Der bleiche König - David Foster Wallace - E-Book

Der bleiche König E-Book

David Foster Wallace

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Beschreibung

Der letzte Roman von David Foster Wallace, dem »Besten seiner Generation« In seinem letzten, posthum erschienenen Roman vollbringt David Foster Wallace das Kunststück, auf gar nicht langweilige Weise über den langweiligsten Arbeitsplatz der Welt zu schreiben: die amerikanische Steuerbehörde.Mit der ihm eigenen sprachlichen Brillanz nähert sich David Foster Wallace in diesem nachgelassenen Roman seinem Thema: Was macht strukturelle Langeweile aus einem Menschen? Als Claude Sylvanshine nach Peoria in Illinois an die IRS, die amerikanische Bundessteuerbehörde, versetzt wird, trifft er dort auf Kollegen, die mit der tagtäglichen, unüberwindbaren Monotonie ihrer Arbeit und somit ihres Lebens kämpfen. Welche Lebensgeschichten führten dazu, dass jemand mehr oder weniger freiwillig einen solchen Beruf ergreift?Der Roman erschien in den USA drei Jahre nach Wallace' Tod und wurde zum gefeierten Bestseller. In ihm zeigt David Foster Wallace noch einmal sein ganzes Können – die unübertroffene Originalität seiner Sujets, die sprachliche Präzision, der sezierende Blick auf die Unzulänglichkeiten menschlicher Gesellschaft und der immer präsente Humor. »Atemberaubend brillant, lustig, unerträglich und elegisch« The New York Times

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Seitenzahl: 1043

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David Foster Wallace

Der bleiche König

Ein unvollendeter Roman

Aus dem Amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über David Foster Wallace

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Inhaltsverzeichnis

DisclaimerCopyrighthinweisFördernachweisVorbemerkung des ÜbersetzersMotto§ 1§ 2§ 3§ 4§ 5§ 6§ 7§ 8§ 9§ 10§ 11§ 12§ 13§ 14§ 15§ 16§ 17§ 18§ 19§ 20§ 21§ 22§ 23§ 24§ 25§ 26§ 27§ 28§ 29§ 30§ 31§ 32§33§ 34§ 35§ 36§ 37§ 38§ 39§ 40§ 41§ 42§ 43§ 44§ 45§ 46§ 47§ 48§ 49§ 50Notizen und RandbemerkungenVier zusätzliche SzenenSzene 1Szene 2Szene 3Szene 4Anmerkung des HerausgebersDanksagung des Übersetzers
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Die in diesem Buch beschriebenen Figuren und Ereignisse sind fiktiv.

Ähnlichkeiten mit realen – lebenden oder toten – Personen sind vom Autor nicht beabsichtigte Zufälle.

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Folgende Kapitel sind in früheren Fassungen und/oder Übersetzungen bereits andernorts erschienen:

Kapitel 6 unter dem Titel »Good People« in The New Yorker und unter dem Titel »Gute Menschen« in der Frankfurter Rundschau;

Kapitel 16 unter dem Titel »A New Examiner« in The Lifted Brow und Harper’s;

Kapitel 33 unter dem Titel »Wiggle Room« in The New Yorker;

Kapitel 35 unter dem Titel »The Compliance Branch« in Harper’s.

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Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Buch wurde mit großzügigen Stipendien der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia sowie des Deutschen Literaturfonds e.V. gefördert.

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Vorbemerkung des Übersetzers

Natürlich braucht der erfahrene Leser von David Foster Wallace keine Vorbemerkung, um den nachgelassenen und Fragment gebliebenen letzten Roman des Autors zu verstehen. Alle erfahrenen Wallace-Leser blättern also bitte gleich vor zum Romananfang. Da aber gerade in der ersten Hälfte viele Personen eingeführt werden, deren Wiedererkennen im Handlungsverlauf nicht immer leichtfällt, hier eine kleine Orientierungshilfe im Hinblick auf Struktur und Figurenensemble.

Der Roman Der bleiche König spielt hauptsächlich Mitte der Achtzigerjahre in einem Steuerprüfzentrum des Internal Revenue Service (IRS) in Peoria, Illinois. Wallace versetzt uns also dreißig Jahre in die Vergangenheit zurück. Es schließen sich jedoch weitere Zeitsprünge um zehn bis zwanzig Jahre an. Der Roman hat keine Hauptfiguren im strengen Sinn, sondern ist von einer Art Gruppenkonstellation geprägt. In den ersten Kapiteln werden die bis in die Sechziger- und Siebzigerjahre zurückreichenden und manchmal sehr bewegten und bewegenden Vorgeschichten einzelner Figuren erzählt, wobei Wallace hier absichtlich Verwirrung stiftet und mit kalkulierten Aussparungen arbeitet: Teilweise werden diese Figuren im weiteren Romanverlauf wichtig, teilweise werden sie aber auch in kleinen Prosavignetten sehr plastisch vor Augen geführt, haben später aber nur noch kurze Auftritte.

In einer solchen Rückblende lernen wir in § 8 beispielsweise Toni Ware als Kind kennen, die aus dysfunktionalen Familienverhältnissen im White Trash der Südstaaten stammt und mit ihrer psychotischen Mutter, die immer wieder wochenlang in geschlossenen Anstalten verschwindet, von einer Trailersiedlung zur nächsten zieht. Bei einem Autounfall kommt die Mutter ums Leben, und Toni entwickelt sich zu einer ausgewachsenen Sadistin. In der Gegenwartshandlung, in den Achtzigerjahren also, arbeitet sie im IRS in Peoria, und wir bekommen sie einmal kurz und von fern in einem Großraumbüro zu sehen.

In einer vergleichbaren Rückblende, die sich allerdings zum mit Abstand längsten Kapitel des ganzen Romans auswächst, schildert ein Steuerprüfer namens Chris Fogle seine psychedelischen Butterfahrten durch die Gegenkultur der Siebzigerjahre (§ 22). Der junge Lane Dean jr. diskutiert mit seiner ungewollt schwanger gewordenen Freundin Sheri Fisher über eine Abtreibung (§ 6), und David Cusk leidet seit seiner Schulzeit unter pathologischen Schweißausbrüchen (§ 13). In einer in sich abgeschlossenen Satire in § 5 wird Leonard Stecyk vorgestellt, der als Schüler im Jahr 1965 eine solche Plansollübererfüllung des Guten praktiziert, dass er seinen Mitmenschen ebenso wie dem Leser schwer auf die Nerven geht, weil sein Altruismus einem ständig die eigenen moralischen Defizite vorhält. Ein Berufsanfänger namens David Wallace, der sich als Autor des Romans ausgibt, wird in einer auf Namensgleichheit beruhenden Verwechslungskomödie als hochrangiger Steuerprüfer eingestuft, erzählt aber auch, wie er im Studium als Ghostwriter seinen Kommilitonen die Seminararbeiten geschrieben hat.

 

Etwa in der Mitte des Buchs tritt der Roman in eine neue Phase ein. Die Struktur der Steuerbehörde ist etabliert, die Figuren sind vorgestellt, ab jetzt werden sie vernetzt, und die bis dahin teilweise noch isolierten Erzählstränge werden in der statischen Angestelltenwelt der Steuerbehörde zusammengeführt. David Cusk und Toni Ware nehmen an einem Orientierungskurs für Steuerprüfer teil. Der un-ter einer schweren Hautkrankheit leidende David Wallace sitzt im IRS-Transporter zum Steuerprüfzentrum neben dem schwitzenden David Cusk. Lane Dean jr. wird an seinem Arbeitsplatz von einem Geist besucht. Es wird Behördenfolklore erzählt, in den Arbeitspausen macht man Small Talk über Münzsammler sowie den letzten gemeinsamen Grillabend und zieht über die Vorgesetzten her. Diese Vorgesetzten ihrerseits, die ranghöheren Gruppen- und Abteilungsleiter, diskutieren in einem stecken gebliebenen Fahrstuhl über verfassungsrechtliche Grundlagen der USA und die Geschichte des amerikanischen Steuerrechts. Wichtig werden in der zweiten Hälfte des Romans auch Meredith Rand und Shane Drinion, die nach der Arbeit gemeinsam in die Kneipe gehen, wo sich zwischen Femme fatale und Homme banale dann eine Art Beziehungsgespräch ergibt, das – mit umgekehrtem Vorzeichen – eine Fortsetzung von Wallace’ Erzählungen in Kurze Interviews mit fiesen Männern sein könnte. In einem der letzten Kapitel kommt es schließlich noch zu einem großen Betriebsausflug.

Wenn es im Bleichen König eine einzelne Figur gibt, die sich wie ein roter Faden durch einen Großteil des Romans zieht, dann ist das am ehesten Claude Sylvanshine, der als Vortrupp von Merrill Errol Lehrl, dem gerade nach Peoria versetzten Geschäftsführer der Abteilung Personalsysteme, das Steuerprüfzentrum auskundschaften soll. In § 2 ist er nach Peoria unterwegs, in § 7 hört er sich im Bus auf der Fahrt nach Joliet das Fachgesimpel seiner künftigen Kollegen Tom Bondurant und Gary Britton an, und in § 15 wird seine parapsychologische Gabe der Konfusen Faktenintuition vorgestellt. § 27 zeigt ihn zusammen mit David Cusk und Toni Ware im IRS-Orientierungskurs, in § 30 wird er von seinem Freund und Mitbewohner Reynolds über das Führungspersonal und Organigramm der Prüfzentrale in Peoria ausgehorcht, und in § 39 sammelt er weitere Daten über DeWitt Glendenning, den Direktor des Steuerprüfzentrums.

