Der Eckenknick - Nicholson Baker - E-Book

Der Eckenknick E-Book

Nicholson Baker

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Beschreibung

Es begann damit, dass Nicholson Baker, erfolgreicher Autor von Romanen wie «Vox» und «Die Fermate», in der Zeitschrift «The New Yorker» einen Artikel darüber veröffentlichte, dass die Computerisierung der Kataloge einem Bibliotheksbesuch viel von seinem Charme und seiner Effizienz genommen habe. Dann erfuhr er, dass der Neubau der San Francisco Public Library zu klein geraten war für den vorhandenen Bestand und dass die Verwaltung daraufhin ein paar hunderttausend Bände auf eine Müllkippe bringen ließ – das Raumproblem war gelöst. Schließlich entdeckte er, dass die großen renommierten amerikanischen und englischen Bibliotheken ihre wertvollen Sammlungen von Tageszeitungen nach der Mikroverfilmung auflösen. Da fing er an, ernsthaft zu recherchieren. Und fand heraus, dass es eine Lobby vom Fortschrittswahn irregeleiteter und von Raumnot bedrängter Bibliothekare gibt, - die in die Welt gesetzt hat, auf säurehaltigem Papier Gedrucktes werde «zu Staub verfallen», - die Mikroverfilmungen herstellt, die fehlerhaft, benutzerunfreundlich und hässlich sind, - die nun als «scan gang» Bücher digitalisiert, obwohl weder Hardware noch Programme eine problemlose Archivierung zulassen, - die alle Warnungen der auf Bewahrung des Vorhandenen bedachten Kollegen in den Wind schlägt … «‹Der Eckenknick› informiert, argumentiert und verliert dabei nie die Kraft eines ironischen Manifests, das in Amerika zu erregten Diskussionen Anlass gegeben hat … Es liest sich wie ein gut recherchierter Krimi und ein brillanter Essay zugleich … Bibliothekare sind auch als Mörder leise. Um festzustellen, ob gestorben werden muss, genügt es ihnen oft, eine Ecke einer Buch- oder Zeitungsseite einmal vorn, einmal zurück zu falten. Wenn die Seite bricht, dann ist die Zeitung, das Buch in Lebensgefahr.» Süddeutsche Zeitung

