalstabschef des Heeres, der einen Orden an das besagte, von Sparks in San Francisco erworbene Anzugsjackett heftete.

Im Juli 1940 hatten die Nazis den größten Teil Europas unter ihrer Knute: Frankreich, Belgien, Holland, Polen, Norwegen und Dänemark. Die Briten hielten stand, aber auch nur dank des Ärmelkanals und der Tapferkeit der Kampfpiloten der Royal Air Force. Amerika begann ernsthaft mit der Wiederaufrüstung und dem Ausbau seiner Streitkräfte. Als Sparks im September zurück ans College kam, traf ein Brief der US-Armee ein. Darin wurde ihm mitgeteilt, dass er wieder einberufen würde. Er könne das Herbstsemester beenden, aber dann müsse er für ein ganzes Jahr in den aktiven Dienst zurückkehren. Erst danach könne er sein Studium wieder aufnehmen. Statt die Bühne mit dem Bachelor in der Tasche zu verlassen, den Traum, Anwalt zu werden, in Reichweite, fand er sich dort wieder, wo er vor dem College gewesen war – in Uniform.

Er meldete sich im Januar 1941 in Fort Sill in Oklahoma, wo er als Second Lieutenant des 157. Infanterieregiments der 45. Infanteriedivision dienen sollte, einer Nationalgarde-Einheit, die mobilisiert worden war. Wie er erfuhr, lautete das Motto des Regiments »Freudig zum Einsatz«. Er war bereit, seine Pflicht zu tun, aber von freudig konnte nicht die Rede sein.

In Fort Sill war Geronimo, der letzte große Apachenführer, 1909 gestorben. Man verstand sofort, warum der letzte der Großen Tapferen in diesen gottverlassenen Winkel der staubigen Prärie verbannt worden war. Zwischen den Bahnen des Mannschaftszelts waren kilometerweit nichts als dürres Gras, staubige Büsche und hässliches Gestrüpp zu sehen. Dies war Welten entfernt von Sparks’ letzter Basis auf Hawaii.12 Vor den örtlichen Kneipen verkündeten Schilder »Keine Mexikaner, keine Indianer« – sehr zum Ärger der Männer dieser Herkunft in der »Thunderbird«-Division, wie die 45. nach dem Ärmelabzeichen genannt wurde, das jeder Soldat trug und das den mythischen Donnervogel zeigte.

Das Ärmelabzeichen zeigte einen Vogel vor dunkelrotem Hintergrund. Es hatte Rautenform, die vier Seiten standen für die vier Bundesstaaten, aus denen die Mannschaften einberufen wurden: New Mexico, Arizona, Colorado und Oklahoma. Ironischerweise war vor dem Krieg das Divisionsabzeichen eine Swastika gewesen, die aber war 1938 abgeschafft worden, weil die Nazis sich dieses Symbol angeeignet hatten. Es hatte viele Vorschläge für ein neues Ärmelabzeichen gegeben, darunter einen rauchenden Colt.45, jenen Revolver, der den Westen erobert hatte. Doch wegen der Wurzeln der Division im Indianerland, hatte man den Donnervogel als Symbol gewählt. Für die 1500 Apachen, Seminolen, Cherokee, Sioux und Choctaw, die der Division während der Ausbildungszeit Schlagzeilen in den Ostküstenzeitungen eingebracht hatten, als sie einen Kriegstanz im Stadtpark von Boston aufführten, war der Donnervogel ein wahrhaft mächtiges Zeichen.13 In ihren Augen handelte es sich um einen Rachegeist, der den Übeltätern Tod und Zerstörung zuteilte. Aber er war auch eine Quelle der Hoffnung und für die Edlen und Verdienstreichen ein Verkünder des Sieges.14

Das 157. Infanterieregiment war kein neu aus Wehrpflichtigen gebildetes Regiment, sondern hatte eine legendäre Vergangenheit. Es hatte in den Indianerkriegen und im Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 gekämpft, war damals in der Nähe von Manila auf den Philippinen angelandet und hatte die erste amerikanische Flagge in der befestigten Stadt gehisst. 1916 war es an der Grenze zwischen Arizona und Mexiko mit Pancho Villas Aufständischen zusammengestoßen, und es hatte in den Gräben des Ersten Weltkriegs gedient. Im September 1940 war das Regiment Teil der 45. Division geworden und zum Dienst in Fort Sill abgestellt worden.15

Sparks hasste Fort Sill, aber schon bald bewunderte er den Regimentskommandeur, einen steifnackigen und extrem strengen Colonel namens Charles M. Ankcorn, der aus Washington, D.C., stammte und am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Jedermann im Stützpunkt schien Ankcorn zu fürchten. Mit Sparks sprach er – abgesehen von scharfen, kurzen Befehlen – kaum. Eines Tages wurde Sparks mitgeteilt, dass er das Training der Mannschaften für Sechzig-Millimeter-Mörser übernehmen sollte. Stumm beobachtete Ankcorn, wie Sparks die Auszubildenden schulte. Er ließ nicht erkennen, ob er fand, dass Sparks gute Arbeit leistete. Doch einige Wochen später verkündete er plötzlich, dass Sparks ab sofort sein Adjutant sei und für Organisation, Verwaltung und Disziplin im Regiment zuständig. Er beförderte ihn zum Captain, zeigte ihm einen Schreibtisch und sagte, er solle loslegen. Offensichtlich war das monatelange Schweigen Ankcorns Methode gewesen, um Sparks zu prüfen und ihm beizubringen, dass er selbstständig denken und entschlossen handeln müsse. In der Hitze des Gefechts gab es herzlich wenig Zeit für Rückversicherungen. Diese Lektion hatte Ankcorn wohl auf den Schlachtfeldern in Flandern rasch gelernt.16

IIIn den Krieg

Felix Sparks mit seiner späteren Frau Mary 1939 in der Wüste bei Tucson, Arizona

(Mit freundlicher Genehmigung vonMary Sparks)

Camp Kamehameha, Hawaii, 7.Dezember 1941

Die »Zeros«, die Kampfflugzeuge der Marine stießen herab, spuckten Geschosse aus, warfen Bomben und setzten dem Frieden ein Ende. Die Rümpfe mit ihren roten Sonnen, schon bald als »Fleischklößchen« berüchtigt, rasten im frühen Morgenlicht dieses Sonntags über Pearl Harbor hinweg. Als die Japaner im Tiefflug bombardierten, erwiesen sich die massigen 16-Zoll-Artillerie-Geschütze, die auch Sparks zwei Jahre lang bedient hatte, als absolut nutzlos. Vier Schlachtschiffe und zwei Zerstörer wurden versenkt und über 2000 Mann getötet. Der Überraschungsangriff auf Hawaii war nicht vom Meer her, sondern aus der Luft erfolgt.

