Signifying Rappers - David Foster Wallace - E-Book

Signifying Rappers E-Book

David Foster Wallace

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Beschreibung

Ein früher Text von David Foster Wallace über das Wesen einer subversiven Musikrichtung – des Rap David Foster Wallaces Betrachtungen über den Rap basieren zunächst auf persönlichen Erfahrungen – er kannte den Besitzer eines unabhängigen Rap-Labels und beschreibt das Umfeld, in dem dieser subversive Musikstil entstanden ist – das urbane Getto, in diesem Fall in North Dorchester, Boston. Drogen, Armut und Ausgrenzung beherrschen das Lebensgefühl, das im Rap ein Ventil findet.Ein großer Teil des Buchs widmet sich der Bewertung des Rap – z.B. anhand einer literarischen und historischen Analyse, die die Musik in den Kontext der mündlichen Überlieferung Afrikas stellt. David Foster Wallace und sein Co-Autor Mark Costello, der eine angehender Romanautor, der andere erfolgreicher Anwalt, zeigen sich als Kenner der politischen, musikalischen und künstlerischen Dimension einer neuen Art von Musik, die zugleich der amerikanischen Lyrik neue Impulse gab.

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Seitenzahl: 281

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David Foster Wallace / Mark Costello

Signifying Rappers

Warum Rap, den Sie hassen, nicht Ihren Vorstellungen entspricht, sondern scheißinteressant ist und wenn anstößig, dann bei dem, was heute so abgeht, von nützlicher Anstößigkeit

Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Hummitzsch & Ulrich Blumenbach

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über David Foster Wallace / Mark Costello

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis des VerlagsWidmungVorwort1. SelbstermächtigungM. KapitelD. KapitelD. Kapitel2. HürdenD. KapitelM. KapitelD. KapitelM. KapitelD. Kapitel3. ÜbernahmeD. KapitelM. KapitelM. KapitelD. KapitelD. KapitelM. KapitelD. KapitelD. KapitelM. KapitelDanksagungen für AbdruckgenehmigungenDanksagungenAnmerkungen der Übersetzer
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Eine Playlist der Songs ist zu finden unter www.kiwi-verlag.de/rappers-playlist.de

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für l. bangs

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Vorwort

Mark Costello

Anfang 1989 bekam ich einen Anruf von David Wallace, meinem besten Freund, mit dem ich mir im College ein Zimmer geteilt hatte und der gerade wieder bei seinen Eltern wohnte. Er wollte nun im Herbst das Studium der Ästhetik wiederaufnehmen und sich auf den langen Marsch Richtung Promotion und Wunschkarriere Philosophieprofessur auf einem üppig grünen und verträumten Campus begeben. Da ich schon in Boston wohnte (ich bin gebürtiger Bostoner), schlug er vor, wir könnten doch wieder zusammenziehen.

Im April 1989 fanden Dave und ich eine Wohnung im ersten Stock, die zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine Küche hatte (in der wir vielleicht zweimal gekocht haben), und das alles für sechshundert Tacken im Monat. Die Wohnung lag an der Houghton Street in Somerville an der Grenze zu Northeast Cambridge mit seinen ethnischen Minderheiten, einer Gegend mit durchhängenden Dächern, Holzschindelverkleidungen und tiefen Eingangsterrassen, den typischen zweistöckigen Häusern von Boston. In den engen Straßen verliefen Drähte von einer Seite zur anderen, Telefonkabel und Wäscheleinen. Die Gärten waren klein und zubetoniert und wurden von Bulldoggen und Madonnen bewacht.

Dave kam wie immer mit einem kaputten Umzugskarton an, der von Büchern überquoll. An der Uni hatten wir jede Menge Comedy-Texte geschrieben, aber Grundlage unserer Freundschaft war immer das gemeinsame Lesen gewesen, wir hatten uns Taschenbücher hin- und hergereicht wie Kartoffelbrei bei Tisch. Nathanael Wests Tag der Heuschrecke in einem Band mit Miss Lonelyhearts war das erste Buch, das Dave an Tag eins auspackte, noch bevor er seine Handtücher so faltete, wie er das mochte. Dann Die Stunde der Bestie, Joan Didions Essays aus den 60ern mit ihrem Hauch von Yeats und den Bakchen[1]. Auch für Vollmanns Rainbow Stories hatte er eine Schwäche – keine Erzählungen, sondern Reportagen, und wenn man sich das Milieu mal anschaut (Ausnüchterungszellen, Sexshops, Prostituierte), kommt da auch nicht viel Regenbogenstimmung auf. Aber den Großteil unserer Lektüre bildete eine Gruppe kulturkritischer Gripsgiganten: Todd Gitlin[2] über das Fernsehen, Greil Marcus über Elvis und »Rassen«-Musik und der absolute Held unserer Wohnung, Lester Bangs[3].

Signifying Rappers ist einem L. Bangs gewidmet, was sich wie eins von Lee Harvey Oswalds[4] Pseudonymen in Dallas anhört, womit aber einfach nur Leslie Conway »Lester« Bangs gemeint ist, geboren 1948 im kalifornischen Escondido als Kind von Anhängern Woody Guthries[5], Staubschüsslern[6], die es nach Westen verschlagen hatte. Erzogen von einer nervenaufreibend strenggläubigen Mutter, produzierte Bangs schon an der Highschool am laufenden Meter groteske und beredte Berichte über Surfermusik und frühen kalifornischen Grunge. Mit einundzwanzig schrieb er für den Rolling Stone, wurde aber nach wenigen Jahren gefeuert, weil er gegen alles und jeden rebellierte. Mit dreiunddreißig starb er an einer Medikamentenunverträglichkeit. Seine streitsüchtigen Schriften zum Rock erschienen 1988 – also genau zum richtigen Zeitpunkt, um uns umzuhauen – in einer (von seinem engen Freund Greil Marcus herausgegebenen) gewichtigen Sammlung mit dem Titel Psychotische Reaktionen und heiße Luft.

