Der Bergdoktor 1887 - Andreas Kufsteiner - E-Book

Der Bergdoktor 1887 E-Book

Andreas Kufsteiner

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Beschreibung

Wie aus weiter Ferne dringen Dr. Burgers Worte an Hannas Ohr. In ihrem Kopf hat sich erneut ein Tumor gebildet. Nein!, schreit es in ihr. Das alles hat sie doch schon einmal durchgemacht! Die Erinnerungen an die Behandlung vor fünf Jahren werden wieder lebendig. Operationen, Chemo- und Strahlentherapie - es war die reinste Hölle. Zu allem Übel hat ihr damaliger Freund Thomas sie auch noch mit ihrer Schwester betrogen, als sie im Krankenhaus lag und um ihr Leben kämpfte.

Wie in Trance verlässt Hanna die Praxis und flieht in die Berge. Ziellos irrt sie umher, bis sie schließlich erschöpft auf einen Felsen sinkt und hinab in die tiefe Schlucht starrt. Die Sehnsucht, alles hinter sich zu lassen, wird in diesem Augenblick übermächtig ...

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Seitenzahl: 127

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Inhalt

Cover

Impressum

Warum kann mir niemand helfen?

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Michael Wolf / Bastei Verlag

Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-5453-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Warum kann mir niemand helfen?

Eine junge Bäuerin verliert allen Lebensmut

Von Andreas Kufsteiner

Wie aus weiter Ferne dringen Dr. Burgers Worte an Hannas Ohr. In ihrem Kopf hat sich erneut ein Tumor gebildet.Nein!,schreit es in ihr. Das alles hat sie doch schon einmal durchgemacht! Die Erinnerungen an die Behandlung vor fünf Jahren werden wieder lebendig. Operationen, Chemo- und Strahlentherapie – es war die reinste Hölle. Zu allem Übel hat ihr damaliger Freund Thomas sie auch noch mit ihrer Schwester betrogen, als sie im Krankenhaus lag und um ihr Leben kämpfte.

Wie in Trance verlässt Hanna die Praxis und flieht in die Berge. Ziellos irrt sie umher, bis sie schließlich erschöpft auf einen Felsen sinkt und hinab in die tiefe Schlucht starrt. Die Sehnsucht, alles hinter sich zu lassen, wird in diesem Augenblick übermächtig …

Wieder ein Tag weniger.

Hanna Pletzenauer nahm einen Cent aus der Schale auf ihrem Nachttisch und legte ihn in ihr Portemonnaie zurück. Der Vorrat an Münzen schrumpfte zusehends. Diesmal musste sie zwei Wochen in der Klinik bleiben, deshalb hatte sie vierzehn Centstücke abgezählt und in das Gefäß getan.

Jeden Tag nahm sie eines heraus und erfreute sich an dem schwindenden Vorrat, der sie ihrem Zuhause immer näher brachte. Das half ihr beim Durchhalten.

Ein jähes Schwindelgefühl erfasste die junge Bäuerin. Sie lehnte sich auf ihrem Kissen zurück und wartete, bis das unliebsame Gefühl nachließ.

Ich bin so müde! Hanna krallte die Finger in ihre Zudecke und wünschte sich, sie könnte endlich schlafen. Keine Schmerzen mehr. Keine Infusionen. Vergessen wären die blutenden Schleimhäute in ihrem Mund, die Übelkeit und die Erschöpfung. Eine Weile Frieden. Wie wunderbar das wäre.

Doch der Lärm auf dem Klinikflur ließ sie nicht zur Ruhe kommen. In die Stimmen von Patienten und Besuchern mischten sich das Poltern von Schritten und das metallische Klappern eines Medikamentenwagens. Es war heller Tag, und der Betrieb auf der Station hielt Hanna wach.

Seit über einem Jahr kämpfte sie gegen den Tumor an. Entdeckt worden war er kurz nach ihrem zwanzigsten Geburtstag, als sie mit heftigen Kopfschmerzen im Stall zusammengebrochen war – auf dem linken Auge blind. Der Tumor saß in ihrem Gehirn und drückte auf den Sehnerv.