Nur vier Tage später, am 11.Dezember, verkündete Adolf Hitler in einer 88-minütigen Rede vor dem Reichstag theatralisch, dass auch das Dritte Reich gegen die Vereinigten Staaten zu Felde ziehen würde. Das eine Dienstjahr, zu dem Sparks einberufen worden war, wäre wenige Tage später beendet gewesen. Jetzt hatte er keine Chance mehr, das Studium fortzusetzen. Wie andere, die dienten, musste er in der Armee bleiben, bis der Krieg verloren oder gewonnen war. Schon bald erreichten ihn noch schlechtere Nachrichten, diesmal von einem Collegefreund: Mary Blair traf sich mit anderen Männern. Er rief sie sofort an. Die Verbindung war schlecht. Offenbar fand gerade eine Party statt. Er konnte bloß Stimmen junger Männer, Swing-Musik und Gelächter hören. Offenkundig amüsierte sie sich. Er hätte es nicht ertragen, sie zu verlieren.

»Willst du mich heiraten?«1

Was hatte er gesagt? Mary konnte ihn nicht richtig verstehen. Er war verärgert, dass sie nicht sofort Ja sagte, und fragte noch einmal.2

Sie schlossen am 17.Juni 1942, am Ende von Marys drittem Jahr an der Universität, in Anwesenheit ihrer Familien sowie einigen ihrer Collegeprofessoren in Tucson den Bund fürs Leben. Anschließend liehen sie sich zusammen mit einem anderen Paar ein Auto und fuhren Richtung Westen an die Pazifikküste nach San Diego für ein paar Tage Hochzeitsreise. Sie hatten eine Abmachung. Er wusste, wie wichtig es ihr war, das College abzuschließen, und wie hart sie dafür gearbeitet hatte. Also bestand er darauf, dass sie erst alle ihre Prüfungen ablegen und ihm danach, auf welchen Stützpunkt auch immer, folgen sollte.

Im September 1942 hatte Mary das Studium abgeschlossen und kam rechtzeitig in Massachusetts an, um den farbenprächtigen Altweibersommer von New England zu erleben. Goldene und orangefarbene Blätter türmten sich vor weißen Schindeldachhäusern und Kirchen, während Sparks und sein Regiment Landemanöver an den naturbelassenen Stränden von Cape Cod übten. Wie viele andere junge Frauen, die in diesem Herbst zu ihren Männern gezogen waren, wurde Mary schwanger. Bis dahin war es relativ idyllisch, doch im November war Schluss damit, denn die Division wurde nach Pine Camp im Norden des Staates New York verlegt. Dort erlebten sie einen echten New-England-Winter mit 1,20Meter Schnee und Temperaturen von minus 50 Grad Celsius.3 Die Männer hatten keine Winterausrüstung bekommen, und Frostbeulen wurden zum Problem. Manche Thunderbirds machten ihrem Missmut mit Schlägereien in den örtlichen Kneipen Luft, und zwei frustrierte Soldaten überfielen sogar eine Bank, was ihnen jeweils fünf Jahre Gefängnis einbrachte.

Zur großen Erleichterung der örtlichen Wirte und Banken zog die Division im Januar 1943 ins mildere Virginia, um in den Blue Ridge Mountains zu trainieren. Dank des dortigen schwarzgebrannten Alkohols war die Moral alsbald wiederhergestellt. Gerüchte besagten, dass man in Kürze Richtung Europa oder Pazifik auslaufen würde. Die Frage, ob sie die Kämpfe überleben würden, lastete immer stärker auf den Soldaten und ihren Familien. Sparks und den anderen Thunderbirds war klar, dass viele von ihnen nicht mehr zurückkommen würden.4

Anfang Mai 1943 umarmte Sparks Mary zum letzten Mal. Das Kind kündigte sich deutlich sichtbar an. Man hatte ihr gesagt, sie könne nach dem siebten Monat nicht mehr reisen und solle zu ihrer Familie nach Tucson fahren, um das Baby dort zur Welt zu bringen. Sie klammerten sich aneinander und küssten sich zum Abschied in dem Wissen, dass sie sich vielleicht nie wieder sehen würden. Was würde aus Mary und dem Kind, wenn er nicht wiederkäme?5 In einem Brief vom 19.Mai bat er seine Eltern, sich um das Kind zu kümmern, falls Mary bei der Geburt etwas zustieß. »Wenn es je eine Zeit in meinem Leben gab, in der ich zu Hause sein wollte, dann ist das jetzt«, fügte er hinzu. »Aber es ist nicht möglich.«

Eines Tages würde er zurückkommen, das schwor er sich – wenn der Krieg in Europa vorüber war.6

Hampton Roads, Virginia, 3.Juni 1943

Über den Pier zog sich eine lange Schlange von Männern in grünen Uniformen. Vor ihnen ragte die USS »Charles Carroll« in die Höhe, ein 150Meter langes Amphibisches Transportschiff, das mit 22 Flugabwehrgeschützen bestückt war. Während sich die Männer in den Gangways drängelten, wurde rege debattiert. Wohin ging die Reise? Manche meinten, sie würden direkt nach Frankreich gebracht, um eine zweite Front zu eröffnen. Andere waren sich sicher, es würde, obwohl sie sich an der Atlantikküste befanden, durch den Panamakanal in den Pazifik gehen. Einigen von Sparks’ Offizierskameraden war es egal, wohin sie gebracht würden, solange die Achtzig-Kilometer-Märsche zu jeder Tages- und Nachtzeit sowie das endlose Aus- und Einpacken und Überprüfen der Ausrüstung endlich ein Ende hatten.