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Nicholson Baker

Der Eckenknick

oder Wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen

Deutsch von Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

1 Beseitigung von Überseebeständen

2 Originale als Andenken

3 Zerstören, um zu bewahren

4 Manchmal ist es brutal

5 Das Kamm-Syndrom

6 Jungfräuliche Mumien

7 Schon heute wertlos

8 Chance für einen Neuanfang

9 Schmuddelig und trostlos, eselsohrig, mausetot

10 Das Büro für Bestandserhaltung durch Mikroverfilmung

11 Rohlinge und Weichlinge

12 Wirklich verteufeltes Zeug

13 Den Champagner aus der Flasche holen

14 Aus allen Nähten platzen

15 Die Straße nach Avernus

16 Es funktioniert nicht

17 Der Eckenknick

18 Ein neuer Test

19 Große Größenordnung

20 Sonderangebot

21 3,3 Millionen Bücher, 358 Millionen Dollar

22 Sechstausend Leichen am Tag

23 In Flammen aufgehen

24 Eine Hand voll Staub

25 Kompletter Blödsinn

26 Trommelschläge

27 Krise ohnegleichen

28 Microfix

29 Aufschlitzen und Verbrennen

30 Ein schnelleres Feuer

31 Knautsch

32 Eine Zahl, die wir nicht ermittelt haben

33 Blatt-Master

34 Einmal umblättern reicht

35 Kauderwelsch

36 Eine ehrliche Meinungsverschiedenheit

37 Wir bleiben ihnen auf den Fersen

38 Guten Glaubens

Epilog

Tafelteil

Anmerkungen

Literatur

Register

Für meinen Sohn Elias

Vorwort

1993 nahm ich mir vor, ein paar Essays über am Rande liegende Themen zu schreiben – über Kinoprojektoren, Fingernagelclipper, über Interpunktion und die Geschichte des Wortes «lumber». Da rief Deborah Garrison an, damals Redakteurin beim New Yorker, und fragte mich, ob ich eine demnächst erscheinende Geschichte der Welt besprechen wolle. Vielleicht hätte ich die Rezension schreiben sollen; stattdessen schlug ich ihr einen kurzen, gut gelaunten Artikel über den Reiz von Zettelkatalogen vor. Als Erstes sprach ich mit Bibliothekaren im Land und musste feststellen, dass die Zettelkataloge überall rausgeworfen wurden. Meine gute Laune nahm ab, und der Essay nahm an Umfang zu.

Als er 1994 erschien, wurde ich in der Welt der Bibliotheken bekannt als Kritiker (und, für manche, als Spinner und als Luddit), und eine der Folgen war, dass sich Bibliothekare der Public Library in San Francisco zwei Jahre später an mich erinnerten, als sie jemandem sagen wollten, was bei ihnen geschehen war: Verwaltungsleute hatten ein paar hunderttausend Bücher auf eine Müllkippe schaffen lassen, als sie entdeckten, dass ein neues Bibliotheksgebäude zu klein war. Ich hielt einen Vortrag über das Thema im Auditorium des neuen Gebäudes und veröffentlichte einen Artikel darüber im New Yorker. An Ort und Stelle gab es einige Aufregung, der Leiter der Bibliothek verlor am Ende seinen Posten (auf Grund von Fehlbeträgen, nicht wegen der Bücherbeseitigung), und ich sah mich plötzlich als «Bibliotheksaktivist» charakterisiert.

Mitten während der Kontroverse sagte ein Mr.Blackbeard zu einer Reporterin, er habe eine Geschichte für mich. Er wollte ihr – es war Nina Siegal vom Bay Guardian in San Francisco – keine Einzelheiten verraten; ich sollte ihn anrufen. Ich rief jedoch nicht gleich an. Das Hickhack wegen der Public Library in San Francisco war ziemlich enervierend, und meine Familie und ich waren dabei, unsere Koffer zu packen: Wir wollten ein Jahr in England verbringen. Ein paar Wochen später stieß ich beim Durchblättern von Papieren wieder auf den Namen Bill Blackbeard und seine Telefonnummer. Ich wählte sie. Blackbeard, der sehr förmlich und leicht atemlos sprach, war offenkundig intelligent, vielleicht ein bisschen à la Ancient Mariner, wie lebenslange Sammler es gelegentlich sind. Er hatte Sammlungen von Comic Strips herausgegeben (Popeye, Terry and the Pirates, Krazy Kat), und er leitete eine so genannte Academy of Comic Art in San Francisco – offenbar eine Ein-Mann-Institution–, die, wie er sagte, eine sehr große Anzahl aus Bibliotheksbeständen stammender Zeitungsbände besaß, darunter einmalige Folgen der berühmten frühen Blätter des Hearst-Konzerns. Manches, was Blackbeard erzählte, konnte ich nicht recht begreifen: dass die Library of Congress, die immer als die letzte Zuflucht unter den Bibliotheken galt, den größten Teil ihrer riesigen Sammlung von Zeitungen des späten neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts durch Mikrofilme ersetzt hatte, und dass wissenschaftliche Bibliotheken sich auf das verließen, was Blackbeard «betrügerische» wissenschaftliche Studien nannte, wenn sie das Ausrangieren von Büchern und Zeitschriften mit diagnostizierten Säure- und Zerfallsschäden rechtfertigten. Ich sagte, das klinge alles äußerst interessant und dass er doch vielleicht selbst darüber schreiben solle; ich dankte ihm und legte den Hörer auf. Ich war es leid, über Bibliotheken zu schimpfen; eigentlich mochte ich Bibliotheken.

