Der große rote Sohn - David Foster Wallace - E-Book

Der große rote Sohn E-Book

David Foster Wallace

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Beschreibung

Einblicke in ein ziemlich schillerndes Milieu – David Foster Wallace goes Pornoindustrie Jedes Jahr findet im Caesars Palace in Las Vegas die Verleihung der Adult Video News Awards statt, der Oscars der Pornoindustrie. Im Auftrag der Zeitschrift Premiere besucht David Foster Wallace 1998 die Preisverleihung sowie die zugehörige Pornomesse und lässt sich dort von Branchenjournalisten mit so schönen Namen wie Dick Filth die subtilen Hierarchien, erbittertsten Branchenfehden und wildesten Gerüchte dieser ziemlich flamboyanten Parallelkultur näherbringen. Er schreibt über geklaute Trophäen, größenwahnsinnige Regisseure, naturschöne Darstellerinnen, wahre Klischees und das Pornobusiness als gänzlich ironiefreie Zone. Brillant beobachtet und sehr, sehr lustig – David Foster Wallace at his best!

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Seitenzahl: 101

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David Foster Wallace

Der große rote Sohn

Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über David Foster Wallace

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Der große rote SohnAnmerkungen des ÜbersetzersDanksagung
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Die Amerikanische Akademie für Notfallmedizin bestätigt: Jedes Jahr werden ein bis zwei Dutzend erwachsene US-Amerikaner in die Notaufnahmen eingeliefert, weil sie sich kastriert haben. Meist mit Küchenwerkzeugen, manchmal mit Drahtzangen. Überlebende Patienten beantworten die naheliegende Frage in der Regel damit, ihr Geschlechtstrieb sei zu einer Quelle unerträglicher Konflikte und Ängste geworden. Der Wunsch nach vollkommener Triebbefriedigung bei gleichzeitiger realer Unmöglichkeit vollkommener Triebbefriedigung zu jedem beliebigen Zeitpunkt habe eine Spannung produziert, die sie nicht mehr aushalten konnten.

Den gut dreißig testosteronisch leidenden Männern, deren Fälle in den letzten beiden Jahren aktenkundig geworden sind, möchten Ihre Autoren diese Reportage widmen. Und den gequälten Seelen, die 1998 eine Autokastration erwägen, möchten wir zurufen: »Stopp! Haltet inne! Legt die Küchenwerkzeuge und/oder Drahtzangen aus der Hand!« Denn wir glauben, wir haben eine Alternative gefunden.

 

Jedes Frühjahr vergibt die Academy of Motion Picture Arts and Sciences Auszeichnungen für herausragende Leistungen in allen Sparten des Mainstream-Kinos. Das sind die Oscars. Das US-amerikanische Mainstream-Kino stellt eine eigene große Industrie dar, und die Academy Awards sind ein Teil davon. Die offenkundige Kommerzialisierung und Scheinheiligkeit der AA widern viele der Abermillionen Zuschauer an, die sich zur besten Sendezeit einschalten und die Gala verfolgen. Es ist kein Zufall, dass die Oscars in der Quotenerhebungswoche verliehen werden. Wir schalten praktisch alle ein, obwohl es grotesk ist, einer Branche bei der Selbstbeweihräucherung zuzusehen, sie sei noch eine Kunstform; Zeuge zu werden, wie Leute in 5000-Dollar-Garderoben von ihren PR-Managern verfasste Klischees von Überraschung und Bescheidenheit aneinanderreihen usw. – der ganze zynische postmoderne Kappes –, aber trotzdem schauen wir anscheinend alle zu. Fiebern mit. Wir schalten ein, obwohl die Verlogenheit wehtut, obwohl Einspielergebnisse am Eröffnungswochenende und Marketing-Strategien heute einen höheren Nachrichtenwert als die Filme selbst haben, obwohl Cannes und Sundance reine Industriegebiete geworden sind. In Wahrheit hat all das seine fröhliche Unschuld verloren. Schlimmer noch, es scheint eine riesige unausgesprochene Verschwörung am Werk zu sein, denn wir tun alle so, als gäbe es fröhliche Unschuld überhaupt noch. Finden es komisch, wenn Bob Dole Werbung für Visa macht und Gorbatschow Pizza Hut anpreist. Der ganze Mainstream-Starrummel will nur noch Kasse machen, gratuliert sich aber die ganze Zeit dazu, so zu tun, als würde er nicht Kasse machen. Im Grunde ist uns aber allen klar, dass die Sache zum Himmel stinkt.