Die Ärzte hatten sofort gehandelt: zuerst eine Chemotherapie, um die Geschwulst zu verkleinern, anschließend zwei Operationen. Danach weitere Chemotherapie und Bestrahlungen, um die restlichen verbliebenen Krebszellen in ihrem Körper zu eliminieren.

Während der Behandlung hatte Hanna ein Drittel ihres Gewichtes verloren. Während des sechsten Zyklus konnte sie keine Nahrung mehr bei sich behalten, deshalb wurde sie mittlerweile über eine sogenannte PEG-Sonde ernährt. Der Schlauch war operativ durch ihre Bauchdecke eingeführt worden. So konnte die Flüssignahrung direkt in ihren Magen eingeflößt werden.

Trotzdem hatte Hanna kaum noch genug Kraft, um das Bett zu verlassen.

Unter den geschlossenen Jalousien fiel ein Streifen Sonnenlicht hindurch und erinnerte sie daran, dass Sommer war. Hannas Augen füllten sich mit Tränen. In anderen Jahren hätte sie jetzt daheim bei der Ernte geholfen, wäre abends mit ihren Freundinnen ausgegangen oder mit ihrem Freund Thomas zum Tanzen.

Heuer blieben ihr nur ihre Erinnerungen an glücklichere Tage – und die Hoffnung auf die Zukunft.

Ich darf net aufgeben, spornte sie sich selbst in Gedanken an. Nur noch ein paar Tage, dann bin ich von den Infusionen befreit und darf nach Hause. Thomas und ich werden endlich wieder Zeit füreinander haben. Mein Schatz fehlt mir so.

Sie schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter und beschwor ein warmes Licht in ihrem Herzen herauf, wie ihr Therapeut es ihr gezeigt hatte. Er hatte ihr beigebracht, sich auf etwas Gutes zu konzentrieren, um Zuversicht zu fassen.

Thomas kommt nachher gewiss noch zu Besuch. Ich sollte ihn net in dem zerknitterten Nachthemd begrüßen. Hanna schlüpfte aus dem hellblauen Baumwollnachthemd und streifte das fröhlich geringelte T-Shirt und einen Rock über, der auf dem Stuhl bereitlag. Das war schon besser.

Erschöpft sank sie wieder auf ihr Bett und griff nach der Tageszeitung, die sie vorhin am Kiosk gekauft hatte. Ein Weg von fünf Minuten war das, aber sie hatte eine halbe Stunde dafür benötigt, weil sie zwischendurch häufig stehen bleiben und sich ausruhen musste.

Sie hatte Glück gehabt, das wusste sie. Nach der Entfernung des Tumors war ihr Augenlicht auf dem betroffenen Auge zurückgekehrt. So konnte sie wieder unbeschwert lesen.

Nach Donner, Blitz und Wolkenbruch wird es morgen wieder heiß, versprach der Wetterbericht. Das hörte sich nach einer unruhigen Nacht an. Und nach einem Gewitter!

Hanna blätterte weiter.

Fahrer verursacht mit 3,01 Promille Kollision bei Fügen, stand dort zu lesen.

Jesses! 3,01 Promille? Sie riss die Augen auf. Mit so viel Alkohol im Blut wäre sie vermutlich nicht einmal mehr fähig, das Gaspedal zu finden – geschweige denn zu fahren. Sie überflog den Artikel und erfuhr, dass es bei Blechschäden geblieben war. Da hatten wohl gleich mehrere Schutzengel auf die Fahrer aufgepasst!

Ihr Blick streifte eine Fotografie.

Sommertanz in St. Christoph.

Oh! Ein Lächeln flog über Hannas Gesicht. Die Aufnahme war in ihrem Heimatdorf entstanden! Der Fotograf hatte mehrere tanzende Paare abgelichtet. Wenn man sich ansah, wie sie umherwirbelten, dann spielten die Musiker gerade eine schwungvolle Polka.

Ein leises Sehnen schlich sich in Hannas Herz – gefolgt von einem eisigen Stich. Das, nein, das konnte doch nicht wahr sein!