Fast zwei Jahre später dachte ich wieder an Blackbeard, und ich beschloss, ihm einen Besuch abzustatten. Er hatte inzwischen seine Zeitungssammlung – die sechs Sattelschlepper füllte – an die State University von Ohio verkauft und war nach Santa Cruz gezogen, weil seine Frau gern surfte. Er war Anfang siebzig, fit, sauber rasiert und trug einen grob gestrickten goldgelben Pullover und eine Baseballkappe verkehrtherum auf dem Kopf. Ein ganzer Raum seines winzigen Hauses war vollgestopft mit Romanheften und alten Science-Fiction-Magazinen in weißen Pappkartons. In seiner Jugend hatte er für Weird Tales geschrieben; im Zweiten Weltkrieg hatte er beim 89.Kavallerie-Aufklärungsbataillon Schützenpanzer gefahren; und 1967 hatte er, von dem Ehrgeiz erfüllt, eine Geschichte des amerikanischen Comic Strip zu schreiben, herausgefunden, dass manche Bibliotheken ihre Zeitungssammlungen abstießen. Die Public Library in San Francisco war, so Blackbeard, eine «unglaubliche Fundgrube» gewesen. Mitarbeiter erklärten ihm, sie wären glücklich, wenn er die Sammlung abholte, aber unglücklicherweise sei er eine Privatperson, und die Statuten der Bibliothek ließen ausschließlich eine Abtretung von Beständen an gemeinnützige Institutionen zu. «Also wurde ich in Windeseile eine gemeinnützige Institution», sagte Blackbeard. Bald hatte er eine gebundene Folge von William Randolph Hearsts New Yorker American in seinen Besitz gebracht, ein Geschenk der Hearst Corporation an die Public Library von Los Angeles (die eigens dafür angefertigten polierten Mahagoniregale behielt die Bibliothek); eine weitere Folge von Jahrgängen des American bekam er von den Bibliotheken der Stanford University. Er fuhr im Land herum und holte sich Bände mit Zeitungen, «Ordner», wie er sie nannte – eine Angewohnheit, die mich anfangs verwirrte. Manchmal schnitt er die Comic Strips oder die Sonntagsbeilagen heraus und verkaufte den Rest an Händler; manchmal behielt er die vollständigen Bände. «Als ich plötzlich merkte, dass ich davon haben konnte, was ich wollte, schnappte ich fast über. Es war das Wunderbarste, was mir passieren konnte.» Blackbeard erzählte mir auch, wie Bibliothekare Papier testen: sie knickten die Ecke einer Seite hin und her, bis sie abbrach.

Nicht lange nach meinem Besuch bei Blackbeard zog ich mit meiner Familie von Kalifornien ins südliche Maine. Umgeben von Bücherkisten saß ich in meinem neuen Arbeitszimmer und blickte aus dem Fenster auf ein Tal voller junger Bäume. An den oberen Zweigen mancher Bäume klebten etliche grauweiße Spannerraupennester, die wie die Enden von Q-Tips aussahen. Ich sah mir die Nester an und dachte: Warum versuche ich eigentlich nicht herauszufinden, was mit den Zeitungen passiert ist? Warum bringe ich nichts Genaueres über den Knicktest in Erfahrung? Ich rief beim New Yorker an und fragte Deborah Garrison, ob sie einen weiteren Artikel über Bibliotheken ertrüge. Sie sagte ja, und ich ging an die Arbeit. Ich lernte alles über pyrophore Verbindungen, über Mumienbinden, Querheftung, Öfen zur künstlichen Alterung, Redoxflecke und über eine von Verner Clapp gegründete Gruppe, die sich Council on Library Resources nannte. Ich wurde mit den Bemühungen einer gewissen Patricia Battin vertraut, und ich sah mir einen Film, Slow Fires, an. Ich fing an zu ächzen und zu stöhnen und tippte Sätze wie «O Freunde, es ist schlimmer, als ihr denkt». Mir wurde klar, dass das, woran ich da saß, länger war als ein Zeitschriftenartikel.