Psychotische Reaktionen war eine Zusammenstellung von Bangs’ wöchentlich veröffentlichten Plattenbesprechungen, Konzertberichten, Liner Notes und langen Essays über Funk, Punk, Metal und New Wave, die im Rolling Stone, in Creem und der Village Voice erschienen waren. Wie ein zorniger Dschungelgötze (ein zorniger Musikkritiker? ein zorniger Plattenrezensent?) schien Bangs von den Dorfbewohnern des Village irgendetwas zu fordern: Debatten, Zustimmung, Empörung, Jungfrauenopferungen. Er war alles, was junge Männer von einem Helden erwarteten; eine Art Belushi: charismatisch fett und ungekämmt, mit Koteletten und dem coolsten Fu-Manchu-Bart der westlichen Hemisphäre. Wenn er mal aus dem Hamsterrad ausstieg, erinnerte seine beste Prosa an den jungen Saul Bellow – derb und slanglastig, aber rhythmisch elegant. Charles Lamb[7] mit Prisen von Bugs Bunny, Groucho Marx und ein bisschen Tripper. Wie so viele Schriftsteller hegte Dave fast schon angsterfüllte Ressentiments gegen die sechs oder sieben einflussreichen Literaturkritiker des Landes und freute sich immer diebisch, wenn Bangs in seinen Besprechungen gegen die Vorstellung von Kritikern als Priestern des Gruppengeschmacks wetterte. Wenn ich, LB, der Fettsack mit den Glubschaugen, sage, ein Album ist gut, echt, wahr, authentisch und der Inbegriff des Zeitgeists, und dich und deine Lemmingsfreunde dazu bringen kann, es vom Fleck weg zu kaufen, ist dieses Purzelbaumschlagen des vorfabrizierten Zeitgeists dann nicht irgendwie schräg ? Leer? Hohl? Zum Heulen? Bangs ging sogar noch weiter und hielt fest, dass diese Ironie wieder weitere Ironien zeuge. Indem er gegen das durchkommerzialisierte Tamtam der Besprecherei rebellierte, steigerte er den eigenen Marktwert als Kritiker. Je öfter er sagte, hört nicht auf mich, desto mehr taten wir genau das. Aber Bangs wurde nie zum Zyniker. Er wuchs über seine anfängliche Außenseiterrolle als aufgeblasener Liebhaber hinaus und reifte zu einem schwermütigen und satirischen Molière, verlor aber nie den Glauben an die Fähigkeit des Pop, uns näher zusammenzubringen.

Eins ist komisch: Seine beste Prosa schrieb Bangs, wenn er unzufrieden war. Wenn er auf eine Band stieß, die er wirklich liebte, strauchelte er mit seinen Satzperioden wie einst Charles Lamb. Dann brauchte er die nicht mehr, sondern schickte dem Schöpfer Dankesbriefe für die Musik, die er liebte. Unverblümt. Ächzend, grunzend und knurrend. Und die Botschaft seines Grunzens war: ES IST GUT, AM LEBEN ZU SEIN.

Als ich Dave zusagte, mit ihm zusammenzuziehen, erzählte er mir nicht, dass er ein paar Monate zuvor, im Oktober 1988, versucht hatte, sich mit Tabletten umzubringen. Er hatte seine Gründe dafür, es mir zu verschweigen. Zweimal hatten wir an der Uni Daves Zusammenbrüche miterlebt und den Gescheiterten nach Illinois zurückziehen lassen. Freundlichkeiten oder Nettigkeiten hielt er nicht aus. Als anständiger Junge aus dem Mittleren Westen kam er nur mit Höflichkeit klar. Liebe war das andere alles verschlingende Extrem. Aber zwischen diesen beiden gab es auf dem umfassenden Radiospektrum der Menschheit zwei miserable Mittelwellesender namens die Freundlichen und die Netten, die anscheinend massenhaft Werbung brachten und Bands wie Mr.  Mister[8] spielten. Dave verschwieg mir den Suizidversuch auch, weil er Spaß haben wollte, verdammt, und das Halbgare freundlicher Gesten nicht ausstehen konnte.

Lester Bangs widmete sich erklärtermaßen dem Thema Depression. Er plädierte für ein Leben, in dem Urteilen, Beobachten, Lieben und Mitmachen im Mittelpunkt stehen, und Hören als Verschwören. Gruppen, die ihm etwas bedeuteten, hielt Bangs die Treue und verteidigte sie. Sein Plädoyer für Empathie webte er aus einem Stoff, der für Dave attraktiv und zugänglich war: der Musik in den Plattenläden und im Radio. Wir sollten unseren Popgöttern folgen und sie mit offenen Armen empfangen. Bangs drängte seine Leser, die Lektüre beiseitezulegen und in die Clubs und Drecklöcher zu gehen, wo der Bär steppte, von denen es beidseits des Charles River zum Glück nur so wimmelte. Dave ging lieber in Bars als in Clubs, aber mit Unterstützung des Heiligen Lester konnte ich ihn immer wieder zu musikalischen Streifzügen durch die Gemeinde überreden. 1989 kannte die Menschheit noch nicht die großen und gefräßigen Suchmaschinen von heute, Google, Yahoo, YouTube und Bing, aber an milden Freitagabenden in der brechend vollen City verfügten wir über eine andere, lebensvergrößernde Suchmaschine. Sie nannte sich Gehen. Wir wohnten zwei Blocks von der Men’s Bar am Inman Square entfernt, eigentlich einem Veteranentreff, der in den 70ern zu Bostons Heimstätte des Punk geworden war. Das Western Front an der Western Avenue war die beste Adresse für Ska und Reggae nördlich von New York City, wo sich Gangmitglieder mit Dreadlocks und weiße Kids mit Hanfponchos in Dope-Schwaden zur Musik des neusten Albums von Burning Spear[9] verbrüderten. Es gab das Green Street für Chicago Blues und die Cantab Lounge für R&B, eine glorreiche Wiederbelebung der Stax-Zeiten[10], wo Frauen mit Beehive-Frisuren, die mal bei den Vandellas gesungen hatten, auf einer winzigen und irgendwie nackt machenden Bühne »I’ve Been Loving You Too Much« röhrten. Im Plough & Stars wurden irisches Liedgut und beatmäßige Lyrik geboten; Weiße spielten auf Steel-Gitarren kontrapunktischen Robert Johnson[11].