Ihr Blick heftete sich auf ein Paar, das am Rand der Tanzfläche stand und sich küsste. Der Mann stand seitlich und war deshalb deutlich zu erkennen. Thomas!

Ihr Freund busselte gerade eine andere Frau ab! Von dieser waren nur eine Flut dunkler Locken und eine zierliche Statur zu erkennen, aber Hanna erkannte sie trotzdem. Und die innige Umarmung konnte man nicht missverstehen.

Nun wusste sie, weshalb Thomas immer seltener zu Besuch in die Klinik kam. Er hatte es auf seine viele Arbeit geschoben, aber den wahren Grund hielt er auf dem Foto im Arm: Geli, ihre Schwester!

Ein Riss schien mit einem Mal mitten durch Hannas Herz zu führen. Ungläubig starrte sie das Foto an. Eine Belastung, mehr bin ich nimmer für Thomas.

Sie hob den Kopf und betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Ein bleiches Gesicht blickte ihr entgegen. Ihre einstmals langen blonden Haare hatte sie verloren. Ein Tuch verbarg ihren kahlen Schädel, jedoch nicht die Schatten unter ihren Augen.

Wie soll Thomas mich lieben, wenn ich so aussehe?

Der Schmerz wühlte in ihrem Herzen wie ein Tornado. In einem Aufwallen von Verzweiflung riss Hanna das Foto aus der Zeitung und zerknüllte es zwischen den Fingern. Dann warf sie die Schale mit den Centstücken um. Die Münzen kullerten über den Boden und rollten unter den Schrank.

Hanna barg das Gesicht in den Händen.

»Nein!«, schluchzte sie. »Bitte, bitte, nein …«

***

»Nein!« Hanna fuhr in ihrem Bett hoch und blickte sich um. Auf ihrer Brust schien ein Druck zu lasten, der erst nach einigen Atemzügen verschwand. Ihr Blick irrlichterte umher, blieb an dem Poster von Loch Ness hängen, das sie nach der Matura von ihrer Abschlussfahrt mitgebracht hatte. Es war über ihrem Bett angebracht. Auf dem Fensterbrett blühte eine Orchidee.

Alles war gut. Sie war daheim in ihrer Kammer. Unwillkürlich tastete Hanna nach ihrem Kopf und spürte weiche Haare. Sie stieß den Atem aus. Es war nur ein Traum gewesen. Nein, das stimmte nicht ganz. Im Schlaf hatten die Erinnerungen sie heimgesucht.

Jener Tag in der Klinik hatte sich vor drei Jahren wirklich so abgespielt. Seither war eine Menge passiert. Hanna war wieder gesund, und Thomas war kein Teil ihres Lebens mehr.

Sie verschränkte die Beine unter sich. Vor ihrem Fenster war die Sonne bereits untergegangen. Es war jedoch noch nicht ganz dunkel. Der Abend breitete seine Schwingen gerade erst über dem Zillertal aus.

Ein Traktor zog im Licht der Scheinwerfer seine Bahnen über eine nahe Wiese. Anscheinend nutzte der Nachbar das sommerliche Wetter zum Heumachen. Der Duft des gemähten Grases wehte herüber und brachte das Gefühl von Sommer mit.

Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte 21.30 Uhr an. Hanna ging stets früh zu Bett, weil sie morgens zeitig aufstand. Sie arbeitete auf dem Hof ihrer Familie. Seitdem sich ihre Eltern aus dem Betrieb zurückgezogen hatten, führte ihr älterer Bruder den Hof. Lukas hatte zahlreiche Pläne für das Anwesen.

Ein leises Schnurren unter dem Bett ließ Hanna aufhorchen.

»Komm schon raus«, sagte sie lächelnd. »Du bist entdeckt.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als ihr orangefarbener Kater auf ihre Decke sprang und sich auf ihrem Schoß zusammenrollte. Bismarck war ein Geschenk ihrer Eltern gewesen. Kurz vor ihrem ersten Aufenthalt im Krankenhaus.