Dann, nachdem ich vier Fünftel dieses Buches geschrieben hatte, fand ich heraus, dass eine der letzten verbleibenden Sammlungen amerikanischer Zeitungen, die auf Holzstoffpapier gedruckt waren, zerstückelt werden würde, wenn ich nicht eine gemeinnützige Gesellschaft gründete – genau wie Blackbeard es getan hatte – und das Geld sammelte, das man brauchte, um die Bände zu retten. Ich verschickte Briefe und Anträge auf Zuschüsse; dann nahm ich die Arbeit am Manuskript wieder auf. Und das ist die Geschichte, wie dieses Buch entstand, das ich zu Ehren des Brüchigkeitstests, von dem Bill Blackbeard mir als Erster erzählt hatte, Double Fold nannte.

Es ist kein unparteiischer Bericht. Ich habe mir Mühe gegeben, diejenigen, deren Ansichten von meinen eigenen abweichen, nicht falsch darzustellen, aber ich mache aus meinem Widerspruch kein Hehl; gelegentlich erwachte in mir ein schlafender anklägerischer Impuls – wir haben Dinge verloren, die wir niemals wiederbekommen können. Ich muss aber auch sagen, dass in der Library of Congress, in der British Library und in anderen illustren Institutionen, die hier offen kritisiert werden, sehr viele Bücherliebhaber beschäftigt sind, die vielleicht gar nicht wissen oder nicht billigen, was ihre Vorgesetzten oder ihre Vorgänger getan haben.

Die folgenden Personen haben das Manuskript oder Teile davon gelesen und nützliche Vorschläge gemacht: Nicolas Barker, Viscountess Eccles, David McKitterick, Paul Needham, Randy Silverman, Thomas Tanselle und Peter Waters – was nicht bedeutet, dass sie mit allem, was ich sage, einverstanden sind. Viele andere waren auf die verschiedenste Art und Weise hilfreich, darunter Marty Asher, Ann Godoff, Melanie Jackson, Cressida Leyshon, Timothy Mennel, Charline Parsons, Susanna Porter, David Remnick und Sasha Smith. Dankbar bin ich meinen Eltern und meinen Schwiegereltern und vor allem meiner lieben Frau Margaret.

1

Beseitigung von Überseebeständen

Die Zeitungssammlung der British Library nimmt mehrere Gebäude in Colindale, im Norden von London, ein, nahe einem ehemaligen Stützpunkt der Royal Air Force, der heute ein Luftfahrtmuseum ist. Am 20.Oktober 1940 ließ ein deutsches Flugzeug – die Besatzung hielt den Bibliotheks-Gebäudekomplex möglicherweise irrtümlich für eine Flugzeugfabrik – eine Bombe darauf fallen. Zehntausend Bände irischer und englischer Zeitungen wurden zerstört, fünfzehntausend weitere wurden beschädigt. Unversehrt jedoch blieb eine ziemlich umfangreiche Sammlung ausländischer Zeitungen, darunter viele amerikanische Blätter: Tausende von fünfzehn Pfund schweren, ziegelsteindicken Bänden, alle in marmorierte Pappdeckel gebunden, die Seiten rot gestempelt mit dem Symbol kuratorischer Verantwortlichkeit, dem Krone-und-Löwe-Wahrzeichen des British Museum.

Von Bomben verschont, fielen die amerikanischen Zeitungen einer vor nicht langer Zeit getroffenen verwaltungspolitischen Entscheidung zum Opfer – die meisten wurden im Herbst 1999 in einer blinden Auktion verscherbelt. Zu den Schätzen der Bibliothek gehörten siebzig Jahrgänge in ungefähr achthundert Bänden von Joseph Pulitzers in üppigen Farben gedruckter Zeitung, der New Yorker World. Pulitzer hatte entdeckt, dass mit Illustrationen Nachrichten verkauft werden konnten; in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts begann er vierfarbige Sonntagsbeilagen und großformatige Cartoons zu drucken. Je mehr Landkarten, Darstellungen von Mord-Tatorten, übergroße politische Karikaturen auf der ersten Seite, Modezeichnungen, Stickmuster, Rätsel für Kinder und Comics er veröffentlichte, desto höher kletterten die Verkaufszahlen von World. Mitte der neunziger Jahre war sie die am weitesten verbreitete Zeitung in den USA. William Randolph Hearst zog 1895 nach New York; er kopierte Pulitzers Neuerungen und warb Mitarbeiter von ihm ab. Der Krieg zwischen den beiden Männern schuf den modernen, in die Privatsphäre eindringenden, Skandale aufdeckenden, glamourverliebten Journalismus. Eine Million Menschen lasen jeden Tag einst Pulitzers World; heute ist eine Folge der Originalausgaben um einiges seltener als die First-Folio-Ausgabe der Werke Shakespeares oder die Gutenberg-Bibel.