 

David Foster Wallace hat The King nicht abschließen können, das heißt aber nicht, dass er ihm im Lauf der erbarmungslosen Überarbeitungen, für die er bekannt war, Kohärenz verliehen hätte. Das Fragmentarische ist bei diesem Autor Prinzip. Schon Unendlicher Spaß war, wie sein Lektor Michael Pietsch als ersten Leseeindruck festhielt, »ein Roman aus Scherben, gewissermaßen eine zerbrochene Erzählung, deren Stücke jemand aufzulesen versucht«. Die geschlossene Abbildung einer Welttotalität war nie Wallace’ Ziel. Sie wäre ihm wohl verlogen vorgekommen, und er hätte Peter Rühmkorfs Devise zugestimmt: »Was sich nicht organisch fügen will, soll wenigstens anschaulich klaffen.« Was man im vorliegenden Fragmentroman aber erahnt, das ist die verzweifelte Sehnsucht nach dem Ganzen.

 

U.B.

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Wir füllen präexistente Formen aus, und indem wir sie ausfüllen, ändern wir sie und werden verändert.

Frank Bidart, »Borges und ich«

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§ 1

Vorbei an den Baumwollebenen, Asphaltdiagrammen und Skylines aus verkantetem Rost, vorbei auch am tabakbraunen Fluss, überhangen von Trauerbäumen, durch die hindurch Sonnenlichtmünzen auf das fließende Wasser fallen, zum Ort jenseits des Windschutzes, wo Brachfelder gleißend in der Morgenhitze schmoren: Mohrenhirse, Melden, Quecken, Stechwinden, Cypergras, Stechapfel, Rossminze, Löwenzahn, Fuchsschwanz, Muskatellerreben, Wirbelkohl, Goldruten, Pfennigkraut, Samtpappeln, Nachtschatten, Stachelkraut, Hafergras, Wicken, stechender Mäusedorn, eingestülpte Wildbohnen, alle Köpfchen nicken in der Morgenbrise, sanft wie eine weiche Mutterhand auf deiner Wange. Ein Pfeil von Staren schießt aus dem Strohdach des Windschutzes. Das Glitzern des Taus, der bleibt, wo er ist, und den ganzen Tag dampft. Eine Sonnenblume, dann noch vier, eine geneigt, und in der Ferne stehen Pferde still und starr wie Spielzeug. Alle nicken. Elektrische Geräusche geschäftiger Insekten. Bierfarbenes Sonnenlicht, ein bleicher Himmel und Zirrusschlieren, so hoch, dass sie keine Schatten werfen. Immerzu geschäftige Insekten. Quarz, Hornstein, Schiefer und Eisenschorfchondriten im Granit. Uraltes Land. Sieh dich um. Der Horizont zittert konturlos. Wir sind alle Brüder.

Ein paar Krähen droben, drei oder vier, kein Schwarm, sind im Anflug, gespannt still, kornwärts zum Weidezaun, hinter dem ein Pferd am Hinterteil des Leitpferds schnobert, das den Schweif bereitwillig gehoben hat. Deine Schuhmarke in den Tau eingeprägt. Eine Alfalfabrise. Socken mit Kletten. Trockenes Kratzen in einem Dränagegraben. Rostiger Draht und schiefe Pfosten eher ein symbolisches Hindernis als ein echtes Gatter. JAGEN VERBOTEN. Das Rauschen der Autobahn hinter dem Windschutz. Die Saatkrähen stehen vorgebeugt da und picken auf Pferdeäpfel ein, um an die Würmer darunter zu kommen, deren Formen sich dem umgedrehten Kot eingeprägt haben, von der Sonne den ganzen Tag hart gebacken wurden und nun von Dauer sind, kleine leere Linien in Reihen und eingeritzten Ringeln, die sich nicht schließen, weil Kopf nie ganz auf Schwanz trifft. Lies diese.