Für die Brüder Otis (19) und Ervin (29) Vanderpool war es wie für die meisten anderen das erste Mal, dass sie die Vereinigten Staaten verließen. Als sie die Maisfelder von Olathe, Colorado, hinter sich ließen, um sich in Fort Sill dem Regiment anzuschließen, wo Sparks ihr Zugführer wurde, war es sogar das erste Mal, dass sie überhaupt über die Grenzen ihres Bundesstaates hinauskamen. Ervin war der Meinung, es wäre am besten, wenn er gemeinsam mit seinem kleinen Bruder in den Krieg zog. Vielleicht konnte er ihn so irgendwie beschützen. Wie Dutzende anderer Brüderpaare, die Seit an Seit in der 45. Infanteriedivision dienten, wollten sie sich gar nicht vorstellen, dass nur einer alleine zurückkommen würde.

Am 8.Juni 1943 ertönten um 8.00 Uhr die Schiffssirenen, Ankerketten rasselten, und der Konvoi, der das 157. Infanterieregiment verschiffte, verließ langsam die Hampton Roads, um über die Chesapeake Bay aufs Meer hinauszugelangen. An der Reling beobachteten die Männer, wie Amerika am Horizont verschwand. Manche fühlten sich merkwürdig leer, als sie Kurs hinaus auf den Atlantik nahmen.7 Geleitet von mehreren Zerstörern fuhr der Konvoi zickzack nach Südosten, um U-Booten auszuweichen, ehe er einen nördlichen Kurs Richtung Gibraltar einschlug.

Als sie sich Nordafrika näherten, hört Sparks, wie er sich erinnerte, Radiosendungen mit »Axis Sally« aus Berlin. »Ihr Jungs von der 45. Division wisst, dass ihr bereits auf hoher See seid, und ich werde ein Lied für euch spielen«, kündigte Sally eines Tages an. »Es ist ›The Last Roundup‹, und es wird der letzte Auftrieb für viele von euch sein.«8 Axis Sally hieß eigentlich Mildred Gillars. Die Amerikanerin war 1935 nach Deutschland gekommen und unter ihrem Pseudonym beim Großdeutschen Rundfunk in Berlin bis zum Ende des Dritten Reiches als Nazi-Propagandistin tätig. Nach zwei Wochen auf dem Meer gelang es Sparks, Axis Sally auszublenden, und die Songs, die sie spielte, trotzdem zu hören.9

Am 21.Juni 1943 passierte der Konvoi die Straße von Gibraltar. Das Mittelmeer war leuchtend blau und so klar, dass die Männer weit in die Tiefe sehen konnten, wenn sie sich über die Reling lehnten. Delfine spielten im Kielwasser der Schiffe.10 Dann erreichte der Konvoi den überfüllten Hafen Oran im französischen Algerien. Zu ihrer großen Enttäuschung ließ man die Thunderbirds vier weitere Tage in ihrem engen, faulig riechenden Schiff eingepfercht. Der Grund wurde am 25.Juni deutlich, als die gesamte Division im Rahmen einer Landungsübung auf die nahe gelegenen Strände von Bord ging, während die 36. Infanteriedivision die Rolle der Verteidiger übernahm. Die Aktion erwies sich als Fiasko, weil so gut wie keine erfahrenen Bootsführer und Marineoffiziere dabei waren; nur Minuten, ehe die 45. Division die USA verließ, waren diese wegen der chronischen Knappheit von Landungsbootbesatzungen in Europa und im Pazifik anderen Abschnitten zugeteilt worden.

Korpskommandeure und hochrangige Strategen der Alliierten fragten sich, was passieren würde, wenn die unerfahrenen Thunderbirds tatsächlich unter Feindbeschuss an einer fremden Küste anlandeten. Am 27.Juni versammelte George S. Patton, der besorgte Kommandeur der 7. Armee, alle Offiziere der Division zu einer ohne Frage dringend notwendigen aufbauenden Rede. Sparks befand sich in einer Menge von mehreren Hundert Männern, die Patton von einem Hügel aus zuhörten. Sie blickten hinunter auf eine Bühne, die in einem trockenen Flussbett aufgebaut worden war.11

»Meine Herren«, sagte Patton, »in wenigen Tagen werden wir erstmals das europäische Festland erreichen. Die meisten von Ihnen waren noch nie im Gefecht, und Sie haben vielleicht Angst. Doch haben Sie keine Angst! Sie könnten sich eine rote Feder an den Hintern stecken und vor ihrer Nase herumlaufen, und die würden Sie nicht treffen.«12 Wenn sich Italiener und Deutsche ergeben wollten, sollten sie die Kapitulation annehmen. Falls nicht, sollten die Thunderbirds »die Bastarde töten«13, fügte Patton hinzu.

Sparks und die anderen Offiziere kehrten ermutigt, aber auch etwas konsterniert wegen Pattons deftiger Sprache zu ihren Befehlsständen zurück und nahmen das Training in der nordafrikanischen Wüste wieder auf. Ende Juni erfuhren sie, dass die Division in nicht einmal einer Woche beginnen würde, an Bord der Landungsschiffe zu gehen. Bei den Gottesdiensten wurde es bald voller. An diesem 4.Juli gab es kein Feuerwerk zur Feier des Unabhängigkeitstags. Für Sparks und die übrigen 15000 Thunderbirds gab es angesichts des nahen ersten Gefechts herzlich wenig zu feiern.