Außer der World besaß die British Library auch noch eine der letzten umfassenden Folgen der prächtigen Chicago Tribune – über 1300Bände, von 1888 bis 1958, vollständig mitsamt Bonus-Kunstbeilagen, Vierfarbdrucken auf schwerem Papier aus den neunziger Jahren des 19.Jahrhunderts («Diese Zeitung ist unvollständig ohne die Farbillustrationen», heißt es in dem Kasten neben dem Titel); extravagante Layouts illustrierter Erzählungen, kunstvoll handgesetzte ornamentale Überschriften und, über Jahrzehnte hin, auf der ersten Seite die politischen Karikaturen von John T.McCutcheon. Ebenso besaß die British Library eine riesige Sammlung des San Francisco Chronicle (eine von den wahrscheinlich nur zwei erhaltenen; die andere gehört der Chronicle Publishing Company selbst und ist Forschern nur schwer zugänglich), der in seinen Glanzzeiten voller wunderbar hingetupfter Art-Nouveau-Grafiken war. Und dann besaß die Bibliothek eine gewaltige Sammlung von Ausgaben der New Yorker Herald Tribune, die wahrscheinlich die beste Zeitung in der Geschichte der Vereinigten Staaten war – gemeinsam mit ihren beiden Nebenblättern, der Tribune Horace Greeleys, die gegen die Sklaverei war, und James Gordon Bennetts Pro-Sklaverei-Blatt Herald. Die Herald-Tribune-Sammlung– auch sie wahrscheinlich die letzte noch existierende umfangreiche Folge überhaupt – reicht bis 1966, als die Zeitung als selbständiges Blatt einging. Und dann stand in den Regalen der British Library noch eine stattliche Anzahl von Bänden der New York Times (1915 bis 1958), mit den Zeichnungen Al Hirshfelds und Hunderten von mitgebundenen wunderbar feinkörnigen, sepiafarbenen «Tiefdruck-Bild-Beilagen».

Alle diese Zeitungsbestände sind über die Jahre gut gepflegt worden – die Bände, die ich mir im September 1999 genauer ansehen durfte, waren in herrlichem Zustand. Die Bildbeilagen wirkten zwar unvertraut mit ihren Illustrationen im Stil der Jahrhundertwende, sahen aber so aus und fühlten sich auch so an, als wären sie vorgestern vom Zylinder einer Hoe-Presse abgehoben worden.

Mit anderen Worten, die auf Papier aus Holzschliff gedruckten Zeitungen aus der Zeit vor fünfzig bis hundert Jahren sind im Gegensatz zu dem, was die Bibliotheken unablässig behaupten, oft überraschend gut erhalten. Jeder weiß, dass in der Sonne liegendes Zeitungsdruckpapier schnell vergilbt und brüchig wird (ein bindender Holzbestandteil, das Lignin, das in Zeitungsdruckpapier reichlich enthalten ist, reagiert auf Sonnenlicht), aber Mikrofilmrollen – und Disketten und DVDs – halten sich auch nicht gut in der Sonne; bisher jedenfalls scheinen viele der alten Bände ihr ursprüngliches Erscheinungsbild besser zu bewahren als die Miniaturreproduktionen auf Zelluloid oder Kunststoff, die viele Bibliotheken über Jahre hin für einen geeigneten Ersatz gehalten haben. Das Zusammenheften von fünfzehn (oder dreißig oder sechzig) einzelnen Ausgaben einer Zeitung zu einem dicken, schweren Band trägt wesentlich zur Erhaltung der Seiten bei; die Ränder werden oft braun und bröselig, da feuchtwarme Luft auf die Säurebestandteile im Papier einwirkt und es schwächt, und der Bindeleim mag aufhören zu halten, aber nur wenig tiefer im flachen Innern des fest geschlossenen Folianten drückt das schiere Gewicht des Buchblocks fast alle Luft heraus. Die Wirkung entspricht in etwa einer Vakuumversiegelung der inneren Flächen der Seiten: das Papier nimmt folglich weit weniger Schaden.