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§ 2

Folgendes war ungefähr zur besagten Zeit im IRS-Regionalprüfzentrum Nordosten in Rome, NY, passiert: Zwei Abteilungen waren ins Hintertreffen geraten und hatten auf beklagenswert unprofessionelle Weise darauf reagiert, eine extreme Stressatmosphäre hatte das Urteilsvermögen getrübt und die vorgeschriebenen Verfahren außer Kraft gesetzt, und die eine Abteilung hatte die wachsenden Stapel von Steuererklärungen, Fremdrevisionsbelegen und W-2/1099-Formularen zu verbergen versucht, statt den Überhang zu melden und zu beantragen, dass die Rückstände teilweise an andere Zentren weitergeleitet würden. Sowohl umfassende Offenlegung als auch sofortige Abhilfemaßnahmen blieben aus. Nur die Frage, wo genau Störung und Panne aufgetreten waren, sorgte trotz der Sündenbocksuche in den Compliance-Chefetagen noch für Kontroversen, aber die Verantwortung lag letzten Endes bei der RPZ-Direktorin in Rome, obwohl nie eindeutig bewiesen werden konnte, dass die Abteilungsleiter sie über das volle Ausmaß des Rückstands in Kenntnis gesetzt hatten. Im Service kursierte inzwischen der fiese Witz, auf dem Schreibtisch dieser Direktorin hätte ein Holzschildchen mit der Aufschrift WELCHER SCHWARZE PETER? gestanden. Erst nach drei Wochen hatten die Bezirksrevisionsabteilungen wegen des Ausbleibens geprüfter Steuererklärungen für die Revision und/oder die Automatisierten Inkassosysteme aufgeschrien, und die Reklamationen hatten sich langsam einen Weg nach oben und zur Kontrollabteilung gebahnt, was, wie sich jeder hätte denken können, nur eine Frage der Zeit sein konnte. Die Direktorin in Rome war in den Vorruhestand getreten, und ein Gruppenmanager war fristlos gefeuert worden, was bei einem GS-13 äußerst selten vorkam. Die Abhilfemaßnahmen mussten selbstredend kaschiert werden, damit keine unnötige Öffentlichkeit den Glauben und das Vertrauen der Menschen in den Service kompromittierte. Niemand schmiss Formulare weg. Verstecken ja, vernichten oder wegwerfen nein. Selbst auf dem Höhepunkt der katastrophalen Abteilungspsychose brachte es niemand über sich, etwas zu verbrennen, zu schreddern oder in Müllsäcke zu stopfen und wegzuwerfen. Das wäre eine echte Katastrophe gewesen – das wäre bekannt geworden. Das Fenster der Rettungsluke bestand anscheinend nur aus mehreren Plastikschichten, und die innerste gab unheildräuend nach, wenn man mit den Fingern draufdrückte. Über dem Fenster wurde streng davor gewarnt, die Rettungsluke zu öffnen, und direkt daneben illustrierte ein kleines Triptychon, wie die Luke zu öffnen war. Mit anderen Worten, als System war das schlecht durchdacht. Was heute Stress genannt wurde, hieß früher Anspannung oder Druck. Druck war heute eher etwas, das man auf andere ausübte. Reynolds sagte, einer von Dr. Lehrls Zweigstellenverbindungsleuten hätte das RPZ von Peoria als »Dampfkochtopf« bezeichnet, das galt allerdings eher der Prüf- als der Personalabteilung, und später war Sylvanshine als Vorhut genau dorthin versetzt worden, um Vorkehrungen gegen einen potenziellen Systems-Totalausfall zu treffen. Die Wahrheit, die sich Reynolds gerade noch verkneifen konnte, lautete, dass der Auftrag nicht sonderlich prekär sein konnte, wenn man ihn Sylvanshine anvertraute. Seinen Recherchen zufolge waren die CPA-Prüfungstermine am Peoria College of Business der 7. und 8. November und am Joliet Community College der 14. bis 15. November. Versetzungsdauer unbekannt. Eine der effizientesten isometrischen Übungen für Schreibtischhengste besteht darin, sich aufrecht hinzusetzen und die großen Gesäßmuskeln anzuspannen, bis acht zu zählen und sich dann zu entspannen. Das strafft, fördert die Durchblutung und Wachheit und kann im Gegensatz zu anderen isometrischen Übungen auch in der Öffentlichkeit praktiziert werden, da das meiste unter der Schreibtischmasse verborgen bleibt. Grimassen oder lautes Ausatmen sind zu vermeiden. Transferpräferenzen, Liquiditätsrückstellungen, nicht gesicherte Gläubiger, Konkursforderungen gemäß Chapter 7. Seinen Hut hatte er im Schoß, über dem Gurt. Vor dem Eklat und seinem rasanten Aufstieg war Systems-Direktor Lehrl GS-9-Revisor in Danville, Virginia, gewesen. Er hatte die Kraft von zehn Männern. Sylvanshines größtes Problem bei den Prüfungsvorbereitungen war jetzt, dass das Büffeln eines Themas in seinem Kopf einen Sturm aller anderen entfesselte, für die er noch nicht gebüffelt hatte und in denen er sich noch schwach fühlte, sodass er sich praktisch nicht mehr konzentrieren konnte und immer weiter zurückfiel. Er bereitete sich seit dreieinhalb Jahren auf die CPA-Prüfung vor. Es war, als wollte man bei starkem Wind ein Modell bauen. »Die wichtigste Komponente bei der Organisierung einer Struktur für effizientes Lernen ist:« allerhand. Was ihm das Genick brach, waren die Geschichtsprobleme. Reynolds hatte die Prüfung im ersten Anlauf geschafft. Gierung war ein Hin- und Hergehen bei heftigem Seegang. Für das Auf- und Niederbewegen gab es ein anderes Wort. Da ging es um Längsachsen. Irgendetwas mit Kardal- oder Kardan- ging ihm immer durch den Kopf, wenn er an den Jungen namens Donagan von der Lombard High dachte, der später bei den letzten beiden Apollo-Flügen zur Einsatzleitung gehörte und dessen Foto in der Lombard in einer Vitrine neben dem Schulsekretariat stand. Das Schlimmste war damals gewesen, dass er wusste, welche Lehrer für die Jobs am wenigsten taugten, und sie sahen ihm an der Nasenspitze an, dass er etwas wusste, und waren am schlimmsten, wenn er zusah. Es war ein Teufelskreis. In Sylvanshines Abschlussjahrbuch, das in der in Philly eingelagerten Kiste lag, hatte praktisch niemand unterschrieben. Die neben ihm sitzende ältere Flugpassagierin versuchte immer noch, mit den Zähnen ihre Nusstüte aufzureißen, hatte aber eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie Hilfe weder wollte noch brauchte. Unter Projected Benefit Obligation (kurz PBO) versteht man den Barwert des bis dato erdienten Teils der Verpflichtungen aus betrieblicher Altersversorgung. Wenn man alle Großbuchstaben von D. b. D. d. H. k. P. betont, erhält man ein rhythmisch geträllertes Kinderlied, zu dem man Seil hüpfen kann. Sag mal ganz schnell Hirsch heiße ich. Ein Teenager vor der Videospielhalle neben den Sanitäranlagen vom Flughafen Midway hatte ein schwarzes T-Shirt getragen, unter dessen Aufschrift SYMPATHY FOR NIXON TOUR eine lange Liste von Städten in kleinen Buchstaben appliziert war. Der Teenager, der nicht im Flugzeug saß, hatte Sylvanshine in der Abflughalle dann kurz gegenübergesessen und sich mit einer Konzentriertheit im Gesicht herumgepult, die ganz anders war als das geistesabwesende Herumpulen an und das Betasten von Gesichtspartien, die mit konzentrierter Arbeit im Service einhergingen. Sylvanshine träumte immer noch von Schreibtischschubladen und Lüftungsschächten, die mit Formularen vollgestopft waren, von Formularecken, die aus den Gitterrosten über den Schächten hervorquollen, und vom Allzweckschrank, in dem bis obenhin Hollerithkarten gestapelt waren, und wie die Dame von der Kontrollabteilung die Schranktüren aufriss und à la McGee unter den Karten begraben wurde, als das Fiasko dann über sie hereinbrach, nachdem sie mit den Fremdrevisionsbelegen im RPZ von Rome in Rückstand geraten waren. Er träumte immer noch von Grecula und Harris, die den Fornix-Großrechner lahmgelegt hatten, indem sie aus einer Thermoskanne etwas in den hinteren Lüftungsschlitz gossen, woraufhin es zischte und bläulicher Rauch aufstieg. Der Teenager hatte überhaupt keine berufstätige Aura gehabt; bei manchen Leuten kam das vor. Im ersten Prüfungsabschnitt ging es um ethische Standards, zu denen im Service jede Menge Witze im Umlauf waren. Zu einem Verstoß gegen die ethischen Branchenstandards wäre es höchstwahrscheinlich gekommen, als: Durch das Jenseitsgeräusch der Propeller vernahm Sylvanshine jetzt nur noch verwehte Silben der Gespräche um ihn her. Die Kralle der Frau auf der stählernen Armlehne zwischen ihnen war ein so entsetzlicher Anblick, dass er ihn geflissentlich übersah. Die Hände alter Menschen ängstigten und ekelten ihn. Er erinnerte sich an die Hände seiner Großeltern, wie sie fremd- und krallenartig in ihren Schößen lagen. Beim Börsengang begibt Jones Inc. Stammaktien zu einem Preis über dem Pariwert. Es fiel schwer, sich nicht die Gesichter derer vorzustellen, deren Aufgabe es war, diese Fragen zu schreiben. Woran dachten sie, was waren ihre beruflichen Ambitionen und Träume? Viele der Fragen ähnelten kleinen Geschichten, bei denen man alles Menschliche weggelassen hatte. Am 1. Dezember 1982 vermietet Clark Co. Büroräumlichkeiten für drei Jahre zu einem monatlichen Mietzins von $ 20.000. Bis hundert zählend, versuchte Sylvanshine, immer abwechselnd die linke und die rechte Gesäßbacke anzuspannen und nicht beide gleichzeitig, was Konzentration und eine seltsame Art von Kontrollverzicht erforderte, wie wenn man vor dem Spiegel mit den Ohren wackeln will. Er versuchte, den Kopf sanft und langsam abwechselnd auf die eine und die andere Seite zu legen, um die Nackenmuskulatur zu dehnen, erntete aber trotzdem schiefe Blicke der ältlichen Dame, die in ihrem schwarzen Kleid und dem eingedetschten Gesicht immer mehr an einen Totenkopf erinnerte und ihm Angst einjagte; sie verhieß den Tod oder ein Durchfallen mit Pauken und Trompeten bei der CPA-Prüfung, und beides verschmolz in Sylvanshines Vorstellung zu einem einzigen Bild, in dem er schweigend und ausdruckslos einen Industrieschrubber einen Korridor entlangstieß, der von Milchglastüren mit den Namen anderer Männer gesäumt war. Schon der Anblick eines Schrubbers, Rolleimers oder Raumpflegers mit dem Namen in roter Schreibschrift auf der Brusttasche des grauen Arbeitsanzugs (wie im Midway vor der Herrentoilette, wo ein kleines gelbes Schild in zwei Sprachen vor nassen Böden warnte; der Schreibschriftname hatte mit M begonnen, Morris oder Maurice, und der Mann passte zu seinem Job, wie man zu dem Raum passt, den man einnimmt) brachte Sylvanshine inzwischen dermaßen durcheinander, dass er kostbare Zeit verlor, bevor er auch nur daran denken konnte, im Kopf einen praktikablen Zeitplan für eine Prüfungsvorbereitung von maximaler Effizienz auszuarbeiten, was er jeden Tag machte. Seine große Schwäche war die strategische Organisation und Zeiteinteilung, was Reynolds ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase rieb, wenn er Claude eindringlich mahnte, doch bloß um Himmels willen endlich ein Buch vom Stapel zu nehmen und durchzuarbeiten, statt bloß dazusitzen und sich nutzlose Methoden für das beste Büffeln aus den Fingern zu saugen. Stopfte Steuererklärungen hinter Schränke und in Lüftungsschächte. Sperrte Schreibtischschubladen ab, in denen schon so viele Querverweistabellen lagen, dass sie eh nicht mehr aufgingen. Versteckte Sachen unter anderen Sachen in Tingle-Fächern. Reynolds war ganz einfach vor der Anhörung im Büro der Direktorin aufgetaucht, die ganze persönliche Katastrophe hatte sich in ein violettes bürokratisches Rauchwölkchen aufgelöst, und eine Woche später hatte Sylvanshine seine Kartons in der Abt. Systems in Martinsburg unter Dr. Lehrl ausgepackt. Er hatte das Gefühl, als wäre er um Haaresbreite einem tödlichen Verkehrsunfall entkommen, und konnte später nicht daran zurückdenken, ohne sofort das große Zittern zu kriegen und das Funktionieren einzustellen, so knapp war er der Katastrophe entronnen. Im Fettenblock war es zur Kernschmelze gekommen. Zum leisen Klang eines Pseudoglöckchens leuchteten über den Sitzen die Glyphen für Sitzgurte und Rauchverbot auf; Sylvanshine sah jedes Mal hoch, ohne das bewusst zu wollen. Um Beweismittel zur Unterstützung von Vermögensaufstellungen zu erhalten, entwickelt der Revisor spezifische Auditierungsziele nach Maßgabe der betreffenden Aufstellungen. In einer Reihe hinter ihm plärrte ein Kleinkind; Sylvanshine stellte sich vor, wie die Mutter einfach ihren Gurt löste, sich in eine andere Reihe setzte und es plärren ließ. In Philly hatte man ihm nach dem Trubel anlässlich der Einführung der Inflationsindexierung, für die ’81 die neuen Vorlagen hatten konfiguriert werden müssen, einen stressbedingt eingeklemmten Nerv in der Nackenmuskulatur diagnostiziert, den die erzwungene unnatürliche Haltung auf dem kleinen und engen 8-B und die totenartige Kralle auf der Armlehne neben ihm, wenn er darauf achtete, noch verschlimmerten. Es stimmte: Kern der Sache war bei der Prüfung ebenso wie im Leben, wem oder was man Aufmerksamkeit schenkte und wem oder was bewusst nicht. Sylvanshine hielt sich in puncto Willenskraft für schwach oder unvollkommen. Das meiste, was andere an ihm achteten oder schätzten, war unbewusst, war einfach da, so wie die Körpergröße oder Gesichtssymmetrie eines Menschen. Reynolds nannte ihn willensschwach und hatte recht. Sylvanshine hatte seriell gespeichert, wie der Nachbar seiner Eltern, Mr Satterthwaite, die Kratzer an den Schuhen seiner Briefträgeruniform mit einem schwarzen Filzstift übermalte, und bevor es ihm noch recht bewusst wurde, weitete sich das zu einer ganzen narrativen Erinnerung an Mr und Mrs Satterthwaite aus, die keine Kinder hatten und auf den ersten Blick auch nicht sehr freundlich oder kinderlieb wirkten, es aber erlaubten, dass ihr Garten faktisch zum Hauptquartier aller Kinder aus der Nachbarschaft wurde, und ihm sowie dem katholischen Jungen mit dem Tick – ein chronisches Zucken – hatten sie sogar den Bau des windschiefen und wackligen Baumhauses in einem ihrer Bäume erlaubt, und Sylvanshine wusste nicht mehr, ob die Familie des Jungen weggezogen und das Baumhaus deswegen nicht fertig geworden war oder ob der Umzug erst später stattgefunden hatte und das Baumhaus einfach zu windschief und harzgetränkt gewesen war, um daran weiterzuarbeiten. Mrs Satterthwaite hatte Lupus gehabt und war oft unpässlich