Ihre Autoren haben in aller Bescheidenheit eine Alternative anzubieten.

 

Jeden Januar richtet die anspruchsloseste Stadt von ganz Amerika die Annual AVN Awards aus. AVN steht für Adult Video News. Was das Magazin Variety für die Film- und Unterhaltungsbranche ist, ist Adult Video News für die US-amerikanische Pornoindustrie. Die dicke, schön gestaltete Zeitschrift kostet $ 7,95 pro Heft, besteht zu rund 80% aus Werbung und richtet sich an den Porno-Einzelhandel. Die Auflage liegt bei schätzungsweise 40000 Exemplaren.

Die Kreativität der Unterhaltungsbranche in Sachen Bilanztrübung ist zwar legendär, aber es ist doch eine weltweit anerkannte Tatsache, dass die Pornobranche der USA mit 3,5–4 Milliarden Dollar Jahresumsatz, Verleiheinkünften, Kabelgebühren und Einnahmen aus Videokabinen eine noch größere und effizientere Goldgrube als das amerikanische Mainstream-Kino ist (dessen Jahresumsatz auf 2–2,5 Milliarden Dollar geschätzt wird). Den Mittelpunkt der Pornobranche der USA bildet das San Fernando Valley um Los Angeles, nur eine Hügelkette von Hollywood entfernt.[1] Es gibt Insider, die die Pornobranche Hollywoods bösen Zwilling nennen, für andere ist sie der Große Rote Sohn des Mainstreams.

 

Es ist kein Zufall, dass es die Adult Video News – eine teure Hochglanzzeitschrift, deren Artikel bessere Infomercials sind – und ihre jährlich verliehenen Preise seit 1982 gibt. In die frühen Achtziger fällt schließlich das Aufkommen von Videorekordern und Videotheken, denen die Pornobranche ungefähr genauso viel zu verdanken hat wie der Profi-Football dem Fernsehen.

Aus der AVN-Pressemitteilung vom 12.11.1997 (auch unter www.avn.com zu finden):

Heute wurden die Nominierungen der 15. Annual AVN Awards bekannt gegeben.[2] Die diesjährige Preisverleihung begeht das 15. Jubiläum der AVN und feiert »Geschichte« [sic!].

Auf zwei Abende verteilt, werden Auszeichnungen in rekordverdächtigen 106 Kategorien verliehen.

Die Pornoindustrie hat 1997 fast 8000 Pornos herausgebracht, darunter über 4000 »Erstveröffentlichungen« (Nicht-Kompilationsfilme). AVN hat im vergangenen Jahr jede Neuveröffentlichung in allen Kategroien [sic!] begutachtet und über 30000 Sexszenen registriert.[3]

Im Vergleich dazu qualifizierten sich im Vorjahr rund 375 Filme für die Academy Awards, die diese Juroren [sic – man darf wohl annehmen, dass es sich um andere Juroren als die AVN-Juroren handelte] sehen mussten. AVN musste eine mehr als zehnmal so große Menge an Erstveröffentlichungen begutachten, um über die Nominierungen zu entscheiden [Sprachgebrauch und Redundanz sic; 4000 durch 375 ist aber tatsächlich mehr als zehn].

Aus der Dankesrede von Tom Byron, Samstag, 10. Januar 1998, Caesars Forum Ballsaal, Caesars Palace Hotel und Kasino Komplex, Las Vegas, Nevada, nach der Verleihung des AVN-Preises 1998 für den Männlichen Performer des Jahres (mit Gefühl vorgetragen): »Ich möchte jeder schönen Frau danken, in die ich je meinen Schwanz gesteckt habe.« [Lachen, Johlen, Ovationen.]

Aus der Dankesrede von Jeanna Fine, ebd., nach der Verleihung des AVN-Preises 1998 für die Beste Nebendarstellerin für ihre Rolle in Rob Blacks Miscreants: »Meine Güte, wofür ist der? Für Miscreants? Meine Güte, das war auch so ein Film, wo ich das Skript gelesen und gedacht hab, ›Ach du Scheiße, dafür komm ich in die Hölle‹. [Lachen, Johlen.] Aber das macht nichts, denn alle meine Freunde werden auch da sein.« [Schallendes Gelächter, Johlen, Applaus.]