Stadteinwärts an der Massachusetts Avenue lag der Kellerclub Wally’s Café, wo die ganze Nacht Jazz und sonntags Funk gespielt wurden. Das Wally’s war der kuschligste Club von allen, dabei hatte Miles Davis da schon in den 50ern gespielt, als ein Student am Priesterseminar der Boston University namens Martin Luther King im selben Block gewohnt hatte und gelegentlich reingeschneit war. An der Mass Ave lag auch Daves Lieblingsziel, das Middle East Café, das als Kebab-Imbiss für Gammlerstudenten angefangen hatte und dann durch die Hinterwand ins Nachbarhaus expandiert war, wo der Inhaber eine Grotte für Bauchtanz-Shows eingerichtet hatte. Ohne jede Logik wechselten sich dort Bauchtanz und Stand-up-Comedy ab, Trance und Tanz, Performance-Kunst und Electronica. Hier kannte der Freitagabend kein Ende. Bei einem langen Spaziergang durch Cambridge kam man mit jedem erdenklichen Groove auf Tuchfühlung, ganz abgesehen von allen anderen Klängen der City, dem Zischen der Busse und dem Fluchen der Penner.

Das ging eine ganze Weile so, improvisiert und unausgeglichen, bis an einem denkwürdigen Wochenende im Frühling ein Freund von mir, ein linker Anwalt für die Gewerkschaft der Schleppkahnarbeiter, bei uns in der Houghton Street übernachtete und mit der Zahnbürste zwei Mixtapes auspackte. Slick Rick. Schoolly D. Ice T. Chuck D. Das war Rap. Uns wurmte, dass mein Freund über Rap im Allgemeinen und unsere schrullige Bostoner Szene im Besonderen besser Bescheid wusste als wir. Ob wir beispielsweise wüssten, dass die meisten weißen Club-Inhaber aus Angst vor den »Subjekten«, die der Rap anziehen könnte, solche Gruppen gar nicht erst engagierten? Der »renommierteste« HipHop-Schuppen der ganzen Stadt wäre daher eine düstere ehemalige Rollschuhbahn aus den Dreißigerjahren mit dem verheißungsvollen Namen Chez Voo Disco Rink. Rollschuhbahn, verhunztes Französisch, Disco-Gedöns – das Abgefahrenheitspotenzial der Sache lag klar auf der Hand. Die subversiven Wortspiele zweier Stücke von Schoolly D hatte Dave da schon fast manisch transkribiert, den Stift in der Hand, den großen silbrigen Ghettoblaster am Ohr.

Signifying Rappers arbeitet sich an verschiedenen zentralen Themen ab. Ganz oben auf der Liste stand für uns damals der erfolgreiche Crossover des Rap in Form von Tone Lōcs »Wild Thing«, das es 1988 in den Charts von Billboard’s Top 100[12] auf Platz 2 gebracht hatte, und »Funky Cold Medina«, wovon zwei Millionen Stück verkauft wurden, während wir die hier zum Buch vernähten Essays schrieben. Bostons Bobby Brown, ein Sohn der Sozialbausiedlung Orchard Park in Roxbury, schaffte es mit »My Prerogative«, was man als Rap verstehen kann, aber nicht muss, auf Platz 2 der Popcharts und galt jedenfalls als Rapper. In den Bostoner Clubs traf Bobby Browns Erfolg ins Schwarze. Jeder kannte ihn, hatte ihn gekannt oder bildete sich ein, ihn gekannt zu haben. Kids wie Bobby Brown gab es wie Sand am Meer. Genau wie Rocker aus Liverpool nach dem Erfolg der Beatles witterten diese ambitionierten jungen Rapper und Veranstalter nun vage eine Chance.