gewesen. Abweichungsraten, Präzisionsgrenzen, stratifizierte Stichprobenpläne. Dr. Lehrl hatte erklärt, Entropie sei die Maßeinheit eines bestimmten Informationstyps, den man nicht kennen musste. Lehrls Axiom lautete, der maßgebliche Test der Effizienz einer Organisationsstruktur bestehe in Information sowie dem Filtern und Verbreiten von Information. Echte Entropie habe nicht die Bohne mit Temperatur zu tun. Die Konzentrationsfähigkeit ließ sich auch gut steigern, indem man sich eine beruhigende Freiluftszene ohne Druck vergegenwärtigte, ob nun ausgedacht oder erinnert, die oft noch effektiver war, wenn sie Teich See Bach oder Fluss einschloss, da Wasser erwiesenermaßen eine beruhigende und fokussierende Wirkung auf das vegetative Nervensystem hatte, aber sosehr er sich nach den Gesäßübungen auch bemühte, Sylvanshine sah nur ein gezacktes Spektrum aus Primärfarben vor sich, das an ein psychedelisches Poster erinnerte oder an das, was man sieht, wenn man ins Auge gepikst worden ist und es vor Schmerz zukneift. Das Sonderbare des Wortes unpässlich. Beweisen Sie, dass das Verhältnis langfristiger Anleihekurse zu langfristigen Kapitalertragssteuersätzen nicht invers ist. Er wusste, wer im Flugzeug verliebt war, wer sich verliebt nennen würde, weil man das nun mal so sagte, und wer sich nicht verliebt nennen würde. Reynolds’ offen bekundete Einstellung zu Ehe/Familie war, dass er Väter von Kindheit an nicht gemocht habe und nicht gewillt sei, einer zu werden. An drei verschiedenen Schauplätzen der diversen Flughäfen von heute hatte Sylvanshine Blickkontakt zu dreißigjährigen Männern aufgenommen, die Kleinkinder in papusenartigen Hightech-Tragetüchern auf dem Rücken trugen, die Frauen umgehängte Stepptaschen mit Babybedarf, die Frauen am Ruder, und die Männer wirkten weich oder irgendwie weichgespült, auf resignierte Art hoffnungslos, ihr Schritt noch nicht ganz ein Sichdahinschleppen, die Augen leer und übermild vom abgespannten Stoizismus junger Väter. Reynolds hätte es nicht Stoizismus genannt, sondern die stillschweigende Hinnahme einer großen und schrecklichen Wahrheit. Der Begriff Angehöriger gilt für jeden Menschen, der grundfreibetragsberechtigt ist oder wäre, nur dass das Einkommen jedweder Art und die gemeinsame Steuererklärung dem nicht entsprechen. Nennen Sie zwei legale Standardverfahren, mit denen Treuhänder die Steuerpflicht an Begünstigte überwälzen können. Der Begriff Verluste aus Kapitalvermögen tauchte in der CPA-Prüfung nicht einmal auf. Es war unbedingt nötig, Serviceprioritäten und Prüfungsprioritäten zwei einander ausschließenden Modulen oder Netzwerken zuzuteilen. Eines von vier expliziten Projekten war, die Fähigkeit von Peoria 047 zu verbessern, legitime Beteiligungsgesellschaften von Steuerbegünstigungen zu unterscheiden, deren Sinn und Zweck sich auf die Steuervermeidung beschränkte. Entscheidend war, Verluste aus Kapitalvermögen von aktiven Verlusten abzugrenzen. Das laufende Projekt war, für die Automatisierung entscheidender Prüffunktionen im Peoria-Zentrum sowohl ein Format als auch eine Kontrollstruktur zu schaffen. Das Ziel war, über eine funktionsfähige Automatisierung zu verfügen, bevor die steuerrechtliche Beseitigung von Verlustabschreibungsmodellen nächstes Jahr ihre verbindliche Auslegung durch den Service fand. Das Rouge der älteren Frau sehr rot und ein Taschenbuch mit Lesezeichenzunge ungeöffnet in ihrem Schoß; die geäderte und gescheckte Kralle. Sylvanshines Sitzplatznummer war in den polierten Stahl der Armlehne eingeprägt, direkt neben ihrer Kralle. Deren Nägel waren von perfektem Knallrot. Der Duft des Nagellackentferners seiner Mutter in ihrem Schminkköfferchen und wie sich Strähnen ihres Haars aus dem Knoten lösten und im Nacken im Küchendampf kringelten, wenn O’Dowd und er mit blau gehämmerten Daumen und Harz in den Wimpern aus dem Garten der Satterthwaites zurückkamen. Am Fenster zuckten farblose Wolkensträhnen und -blitze vorbei. Über und unter einem waren sie was anderes, aber wenn man in den Wolken drin war, hatte das immer was Enttäuschendes; dann waren sie einfach keine Wolken mehr. Dann wurde es einfach nur echt neblig. Gierung war im Spiegel Gnureig, ging ihm grundlos durch den Kopf. Sylvanshine versuchte dann eine Weile, die Tatsache zu spüren, dass sein eigener Körper mit derselben Geschwindigkeit reiste wie das Flugzeug, in dem er saß. In einem großen Jet hatte man bloß das Gefühl, in einem lauten engen Raum zu sitzen; hier machten einem immerhin der wechselnde Sitz- und Gurtdruck die Bewegung bewusst, und diese physikalische Aufrichtigkeit vermittelte so etwas wie Sicherheit, was die Anfälligkeit und das Spotzpotenzial der Propellergeräusche teilweise wettmachte, und Sylvanshine überlegte, wie sich die Propeller anhörten, aber ihm fiel nur ein, dass ihr nagend hypnotisches Drehsummen so allumfassend war, dass es auch absolute Stille hätte sein können. Bei einer Lobotomie wurde ein Stäbchen oder eine Sonde durch die Augenhöhle eingeführt, und es hieß immer »frontopolare« Lobotomie, aber gab es eigentlich eine andere? Das Wissen, dass Stress ihn in der Prüfung versagen lassen konnte, löste ob der Aussicht auf Stress nur Stress aus. Es musste eine andere Methode geben, mit dem Wissen um die katastrophalen Konsequenzen von Angst und Stress umzugehen. Eine Antwort oder ein Trick der Willenskraft: die Fähigkeit, nicht daran zu denken. Was war, wenn bis auf Claude Sylvanshine alle diesen Trick kannten? Er neigte dazu, sich ein ultimatives platonisches Entsetzen als einen Raubvogel vorzustellen, dessen bloßer, von hoch droben geworfener Schatten das Beutetier schwächte, lähmte und zittern ließ, während der Schatten größer und zur Unausweichlichkeit wurde. Das Gefühl hatte er oft: Was war, wenn mit Claude Sylvanshine etwas von Grund auf verkehrt war, das bei anderen Menschen stimmte? Was war, wenn er einfach ungeeignet war, so wie manche Menschen ohne bestimmte Gliedmaßen oder Organe geboren wurden? Die Neurologie des Versagens. Was war, wenn er einfach geboren und dazu ausersehen war, im Schatten totaler Angst und Verzweiflung zu leben, und alle seine sogenannten Aktivitäten jämmerliche Versuche waren, ihn vom Unausweichlichen abzulenken? Diskutieren Sie wichtige Unterschiede zwischen Reservenbilanzierung und Verlustbilanzierung in der steuerlichen Behandlung uneinbringlicher Forderungen. Angst ist eine bestimmte Art von Stress. Überdruss ist wie Stress, bildet aber eine eigene Kategorie des Wehs. Wenn Sylvanshines Vater im Beruf etwas Schlimmes passierte – was oft genug vorkam –, sagte er immer »Wehe dem, Sylvanshine«. Es gibt eine Antistresstechnik namens Gedankenstopp. Beim Profitabilitätsindex handelt es sich um den Barwert der Realisierungserlöse, normiert durch das investierte Kapital. Segment, wesentliches Segment, kombinierte Segmenterträge, absolute kombinierte Segmenterträge, Betriebsergebnis. Materialpreisabweichung. Direkte Materialpreisabweichung. Er dachte an den herausnehmbaren Gitterrost vor dem Lüftungsschacht über Ray Harris’ und seinem Schreibtisch im RPZ von Rome und an das Geräusch, wenn der Rost herausgenommen und dann wieder fixiert und von Harris’ Handballen festgeklopft wurde, und dann schreckte er vor dem Gedanken zurück, was sich anfühlte, als würde das Flugzeug plötzlich beschleunigen. Die Autobahn unter ihm verschwand und tauchte manchmal an einer Stelle wieder auf, die Sylvanshine nur sehen konnte, wenn er die Wange am Plastikinnenfester platt drückte, und als der Regen dann wieder einsetzte und er merkte, dass der Landeanflug begann, tauchte sie in der Fenstermitte auf, geringer Verkehr kroch mit einem nutz- und sinnlosen Pathos darüber hinweg, das man am Boden nie wahrnahm. Was war, wenn sich das Fahren tatsächlich so langsam anfühlte, wie es aus dieser Perspektive aussah? Das musste so ähnlich sein, wie wenn man unter Wasser zu laufen versuchte. Die Perspektive war der springende Punkt, das Filtern, die Wahl der Objekte der Wahrnehmung. Sylvanshine versuchte sich vorzustellen, wie das kleine Flugzeug vom Boden aus wirkte, eine kreuzförmige Figur vor der Wolkendecke in der Farbe gebrauchten Badewassers, dazu das komplexe Blinkmuster der Positionslampen im Regen. Er stellte sich Regen im Gesicht vor. Ein leichter West-Virginia-Regen; er hatte kein einziges Donnern gehört. Sylvanshine hatte mal ein erstes Rendezvous mit einer Xerox-Vertreterin gehabt, die an den Fingern komplexe und leicht abstoßende Schwielen gehabt hatte, weil sie in ihrer Freizeit leidenschaftlich gern semiprofessionell Banjo spielte; und als das Deckenglöckchen ertönte und das Symbol aufleuchtete, wobei die Glyphe mit der durchgestrichenen Zigarette juristisch redundant war, fiel ihm wieder ein, dass die Schwielen im Schummer des Restaurants dunkelgelb ausgesehen hatten, während er sich vor der Musikerin über die Feinheiten der Wirtschaftsprüfung und die Bienenstockstruktur des RPZ Nordosten ausgelassen hatte, das natürlich nur ein kleiner Teil des Service war, und dann über die Geschichte des Service, seine oft verkannten Ideale, sein Sendungsbewusstsein und den (für ihn) alten Witz, dass Angestellte des Service in Gesellschaft immer beträchtliche Mühen in Kauf nahmen, um ihren Gesprächspartnern zu verschweigen, dass sie für den IRS arbeiteten, denn wegen der öffentlichen Wahrnehmung des Service und seiner Mitarbeiter trübte das oft die Stimmung, und die ganze Zeit musterte er die Schwielen, während die Frau mit Messer und Gabel hantierte, und war so nervös und angespannt gewesen, dass er ihr nur von sich die Ohren vollquasselte und sich nie richtig nach ihren Interessen erkundigte, nach der Vorgeschichte ihres Banjospiels und was ihr das bedeutete, und deswegen hatte sie kein Gefallen an ihm gefunden und hatte es zwischen ihnen nicht gefunkt. Er hatte der Frau mit dem Banjo nie eine Chance gegeben, war ihm heute klar. Scheinbarer Egoismus ist oft keiner. In mancher Hinsicht war Sylvanshine jetzt bei Systems ein ganz anderer Mensch. Ihr Sinkflug steigerte nur die Detailgenauigkeit des unter ihnen Liegenden – Felder erwiesen sich als gepflügt und von senkrechten Furchen durchzogen, Silos als an schräge Schütten und Laufbänder grenzend, ein Gewerbegebiet als aus einzelnen Gebäuden mit spiegelnden Fensterscheiben und wild durcheinandergeparkten Autos bestehend. Jeder Wagen war nicht nur von einem Individuum geparkt, sondern auch erdacht, entworfen und aus verschiedenen Teilen montiert worden, jeder war entworfen, gebaut, transportiert, verkauft, finanziert, erworben und versichert worden von Menschen, die alle ihre Lebensgeschichten und Selbstbilder hatten, die alle in ein größeres Faktenmuster passten. Reynolds’ Sentenz zufolge war die Wirklichkeit ein Faktenmuster, das größtenteils entropisch und beliebig war. Der Trick bestand darin, sich auf die wichtigen Fakten einzuschießen – Reynolds war ein Präzisionsgewehr im Vergleich zu Sylvanshines Schrotflinte. Das Gefühl eines dünnen Blutrinnsals aus dem rechten Nasenloch war eine Halluzination, die komplett ignoriert werden musste; das Gefühl existierte einfach nicht. Nebenhöhlenprobleme lagen bei Sylvanshine auf üble Weise in der Familie. Aurelius im antiken Rom. Grundprinzipien. Steuerbefreiungen vs. abzugsfähige Beträge bei bereinigten Bruttoerträgen vs. von bereinigten Bruttoerträgen. Infolge von nicht betrieblichen Forderungsausfällen erlittene Verluste werden immer als kurzfristige Kapitalverluste klassifiziert und können daher in Verzeichnis D gemäß folgendem IRC-§ in Abzug gebracht werden: Ein Gebäudedach hatte entweder einen markierten Hubschrauberlandeplatz oder ein kompliziertes optisches Signal für die über ihm herabsinkenden Flugzeuge, und die Tonhöhe des doppelten Propellerbrummens hatte sich verändert, und seine rechte Nebenhöhle blähte sich jetzt wie ein Ballon rot im Schädel auf, und sie sanken wirklich, der Fachbegriff lautete Sinkflug mit konstanter Sinkrate, die Autobahn hatte jetzt etwas Rokokohaftes mit Abfahrten und Halbkleeblättern, und der Verkehr war dichter und irgendwie drängender, und die Kralle hob sich von der stählernen Armlehne, als unter ihnen eine Wasserfläche erschien, ein See oder Flussdelta, und Sylvanshine merkte, dass ihm ein Fuß eingeschlafen war, als er an die eigentümlich gekreuzten Arme dachte, mit denen sich die Figuren auf dem Merkblatt im unwahrscheinlichen Fall einer Wasserlandung die Sitzkissen an die Brust drückten, und jetzt gierten sie wirklich und wahrhaftig, und ihre Geschwindigkeit zeigte sich deutlicher am Tempo des Vorbeigleitens der Dinge da unten in einem wohl älteren Bezirk von Peoria als einer von Menschen bewohnten Stadt, vollgestopft mit rußigen Ziegelsteinblocks, Schrägdächern und einer Fernsehantenne mit einer Fahne dran, und kurz blitzte ein bourbonfarbener Fluss auf, der nicht die vorige Wasserfläche war, aber mit dieser verbunden sein konnte, nichts im Vergleich zum imposanten und aufgeschäumten Abschnitt des Potomac, der sich durch die Fenster von Systems auf dem heiligen Boden am Antietam aufdrängte, er sah, dass die Stewardess auf ihrem Klappsitz den Kopf gesenkt und die Arme um die Beine geschlungen hatte, wo am Jahresende der faire Gesamtwert von Brownes marktfähigen Wertpapieren den Gesamtbuchwert am Jahresanfang übersteigt, als aus dem Nichts eine helle Betonfläche vor ihnen erschien, ihnen ohne Warnglocke oder Ansage entgegenkam, und sein Mineralwasser hatte er hinter das Netz am Sitz des Vordermanns geklemmt, während der graue Totenkopf neben ihm hin und her schnellte und das flimmernde Propellergeräusch Tonhöhe oder Klangfarbe änderte, die ältere Frau sich auf ihrem Platz verkrampfte, ängstlich das faltige Kinn anhob, ein Wort wiederholte, das Sylvanshine als Trottel verstand, und bläuliche Venen an ihrer Faust hervortraten, die das zerknitterte und knollige, aber immer noch ungeöffnete Nusstütchen umklammerte.