Am nächsten Tag um 16.00 Uhr verließ sein Regiment an Bord von fünf Schiffen den Hafen Oran. Den Männern wurde ein von der Regierung herausgegebenes Buch ausgehändigt mit dem Titel ›Soldatenführer in Sizilien‹. Erst in diesem Moment erfuhren sie, was ihr eigentliches Ziel war. Der Rest der Division fuhr auf dreißig weiteren Schiffen. Während sie sich entlang der nordafrikanischen Küste nach Osten bewegte, wuchs die Streitmacht. Hunderte weitere Schiffe schlossen sich an. An Bord waren die 8. britische Armee unter dem Kommando von General Bernard Montgomery sowie der Rest von Pattons 7. US-Armee. Als die Armada schließlich komplett war, umfasste sie über 2000 Schiffe, die größte Invasionsflotte der Geschichte.

Der Invasionsplan für Sizilien, der den Codenamen »Operation Husky« trug, sah die Landung entlang 160Kilometern Küste mit anfangs sieben Divisionen vor, die in zwei Kampfverbände aufgeteilt waren. Der eine wurde von Patton geführt, der andere vom ebenso umstrittenen und schillernden Montgomery, dem britischen Nationalhelden dank seines beeindruckenden Siegs über Erwin Rommel bei el-Alamein im November 1942.

Zweiter TeilItalien

Jeder sprach von Weihnachten in Rom.

Paul Cundiff, Stabsangehöriger der 45. Division

IIISizilien

Links: Gefangene italienische Soldaten unter Bewachung auf Sizilien, Juli 1943 (National Archives)

Rechts: George Patton (zeigend), Kommandeur der 7. US-Armee in Gela, Sizilien, am 11.Juli 1943 (National Archives)

Das Mittelmeer, 9.Juli 1943

Der 53-jährige General Dwight D. Eisenhower, der Oberkommandierende der alliierten Streitkräfte im Mittelmeer, stand in der Nähe seines Hauptquartiers auf Malta, rauchte Kette und rieb Glück bringende Münzen aneinander, während er die Flugzeuge zählte, die mit Fallschirmjägern an Bord nach Sizilien unterwegs waren. Das war die wichtigste Mission, die er je geleitet hatte. Er wusste genau, dass die nächsten paar Stunden entscheidend für sein Schicksal und seinen Platz in den Geschichtsbüchern waren. Niemals zuvor war unter Einsatz von so umfangreichen Truppen so etwas Gewaltiges versucht worden. Es war noch nie gelungen, Italien von Süden her zu erobern. Napoleon hatte einst gewitzelt, wenn man das Land besetzen wolle, dann dürfe man nicht bei den Zehen beginnen.

Operation Husky war wahrlich ein ehrgeiziger Plan.1 In Eisenhowers Arbeitszimmer in den Lascaris War Rooms, dem Hauptquartier auf Malta, meinte Air Marshall Sir Arthur Tedder später an diesem Abend: »Hannibal war so vernünftig, mit seinen Elefanten über die Alpen zu kommen.« Selbst wenn die Landungen gelangen, blieben immense Herausforderungen. Konnten die Alliierten in Italien die Oberhand gewinnen und dann ins Herz des Dritten Reichs vorstoßen? Konnten die jungen Nationalgardisten, die auf »die Wege zum Frieden« einberufen worden waren, wie es Präsident Roosevelt formuliert hatte, die bestens bewaffneten, vom Fanatismus befeuerten Heere des Faschismus besiegen?

Um zehn Uhr abends fand Eisenhower die Zeit, ein paar Zeilen an seine Frau zu Hause in den Vereinigten Staaten zu schreiben: »Man tut alles, um nicht durchzudrehen. Herumlaufen, reden, versuchen zu arbeiten, rauchen (ununterbrochen) – alles, um die Minuten verstreichen zu lassen … Wir haben alles getan, die Mannschaften sind fit, jedermann gibt sein Bestes. Die Antwort liegt im Schoß der Götter.«2

In Rom verbrachte Eisenhowers Gegenspieler, der 58-jährige Albert Kesselring, Oberbefehlshaber im Mittelmeerraum, den Abend ebenfalls in seinem Hauptquartier. Er war nicht auf ein raffiniertes Täuschungsmanöver mit dem Codenamen »Mincemeat« hereingefallen, das die Deutschen glauben machen sollte, die Alliierten würden woanders landen. Er hatte nicht vor, auf irgendeine göttliche Intervention zu vertrauen. Stattdessen legte er jetzt letzte Hand an sorgfältig ausgearbeitete Pläne, Eisenhowers Truppen zu vernichten, sobald sie den Fuß auf das Land setzten.

Im Gegensatz zu Eisenhower war Kesselring als Feldherr unumstritten und hatte bereits eine nahezu perfekte Koordination zwischen den Nationalitäten und den Streitkräften unter seinem Kommando erreicht. Er war bei seinen Leuten, die ihm den Spitznamen Onkel Albert gegeben hatten, ungemein beliebt (die Alliierten nannten ihn »Smiling Albert«, weil er auf Fotos anscheinend immer voller Zuversicht grinste). Er hatte im Ersten Weltkrieg an der Ost- wie an der Westfront gedient, danach hatte er die Luftwaffe aufgebaut, deren Generalstabschef er bis 1938 war. Anschließend hatte er die Luftwaffe bei den Invasionen von Polen, Russland und Frankreich mit großem Erfolg kommandiert.

Kesselring hatte schon eine Weile eine Landung der Alliierten auf Sizilien erwartet: Er hatte sich ausgerechnet, dass sie diesen Weg wählen würden, weil sie dort Luftunterstützung von den Basen in Tunesien und auf Malta bekommen konnten. Also hatte er die vier mobilen und die sechs an der Küste stationierten italienischen Divisionen auf der Insel mit zwei deutschen verstärkt – der 15. Panzer-Grenadier-Division und der Panzerdivision »Hermann Göring«. Er wusste, dass diese Kräfte keine Invasion großen Stils aufhalten konnten, aber durch den geschickten Einsatz seiner beeindruckenden Panzer wollte er die Alliierten überrollen, sobald sie versuchten, aus ihrem Brückenkopf auszubrechen.