Der zweite Trend in Boston, der allerdings mehr in mein Gebiet fiel als in Daves, war eine Eruption der Waffengewalt, die die tugendbürgerlichen Schlagzeilen des guten alten Boston Globe beherrschte. 1989 erlebten wir den blutigsten Sommer in Bostons Geschichte und keiner wusste, warum. Hier trafen keine Crips auf Bloods[13], das war kein Zusammenstoß uniformierter Markengangs. Das hier war eher Mord als Volkskunst, in einem Boston, das topographisch eine Stadt der Buchten und Landengen, der Halbinseln und Plätze, ein Archipel vieler kleiner miteinander verfeindeter ’Hoods war. Die Schusswechsel schwarzer Jugendlicher (oft auf Fahrrädern, eine quälende Vorstellung – Schießereien im Vorbeiradeln) wurden als Symptome implodierender Chancen stilisiert, zum Resultat miserabler Staatsschulen und himmelschreiender Abbrecherquoten, und auf diffuse Weise galt das alles als Folge der Bostoner Bustransporte von Schulkindern in andere Bezirke zur Förderung der Rassenintegration, die 1974 gerichtlich angeordnet worden und 1989 immer noch in Kraft waren. In meiner Kindheit in Massachusetts waren diese Bustransporte die große Reform, das soziale Experiment und die klaffende Wunde in der Bürgerbrust. 1989, im dreizehnten Jahr des Experiments, schien die Gewalt alle Visionen von »Unsere Stadt soll schöner werden«[14] und »Unsere Stadt soll geeint sein« zu unterminieren. Liberale, die die Bustransporte befürworteten, sagten: Ja, was habt ihr denn erwartet? Für Kids in Orchard Park gibt es keinen anderen Ausweg. Aber wie aufs Stichwort erschien da plötzlich Bobby Brown mit seinem millionenfach verkauften Song, machte sehr deutlich, wie unrealistisch der Ausweg aus Orchard Park und der Armut war, und versetzte den Liberalen den nächsten Schlag. Das war die Kommunalneurose des Sommers.

In der Houghton Street gaben Dave und ich uns derweil unserem munteren und verruchten Junggesellenleben hin. Wenn ich abends aus der Kanzlei nach Hause kam, hatte Dave gerade zum fünften Mal geduscht oder saß in seinem Lieblingssessel aus Velours, die Beine wie immer etepetete übereinandergeschlagen, eine billige Mead-Kladde im Schoß und eine Winston Gold 100, eine von diesen extralangen Zichten der Trailerparks, in der feingliedrigen Hand. Er nahm gerade eine »Auszeit«. So war »Dave im Urlaub«, behauptete er. Seine großartigen Erzählungen Girl with Curious Hair waren vom Verlagsjustiziar gerade auf Herz und Nieren geprüft worden; im August sollte die Sammlung erscheinen. Im September fing Harvard an.

Aber auch »Dave im Urlaub« war immer am Arbeiten. Als er im April nach Cambridge gekommen war, brannte er darauf, einen langen Essay über Produktion und Konsum pornographischer Filme zu schreiben. Das Projekt wurde immer größer und verschluckte andere. Wenn ich nach Hause kam, kauerte er oft über seiner Kladde und versuchte, die schauderhaften, aber suchterzeugenden Anti-Fantasien der Pornos auf den Begriff zu bringen. Das Werk, das anfangs eine hoffnungsvolle und inspirierte Note hatte, war zum Labyrinth der Paradoxa und der schlichten Widersprüche geworden, das Sagbare knirschte eklig. Charakteristisch für Pornos war an erster Stelle ihre gewaltige Idiotie (kitschige Kulissen und schlechte Dialoge). Aber wie beschrieb man auf intelligente Weise die vielfältigen Funktionen dieser Idiotie? Wie schrieb man mit Achtung und dem nötigen Abstand über sexuelle Erregung von der Stange? Wenn Daves Inspiration versiegte, bestand seine Antwort oft darin, die Paradoxa zu kartographieren, übereinanderzustapeln und so noch ausgeklügeltere Labyrinthe zu erschaffen. Das war zwanghaftes Schreiben, kein genussvolles. Wenn er Sessel und Kladde zurückließ und ins Clubland von Cambridge floh, hatte er immer mehr das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken.

Ich erinnere mich, dass Dave im Juni zu einer verhassten Podiumsdiskussion von Schriftstellern nach Manhattan musste. Ein Diskussionsteilnehmer ließ eine Standardtirade vom Stapel nach dem Motto, Rap wäre gewalttätig, weißenfeindlich, frauenfeindlich und bling-fixiert. Dave verteidigte die Künstler, die er kannte, und rühmte die Sprachgewandtheit, die Wortspiele und die rauen und rohen Angriffe auf das spießige Juste Milieu der Reagan-Ära. Er mochte das lockere Postmoderne, Songs, die aus Stücken anderer Songs collagiert wurden, Rapper, die rappten, ihre Raps wären besser als die Raps anderer Rapper, die ihrerseits über die Raps anderer Rapper herzogen. Songs über nichts, die aber vor Lebenshunger und Persönlichkeit schier barsten.

Lee Smith, ein Redakteur in New York, war fasziniert von Daves Verteidigung der Kunstform und schlug ihm vor, er solle doch einen Essay schreiben. Ein Arbeitstitel lautete: »Warum Rap, den Sie hassen, nicht Ihren Vorstellungen entspricht, sondern scheißinteressant ist und wenn anstößig, dann bei dem, was heute so abgeht, von nützlicher Anstößigkeit«. Die Haltung war natürlich reiner Bangs, und das war ein gutes Gefühl. Außerdem konnte Dave ein paar Themen und vielleicht sogar Seiten aus dem Pornobuch einbauen. (Die Diskussionen um die Synekdoche in Abschnitt 1B halte ich für einen Import.) Am Anfang immer hochmotiviert und dankbar für jede Entschuldigung, das festgefahrene Pornoprojekt beiseitelegen zu können, klotzte Dave ran und skizzierte im Juni und Anfang Juli 1989 rasch und glücklich die ersten drei »D.«-Abschnitte der Signifying Rappers. Diese Abschnitte sind nervös und gereizt, jeder Satz macht Rabatz. Sie sind auch optimistisch (von ein paar Einschränkungen und Nörgeleien abgesehen), offenherzig und extrovertiert. Rap, erklärt er dem Leser, hat eine chaotische Waldgeschichte. Er entwickelt sich, ist organisch und jung. Aber er hat ein wahres, auf die Party scheißendes Protestpotenzial. Abschnitt 1B erforscht die Geschichte und Begriffe, die Aspekte der »Inkongruenz« und besonders die trilateralen Einflüsse (die in Unendlicher Spaß später so viel Unbehagen verursachen sollten) zwischen dem Künstler, dem Konsumenten und der Medientechnologie, die sie verbindet und trennt.