 

»Der fünfte Effekt hat mehr mit dir zu tun, wie du wahrgenommen wirst. Er ist sehr stark, vom Einsatz her aber beschränkt. Aufgepasst, Junge. Beim nächstbesten Menschen, mit dem du Small Talk machst, unterbrichst du dich plötzlich mitten im Satz, musterst ihn eindringlich und fragst: ›Stimmt was nicht?‹. Du sagst das richtig besorgt. Er fragt dann ›wieso?‹. Du sagst: ›Irgendwas stimmt nicht. Das merk ich doch. Was ist los?‹. Er starrt dich verblüfft an und sagt: ›Woher weißt du das?‹. Ihm ist nicht klar, dass mit jedem Menschen irgendwas nicht stimmt. Oft mehrere Sachen. Er denkt nicht daran, dass jeder von uns immerzu irgendwas mit sich rumschleppt, was nicht stimmt, und glaubt, große Willenskraft und Selbstkontrolle darauf zu verwenden, damit andere Menschen, bei denen seiner Meinung nach immer alles stimmt, das nicht mitkriegen. So sind die Menschen nun mal. Frag bloß plötzlich, ob was nicht stimmt, und ob sie sich nun auf dich einlassen und dir ihr Herz ausschütten oder alles abstreiten und so tun, als hättest du dich geirrt – sie werden dich für einfühlsam und verständnisvoll halten. Entweder sind sie dankbar, oder sie bekommen Angst und gehen dir von da an aus dem Weg. Beide Reaktionen haben ihr Gutes, dazu kommen wir noch. Das kannst du so oder so angehen. Das klappt in über 90 Prozent der Fälle.«

