1,99 €
Dr. Burger, spiel mit uns!
Warum ihre Mutter sich nicht um Lina und Luis kümmern konnte
Von Andreas Kufsteiner
Dr. Martin Burger sitzt sichtlich geschockt in der Notfallambulanz im Krankenhaus von Schwaz. Diesmal ist er nicht als Arzt hier, sondern als Patient. Bei der riskanten Bergung eines Urlaubers aus einem Felsspalt gab es plötzlich einen heftigen Steinschlag. Der Urlauber hat Glück gehabt und ist unversehrt geblieben, Dr. Burger hat eine komplizierte Oberarmfraktur.
Die Schmerzen sind - dank der Spritzen - inzwischen erträglich, allerdings wird es dauern, bis er wieder einsatzfähig ist. Mindestens sechs Wochen muss sein Arm ruhiggestellt werden!
Natürlich wird er daheim rundum verwöhnt, und die Praxis übernehmen Sabine und sein Vater.
Doch von Tag zu Tag wird Martin ungeduldiger, die erzwungene Ruhe fällt ihm nicht leicht. Als er wieder einmal grübelt, wie er die nächsten Stunden herumbringen soll, klingelt sein Telefon. Am anderen Ende schluchzen zwei kleine Kinder ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 125
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Dr. Burger, spiel mit uns!
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Michael Wolf
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar
ISBN 9-783-7325-7862-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Dr. Burger, spiel mit uns!
Warum ihre Mutter sich nicht um Lina und Luis kümmern konnte
Von Andreas Kufsteiner
Dr. Martin Burger sitzt sichtlich geschockt in der Notfallambulanz im Krankenhaus von Schwaz. Diesmal ist er nicht als Arzt hier, sondern als Patient. Bei der riskanten Bergung eines Urlaubers aus einem Felsspalt gab es plötzlich einen heftigen Steinschlag. Der Urlauber hat Glück gehabt und ist unversehrt geblieben, Dr. Burger hat eine komplizierte Oberarmfraktur.
Die Schmerzen sind – dank der Spritzen – inzwischen erträglich, allerdings wird es dauern, bis er wieder einsatzfähig ist. Mindestens sechs Wochen muss sein Arm ruhiggestellt werden!
Natürlich wird er daheim rundum verwöhnt, und die Praxis übernehmen Sabine und sein Vater.
Doch von Tag zu Tag wird Martin ungeduldiger, die erzwungene Ruhe fällt ihm nicht leicht. Als er wieder einmal grübelt, wie er die nächsten Stunden herumbringen soll, klingelt sein Telefon. Am anderen Ende schluchzen zwei kleine Kinder …
„Ich hab keine Angst.“
„Ich auch net. Ich auch net“, kam es aus zwei Kehlen wie ein Echo zurück.
„Ich schon.“ Filli schaute sich bang um.
Sein Herz klopfte so heftig, dass er es bis in seinen Hals spüren konnte. Und seine Stimme kam nur als Flüstern. Tessa, seine große Schwester, deren Freundin und sein bester Kumpel Gustl sausten unternehmungslustig den Hang hinauf. Hinter ihnen wurden die Bauernhöfe ihres Heimatdorfes kleiner und kleiner.
„Komm schon, Filli!“ Tessa drehte ihren Kopf zu ihm um, dass ihre dunklen Zöpfe flogen. „Bange machen gilt net!“
Im selben Augenblick grollte es in der Ferne dumpf. Unwillkürlich zog Filli den Kopf ein.
Der Himmel zog sich zusehends zu. Die Luft war drückend heiß, und das Wetterleuchten am Horizont verriet, dass sich ein Gewitter näherte. Dunkle Wolken türmten sich über dem Zillertal. Das nahende Unwetter breitete seine Schatten über den Wiesen und Hängen aus.
Das perfekte Wetter für eine Mutprobe!
So zumindest sahen es Gustl und die beiden Madeln. Filli hingegen hätte lieber daheim mit Poldi gespielt. Leider war der kleine Dackel nicht zu bewegen gewesen, eine Pfote vor die Haustür zu setzen und sie zu begleiten.