An Bord der USS »Monrovia« beobachtete der 57-jährige General George S. Patton, Kommandeur der 7. US-Armee, sehr besorgt die anschwellenden Wellen. Ein schwerer Sturm tobte. Boreas, der Nordwind, der in der griechischen Mythologie eine so große Rolle spielte, schien die Invasion mit einem Fluch belegt zu haben. Jetzt war er ganz real, pfiff aus Nordosten über das Mittelmeer und verwandelte es in eine Bedrohung, die ebenso gnadenlos war wie Hitlers beste Truppen.

»George, es gibt alle Anzeichen, dass der Sturm zunimmt«, erklärte der 57-jährige Admiral Hewitt, der Kommandeur der Invasionsflotte. »Ich denke, ich melde [Eisenhower], dass er die Landung verschieben soll.«3

»Warte, Henry«, antwortete Patton. »Hast du mit Steere gesprochen?«

Steere war ein Meteorologe, dessen Vorhersagen immer beruhigend zuverlässig gewesen waren.

»Ja.«

»Hat er gesagt, wie lange der gottverdammte Wind anhält?«

»Er meint, er legt sich bis zum D-Day.«

Kurz darauf stand Steere vor Patton, der ihm den Spitznamen »Houdini« verpasst hatte.

»Also, was meinen Sie?«

»Das ist ein Mistral, Sir. Heftig, aber kurz. Ich würde sagen, gegen 22.00 Uhr schwächt er sich ab und zur Stunde X wird das Wetter bestens geworden sein, General.«

»Das will ich ihm auch geraten haben.«

»Davon bin ich überzeugt, Sir.«4

Ein paar Kilometer entfernt auf dem sturmgepeitschten Meer wartete Felix Sparks auf einem verdunkelten Schiff gleichfalls darauf, dass die Stunde X kam.5 Der Wind war immer noch stark. Die Thunderbirds mussten kämpfen, um aufrecht zu stehen, während das Schiff in den tobenden Wellen schlingerte. Manche Decks waren zentimeterhoch mit Erbrochenem bedeckt.6 Der Konvoi näherte sich Sizilien. Er bestand aus Hunderten von Schiffen, doch die Verdunkelung war so umfassend, dass Sparks in keiner Richtung auch nur den kleinsten Lichtschein ausmachen konnte.7

Er beobachtete, wie die Schiffe des 157. Infanterieregiments aus der Armada ausscherten und Kurs auf ihre zugewiesenen Positionen vor der Südküste von Sizilien nahmen. Es war 21.45 Uhr. Am Horizont waren Lichtblitze zu sehen. Die Alliierten bombardierten Ziele in der Camerina-Ebene, mehrere Kilometer landeinwärts von den Landungsstränden der 7. Armee nördlich und südlich des Fischerdorfs Scoglitti. Gelbe Flammen stachen empor und verglühten am Nachthimmel. Krieg konnte sehr schön aussehen.

Um 22.30 Uhr begann die HMS »Seraph«, ein britisches U-Boot, das als Leuchtturm fungierte, Signale an die Flottille zu senden, die Sparks’ Regiment transportierte. Es war an der Zeit, sieben Meilen vor der Küste Position einzunehmen. Die »Seraph« hatte bei der »Operation Mincemeat« eine wesentliche Rolle gespielt: Sie hatte im Frühjahr vor der spanischen Küste eine Leiche abgesetzt, die eine Royal-Marine-Uniform trug und falsche Aufklärungsdokumente bei sich hatte. Nun stand ihr Kapitän auf der Brücke und besah sich mit seinem Nachtsichtglas ehrfürchtig die alliierte Armada. »Die englische Sprache braucht einen neuen Begriff, um das abgedroschene Wort ›Armada‹ zu ersetzten«, sinnierte er später. »Schließlich konnte sich das angeblich unbesiegbare spanische Original nur mit 129 ansehnlichen Schiffen und einer Schar kleiner Fische brüsten.«8 Die Armada, die sich nun vor der sizilianischen Südküste versammelte, wies zwanzigmal so viele Schiffe und fast 200000 Mann Besatzung auf.

Kein Brite verstand die enorme Tragweite der Ereignisse dieses Abends besser als Premierminister Winston Churchill, der sich auch literarisch mit der spanischen Armada und anderen entscheidenden Schnittstellen in der Geschichte seines Landes auseinandergesetzt hatte. Churchill hatte am längsten und härtesten für die bevorstehende Invasion gekämpft, weil er sie für die beste Möglichkeit hielt, die deutschen Kräfte zu binden, bis die Zweite Front, die Stalin ungeduldig verlangte, in Frankreich eröffnet werden konnte.

Auf seinem englischen Landsitz Chequers konnte der 69-jährige Kriegsherr nicht schlafen, die Anspannung war zu groß. Seine Frau Clementine, sonst eine enorme Stütze, war zu müde gewesen, um die ganze Nacht wach zu bleiben, daher hatte sie ihre Schwiegertochter Pamela gebeten, dem ruhelosen britischen Premier Gesellschaft zu leisten. Pamela und Churchill vertrieben sich die Zeit mit Bézique, Churchills Lieblingskartenspiel. Doch egal, wie oft er abhob und den Stapel mischte, egal, wie oft er Trumpf ausspielte, er konnte seine Gedanken nicht von den bevorstehenden Landungen ablenken.

»So viele tapfere junge Männer werden heute Nacht den Tod finden«, sagte er. »Es ist eine schwere Verantwortung.«9

Die ganze Nacht hindurch bekam Churchill aktuelle Meldungen über die Fortschritte der Alliierten. Er hatte mehr als jeder andere Führer der Alliierten Grund, sich Sorgen zu machen. Seine früheren Abenteuer im Mittelmeerraum – dem »verwundbaren Unterleib« von Nazi-Europa, wie er ihn kürzlich bezeichnet hatte – hatten katastrophal geendet: 1915 hatte er als Erster Lord der Admiralität eine Landung auf der türkischen Halbinsel Gallipoli erzwungen, die zum Desaster geworden war, das 55000 Opfer zur Folge hatte. Dies war von vielen in Australien, das unverhältnismäßig stark betroffen gewesen war, weder vergeben noch vergessen worden. Doch trotz seiner Misserfolge dort hielt die Region Churchill nach wie vor in Bann, genau wie die russischen Steppen Hitler.