 

Und stand auf – nachdem er sich an der überpuderten älteren Frau vorbeigezwängt hatte, die dem Typ angehörte, der sitzen bleibt, bis alle anderen das Flugzeug verlassen haben, und dann mit geheuchelter Würde allein aussteigt – und wartete mit seinen Habseligkeiten in einem Gang, der vorn mit lauter regionalen Geschäftsreisenden vollgestopft war, Geschäftsleuten, bewusst schlichten Mittelwestlern auf Vertreterreise unten im Bundesstaat oder aus den Hauptsitzen von Unternehmen in Chicago zurückgekehrt, deren Namen alle auf -co endeten, Männer, für die Landungen wie die gerade überstandene gierungsdurchruckelte zur Tagesordnung gehörten. Aufgeschwemmte Männer mit pickligen Teints in braunen und beigen Doppelzwirnanzügen sowie Aktentaschen, die sie über Bordmagazine bestellt hatten. Männer, deren weiche Gesichter zu ihren Jobs passten wie Wurst in den fleischigen Kunstdarm. Männer, die ihren Taschendiktafonen Memos diktierten, die reflexartig auf ihre Armbanduhren sahen, die mit zerfurchten roten Stirnen auf einem Metallläufer standen, während das Propellerbrummen die Tonleiter hinabsank und das Lüftungsgebläse erstarb. Es war eins dieser Pendelflugzeuge, bei denen aus rechtlichen Gründen erst die Fluggasttreppe herangefahren werden muss, bevor sich die Türen öffnen. Die glasige Ungeduld von Geschäftsleuten, die näher an Fremden stehen, als sie es freiwillig je tun würden, Brustkörbe und Kehrseiten berühren sich fast, Kleidersäcke über die Schultern gelegt, Aktenkoffer stoßen zusammen, mehr Kopfhaut als Haar, Einatmen der Ausdünstungen anderer. Männer, die das Warten und Stillstehen nicht ertragen, werden gezwungen, stillzustehen und zu warten, Männer mit kalbsledernen Terminplanern und Franklin-Quest-Zeitmanagement-Zertifikaten und dem klassischen Aussehen ungewollter Einschränkung, dem Aussehen örtlicher Händler am Rande der versäumten Einbehaltung von Sozialversicherungsbeiträgen, unterkapitalisiert, illiquid, strampeln sich ab, um die monatlichen Gemeinkosten aufzubringen, Fische, die in den Netzen selbst verursachter Verpflichtungen zappeln. Zwei spätere Suizide in diesem Flugzeug, von denen einer für immer unter »Unfall« abgeheftet würde. In Philly hatte es eine ganze Unterabteilung unerbittlicher GS-9er gegeben, Prinzipienreiter, deren einzige Aufgabe darin bestand, kleinen Unternehmen nachzustellen, die mit der Einbehaltung von Sozialversicherungsbeiträgen ins Hintertreffen geraten waren, in Rome allerdings war ein knappes Jahr lang die einzige Mitarbeiterin auf Compliance-Ebene, die Mahnungen in puncto Sozialversicherungsbeiträge aus Martinsburg entgegengenommen hatte, Eloise Prout alias Dr. Yes gewesen, eine GS-9 um die vierzig mit Makrameehut, die mittags am Schreibtisch aus einem komplexen System von Tupperware-Behältern aß und ein lockeres Höschen der jämmerlichsten Sorte war; die Jungs in der Prüfabt. hatten sie Dr. Yes getauft, nachdem sie Gerüchten zufolge mit Sherman Garnett geschlafen hatte, nur des – nicht eingelösten – Versprechens wegen, er wolle mit ihr durch den Stadtpark spazieren, wenn es zu schneien aufgehört habe und alles frisch und weiß aussähe. Eloise Prouts Weiterleitungs-und-Eintreibungs-Quote fiel jeden Monat so niedrig aus, dass jeder andere GS-9 längst angeschissen gewesen wäre, aber der nette und leicht beschränkte Mr Orkney vom RPZ hatte sie weiterbeschäftigt. Prout war anscheinend durch einen Autounfall verwitwet, und das GS-9-Gehalt reichte kaum für Katzenfutter, wie Sylvanshine nur zu gut wusste, dessen Fuß jetzt unter der neuen Blutzufuhr pulsierte und der sich jedes Mal entschuldigte, wenn jemand seine Reisetasche anrempelte, seine dritte Stelle in vier Jahren und immer noch GS-9 mit der Aussicht auf -11, wenn er dieses Frühjahr die CPA-Prüfung bestand und sich in dieser Systems-Stellung vor Ort bewährte, wenn am 15. März die Körperschaftssteuererklärungen und am 15. April dann die 1040er und die Erklärungen geschätzter Steuern zur Prüfung durch Peoria 047 hereinprasselten, er war schon zweimal zur Prüfung angetreten und hatte bisher nur Management knapp bestanden, woraufhin sein Ruf in Philly nach Rome vorauseilte und ihn auf Ebene 1 der Steuererklärungen einsperrte, nicht mal zu den Fetten oder zur Revision vordringen ließ, sodass er kaum mehr als ein professioneller Brieföffner war, worauf hinzu-weisen Soane, Madrid u. a. sich prompt nicht hatten verkneifen können.

Sylvanshine neigte dazu, seine Büroarbeit in einer Art Rausch zu erledigen im Gegensatz zu der langsamen, nüchternen und methodischen Vorgehensweise wahrhaft großer Wirtschaftsprüfer, wie sein erster Gruppenleiter in Rome ihm erklärt hatte, ein lebenslänglicher Nachtarbeiter, der einen exzentrischen Mantel trug und das RPZ immer mit einem kleinen rautenförmigen Karton mit chinesischem Fast Food für seine Frau verließ, die dem Vernehmen nach ans Bett gefesselt war. Dieser GS-11 war am Anfang seiner Karriere ins Kundenzentrum in St. Louis versetzt worden und arbeitete buchstäblich im Schatten des seltsamen, Furcht einflößenden riesigen Metallbogens, bei dem täglich aus großen ächzenden Neunachsern, die an die langen Förderbänder des Docks zurücksetzten, Post abgeladen wurde, und in den Pausen im Pausenraum hatte sich dieser Gruppenleiter gern zurückgelehnt, seinen Regenschirm gehalten, silbrige Wölkchen Zigarrenrauch zu den Neonröhren hochgeblasen und sich in die Sommer im Mittleren Westen zurückversetzt, eine Gegend, die Sylvanshine und den anderen jungen GS-9ern aus dem Osten, denen der Gruppenleiter etwas von Idyllen vorschwärmte, unbekannt war, wo man barfuß an den Ufern träger Ströme stand und angelte, wo man im Mondlicht Zeitung lesen konnte und wo alle einander bei jeder Begegnung grüßten und sich wie in fröhlicher Zeitlupe bewegten. Dieser Bussy, Mr Vince oder Vincent Bussy, trug einen Kmart-Parka, dessen Kapuze einen Kunstpelzbesatz hatte, konnte Essstäbchen über die Fingerknöchel wandern lassen wie Zauberer eine glänzende Münze und verschwand nach Sylvanshines zweiter RPZ-Weihnachtsfeier, nachdem seine Frau (also Mrs Bussy) plötzlich in einem weißgelben Nachthemd und dem gleichen Kmart-Parka mit offenem Reißverschluss unter den Feiernden aufgetaucht, auf den Regionalen Vizeprüfkommissar zugegangen war und ihm langsam, atonal und im Brustton der Überzeugung erklärt hatte, ihr Mann Mr Bussy habe gesagt, er (der RVPK) sei ein potenziell wahrhaft böser Mensch, der bloß mal mehr Eier zeigen müsse, Bussy also war eine Woche später so abrupt verschwunden, dass sein Regenschirm noch fast ein Quartal lang in der Gemeinschaftsgarderobe des Blocks hing, bis ihn endlich jemand abnahm.