Die anderen drei Kinder hatten inzwischen einen Vorsprung.
Filli gab sich einen Ruck und setzte sich wieder in Bewegung. Bleigewichte schienen an seinen Füßen zu hängen und jeden Schritt schwerer zu machen.
Eine Gänsehaut überzog seinen Körper, als sie die Anhöhe überwanden und vor ihnen der Drei-Eichen-Hof auftauchte. Das Anwesen war ihr Ziel. Ein kleines Gehöft, das sich unter hohe Kiefern schmiegte und in deren Schatten es unheilvoll und düster wirkte. Etwas klirrte metallisch. Filli erschauerte.
„Das ist nur der Eimer im Ziehbrunnen, du Hasenfuß“, beschwichtigte Gustl. „Der schaukelt hin und her.“
„Hm.“ Zu einer längeren Erwiderung wäre er beim besten Willen nicht fähig gewesen. Seine Zunge schien mit einem Mal viel zu groß für seinen Mund zu sein.
„Eigentlich müsste das Gehöft ja der Drei-Morde-Hof heißen“, raunte Gustl und senkte verschwörerisch die Stimme.
„Warum denn?“
„Weil der letzte Pächter spurlos verschwunden ist. Kurz zuvor soll er zwei Wanderer umgebracht haben, die arglos an seine Tür geklopft und nach einer Brotzeit gefragt haben.“
„So ein Schmarrn.“
„Gar kein Schmarrn. Mein Papa hat das gesagt.“
„Und was wurde aus dem Bauern?“ Tessa hing gebannt an Gustls Lippen. Auch ihre Freundin starrte ihn erwartungsvoll an.
Filli hätte lieber über Welpen oder die neue Köchin im Kindergarten gesprochen, aber Gustl war nicht zu bremsen.
„Niemand weiß, was ihm zugestoßen ist.“ Gustl beugte sich vor. „Manche sagen, er wäre auch umgebracht worden. Andere glauben, er würde noch immer hier herumspuken.“
„Das stimmt aber net, oder?“ Unsicher drehte Filli den Kopf. Ihm war plötzlich ganz flau.
Huch! War da nicht eine Bewegung hinter den dunklen Fenstern? Dabei stand der Hof seit Monaten leer! Oh, wären sie bloß nicht hergekommen!
„Wir sollten heimgehen. Unsere Eltern wären bestimmt net einverstanden, wenn sie wüssten, wo wir sind.“
„Aufgeben? So kurz vor dem Ziel?“ Tessa schüttelte lebhaft den Kopf. „Du kannst ja umkehren. Wir gehen weiter und gucken uns den Hof an.“
„Und wenn es da spukt?“
„Dann jagen wir dem Gespenst einen tüchtigen Schreck ein. Es rechnet bestimmt net mit uns.“ Sie grinste.
Filli schaute zu dem Hof, der sich vor ihnen ausbreitete wie die unheilvollen Arme eines Kraken. Scheune und Stall standen verlassen. Das Licht schien kaum unter die hohen Bäume zu gelangen. Im Garten stand das Gras hüfthoch und verriet, dass sich lange niemand mehr um das Anwesen gekümmert hatte.
„Hier ist es net geheuer“, flüsterte Filli.
„Was soll denn net geheuer sein?“, fragte Gustl.
„Wenn der Bauer noch umgeht …“
„Unsinn. Der geht höchstens unter deinem Bett um. Nein, warte! Da!“ Gustls Augen wurden riesengroß. Sein Mund klappte auf, während er zu dem Hof hinüberschaute.
Fillis Kopf ruckte herum.
„Was ist da?“
„Nix!“ Gustl kicherte. „Aber du hättest dein Gesicht sehen sollen! Weiß, als wärst du selbst ein Gespenst.“ Er kringelte sich vor Lachen und wich prustend zur Seite aus, als Filli nach ihm griff. „Hilfe, net kitzeln!“
„Da bist du ja schön reingefallen, Filli.“ Seine Schwester gluckste. „Ich hab mich aber auch erschrocken, als Gustl eben so große Augen gemacht hat.“
Über ihnen zerriss ein silbriger Blitz den Himmel.