Churchill hörte nicht auf, abzuheben, zu mischen, Trümpfe auszuspielen und zugleich nach den neuesten Meldungen vom Mittelmeer zu fragen. »Ich bin mir sicher«, erinnerte sich Pamela, »dass er sich fragte, ob ein weiteres Fiasko eintreten würde.«10 Ihr Schwiegervater war zwar ein ungewöhnlich begabter Politiker und Redner, als Militärstratege aber bestenfalls Mittelmaß und zu sehr einem aggressiven Abenteurertum zugeneigt. Er wusste nur zu gut, dass sein großer Plan, Hitler über das Mittelmeer zu besiegen, den die Amerikaner nur zähneknirschend unterstützt hatten, sehr gut ein weiterer blutiger Scherbenhaufen werden konnte. Würde er sich als genauso unglückselig wie Gallipoli erweisen?

In seinem Hauptquartier in Ostpreußen, der »Wolfsschanze«, erwartete der 54-jährige Adolf Hitler ebenfalls den britisch-amerikanischen Angriff. Im Gegensatz zu Kesselring war Hitler auf die Operation Mincemeat hereingefallen und ging davon aus, dass die Landungen in Griechenland und Sardinien erfolgten und nicht auf Sizilien. Doch unabhängig davon, wo die Alliierten landen wollten, Hitler war von seinem Sieg überzeugt. Die Luftwaffe würde rasch die alliierten Nachschublinien über das Mittelmeer kappen, und jedwede Streitmacht, die es schaffen würde, sich eine Stellung in Europa zu erobern, würde ausgehungert bis zur Aufgabe. Sorge machte Hitler aber die Frage, ob man in Griechenland, Sardinien oder an irgendeinem anderen Ort auf den Kampfeswillen der Italiener zählen konnte.11

Hitler hatte sich einst beklagt, die Italiener würden, egal, was passierte, nie einen Krieg verlieren, sondern am Ende immer auf der Siegerseite stehen.12

USS »Monrovia«, 10.Juli 1943

Es war eine Minute nach Mitternacht. Der D-Day war gekommen. Glücklicherweise hatte Pattons Lieblingsmeteorologe »Houdini« recht gehabt: Der Sturm nahm deutlich ab, während sich Patton und sein Stab auf dem verdunkelten Brückendeck trafen.

»Meine Herren«, sagte Patton, »ich habe die Ehre und das Privileg, die 7. Armee der Vereinigten Staaten in Marsch zu setzen. Die erste Armee in der Geschichte, die nach Mitternacht in Marsch gesetzt und vor dem Morgengrauen mit Blut getauft ist.«

Admiral Hewitt stand dicht dabei und sah zu, wie eine Ehrenwache auf das Deck kam und Patton ein Geschenk überreichte – eine Fahne für seine neue Armee. Der antisemitische Südstaatenaristokrat General George Smith Patton jr., der die Araber hasste und die Briten verabscheute, der Kommandeur der neuen 7. Armee, war tief bewegt. Laut einem Anwesenden waren seine Augen feucht und leuchteten vor Stolz.13

Sparks stand auf einem Deck des Kommandoschiffs des 157., sieben Meilen vor der Küste Siziliens, neben seinem groß gewachsenen Regimentskommandeur Colonel Charles Ankcorn. Der Himmel füllte sich mit dröhnenden Bombern, die die Verteidigungsanlagen an der Küste zerstören sollten. Wenige Minuten später erhellten gewaltige Explosionen den Horizont, vor deren Licht sich die massiven Silhouetten der Schiffe abhoben. Italienische Küstenbatterien antworteten, und Granaten donnerten über das bewegte Wasser. Mehrere detonierten in der Nähe von Sparks’ Schiff.

Kurz darauf stellte er fest, dass sich das Schiff wieder hinaus aufs Meer bewegte. Colonel Ankcorn war wütend. Sparks folgte ihm auf einer Leiter hinauf zum Brückendeck, wo Ankcorn sich an den Flottillenkommodore wandte.

»Kommodore, warum bewegen wir uns zurück aufs Meer?«, fragte Ankcorn.

»Wir sind unter Beschuss von der Küste aus gekommen«, antwortete der Kommodore, »und ich führe den Konvoi hinaus auf eine sicherere Elf-Meilen-Entfernung.«

Sparks sah, wie Ankcorn seine Pistole zog. Es war nicht zu glauben, doch dann hielt er sie an den Kopf des Kommodore.

»Kommodore, unser festgelegter Standort ist sieben Meilen vor der Küste. Sofort wenden Sie den Konvoi und fahren zurück zum richtigen Standort.«

Der Kommodore sagte kein Wort zu Ankcorn, gab aber den Befehl zum Wenden.14

Um 2.30 Uhr kam der Aufruf, dass sich die Männer zu ihren Musterstationen begeben sollten. Unter den nervösen Thunderbirds befand sich auch der 24-jährige Jack Hallowell, ein Journalist aus Montana, dessen Vater mit den Briten im Burenkrieg gekämpft hatte. Er gehörte zu einer Mörsereinheit in der E-Kompanie des Regiments.15 »Sie hatten häufig mit scharfer Munition trainiert«, schrieb er später über seine Kameraden bei den Thunderbirds, »aber jetzt mussten sie zum ersten Mal damit rechnen, dass ihr Feuer mit Feuer beantwortet wurde. Das war ein gewaltiger Unterschied.«16

Der schlimmste Sturm war vorbei, aber die Decks waren immer noch heftig in Bewegung und warfen die verängstigten Männer in der Dunkelheit gegeneinander. Pfeifen und Megafone ertönten, manche wünschten sich gegenseitig Glück. Die Spannungen nahmen zu. Ein Soldat aus der I-Kompanie des Regiments, ein schreckhafter junger Maschinengewehrschütze namens Jackson »Cowboy« Wisecarver, stieß aus Versehen mit einem anderen nervösen Thunderbird zusammen.