Aus dem Verleihungspausengeplänkel von Bobby Slayton, Profikomiker und Conférencier der AVNAs 1997: »Ich weiß aber, dass ich gut aussehe, quasi jünger, weil ich mich jetzt an ein altes griechisches Rezept halte – für jedes graue Haar, das ich finde, fick ich meine Frau in den Arsch. [Kein Lachen, vereinzeltes Stöhnen.] Ihr könnt mich mal. Das ist ein prima Witz. Ihr könnt mich mal.«

Bobby Slayton, ein Dice-Clay-Verschnitt mit Reibeisenstimme, der jede einzelne weibliche Performerin als »die Frau, für die ich mir den Schwanz abschneiden werde« ankündigte und der die diensthabenden Printmedienfuzzis sowohl durch seine Witze mit Bart als auch durch seine Ähnlichkeit mit jedem einzelnen Hochhaus-Koksdealer verblüffte, den wir je gekannt haben, fehlt gottlob bei der Awards-Gala 1998. Der diesjährige Conférencier ist Robert Schimmel, der Sketche für In Living Color geschrieben hat und regelmäßig in der Howard Stern Show zu sehen ist. Er sieht aus wie ein verwahrloster, aber tief gebräunter Wallace Shawn und ist genauso heiser wie B. Slayton, nur viel besser. Pantomimisch führt er vor, wie jemand mit einer Gummipuppe zu schlafen versucht, die er aus Faulheit nur halb aufgeblasen hat. Er stellt sein eigenes kümmerliches Getröpfel den vulkanischen Orgasmen gewisser gut bekannter männlicher Performer gegenüber[4] und vergleicht ihre Ergüsse mit automatischen Rasensprengern, deren Akustik er unheimlich gut nachahmt. 1998 sitzen alle Printmedienfuzzis zusammen an Tisch 189 ganz hinten im Ballsaal. Die meisten dieser Journalisten arbeiten für Männerzeitschriften, die im Kiosk eingeschweißt an der Kasse liegen; wahrlich ein weltläufiger Zynikertrupp, aber zwei davon – die unter den Pseudonymen Harold Hecuba und Dick Filth arbeiten – bringt Schimmel dermaßen zum Wiehern, dass die Leute vom benachbarten Anabolic-Video-Tisch schon genervt zu uns rübersehen. Bei einer Schote über vorzeitigen Samenerguss kriegt Dick Filth, Tatsache, ein Stück Sushi in den falschen Hals.

… aber das passiert alles bei der Hauptveranstaltung am Samstagabend. Und diesem Höhepunkt am Samstag gehen Festivitäten sonder Zahl voraus.

 

Die Pornobranche ist vulgär. Sieht das jemand anders? Eine Kategorie der AVN Awards heißt »Bester Analsexfilm«; eine andere lautet »Beste Gesamtkampagne Marketing – Firmen-Image«. Irresistible, 1983 mit Preisen in mehreren Kategorien ausgezeichnet, wird in Adult Video News seit fünfzehn Jahren in Folge Irresistable buchstabiert. Die Branche ist nicht nur vulgär, sie ist berechenbar vulgär. Alle Klischees stimmen. Der typische Pornoproduzent ist wirklich ein hässlicher Giftzwerg mit schlecht sitzendem Toupet und Klunkern am kleinen Finger. Der typische Pornoregisseur ist wirklich ein Mann, der das Substantiv Klasse verwendet, wenn er Raffinesse meint. Das typische Pornosternchen ist wirklich eine Lady im Elasthan-Abendkleid mit flächendeckend tätowierten Armen, die gleichzeitig raucht, Kaugummi kaut und Journalisten erzählt, wie dankbar sie ist, dass Wadcutter Productions Ltd. die Kosten ihrer Brustvergrößerung übernommen hat. Und die das ernst meint. Das ganze Wochenende der AVN Awards ist eine ironiefreie Zone, wie Dick Filth einmal sagt.

Aber wir dürfen natürlich nicht vergessen, dass vulgär im Lexikon viele Definitionen hat und dass nur ein paar davon mit Anzüglichkeiten oder Abgeschmacktheit zu tun haben. Im Grunde bedeutet vulgär nur populär im Großmaßstab. Es ist das semantische Gegenteil von elitär oder versnobt. Es ist Pseudo-Bescheidenheit. Es geht um Einschaltquoten, Barnums Gesetz, dass die Idioten nicht aussterben, und den Reingewinn. Es geht ums ganz große Geschäft.