Tessa zuckte zusammen.
„Wir sollten uns beeilen und …“ Sie stockte und deutete mit einem Finger zu dem Hof hinauf. „Da!“
„Der Scherz wirkt nur einmal, Tessa“, meinte Gustl schnaufend.
„Nein, seht doch! Da oben!“
Die Kinder folgten ihrer ausgestreckten Hand mit den Augen und schnappten nach Luft. Tatsächlich bewegte sich eine Gestalt hinter den Gardinen!
„Das kann net sein“, flüsterte Gustl. „Hier wohnt schon lange niemand mehr.“
„Aber jetzt ist jemand da.“
„Das ist unmöglich.“
„Guck doch hin!“
Nun schob sich der unheimliche Schatten hinter den Vorhängen zur Seite – in Richtung Haustür!
„Lauft!“, kommandierte Gustl.
Blitzschnell wirbelten die Kinder herum und rannten den Hang hinunter, den sie heraufgekommen waren. Sie blieben nicht stehen, sondern stürmten am Marterl vorbei über die kleine Brücke über den Mühlbach und stoppten erst, als es in ihren Seiten stach und sie die weiße Dorfkirche erreicht hatten.
Auf den Stufen vor dem Portal sanken sie nieder und stemmten mit roten Gesichtern die Hände in die Taille.
Gustl kam als Erster wieder zu Atem.
„Wer war denn das?“, rief er.
„Weiß ich auch net“, japste Tessa.
Ihre Freundin schüttelte bang den Kopf.
Filli klappte den Mund auf und wieder zu, ohne dass ein Ton herauskam.
Nein, die Sache war ihnen allen nicht geheuer.
„War das der Geist des Bauern?“, wisperte Tessa.
Gustl hob die Schultern und ließ sie wieder sinken.
„Unsere Eltern werden schön schimpfen, wenn sie das hören. Am besten sagen wir zu niemandem ein Wort. Verstanden?“
Die Kinder nickten.
Filli schaute furchtsam über die Wiesen in Richtung des Drei-Eichen-Hofes. Wen oder was hatten sie dort oben gesehen?
Wer ging auf dem verlassenen Gehöft um?
***
Drei Stunden und zwanzig Minuten hatte der Routenplaner für die Fahrt von Linz nach St. Christoph veranschlagt, aber Sophie kam es viel länger vor. Nach endlosen Kilometern auf der Autobahn und einem Stück Schnellstraße wand sich die Fahrbahn nun stetig bergauf. Die Straße war so schmal, dass sie das Lenkrad unwillkürlich fester umklammerte. Vorbei ging es an saftigen grünen Wiesen, abgelegenen Bauernhöfen und Kiefernwäldchen.
Die Umgebung war so idyllisch, dass es ihr unwillkürlich die Kehle zuschnürte. Wir würden es genießen, wenn das hier ein Urlaub wäre und keine Fahrt ins Ungewisse, dachte sie. Nein, net ins Ungewisse. Ein Neuanfang ist es!
Sie straffte sich und bog an einem Wegweiser links ab.
Schließ die Augen und stell dir vor, wie alles einmal werden soll, fiel ihr der Rat ihrer Freundin ein. Mal dir aus, was du dir für die Zukunft wünschst. Eva war Psychologin und hatte für fast jeden Notfall eine Strategie. Allerdings war es nicht ratsam, die Augen zu schließen, wenn neben der Straße ein Abhang gähnte. Tief ging es da hinab!
Vom Rücksitz kam gedämpftes Schniefen. Luis hing traurig in seinem Kindersitz. Dicke Tränen kullerten über seine Wangen.
„Net weinen.“ Seine Schwester stupste ihn an. „Guck doch, wie schön es hier ist.“
„Pa… Papa ist aber net hier“, kam es traurig zurück.
„Papa hat jetzt eine neue Familie.“ Lina zog die Schultern hoch.
Daraufhin weinte ihr Bruder noch mehr.