»Ausgangspunkt für unseren Essay war nicht so sehr, was wir wussten«, schreibt Dave in 1B, »sondern eher, was wir beim Hören fühlten; nicht so sehr, was uns gefiel, sondern eher, warum.« Diese Darstellung der kritischen Antriebskraft zeigt die offenkundigen Risse in der Behauptung, das Wissen wäre gegenüber dem Fühlen unwichtig. Gleichzeitig wollten wir ja unbedingt wissen, warum wir etwas Bestimmtes oder aber überhaupt etwas fühlten, wenn wir auf Schoolly D reagierten. Das Gefühl, zu feiern, ist ein gutes Grunzen à la Bangs. Aber der nervöse Frager, wieso, weshalb, warum, ist der selbstkritische Dave, der der planetaren Umlaufbahn um seine Zweifel einfach nicht entkommen konnte. An den frühen »D.«-Abschnitten des Essays mag ich gerade das pausenlose Hin und Her. Es gibt ganze schmucke Absätze, die von A bis Z nur aus Sätzen bestehen, die sich auf subtile Weise widersprechen. Die Pupillen des Lesers, die zwei Jahrzehnte später von links nach rechts über die Zeilen huschen, werden neben einem geplagten, sehnsüchtigen, verdutzten und kämpfenden David Wallace auf und ab schreiten.

Sehnsucht war die Hefe von DFW, das Leben in seiner ungehobeltsten Form, aber auch das, was den Teig aufgehen lässt. Sehnsucht sucht die Literatur heim, Brüder suchen Schwestern, geniale Einzelgänger suchen die Selbstverständlichkeiten der Freundschaft: Vertrauen, Anteilnahme, Zuneigung, Austausch. Aus allen frühen »D.«-Abschnitten von Signifying Rappers hört man auch die Hoffnung und den Humor heraus. Die Prosa hat eine Sprungkraft, die etwas von dem Spaß festhält, dem »verdammten« Spaß, der in Boston in jenem Sommer zu finden war.

Am Wochenende standen wir mittags auf, stolperten zum S&S-Deli am Inman Square, aßen Schinkenspeck mit Eiern und tauschten uns dabei über die Zeitungen aus, den Globe, der über die Schießereien in Roxbury meditierte, und den Phoenix, das allseits beliebte alternative Klatschblatt der Stadt, in dem die besten und hipsten Musikbesprechungen mit enzyklopädischen Club-Verzeichnissen verschmolzen, zusammengehalten von klein gedruckten Kontaktanzeigen (Mann sucht Mann für Spanking und so) und seitenweise Sexannoncen. Nachmittags spielten wir an der Kirche Saint Anthony of Padua[15] Basketball mit italienischen Jugendlichen in Muscleshirts. (Dave, der außer auf dem Tennisplatz überall linkisch wirkte, dabei aber wohlgemerkt extrem ehrgeizig war, zersplitterte mir mit einem Rebound mal einen Zahn.) Später schlenderten wir zum Central Square und durchkämmten die Billigangebote bei Cheapo, dem heruntergekommenen, eklektischen Plattenladen gegenüber von Cantab und Middle East Café. Die Verkäufer bei Cheapo waren eine Nummer für sich, feixten erst über den grässlichen Musikgeschmack der Kunden und führten einen dann zum Manna. Fragte man nach einem Album von Ken Maynard (singender Cowboy aus den Zwanzigern, mädchenhaft, einsam, minimalistisch, Cormac McCarthy als Song), bestanden die Reaktionen der Verkäufer daraus, sich (a) über Cowboy Ken lustig zu machen und (b) seine gesamte Diskographie runterzurattern und zu fragen, welchen Song man denn suche. Verkäufer bei Cheapo standen auf William Shatner und Charles Manson[16] als Barsänger, lange bevor die beiden von den Mainstream-Ironikern bei Rhino Records in Beschlag genommen wurden. Sie tolerierten alles, jeden Geschmack und Kundenwunsch, nur das, was damals unter »hartem« Rap firmierte – das Schroffe und Trotzige –, ging für die Cheapo-Verkäufer nicht als Musik durch. Ein Laden, der Regale voller Didgeridoos der Aborigines und Wendy / Walter Carlos’[17] geschlechtsumgewandelten Switched-On Bach anbot, hatte nur wenige Rap-Platten, weil den Verkäufern widerstrebte, sie zu verkaufen, zur Kenntnis zu nehmen, ja, sie überhaupt nur anzufassen.

Gegen 16.00 oder 17.00 Uhr riefen Freunde bei uns an oder wir bei ihnen. Abendpläne wurden mit der Sorgfalt einer Invasion geplant. Wenn man sagte, man wäre um zehn im Middle East zu einer Rap-Revue, dann traf man sich da oder verpasste sich ganz. In jenen Vor-SMS-Zeiten hatten Pläne mit Freunden noch Gewicht, da stand etwas auf dem Spiel, weil man sie nicht mehr korrigieren konnte, wenn der Abend einmal in Gang gekommen war.