»Damit du einen Grund hast, wieder heimzukommen«, hatte ihr Vater mit Tränen in den Augen gesagt. Und tatsächlich hatte die Vorfreude auf den Kater ihr über so manche trübe Stunde in der Klinik hinweggeholfen. Sie hatte sich ausgemalt, wie er auf ihrem Schoß liegen und dösen würde, während sie las oder fernsah.

Klack!

Etwas flog von draußen gegen ihre Fensterscheibe. Hanna krauste die Stirn. Nach einem Vogel klang das nicht!

Klack!

Schon wieder! Diesmal sah sie einen kleinen Stein auf dem Holz des Balkonbodens liegen. Wer warf denn da mit Kieseln nach ihrem Fenster?

Hanna schob ihre Zudecke zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Bismarck sprang auf ihr Kopfkissen und rollte sich dort zusammen, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet.

Wegen der sommerlichen Hitze hatte Hanna nur ein dünnes Nachthemd mit Spaghettiträgern an. Barfuß tappte sie zur Balkontür und öffnete sie weit. Im selben Augenblick flog der dritte Kiesel durch die Luft und traf sie am Arm.

»Hey!«

»Oh! Entschuldige bitte. Das wollte ich net.« Vor ihr tauchte ein gebräuntes Männergesicht auf. Braune Haare blickten sie unter dunklen, leicht zerzausten Haaren entschuldigend an.

»Simon?« Verblüfft schaute Hanna den Zimmermann an, der soeben eine Leiter hochkletterte, die er an ihren Balkon gelehnt hatte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn entrüstet an. »Was bitte soll das denn werden, wenn es fertig ist?«

»Wonach sieht es denn aus?«

»Nach versuchtem Einbruch!«

»Aber nein!« Erschrocken wedelte er mit einer Hand. Der kleine Finger fehlte. Ein Tribut an seinen Beruf. »Ich will doch nichts stehlen. Höchstens dein Herz. Ich fensterle bei dir.«

»Etwas Besseres als mich nachts aus dem Schlaf zu reißen fällt dir net ein?« Hanna zog tadelnd eine Braue hoch.

»Es ist noch net mal zehn. Sag bloß, du hast schon geschlafen?«

Anstelle einer Antwort deutete Hanna auf ihr Nachthemd. Als seine Augen angesichts ihrer spärlichen Bekleidung aufleuchteten, kreuzte sie die Arme hastig wieder vor sich und funkelte ihn an.

Simon war vier Jahre älter als sie und stammte ebenfalls aus St. Christoph. Er galt als zurückhaltend, auch wenn man an diesem Abend nicht diesen Eindruck gewinnen mochte. Ein Naturbursche war er, der am liebsten in den Bergen unterwegs war, wenn er nicht gerade arbeitete.

»Die sind für dich.« Simon reichte ihr einen Strauß Sommerblumen über die Brüstung. Er schien sie selbst gepflückt zu haben. Ein paar Gräser steckten zwischen den bunten Blüten.

»Gib sie den Kühen.« Hanna schüttelte den Kopf.

Simon schien ihr die Bemerkung nicht übel zu nehmen, denn ein Lächeln flog über sein Gesicht.

»Die sind net zum Verzehr gedacht. Du sollst sie in eine Vase stellen und dich daran erfreuen. Ich glaube kaum, dass die Kühe dafür Verwendung haben.«

Hannas Mundwinkel zuckten.

»Eher net«, räumte sie ein.

»Dann solltest du sie besser nehmen.«

»Das kann ich net, Simon.«

»Sollen sie verwelken, ohne jemandem Freude zu machen?« Simon hielt ihr die Blumen hin, aber Hanna nahm sie nicht. Daraufhin stieß er ein Seufzen aus. »Am Wochenende ist Sommertanz. Magst du mit mir hingehen? Die Hexensteiner werden ihre schönsten Lieder spielen und …«

»Daraus wird nichts!« Hanna verkrampfte sich. Vor drei Jahren hatte ihr Freund auf dem Sommertanz ihre Schwester geküsst. Dadurch war ihr die Veranstaltung vergällt. Thomas hatte sie betrogen. Seitdem vertraute sie niemandem mehr. Nicht einmal ihrem eigenen Herzen.