Viele Bibliothekare jedoch haben es fertig gebracht, sich selbst und uns einzureden, eine Zeitung, die nach 1870 oder so gedruckt worden sei, werde sich unausweichlich selbst zerstören oder «zu Staub zerfallen» – jeden Moment, bald, innerhalb weniger Jahre. 1870 ist das alles entscheidende Jahr, nach dem in amerikanischen Zeitungspapiermühlen an die Stelle von Papierbrei, der aus gekochten Hadern bestand, nach und nach Papiermassen aus steingemahlenem Holz traten. Nun ist «bald» ein bedeutungsloses Wort, wenn es um eine so langlebige Substanz wie eine gedruckte Seite geht – tatsächlich ist es ein Wort, das alle Arten von Missbrauch erlaubt. Schon früh nährten aufstrebende Mikrofilmgesellschaften mit selbstsicheren falschen Voraussagen die Furcht vor der Unbeständigkeit des Papiers. Charles Z.Case, Geschäftsführer bei Recordak, Kodaks Mikrofilm-Tochtergesellschaft, schrieb 1936: «Seit der Verwendung von Sulfitzellstoffpapier zum Zeitungsdruck hat eine Zeitung eine Lebensdauer von 5 bis zu 40Jahren gehabt, je nach der Qualität des Papiers, den Lagerungsbedingungen und dem Grad der Benutzung.» Hätte Case’ Voraussage sich bewahrheitet, dann wäre der Band der Chicago Tribune mit den Ausgaben vom Juli 1911, der, während ich dies tippe, aufgeschlagen vor mir liegt (bei einem von der Influenza inspirierten illustrierten Teil über «Eine neue Theorie der Säuglingspflege»), vor mindestens einem halben Jahrhundert dahingeschieden. Thomas Martin, Leiter der Handschriftenabteilung der Library of Congress in den dreißiger Jahren, stimmte mit dem Recordak-Verkäufer überein: «Alte Holzstoff-Bestände, denen nur noch wenige Jahre Lebensdauer bleiben, sollten auf Film fotografiert werden, sobald sich zufriedenstellende Ergebnisse erzielen lassen. In solchen Fällen haben wir wirklich keine andere Wahl, als Filmkopien anzufertigen oder zu übernehmen, denn die Originale werden bald zu Staub zerbröseln.»

Aber die Originale zerbröselten nicht zu Staub. Keyes Metcalf, ein Mikrofilmpionier und der Direktor der Bibliotheken der Harvard University, sagte 1941 voraus, dass die «Raumbedürfnisse» der wissenschaftlichen Bibliotheken «insgesamt durch Papierzerfall schrumpfen werden». Fünf, zehn, zwanzig Jahre gingen dahin, und das Papier, sogar das angeblich so kurzlebige Zeitungspapier, war immer noch da. Also begannen sich Bibliothekare trotz alledem solcher Bestände zu entledigen. Zerstörst du den physischen Beweis, weiß niemand, wie sehr deine Vorhersagen daneben gelegen haben.