Rap-Abende im Middle East waren neuartig, knallig und chaotisch, und als MC stand jede Woche derselbe Gauner im Trainingsanzug auf der Ali-Baba-Bühne. An den anderen Abenden ging es im Club sarkastisch, raffiniert, giftig zu – wie bei Brecht in einem Kabarett der Weimarer Republik. Abgefahrene Acts wurden auf die Bühne gezerrt und wieder runtergeholt, ausgeflippte, augenzwinkernde, avantgardistische Winzlinge im Smoking, die Velvet Underground spielten. Die Rapper revoltierten dagegen. Mit ihren Zahngrills[18] und Dollarzeichen an Halsketten, ihren sorgfältig einstudierten, aber komplett abgekupferten Tanzschritten erinnerten sie eher an Liberace[19] als an die Black Liberation Army[20]. Sie wollten etwas für Cambridge Ungewöhnliches: unterhalten. Aber verschiedene tief empfundene Aspekte dieser Spektakel kollidierten miteinander: die an afrikanische Diktatoren erinnernden Panoramabrillen, die stramme Haltung der Mitglieder der Nation of Islam[21], die unablässigen, immer auch kaspernden Griffe in den Schritt als Andeutungen von Waffenstarren und Gangbangs – in jenem blutigen Sommer damals ein aufgeladenes Thema. Außerdem kam alles viel zu laut aus einem grottenschlechten Soundsystem, ein Angriff auf die Ohren, der uns taub und zitternd durch den schlafenden, vermüllten Stadtteil nach Hause gehen ließ. In diesen Nächten stellte Dave immer eine wesentliche Frage: »Und – war das jetzt Scheiße? Oder war das quasi wahnsinnig, groß und frei?«

Morgens ging ich zur Arbeit, und Dave hockte sich über seine Kladden, um die Eindrücke und Dilemmata der Vornacht aufzubereiten. Nachdem er diese lebendigen, aber auch widersprüchlichen Abschnitte (gute Beispiele sind 1B und 1C) geschrieben hatte, taten sich vor ihm wieder Labyrinthe auf. Der Fluss der Prosa verebbte. Er bat mich zu lesen, was er geschrieben hatte. Abends gingen wir raus oder machten eine Spritztour und besprachen das alles.

Autofahren war für David Wallace eine große soziale Erleichterung. Die normalen Gesprächsbedingungen – gleichzeitig zuhören und denken, Mienenspiel und Körpersprache beobachten, die manchmal gegenläufigen Informationen verarbeiten (deine Stimme sagt, das interessiert dich, dein Gesicht sagt, du langweilst dich) und gleichzeitig mit den eigenen widersprüchlichen Botschaften aus Interesse und Langeweile, Höflichkeit und Geringschätzung beschäftigt sein – konnten eine Belastung darstellen. Beim Autofahren ließ sich leichter reden, weil die Beteiligten, sitzend und angeschnallt, in die entspannende Leere der Autobahn hinausstarrten. Die Autobahn ersparte einem den Blickkontakt und machte die Interaktion erträglich, wenn Dave die Nervenenden ausfransten. Seine Laune hellte sich auf, wenn wir morgens um zwei mit Freundinnen zu den Stränden im Nordosten von Boston oder aber nach Westen an den Walden Pond fuhren, wo wir im tiefen, von einer Quelle gespeisten See schwimmen gingen. Das Wasser vom Walden Pond schmeckt, wie ein Gehweg kurz vor dem Regen riecht. Das Wasser ist sehr hart und eignet sich ausgezeichnet fürs Schwimmen, wie über die Haut gezogener Samt. Dave krempelte seine hellbraune Cordhose hoch, watete wie Alfred Prufrock[22] hinein und hatte ein kleines bisschen Angst vor Schnappschildkröten. Aber er war glücklich; das hörte man. Es ging ihm gut.

Wenn wir nicht ohnehin beide in der Wohnung waren oder Auto fuhren, schrieb ich meine Kommentare zu seinem Rap-Essay manchmal auf. Legte ihm ein Ja-aber oder Was-wenn auf den Schreibtisch. Dave machte dann den Vorschlag, meine Kommentare einzubinden und aus dem Essay ein gemeinsames Buch mit wechselnden Stimmen zu machen. Die Struktur (drei Großkapitel, die die hegelianische Trias von These, Antithese und Synthese nachäffen) war Daves Idee, die durch die komischen, pingeligen, mit Buchstaben und Zahlen durchnummerierten Unterabschnitte 1A, 2B, 3C, 2D, 3F, 3H umgesetzt wurde und dem Buch seine angespannte und ameisenhaft wimmelnde Anmutung gab, angemessen urban, wie ein verrückter Wohnblock voller genervter, zankender Mietparteien, die zusammen gegen den Hausherrn hetzen.

Im Spätsommer schrieb ich zwei Abschnitte; der eine war in Daves Stil gehalten – introspektiv, diskursiv – ein Kopfdrama. Fast unmerklich verschoben sich unsere Tanzpositionen. Der Sommer schwand dahin, und Dave ging es schlechter – er wurde ängstlicher, zielloser, konnte seine Gedanken nicht mehr in eine produktive oder auch nur angstfreie Richtung strömen lassen. Harvard rückte näher, und die Depression dräute. Als er Abschnitt 3H schrieb – im Grunde eine Predigt; luzide, tapfer, ätzend –, war er auf einmal fest davon überzeugt, dass Rap nicht der dringend benötigte Stinkefinger gegen Reagans Amerika war, sondern eher ein trojanisches Pferd für Herz und Hirn, ein »Protest«, der von so undurchsichtigen Motiven und Heucheleien heimgesucht wurde, dass er ganz einfach scheitern musste. Rap war zum Scheitern geboren, war ab ovo vereinnahmt worden und im wertlosen Gewusel der Medien aufgegangen.