Sie verließen das Flugzeug über eine Treppe, nahmen die schweren Reisetaschen an sich, die ihnen im Midway abgenommen und etikettiert worden waren und jetzt in einer bunten Reihe auf dem nassen Asphalt neben dem Flugzeug warteten, und standen dann kurz alle zusammen auf einem komplex bemalten Betonfeld, wurden von jemandem mit orangefarbenen Ohrschützern und Klemmbrett gezählt, der die Zahl dann mit einer früheren Zählung vom Midway verglich. Die ganze Operation wirkte etwas improvisiert und hopplahopp. Auf der steilen fahrbaren Fluggasttreppe hatte Sylvanshine die übliche Befriedigung gespürt, als er sich mit einer Hand den Hut aufsetzte und den Sitz zurechtrückte. Bei jedem Schlucken ploppte und knackte es in seinem rechten Ohr. Der Wind war warm und dunstig. Ein dicker Schlauch führte von einem kleinen Laster in den Bauch des Pendelflugzeugs und betankte es wohl für den Rückflug nach Chicago. Hoch und wieder zurück und so den ganzen Tag lang. Es roch stark nach Kerosin und nassem Beton. Die offenbar nicht mitgezählte ältere Dame kam jetzt die beängstigende Treppe herab und ging zu einem langen Automobil, das Sylvanshine vorher nicht aufgefallen war, weil es auf der Steuerbordseite des Flugzeugs wartete. Eine Tragfläche versperrte die Sicht, aber er konnte sehen, dass die Frau sich nicht selbst die Tür öffnete. In der Ferne neigten sich die Wipfel einer Baumreihe im Wind nach links und richteten sich dann wieder auf. Wegen früherer Probleme mit Unfällen, nachweislich verursacht durch spontane Fehlentscheidungen in Philly, fuhr Sylvanshine nicht mehr. Er war sich zu über 75 Prozent sicher, dass die Nusstüte jetzt in der Handtasche der alten Dame steckte. Zwischen dem Angestellten mit dem Klemmbrett und einem anderen Mann mit orangen Ohrschützern war eine Art Beratung im Gange. Mehrere Passagiere sahen ostentativ auf ihre Armbanduhren. Die Luft war warm und feucht und nicht nur schwül oder drückend. Auf der dem Wind zugewandten Körperseite wurden sie alle feucht. Sylvanshine fiel jetzt auf, dass die dunklen Mäntel der Geschäftsleute praktisch ebenso identisch waren wie die flatternden hochgestellten Kragen. Außer ihm trug niemand einen Hut. Er versuchte, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren, um Angst und Grübeln zu vermeiden. Die administrative oder logistische Verzögerung ereignete sich unter einer tief hängenden Wolkendecke und einem so feinen Regen, dass er mit dem Wind von der Seite kam und nicht vom Himmel herabfiel. Der Regen erzeugte auf Sylvanshines Hut keine Geräusche. Der Pelz von Mr Bussys Kapuzenrand war auf eklige Weise dreckig gewesen und im Lauf der zwei Jahre, in denen er Sylvanshines Gruppenleiter bei der Abwicklung der Steuererklärungen gewesen war, immer ekliger geworden. Einige forschere Passagiere liefen auf eigene Faust über den rot vorgezeichneten Pfad zum Tor im Sicherheitszaun Richtung Terminal. Sylvanshine hatte sein Gepäck kontrolliert und Angst vor etwaigen Sanktionen für ein unerlaubtes Verlassen des Asphalts. Andererseits musste er einen vorgegebenen Zeitplan einhalten. Dass er in der ungeduldigen Männergruppe stehen blieb, die auf die Erlaubnis zum Betreten des Flughafens wartete, lag teilweise an einer Lähmung, die Sylvanshine überkommen hatte, als er überlegte, wie er das RPZ Peoria 047 logistisch erreichen sollte – die Frage, ob das RPZ ihnen Kleintransporter schickte oder ob Sylvanshine sich an dem kleinen Flughafen ein Taxi nehmen sollte, war nie abschließend geklärt worden – und wie er dann hinkommen und sich anmelden und wo er seine drei Gepäckstücke unterbringen sollte, während er sich anmeldete, seine Wohnsitz-, Gehalts- und Quellensteuerformulare ausfüllte, seine Orientierungsmaterialien in Empfang nahm, sich Anweisungen geben ließ und zu der Wohnung fuhr, die Systems ihm zu Regierungspreisen gemietet hatte, und rechtzeitig dort ankam, um noch ein Restaurant zu finden, das entweder zu Fuß oder wieder mit dem Taxi zu erreichen war – nur war das Telefon in der ihm zugewiesenen Wohnung vielleicht noch nicht freigeschaltet, und gegenüber den Chancen, vor einem Wohnkomplex ein Taxi heranwinken zu können, war er bestenfalls skeptisch, und wenn er den ersten Taxifahrer, der ihn zur Wohnung gebracht hatte, auf ihn zu warten bat, konnte es Schwierigkeiten geben, denn wie sollte er dem Fahrer glaubhaft machen, dass er wirklich sofort zurückkäme, nachdem er sein Gepäck in der Wohnung abgestellt und diese schnell noch auf Zustand und Tauglichkeit hin geprüft hätte, und ihn mit diesem alten Trick nicht nur um die ihm zustehende Taxe prellen und durch die Hintertür des Angler’s-Cove-Wohnkomplexes die Flatter machen wollte oder sich möglicherweise auch in der Wohnung verbarrikadierte und auf das Klopfen des Fahrers nicht reagierte bzw. auf sein Klingeln, falls die Wohnung eine Klingel hatte, was bei Reynolds’ und seiner gegenwärtigen Wohnung in Martinsburg definitiv nicht der Fall war, und auch nicht auf die Fragen/Drohungen des Fahrers durch die Wohnungstür, eine Masche, die Claude Sylvanshine nur durch den Kopf ging, weil eine ganze Reihe unabhängiger gewerblicher Personentransportunternehmer in Philadelphia unter der Rubrik »Verluste durch Dienstleistungsdiebstahl« massive Verzeichnis-C-Verluste geltend gemacht hatten und auf den mangelhaft getippten und manchmal sogar handschriftlichen Anhängen, die für die Erläuterung ungewöhnlicher oder spezifischer C-Abzüge unabdingbar waren, ausführten, diese Masche sei weitverbreitet, aber wenn Sylvanshine Fahrpreis und Trinkgeld zahlte und vielleicht sogar noch einen gewissen Vorschuss, um den Fahrer seiner ehrenwerten Absichten hinsichtlich der zweiten Etappe der Expedition zu versichern, so gab es doch keine handfeste Garantie, dass der durchschnittliche Taxifahrer – Angehöriger einer zynischen und ethisch randständigen Spezies von Abzockern, wie schon die extrem niedrigen Trinkgeld-zu-Fahrten-im-Schichtdurchschnitt-Quoten in ihren schmuddeligen Steuererklärungen in Philly belegt hatten – nicht einfach mit Sylvanshines Geld davonraste, was für ungeheure Scherereien beim Ausfüllen der internen Formulare für die anteilige Rückerstattung seiner täglichen Reisekostenpauschalen sorgen und Sylvanshine außerdem allein, ausgehungert (vor Reiseantritten brachte er nie einen Bissen hinunter), telefonlos und ohne Reynolds’ Rat und logistisches Köpfchen in der sterilen und unmöblierten neuen Wohnung zurücklassen würde, mit einem Magen, der ihm so in den Kniekehlen hing, dass Sylvanshine gerade noch halbwegs auspacken könnte, bevor er sich auf der Isomatte auf dem nackten Dielenboden schlafen legte, möglicherweise in Gesellschaft von exotischem Ungeziefer des Mittleren Westens, ganz zu schweigen davon, sich eine Stunde lang auf die CPA-Prüfung vorzubereiten, was er sich am Morgen vorgenommen hatte, als er verschlafen hatte und dann torschlusspanisch packen musste, wodurch die fest eingeplante Stunde morgendlichen CPA-Büffelns ausgefallen war, bevor er mitsamt Gepäck von einem Systems-Ziviltransporter abgeholt und durch Harpers Ferry und Ball’s Bluff zum Flughafen gefahren worden war, und erst recht zu schweigen von jedem Gedanken an das systematische Sortieren und Sichten der umfangreichen Stellenbeschreibungen, Pflichtenhefte, Personal- und Systems-Protokoll-Materialien, die er sofort nach der Registrierung und Formularbearbeitung am Arbeitsplatz erhalten würde und deren gründliche Verinnerlichung jeder vernünftige Personalchef von einem neuen Prüfer erwarten durfte, bevor sich dieser an seinem ersten richtigen Arbeitstag einstellte und mit den anderen RPZ-Prüfern austauschte, deren Durchsicht und Verinnerlichung also Sylvanshine sowohl nach einem Sechzehnstundenfasten als auch einer Nacht auf einer Isomatte mit nichts als einem feuchten Regenmantel als Kopfkissen – das seiner Kopfform angepasste orthopädische Kissen für den chronisch eingeklemmten oder entzündeten Nackennerv hatte er nicht mitnehmen können, weil dafür ein zusätzlicher Koffer nötig gewesen wäre, der das zulässige Gesamtgepäck überschritten und einen saftigen Aufpreis mit sich gebracht hätte, den Sylvanshine zahlen zu lassen Reynolds aus Prinzip ablehnte – in keinster Weise von sich erwartete, und am Morgen stellte sich dann das zusätzliche Problem, wie er an ein handfestes Frühstück kommen und im Anschluss daran eine Rückfahrt zum RPZ finden sollte, wenn er kein Telefon hatte, oder wie man ohne Telefon überhaupt verifizieren sollte, ob und, wenn ja, wann das Telefon in der Wohnung freigeschaltet würde, und darüber hinaus konnte er noch mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er am folgenden Tag verschlafen würde, zum einen wegen der Müdigkeit nach der Reise, zum anderen, weil er seinen Reisewecker nicht dabeihatte – oder zumindest nicht sicher war, ob er ihn in den Koffer gepackt hatte oder aber in einen der drei Umzugskartons, die er zwar gefüllt und beschriftet hatte, aber die Inhaltsliste der Kartons zur Orientierung beim Auspacken in Peoria hatte er nur hektisch hingepfuscht, und Reynolds hatte zwar hoch und heilig versichert, sie der Service-Abt. Support ungefähr zur selben Zeit zu übergeben, zu der Sylvanshines Flug im Dulles abheben sollte, aber das hieß, dass es zwei oder sogar drei Tage dauern konnte, bevor die Kartons mit all den Habseligkeiten, die Sylvanshine nicht im Reisegepäck untergebracht hatte, endlich ankamen, und selbst dann kamen sie im RPZ an, und noch war Claude schleierhaft, wie er sie dann nach Hause in seine Wohnung bekommen sollte –, der Gedanke an den Reisewecker war der Hauptgrund gewesen, warum Sylvanshine, nachdem er eh schon eine halbe Stunde zu spät aufgestanden war, am Morgen die ganzen sorgfältig gepackten Taschen noch einmal hatte öffnen müssen, nur um zu kontrollieren bzw. zu verifizieren, dass er den Reisewecker nicht vergessen hatte, was ihm nicht gelungen war – die ganze Angelegenheit präsentierte einen solchen Wirbelsturm an logistischen Problemen und Komplexitäten, dass Sylvanshine auf der Stelle, auf dem nassen Asphalt und umgeben von unruhig werdenden Atmenden, Zuflucht zur Gedankenstoppmethode nehmen musste, sich mehrmals um dreihundertsechzig Grad drehte und sein Bewusstsein mit der Panoramasicht zu verschmelzen versuchte, die bis auf die Flughafengebäude gleichförmig nichtssagend und altmünzengrau und so außerordentlich flach war, als hätte ein kosmischer Stiefel die Erde hier platt getreten, was die Sicht in alle Richtungen bis zum Horizont reichen ließ, der dieselbe gewöhnliche Farbe und Struktur wie der Himmel hatte und den spiegelnden Eindruck erzeugte, man stünde in der Mitte eines riesigen und stehenden Gewässers, ein ozeanischer Eindruck, bei dem einem dermaßen im Wortsinne die Sinne schwanden, dass Sylvanshine auf sich selbst zurückgeworfen wurde und wieder spürte, wie ihn der Schattensaum einer Schwinge des absoluten Schreckens und der Unfähigkeit streifte, das Wissen, dass er garantiert grässlich ungeeignet für alles vor ihm Liegende war und dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis das klar zutage treten und allen Anwesenden in dem Moment augenfällig würde, in dem Sylvanshine endgültig und für alle Zeit austickte.