Simon war sympathisch, aber sie würde trotzdem nicht mit ihm ausgehen. Sie tat besser daran, ihr Herz zu hüten, damit es nicht noch einmal in tausend Stücke zerbrach. Sie hatte noch längst nicht alle Scherben eingesammelt.

»Tut mir leid«, fügte sie leise hinzu. Dann kehrte sie in ihre Kammer zurück, schloss die Balkontür und zog die Vorhänge zu. Mit wild klopfendem Herzen verharrte Hanna so.

Draußen verrieten gedämpfte Geräusche, dass Simon nach unten kletterte und die Leiter fortnahm. Er war gegangen. Kurz flackerte ein Gefühl von Enttäuschung durch ihre Brust, aber sie nahm sich rasch zusammen.

Bloß nicht mehr verlieben! Das brachte einem nichts als Kummer ein. Sobald es hart auf hart kam, stand man alleine da. Das hatte sie von Thomas gelernt. Sie wünschte sich nicht nur einen Partner für sonniges Wetter, sondern auch, wenn die Schicksalsstürme wüteten. Doch das war nichts als ein schöner Traum. So einen Menschen gab es nicht …

Hanna verließ ihre Kammer. Sie war hellwach. Vielleicht würde ihr ein Becher warme Milch mit einer Prise Muskat dabei helfen, wieder einzuschlafen.

In der Diele lag ein Brief auf dem Telefontisch. Er war an sie adressiert. Nanu? Wo kam der denn her? Hatte sie ihn vorhin beim Heimkommen übersehen?

Hanna drehte den Umschlag um und las den Absender: Friedrich Hofer, Notar. Aus Wien! Verwundert grub sie die Zähne in die Unterlippe. Der Name sagte ihr nichts. Wen kannte sie in Wien?

Ein Notar? Was mochte ein Notar von ihr wollen?

***

»An meiner Schwester wirst du dir die Zähne ausbeißen, Simon.« Lukas Pletzenauer schob die Daumen unter die Riemen seines Rucksacks und stapfte weiter bergan.

Simon folgte seinem Kameraden. Der Weg führte so steil bergan, dass er leicht vornübergebeugt gehen musste. Das Licht seiner Taschenlampe erhellte ihnen den Pfad. Mittlerweile war die Sonne vollständig untergegangen, und die Nacht hatte ihren dunklen Mantel über dem Tal ausgebreitet.

Zwei Teams der Bergrettung waren unterwegs auf dem Hexenstein. Simon und sein Kamerad stiegen von Süden her auf, Sepp und Anton von Westen. Der Einsatz war durch einen Anruf in der Zentrale der Bergrettung ausgelöst worden.

Ein Ehepaar hatte sich beim Wandern hoffnungslos verlaufen und fand den Weg zurück nach St. Christoph nicht mehr. Sie saßen irgendwo auf dem Berg fest.

Simon hatte sich der Suche nach den Vermissten angeschlossen. Er gehörte seit acht Jahren der Bergrettung an. Ein Ehrenamt war es, das ihn Zeit, Kraft und oft auch Nerven kostete und bei Wind und Wetter in die Berge führte, aber er hätte es nicht anders haben wollen.

Bereits sein Vater und sein Großvater hatten bei Notfällen mitgeholfen. So machte man das, wenn man in einer Gegend lebte, die ebenso idyllisch wie rau war und in der ein falscher Schritt das Leben kosten konnte. Für ihn gehörten die Einsätze zum Leben dazu. Außerdem war er ohnehin zu aufgewühlt, um schlafen zu können, nachdem Hanna ihn brüsk abgewiesen hatte.

Irgendwo über ihren Köpfen schuhute ein Käuzchen.

»Du bist abgeblitzt, stimmt’s?«, hakte sein Begleiter nach.

»Streu nur noch Salz in die Wunde.«

»Tut mir leid, aber das hätte ich dir vorher sagen können.«

»Ach ja?« Simon sah seinen Kameraden verwundert an. »Seit wann ist Nostradamus dein zweiter Vorname?«