Isolation, Solipsismus, Bindungsverlust – das waren Bangs’ große Feinde. Als der Sommer in der Houghton Street zur Neige ging, breitete sich das Frösteln der Isolation aus. Ich erinnere mich an weniger Besucher, weniger leidenschaftliche Diskussionen im alten WG-Stil, weniger Abende, an denen wir um die Häuser zogen, und dann gar keine mehr. Die Uni fing im September an. Dave, der Philosophie früher mit der Leichtigkeit eines Wunderkindes erledigt und auch geplant hatte, mit dieser Gabe ein professorales Leben zu bestreiten, stellte 1989 fest, dass er das ganze Uni-ding nicht mehr hinbekam. Er konnte den Vorlesungen nur mühsam folgen und wand sich vor Unbehagen, wenn er Syllogismen über Schönheit las. Er trank mehr und allein. Diese Seiten, sowohl als Text als auch als Collage aus Stimme und Denken, sind das Letzte, was er noch abschließen konnte, bevor er den Ärzten vom Studentenwerk in Harvard an einem kalten Herbstnachmittag auf höfliche Weise seine beständigen Selbstmordgedanken anvertraute.

Meine Reaktionen auf die Verdüsterungen in der Houghton Street lassen sich an zwei unverhohlen journalistischen Abschnitten ablesen, die Dave an den Anfang und das Ende des Buchs gestellt hat. Kapitel 1A erzählt von einem Nachmittag in einem schäbigen Rap-Studio in Roxbury auf dem Höhepunkt der Mordwelle, mit sarkastischen jungen Produzenten und feisten jugendlichen Möchtegern-Rappern, alle wie bekifft von Bobby Browns Vorbild. Das Finale (Kapitel 3I) ist die kurze Darstellung einer Friedenskundgebung, einer Anti-Gang-Veranstaltung und eines kostenlosen, von der City gesponserten Rap-Konzerts, das an einem heißen Augusttag im Roxbury Community College stattfand. Es sollte die verfeindeten Gangs aus Orchard Park, Franklin Park und Melnea Cass zusammenbringen, um im Großmaßstab das Kriegsbeil zu begraben. Opfer der Schießereien, Mütter, die ihre Söhne verloren hatten, Jugendliche in Rollstühlen, Geistliche und Politiker forderten die Kids durch knackende Lautsprecheranlagen auf, einfach die Sau rauszulassen, und: »Lasst das Ballern, Leute!« Die angesagtesten Rapper der Stadt waren da. Gang Starr gab den großen Zampano und rollte in einer weißen Stretch-Limousine durch die Menge zur Bühne, ein bescheidener, ironischer Seitenhieb gegen den Glamour. Es ging das Gerücht, Bobby Brown höchstpersönlich würde auf magische Weise erscheinen und uns zur Einheit zurückrappen. Nur für den Fall, dass Bobby das aus irgendwelchen Gründen nicht schaffen sollte, waren irische Hundertschaften der Polizei aufmarschiert, es gab Straßensperren und Hubschrauber, Mannschaftswagen und eine Reihe hechelnder Schäferhunde. Diese journalistischen Abschnitte sind Anleihen bei Joan Didion, Hommagen an ihre Reiseberichte aus dem Kalifornien der Sechzigerjahre, als die Menschen in den farbigen Seifenblasen gefangen waren, die sie ihre Persönlichkeit nannten und die in der starken Thermik der Kultur aufstiegen, bis sie platzten.

Im ganzen Buch mokiere ich mich über meinen Koautor. Rap wird zu einem sterilen, abgeschotteten Teufelskreis, wenn man darunter nur etwas im Tapedeck oder im eigenen Kopf versteht. Er passiert aber hier und jetzt, in einer Stadt und einem Sommer. Echte Menschen, albern, aufgeweckt, korrupt und verträumt, die Verse schreiben und Tapes mixen. Sie suchen den Frieden hinter den gälischen Straßensperren. Man schummelt, wenn man dieses Leben vermeidet und die ganze Sache dann leblos nennt. Und es ist tragisch, wenn man nach dieser angeblichen Leblosigkeit konstatiert, man hätte nichts mehr zu sagen. Mein Mokieren war mein Flehen: Komm schon, Bruder, keine Müdigkeit vorschützen, wir müssen da raus.

Eine Anmerkung zur Neuausgabe: Signifying Rappers ist erstmals im Mai 1990 mit einer kurzen Diskographie und einer vollständigen Transkription der gesampelten und lyrischen Einblendungen der klassischen HipHop-Single »Paid in Full« von Eric B. & Rakim erschienen. Diese Anhänge wurden rausgeschmissen, um das Ganze zu entrümpeln und das Augenmerk auf den Haupttext des Buches zu richten.

Dieser Haupttext ist inklusive der damaligen Danksagungen im Wesentlichen so belassen worden, wie er war. Das Buch ist ein zutiefst hirnrissiges Produkt des Jahres 1989 und wimmelt nur so von kurzen und kryptischen Anspielungen auf Howard Beach[23], Dick Gephardt[24], das Kidnapping von Tawana Brawley[25] und die Fernsehserien und Werbekampagnen des ganzen Katzenjammers der Post-Reagan-Ära. (Heutige Stichworte könnten Newtown[26], Nippelblitzer[27], Tanzende Babys[28] und Wayne LaPierre[29] sein.) Erinnert sich noch irgendwer an Arsenio Hall[30] oder die California Raisins[31]? Verpuffen diese Anspielungen bei Lesern unter vierzig vielleicht?