»Verdammter H…«

Wisecarver versetzte daraufhin dem anderen Infanteristen ohne zu zögern einen Schlag, der diesen fast bewusstlos machte.17

Männer stiegen Strickleitern hinunter auf Landungsboote, die unter ihnen auf den Wellen tanzten und schlingerten. Gequälte Schreie wurden laut, als einige den Halt verloren und von den Leitern fielen. Mehrere wurden verletzt, und einer ertrank.18 Das Fehlen erfahrener Bootsführer hatte das Regiment das erste Leben gekostet.

3.45 Uhr. Ein Lautsprecher ertönte.

»Los! Viel Glück!«19

Landungsboote lösten sich von ihren Mutterschiffen, formatierten sich zu einem lang gezogenen V und nahmen Kurs auf den dunklen Strand. Der Wind hatte sich zwar gelegt, aber die Wellen waren immer noch mehr als drei Meter hoch, als die Boote in Richtung ihres zugewiesenen Landebereichs schaukelten: »Bailey’s Beach«, acht Kilometer südlich des Fischerdorfs Scoglitti.20 Bei schlechtem Wetter gehörte er zu den tückischsten Orten an der sizilianischen Küste.21 Die Sizilianer hielten ihn wegen seiner Felsen und zahllosen Sandbänke eigentlich für uneinnehmbar und hatten sich nicht die Mühe gemacht, großartige Verteidigungsanlagen aufzubauen. Somit wurden die Thunderbirds auf Sizilien nur von Streifen mit verrostetem Stacheldraht und einigen Geschützstellungen begrüßt. Hundert Meter von der Wasserlinie entfernt begannen Dünen, die 200Meter tief ins Land bis an die ersten Olivenhaine reichten.

Das Regiment sollte in mehreren Wellen anlanden, denen eine intensive Bombardierung von See her vorausging. Sobald Bailey’s Beach gesichert war,22 sollte es drei Kilometer weit ins Landesinnere vorstoßen, direkt östlich von einem kleinen Dorf namens Santa Croce Camerina, dem ersten Operationsziel des Regiments am D-Day.23

Auf Sizilien waren 230000 italienische Soldaten stationiert. Würden sie sich den alliierten Invasoren in den Weg stellen, oder würden sie kapitulieren, wie das so viele in Nordafrika getan hatten, als die Aussicht, für ihren immer lächerlicher werdenden Duce Benito Mussolini zu sterben, plötzlich ungeheuer real geworden war? Im Gegensatz dazu gab es keinen Zweifel ander Willens- und immensen Feuerkraft von 60000 Deutschen, die zum Gegenangriff übergehen würden, falls sich die Italiener wegduckten, sobald die ersten Kugeln und Granaten flogen. Diese Sturmtruppen waren außerordentlich gut bewaffnet und standen unter dem Kommando von einem von Hitlers genialsten und mutigsten Feldherren, dem General der Panzertruppe Hans-Valentin Hube, der wiederum Kesselring, dem glänzenden Praktiker defensiver Kriegsführung, verantwortlich war.

Es war 4.00 Uhr.

»Wir marschieren ein!«, schrie ein Thunderbird.

Männer packten die Griffe von Munitionskisten. Andere nahmen Stabbomben auf. Schützen setzten Laderahmen in ihre M1-Selbstladegewehre.

Um 4.20 Uhr erreichte das erste Boot Bailey’s Beach und hüpfte in der drei Meter hohen Brandung gefährlich auf und ab. In den Händen unerfahrener Bootführer kamen viele der Schiffe Richtung offenes Meer vom Kurs ab. Andere wurden von Rippströmungen auf zerklüftete Felsen gespült. Einige knirschten schließlich auf den Sand.

Die Stunde X war gekommen. Die Befreiung Europas hatte begonnen.

IVDas Wettrennen nach Messina

Thunderbirds marschieren in Cefalu auf Sizilien ein, Juli 1943 (National Archives)

Santa Croce Camerina, Sizilien, 10.Juli 1943

Weder das Zischen von MG-42-Kugeln noch das ohrenbetäubende Donnern deutscher Gewehre waren zu hören. Rampen klappten herunter, und die Thunderbirds wankten an Land.1 An diesem Morgen wurden mehr Männer des Regiments Opfer von Unfällen, weil ihre Landungsboote vom Kurs abgetrieben wurden, als durch feindliches Feuer getötet. Über die Hälfte der Landungsboote wurden beschädigt oder sanken in der starken Brandung. Zwei Boote stießen zusammen, trieben in eine Höhle und brachen auf den spitzen Felsen auseinander. Eines davon kenterte. Von der F-Kompanie ertranken 27 Mann.2

Das Regiment hatte die Dünen von Bailey’s Beach bald überwunden und durchquerte die Olivenhaine weiter landeinwärts. Ein junger Fallschirmjäger der 82. Luftlandedivision, der nur ein paar Stunden zuvor seinen ersten und einzigen Sprung im Kampfeinsatz absolviert hatte, hing tot in seinem Fallschirm, der sich in einem der Bäume verfangen hatte. Cowboys aus dem Regiment, die von Farmen in Colorado und Oklahoma kamen, schnitten Streifen aus dem aufgeblähten Seidenschirm des jungen Amerikaners und trugen sie als Halstücher.3

Mit entscheidender Unterstützung des 158. Feldartillerie-Bataillons hatte das Regiment das Gebiet oberhalb von Santa Croce Camerina bis zum frühen Nachmittag eingenommen. »Treffer in Gebäuden in der Nähe des Dorfplatzes waren sehr wirksam«, erinnerte sich Colonel Ankcorn, »und hatten deutliche Auswirkungen auf das Verhalten des Garnisonskommandanten.«4