„Er kommt uns bestimmt besuchen“, versuchte Lina ihn zu trösten. Sie nahm ihre Rolle als große Schwester ausgesprochen ernst und kümmerte sich um ihren drei Jahre jüngeren Bruder. Auch jetzt legte sie ihm einen Arm um die Schultern und murmelte leise, beruhigende Worte.
Sophie schnürte es die Kehle zu. Es schmerzte, dass sie ihre Kinder aus dem gewohnten Zuhause reißen musste. Das hatten die beiden wirklich nicht verdient. Doch was war ihr anderes übrig geblieben? Daheim hätten die unliebsamen Erinnerungen sie ständig verfolgt wie ein Schatten.
Ihr Mann war Zahnarzt. Eines Abends wollte Sophie ihn von der Praxis abholen und war aus allen Wolken gefallen, weil er soeben dabei gewesen war, seiner Kollegin auf den Zahn zu fühlen – und nicht nur das. Während Lambert und seine Geliebte blitzschnell in ihre Kleidung geschlüpft waren, war Sophie aus der Praxis geflohen.
Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, ihm und der anderen Frau die Augen auszukratzen, seine Sachen zu verbrennen oder daheim schluchzend zusammenzubrechen. Am Ende war es auf Letzteres hinausgelaufen.
Für Sophie war es undenkbar gewesen, weiter mit ihm unter einem Dach zu leben. So hatte sie ein neues Zuhause gesucht und das Inserat mit dem überraschend günstig zu mietenden Bauernhof entdeckt. Ein Neuanfang in einem idyllischen Bergdorf. Das wünschte sie sich.
Vielleicht würden sie in St. Christoph zur Ruhe kommen und endlich wieder nach vorn schauen können. Nach der Trennung hatten sie das bitter nötig. Lina und Luis sollten unbeschwert von Zank und Vorwürfen aufwachsen.
Sophie hoffte, dass die neue Umgebung ihren Kindern helfen würde, die Trennung zu verarbeiten. Die beiden waren jedoch alles andere als begeistert von dem Umzug. Lina sprach ständig von ihrer Freundin Emilia, die in Linz zurückgeblieben war. Und Luis vermisste seinen Vater so schmerzlich, dass er wieder zu stottern begonnen hatte.
„Sie erreichen Ihr Fahrziel.“ Die kühle Frauenstimme aus dem Navigationsgerät riss Sophie ins Hier und Jetzt zurück. Tatsächlich tauchte vor ihnen ein Bauernhof auf. So abgelegen, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie hergefunden hatten.
Ein hölzerner Balkon führte in der ersten Etage um die Vorderfront herum. Dazu gab es eine bezaubernde Lüftlmalerei über dem Eingang. Die Scheune und der nahe Stall wirkten verwaist.
Und der Garten … Oh, der Garten! Das Grün war so verwildert, dass sich Sophie eine Machete herbeiwünschte.
Hinter dem Hof ragten steile Berge auf wie steinerne Wächter. Ein Bach plätscherte munter an dem Gehöft vorbei. Ein wenig düster wirkte der Hof, aber durchaus nicht unfreundlich.
Mit etwas Arbeit kann man daraus ein Zuhause machen, entschied Sophie. Bis zum Dorf hinunter war es ein ganzes Stück, aber zwischen den Wiesen hindurch war man vermutlich schneller unten als über die gewundene Straße. Das musste sie noch erkunden, immerhin würde Lina jeden Tag hinunter zur Schule müssen.
Sophie stellte ihr Auto vor dem Hauseingang ab, ließ ihre Kinder aussteigen und schloss die Haustür mit dem Schlüssel auf, den der Vermieter ihr per Einschreiben hatte zukommen lassen.
Drinnen roch es nach Reinigungsmitteln und Möbelpolitur. Offenbar war vor ihrem Eintreffen geputzt worden. Das Haus wurde möbliert vermietet, deshalb mussten sie nur ihre persönlichen Sachen mitbringen. Und selbst die hatten den gesamten Kofferraum plus den Dachgepäckträger gut gefüllt.