Das ist eine Frage und ein Problem. Signifying Rappers peilt die großen Themen der kommerzialisierten Massenkultur an und nimmt sie aufs Korn, diese Art von Vermarktung des Zorns, die unser Land auch heute noch heimsucht und beherrscht. Obwohl diese Sätze eine »ewige« Sichtweise einnehmen, verweisen sie perverserweise doch immerzu auf das Jahr 1989, wenn Wörter wie neu, bald, neulich, dieses Jahr, jetzt fallen. Solchen Ausdrücken bekommt das Altern nicht. Den Dingen wird dadurch die eigentümliche Anfälligkeit der Zeit aufgedrückt wie einem Milchkarton das Verfallsdatum. Und das ist ironischerweise die dauerhafte Warnung des Buchs vor den Zufällen der Zeitgebundenheit und dem Tod aller Trends. Aber so zeitgebunden – ’89-gebunden – diese Seiten auf den ersten Blick auch scheinen, noch beim Wiederlesen trifft mich die Ausgeglichenheit und Zeitlosigkeit der Prosa meines Koautors:

Genau wie der Drum-Computer und der Scratch, das Sample und der Backbeat ist auch der »Song« des Rappers eigentlich eine obere Schicht im dichten Rhythmus-Gewebe, das sich im Rap der Grundfunktionen von Melodie und Harmonie bemächtigt, also Wiedererkennung, Call, Kontrapunkt, Satz und Sequenz, das Spiel verwobener Töne … bis der »Rhythmus« liefert, was den Rap grundlegend definiert: Tanzbeats, die dem Körper unbegrenzte Möglichkeiten bieten, rhythmisch vermählt mit komplex betonten Texten, die in Message und Metrum klarmachen, dass die Dinge jetzt nie anders sein können als das, was IST.

Also wow. Rap ist Lyrik. Er besteht aus Rhythmus und Metrum – das heißt, marschierender Zeit. Ich weiß nicht recht, was ich vom komplexen Zusammenspiel von Zeichen, Zeit und Zappeligkeit in diesem Büchlein halten soll, aber es dürfte das Beste sein, man lässt es für den Leser größtenteils unangetastet.

 

Juli 2013

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1.Selbstermächtigung

M.

(1A)

Die Schulen in dem Teil von Boston, der sich vom Südrand von South Boston durch Roxbury bis nach Dorchester erstreckt, sind mit ähnlichen Folgen segregiert: Die überwiegend schwarzen Gebiete sind von den überwiegend weißen Gebieten abgeschnitten.

– Morgan vs. Hennigan[32], US-Bezirksgericht von Massachusetts, 1974

Der Radioknopf im Ford ist gedrückt; die Sendersuche läuft. Die City bleibt zurück. Vor der Windschutzscheibe erstrecken sich meilenweit Wohnviertel. Die Suchfunktion bleibt bei irgendeinem Stereosender hängen, wahrscheinlich einem Uni-Radio. »Yeah«, sagt ein neuer Freund. »Whas up. Whas goin on.« Das Radio hat noch einen Knopf, vol↑, der mehrmals hochgedreht wird, während der Ford vergnügt der Quelle des Lärms entgegenrast. Und damit ist nicht der Senderstandort auf einem Campus auf der anderen Seite des Flusses gemeint, auch nicht dessen Funktürme in den Vorstädten, sondern RJam Productions in North Dorchester, wo schwarze Kids aus Bostons mittlerweile integrierten Highschools – Latin, Madison Park, Jeremiah Burke, Mattapan – Demobänder zusammenstellen und von etwas träumen, was noch größer ist als das, was sich beim neuen Radiofreund, einem jungen Mann namens Schoolly D, bei lautsprecherramponierender Lautstärke verdammt groß anhört. »Before we start this next record …«, sagt Schoolly. Die Platte, um die es geht, ist ein Stück namens »Signifying Rapper«, eine kurze, blutige Fabel über Vergeltung im Ghetto auf der B-Seite von Schoollys Smoke Some Kill. Das Intro des Stücks, über gestohlenen Led-Zeppelin-Licks in die Leere eines Hallraums gesprochen, bildet, auch wenn im Radio manches weggepiepst wird, die bisher intensivsten dreißig Sekunden des Rap: »Yeah«, sagt Schoolly:

Whas up

Whas goin on

Before we start this next record

I gotta put my shades on

So I can feel cool

Remember that law?

When you had to put your shades on to feel cool?

Well it’s still a law

Gotta put your shades on

So you can feel cool

I’m gonna put my shades on

So I can’t see

What you aint doin

And you aint doin nothin

You aint doin nothin

That I [unverständlich]

Well let’s get on with this [pieps] anyway:

Vielleicht ist das Radio wie Coronado[33] über eine ausgewachsene Schoolly-D-Retrospektive gestolpert, die die beiden Jahre seiner Karriere abdeckt und alle 14 Stücke von Smoke Some Kill bringt. Wenn, dann müssten wir gleich noch einen Klassiker hören, Schoollys »Black Man«, für den er eine Aufnahme sampelt, auf der H. Rap Brown, der Justizminister der Black Panthers, erklärt: You can’t do your own thing if your own thing aint the right thing. Die Sendersuche meines Gehirns bleibt bei der Erinnerung an eine Rede von Robert Kennedy hängen, der in einem kaputten Ghetto Frieden stiften wollte und sagte: »Erteilt den Bull Connors[34] und den Rap Browns eine Abfuhr, den Rassisten beider Hautfarben«; und wir sind gerade auf dem John F. Fitzgerald Expressway unterwegs, der nach RFKs Großvater benannt ist, dem populistischen Bürgermeister, dem Ehrenwerten John F. Fitzgerald, der irischen Version von H. Rap Brown, also einem H. Blarney Brown zu der Zeit, als die Iren noch die Underdogs von Boston waren. Wir lauschen also jemandem, der in den 80ern einen Protestpopulisten aus den 60ern bewundert, der mal von dem Enkel des Demagogen, nach dem diese Autobahntangente benannt ist, als Demagoge angegriffen wurde.

Die schwarzen Gebiete sind von den weißen Gebieten abgeschnitten,