Als Sparks im Dorf ankam, begrüßten ihn Dutzende weißer Flaggen, die aus den Fenstern hingen. 500 Italiener hatten sich ergeben, ohne dass dafür ein einziges amerikanisches Leben geopfert werden musste.5 »Diese verdammten Italiener kamen direkt mit erhobenen Händen raus«, erinnerte sich Sparks, »mit gepackten Sachen, bereit, in die Staaten gebracht zu werden.«6 Unter einer sengenden Sonne stürmte er an diesem Nachmittag weiter vor und folgte dabei einer Spur entbehrlicher Ausrüstungsteile und Kleidungsstücke, die die Männer hinter sich gelassen hatten.7

Es herrschte Hochstimmung. »Als Jungs waren wir an diesem Morgen von Bord der Schiffe geklettert«, erinnerte sich einer der Männer. »Jetzt waren wir Männer.«8 Es hatte nicht das vorhergesagte Blutbad gegeben, als sie vom Strand her durchbrachen. Auch an anderen Stellen an der Südküste Siziliens waren die Alliierten nur auf begrenzten Widerstand gestoßen und rückten nun rasch auf strategisch wichtige Städte und Orte vor. Das nächste Operationsziel des Regiments war der Flugplatz Comiso, gut 15Kilometer weit im Landesinneren. Am Spätnachmittag des 11.Juli war er samt gut 450 Gefangenen, über 750000Litern Flugzeugtreibstoff und einem vernickelten Fahrrad eingenommen worden. Letzteres hatte der Geistliche des Regiments, Chaplain Leland L. Loy, sofort in Beschlag genommen.9 Schon bald riefen die Männer ihm »Hallo Chappie« zu, wenn er vorbeiradelte.10 Beim Kampf um den Flugplatz war das Regiment das letzte Mal in Sizilien auf italienische Gegner getroffen. Danach waren die Männer, die zurückschossen, Deutsche. Von denen waren nur wenige darauf erpicht, kampflos aufzugeben.11

Am nächsten Morgen kam Chaplain Loy in den Befehlsstand des Regiments, den Sparks auf dem Flugplatz eingerichtet hatte. Er war fassungslos. »Colonel«, sagte er zu Ankcorn, »da unten am Strand liegen überall Leichen, und keiner beerdigt sie. Bergt sie oder tut sonst was!«12

Ankcorn runzelte die Stirn, dachte eine Weile nach und wandte sich dann an seinen Adjutanten.

»Sparks«, sagte Ankcorn, »mir ist es egal, wie Sie es machen, aber ich verlasse mich darauf, Sie sorgen dafür, dass sie in Ehren bestattet werden.«13

Für Sparks war das die erste Herausforderung dieses Krieges. Wie sollte er das schaffen? Die einzigen Männer, die zur Verfügung standen, waren Mitglieder der Regimentskapelle in der Nähe seines Befehlsstands. Er sammelte sie auf einem Lastwagen ein und fuhr zurück zu Bailey’s Beach.14 Dutzende von Landungsbooten schaukelten in der Brandung, ihre Motoren waren durchgebrannt bei dem Versuch, Sandbänke zu überqueren. Überall lagen Trümmer, das Treibgut einer chaotischen Invasion säumte die Hochwasserlinie: zerrissene Packungen mit K-Rationen, Marschverpflegung, Panzerfäuste und Stabbomben, verlorene Bündel und nutzlose Rettungsgürtel. Verstörender waren die aufgeblähten und entstellten Körper, die meisten von ihnen Männer der F-Kompanie, die ertrunken waren, als ihr Boot auf den Felsen zerschellte.

Mehrere Stunden lang lief Sparks von einem toten Amerikaner zum anderen und suchte nach den Erkennungsmarken. Das war eine grausige Arbeit. Die Toten waren von den Gezeiten hin und her geworfen worden. Manchen war die Kleidung weggerissen worden, große Teile der Körper waren mit blauen Flecken übersät, das Weiße der hervorquellenden Augen war grau geworden.15 Sparks entdeckte auch den Leichnam eines Luftwaffen-Lieutenants namens Goldberg aus Utica, New York, im Cockpit einer auf den Strand gestürzten Maschine.16 Bei fünf der Leichen konnte Sparks keine Erkennungsmarken finden, also nahm er mithilfe der Ausrüstung, die die Armee jedem Regimentsadjutanten zur Verfügung stellte, die Fingerabdrücke der Männer. Dann durchforstete er den Strand nach möglichen Leichentüchern für die rasch verwesenden Körper und entdeckte verlorene Überlebenspäckchen, die Decken enthielten. Um Ankcorns Wunsch nach einer würdigen Beerdigung zu entsprechen, suchte er schließlich ein Feld, wo er im steinigen Boden zusammen mit den Musikern einen Meter tiefe Gräber ausheben konnte. Zum Abschluss holten sie aus einem nahe gelegenen Dorf Holz und errichteten für jeden einzelnen Toten ein Kreuz, an das Sparks dann eine Erkennungsmarke hängte.17

Licodia, Sizilien, 14.Juli 1943

Bedeckt mit einem Staub, der jeden Soldaten, jedes Gebäude und jedes Fahrzeug mit einem geisterhaften Grau überzog, erreichte Sparks ein Bergstädtchen namens Licodia, knapp fünfzig Kilometer nordöstlich von Bailey’s Beach.18 Italien befand sich noch im Krieg mit den Vereinigten Staaten, aber die Bewohner begrüßten ihn und die anderen Thunderbirds als Befreier. Die Sizilianer mussten seit Jahrtausenden Invasionen ertragen, sie wussten genau, wann sie kämpfen und wann sie bestens genährte und ausgerüstete junge Amerikaner mit Blumen überschütten sollten. »Wenn wir eine Stadt einnehmen«, schrieb Sparks kurz darauf an seine Eltern, »ist der ganze Ort mit Fahnen, Blumen und viel Geschrei zur Stelle. Die Einheimischen sind sehr