 

1995 brachte sich der vierunddreißigjährige Pornodarsteller Cal Jammer um. Im letzten Jahrzehnt haben die Sternchen Shauna Grant, Nancy Kelly, Alex Jordan und Savannah Selbstmord begangen. Savannah und Jordan waren 1991 bzw. 1992 mit den AVN Awards für das Beste Neue Starlet ausgezeichnet worden. Savannah brachte sich um, nachdem ein Autounfall sie leicht entstellt hatte. Alex Jordan wurde berühmt, weil sie ihren Abschiedsbrief an ihren Lieblingsvogel richtete. Teammitglied und Darsteller Israel Gonzalez brachte sich 1997 im Lagerhaus eines Pornounternehmens um.

Die von L.A. aus agierende Selbsthilfegruppe PAW(Protecting Adult Welfare) betreibt eine Krisen-Hotline für Angehörige der Pornoindustrie. Letzten November wurde in einer Bowlingbahn im kalifornischen Mission Hills eine Benefizaktion für PAW in Form eines nackt ausgetragenen Bowling-Turniers abgehalten. Dutzende von Darstellerinnen waren bereit mitzumachen. Zwei- oder dreihundert Pornofans kamen und zahlten dafür, sie nackt bowlen zu sehen. Weder Produktionsfirmen noch deren Manager nahmen teil oder spendeten. Die Aktion erbrachte 6000 Dollar, was etwas weniger als zwei Millionstel des Jahresumsatzes mit Pornografie entspricht.

 

Wenn Sie Casino, Showgirls, Bugsy usw. gesehen haben, dann wissen Sie, dass es eigentlich drei Las Vegasse gibt. Das Binion’s, wo immer die World Series of Poker ausgetragen wird, steht für das »Alte Vegas« um die Fremont Street herum. Die Bauarbeiten an der Zukunft von Las Vegas ganz am Ende vom Strip sind noch immer nicht abgeschlossen; am Stadtrand (wo in den USA grundsätzlich die Malls hochgezogen werden) entsteht ein Haufen freizeitparkähnlicher, eher »familienorientierter« Veranstaltungsorte, wie Robert De Niro sie am Ende von Casino so denkwürdig beschreibt.

Das Las Vegas aber, das die meisten von uns vor Augen haben, Vegas in Reinkultur, besteht aus dem runden Dutzend Hotels, die die Mitte vom Strip flankieren. Vegas Populi: die opulenten, verschachtelten, grellbunten, ekstatisch dekadenten Hotels, die Kathedra des Glücksspiels, des Nachtlebens und des Live-Entertainments mit den ausgelassensten Mikrofonschwingern. Das Sands. Das Sahara. Das Stardust. MGM Grand, Maxim. Alles in Steinwurfweite. Jahresstromkosten für Neon weit im siebenstelligen Bereich. Harrah’s, Casino Royale (mit dem dazugehörigen, rund um die Uhr geöffneten Denny’s), Flamingo Hilton, Imperial Palace. Das Mirage mit dem immer angestrahlten großen gestuften Wasserfall. Circus Circus. Treasure Island mit seiner komplexen Fassade aus Decks, Takelage, Besanmasten und Baumniederhaltern. Das Luxor in seiner Form einer babylonischen Zikkurat von anno dazumal. Barbary Coast mit dem Schild LÖSEN SIE IHREN GEHALTSSCHECK EIN – GEWINNEN SIE BIS ZU 25000 DOLLAR. Diese Hotels sind das Vegas, wie wir es kennen. Das Land von Lola und Wayne. Von Siegfried und Roy, Copperfield. Revuegirls mit turmhohen Frisuren. Sinatras Sandkasten. Die meisten in den Fünfzigern und Sechzigern erbaut, der Ära des Mafia-Schicks und Blütezeit der Unterhaltungsindustrie. Halbstündiges Schlangestehen am Taxistand. Rauchen nicht nur erlaubt, sondern fast Pflicht. Toupets und Tagungsnamensschildchen und Frauen mit Pelzen in allen Farben des Regenbogens. Ein Museum, das die größte Colaflasche der Welt ausstellt. Das Harley-Davidson-Café mit seinem riesigen Hobel im Giebel; Bally’s Hotel & Casino mit seinen phallischen Elektrosäulen, die epilepsieverursachend synchron blinken. Eine Stadt, die so tut, als wäre sie nichts als sie selbst, eine riesige Maschine des Tauschs – Spektakel gegen Geld, Sensationen gegen Geld, Geld gegen mehr Geld, Lust gegen was immer sie morgen abstrakt kosten mag.

Vergessen wir aber nicht das pars pro toto