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§ 3

»Apropos: Woran denkst du beim Masturbieren?«

»...«

»...«

»Wie bitte?«

In der ersten halben Stunde hatte niemand ein Wort gesagt. Sie waren wieder auf der stumpfsinnigen monochromen Fahrt hoch ins regionale Hauptquartier in Joliet. In einem Gremlin aus dem Fahrzeugpark, der wegen des drohenden Vermögensverlusts eines AMC-Händlers vor fünf Quartalen gepfändet worden war.

»Pass auf, ich glaube, wir können davon ausgehen, dass du masturbierst. Über den Daumen gepeilt 98 Prozent aller Männer masturbieren. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Die restlichen 2 Prozent sind meistenteils irgendwie behindert. Das Leugnen können wir also überspringen. Ich masturbiere; du masturbierst. Ist nun mal so. Alle machen es, alle wissen, dass es alle machen, und trotzdem spricht nie einer drüber. Das ist hier eine unendlich langweilige Fahrt, wir haben nichts Besseres zu tun, wir sitzen in dieser Luschenkutsche fest – brechen wir also unsere Verkrustungen auf. Diskutieren wir es aus.«

»Was denn für Verkrustungen?«

»Einfach woran du denkst. Überleg mal. Das ist eine total innerliche Zeit. Eine der wenigen Situationen im Leben, wo man echt autark ist. Man braucht kein Außen. Man bereitet sich ausschließlich mit den eigenen Gedanken Lust. Diese Gedanken sagen viel über einen aus: wovon man träumt, wenn man seine Träume selber wählen und kontrollieren kann.«

»...«

»...«

»Titten.«

»Titten?«

»Du hast gefragt. Jetzt weißt du’s.«

»Das ist alles? Titten?«

»Was soll ich denn sonst sagen?«

»Nichts als Titten? In völliger Isolation? Nur abstrakte Titten?«

»Ach, leck mich doch.«

»Du meinst, die schweben da einfach so, zwei Titten, im leeren Raum? Oder schmiegen sie sich in deine Hände? Sind es immer dieselben Titten?«

»Das soll mir eine Lehre sein. Du stellst mir eine solche Frage, ich sag mir scheiß drauf und beantworte sie, und für die Antwort krieg ich prompt ein DIF-Verfahren an den Hals.«

»Titten.«

»...«

»...«

»Ja, woran denkst du denn, Mr Verkrustungen?«

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§ 4

Aus dem Peoria Journal Star Montag, 17. November 1980, S. C-2:

IRS-ANGESTELLTER VIER TAGE TOT

Abteilungsleiter im regionalen IRS-Komplex in der Gemeinde Lake James versuchen herauszufinden, warum niemandem auffiel, dass ein Mitarbeiter vier Tage lang tot an seinem Schreibtisch saß, bevor sich jemand erkundigte, ob ihm etwas fehle.

Frederick Blumquist (53), der seit über dreißig Jahren als Steuerprüfer für die Behörde gearbeitet hatte, erlitt einen Herzinfarkt im Großraumbüro, das er sich mit fünfundzwanzig Kollegen im Regionalprüfzentrum der Behörde am Self-Storage Parkway teilte. Am vergangenen Dienstag verschied er still an seinem Schreibtisch, was aber erst am vergangenen Samstagabend auffiel, als ein Raumpfleger ihn fragte, wie er denn arbeiten könne, wenn das Licht in seinem Büro ausgeschaltet sei.

Scott Thomas, Mr Blumquists Vorgesetzter, sagte: »Frederick kam morgens immer als Erster und ging abends als Letzter. Er arbeitete sehr konzentriert und gewissenhaft, von daher fand es niemand ungewöhnlich, dass er die ganze Zeit in derselben Position dasaß und kein Wort sagte. Er war immer ganz in seine Arbeit vertieft und blieb für sich.«

Eine Obduktion durch die Gerichtsmedizin von Tazewell County ergab gestern, dass Blumquist bereits vier Tage lang tot gewesen war und einen Herzinfarkt erlitten hatte. Thomas zufolge gehörte Blumquist zur Zeit seines Todes ironischerweise einer speziellen Arbeitsgruppe von IRS-Wirtschaftsprüfern an, die die Steuerangelegenheiten ärztlicher Partnerschaften in der Gegend untersuchte.

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§ 5

Das ist dieser Junge, der die grell orangefarbene Schärpe anlegt und die Kinder aus den unteren Klassen über den Zebrastreifen vor der Schule lotst. Nachdem er für Essen auf Rädern seine Frühstückstour durch das Seniorenstift in der City absolviert hat, dessen Geschäftsführerin sich immer mit einem Hechtsprung in ihr Büro rettet, wenn sie sein Wägelchen durch den Korridor quietschen hört. Die stählerne Trillerpfeife hat er ebenso von seinem Taschengeld bezahlt wie die weißen Handschuhe, deren Handflächen er den Autos entgegenstreckt, während Kinder, die sich nicht allein angezogen haben, hinter ihm die Straße überqueren, manchmal sogar zu rennen versuchen, obwohl er sich eine Plakattafel mit einem Smiley und der Aufschrift GEHEN, NICHT RENNEN! angefertigt hat. Den Autos, deren Fahrer er kennt, winkt er, schenkt ihnen ein extra breites Lächeln und wirft ihnen aufmunternde Bemerkungen zu, während sich der Zebrastreifen leert, die Autos anfahren und an ihm vorbeibrettern, wobei manche zum Scherz ein bisschen ausscheren und ihn um Haaresbreite verfehlen, und er lacht dann nur, tänzelt beiseite und setzt eine Miene vorgeblichen Erschreckens ob der Kotflügel und hinteren Stoßstangen auf. Das eine Mal, wo ein Kombi ihn nicht verfehlte, war wirklich ein Unfall, und er schrieb der Dame mehrere Briefe und versicherte ihr absolut glaubhaft, dass ihm das klar sei, und er bat alle möglichen Leute, mit denen er sich bislang noch nicht hatte anfreunden können, seinen Gips zu signieren, verzierte die Krücken sorgfältig mit bunten Bändern, Lametta und Glitzerlack, und noch bevor der von den Ärzten mit strengen Mienen verordnete Mindestzeitraum von sechs Wochen verstrichen war, hatte er die Krücken schon der Pädiatrieabteilung vom Calvin Memorial gespendet, um die Genesung eines weniger glücklichen Kindes aufzuhellen, und am Ende der ganzen Angelegenheit fühlte er sich bemüßigt, für den jährlichen Essaywettbewerb in Sozialkunde einen sehr langen Essay zu der Frage zu verfassen, wie sogar eine durch einen Unfall verursachte schmerzhafte und kräftezehrende Verletzung dabei helfen kann, neue Freunde zu gewinnen und auf Mitmenschen zuzugehen,