Sophie nahm ihre Kinder bei der Hand, holte noch einmal tief Luft und betrat das Haus. Mit den Holzmöbeln wirkte der Eingangsbereich durchaus gemütlich. Sie schaute in ein kleines, aber uriges Wohnzimmer und eine Bauernküche mit getäfelter Decke. Die Kinder- und Schlafzimmer befanden sich oben. Die enge Stiege wirkte nicht vertrauenerweckend, aber als Sophie sie ausprobierte, knarrte sie nicht einmal.
Das Haus war blitzsauber. Ein durchaus behagliches Heim. Das eiserne Band um Sophies Brust löste sich ein wenig.
Maunzend strich eine Katze durch die offene Haustür. Sie hatte weiße Pfoten und ein dichtes, glänzendes orangefarbenes Fell.
„Oh!“ Lina war hin und weg. Sie liebte Katzen und bückte sich sogleich, um den Besucher ausgiebig zu streicheln.
Ihr Bruder jedoch … Nanu? Wo war Luis? Eben hatte er sich noch an Sophies Seite gedrückt, nun war er verschwunden. Sie schaute sich um, spähte nach draußen und fand ihren Sohn wieder im Auto sitzend.
„W… will nach Hause“, erklärte er, während sich seine Augen mit Tränen füllten.
„Der Hof ist jetzt unser Zuhause.“ Sophie kletterte neben ihn in den Wagen und legte einen Arm um ihren Sohn. „Wir werden uns hier wohlfühlen, das verspreche ich dir.“
„Aber Pa… Papa ist nicht hier.“
„Er wird uns besuchen, Spatz. Wenn wir ausgepackt und uns eingerichtet haben, schreiben wir ihm.“
„Wa… wann ko… kommt er denn?“
„Sobald er es einrichten kann.“ Sophie hoffte, dass sie ihrem Sohn nicht zu viel versprach. Lambert war schon früher ständig beschäftigt gewesen und hatte selten Zeit für seine Kinder gehabt. Die Arbeit hatte ihn voll und ganz in Beschlag genommen. Nun kam noch seine neue Liebe dazu. Würde er sich überhaupt die Zeit nehmen, um sie hier zu besuchen?
„Können wir net nach Hause fahren, Mama?“, wisperte Luis. Seine blonden Locken waren zerzaust, weil er sich häufig mit den Fingern hindurchfuhr. Eine Geste, die er von seinem Vater übernommen hatte. Genauso, wie er Lamberts blaue Augen hatte, die Sophie vor vielen Jahren auf Anhieb gefallen hatten …
„Wir machen hier einen neuen Anfang“, sagte sie leise. „Du, deine Schwester und ich. Euer Vater wird uns besuchen kommen, sobald er kann.“
„Wann ist das?“
„Das werden wir ihn fragen, wenn wir mit ihm telefonieren. Einverstanden?“ Sophie tupfte ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn. „Und jetzt komm mit ins Haus. Oben gibt es drei Schlafzimmer. Eines für jeden von uns. Lina und du dürft euch aussuchen, welches ihr haben wollt. Wenn du dich net beeilst, schnappt sie dir das schönste Zimmer vor der Nase weg.“
Nicht einmal das konnte Luis locken, das Auto zu verlassen. Zwar kletterte er folgsam hinaus ins Freie, aber dann trottete er mit hängenden Schultern zum Haus. Jede Faser seines Körpers verriet, dass er nicht hier sein wollte.
Bedrückt folgte Sophie ihm zur Haustür. Unvermittelt erklang von drinnen ein heller Aufschrei.
„Lina!“ Der Schreck traf Sophie wie ein Schwall eiskaltes Wasser. „Lina? Was ist denn passiert?“
***
„Lina!“ Bei dem Aufschrei ihres Kindes sah Sophie sogleich zahlreiche Schreckensszenarien vor sich, wie es wohl nur eine Mutter konnte. Mit langen Schritten hetzte sie ins Haus und stürmte durch den Flur. Sie sah gerade noch, wie etwas Großes, Braunes durch die offene Hintertür der Küche hinaus in den Garten verschwand. Dann riss sie ihr Kind in die Arme.
Lina blickte mit weit aufgerissenen Augen zu ihr hoch.
„Da war ein Reh in unserer Küche, Mama.“