Wie geschmäht auch immer, gemahlener Holzstoff- oder Holzschliffbrei ist eine der großen Erfindungen des späten neunzehnten Jahrhunderts: er verhalf uns zu billigem Papier, und billiges Papier veränderte die Nachrichten. «Ein Mann, der eine Papiermühle betritt, braucht nur sein Hemd auszuziehen, es dem Teufel zu übergeben, der am einen Ende seines Amtes waltet, und dann zu warten, bis es am andern Ende als ‹Robinson Crusoe› wieder herauskommt», schrieb 1837 der Gründer der New Yorker Sun. Aber es gab nie genug Hemden, und 1854 schraubte die Lumpenknappheit die Preise für Zeitungsdruckpapier in beunruhigende Höhen. Als die Brüder Pagenstecher nach Amerika kamen und um 1860 eine deutsche Maschine importierten, die Holzklötze zu Holzschliff zermahlte, indem sie die Enden gegen einen runden, wassergekühlten Mahlstein presste, brachte das die Preise wieder etwas herunter – von zwölf Cent pro Pfund im Jahre 1870 auf sieben Cent pro Pfund im Jahre 1880 und auf weniger als zwei Cent pro Pfund im Jahre 1900.Die Preissenkung verhalf Pulitzer und Hearst zu dem üppigen Platz, der es ihnen ermöglichte, große Anzeigen zu verkaufen, und erlaubte es ihren Kreationen, zu den frivolen Halbweltgeschöpfen zu erblühen, zu denen sie während des ersten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts geworden waren.

Ohne jede Frage ist Holzstoffbrei im Allgemeinen schwächer als Hadernpapiermasse, und altes Zeitungsdruckpapier vor allem reißt leicht, und es kann außerordentlich fragil werden, wenn es zum Beispiel ein paar Jahrzehnte lang im Keller einer Bibliothek auf dem Zementfußboden in der Nähe von Heizungsrohren gelagert wird. Aber der Grad der Fragilität variiert von Zeitung zu Zeitung und von Jahrgang zu Jahrgang, und es gibt viele fragile Dinge (alte Quilts, alte Uhren, Astrolabien, getrocknete botanische Objekte, ägyptisches Glas, Daguerreotypien, frühe Rechner), die trotz oder sogar wegen ihrer Fragilität wertgeschätzt und aufbewahrt werden. Der delikateste Band, auf den ich gestoßen bin (eine Monatsfolge der Detroiter Evening News aus dem Jahr 1892), erlaubte es – obwohl die meisten Seiten sich gelöst hatten und sich, wenn ich den Band bewegte, Wirbel von Flöckchen von den Rändern lösten–, dass man die Seiten umblätterte und mit ein bisschen Vorsicht las. Es gab darin einen interessanten, von zwei Stichen begleiteten Artikel über eine Unterkunft in der Stadt für «obdachlose Wanderer». (Sünder schliefen auf Holzpritschen ohne Bettzeug, während die frisch konvertierten Wanderer Feldbetten mit Matratzen bekamen und einen Leseraum benutzen durften.)

Altes Zeitungsdruckpapier ist stark säurehaltig – na und? Unsere Aufregung über die Säure im Papier ist keineswegs rational. Nur dass eine bestimmte Seite einen niedrigen pH-Wert hat (pH 7 ist neutral, alles darunter ist säurehaltig), heißt noch nicht, dass sie nicht gelesen werden kann. Es gibt fünfhundert Jahre alte Buchdruckpapiere, die stark und elastisch geblieben sind, obwohl die pH-Werte unter 5 liegen, was einen Konservierungswissenschaftler zu der Schlussfolgerung bewogen hat, dass «die Säurehaltigkeit des Papiers allein nicht notwendigerweise einen Hinweis auf die Haltbarkeit von Papier darstellt». Tatsächlich ist es schwierig, eine Messmethode zu finden, mit der sich aussagen lässt, wie alkali- oder säurehaltig ein Papier wirklich ist, da Chemikalien an der Oberfläche sich anders verhalten als die innen im Papier enthaltenen; der wissenschaftliche Standardtest (der oft einen Mixer benutzt) unterscheidet hier nicht. Es stimmt, dass, unter gleichen Umständen betrachtet, pH-neutrales Papier seine Eigenschaften länger zu bewahren scheint als Papier, das mit säurehaltigen oder säurebildenden Zusätzen hergestellt worden ist; Wissenschaftler haben diese Beobachtung seit über achtzig Jahren immer wieder einmal gemacht. Aber zu sagen, die eine Substanz sei stärker als eine andere, ist nicht dasselbe wie zu behaupten, die schwächere Substanz sei drauf und dran, sich selbst zu zerstören. Ein Stuhl aus Edelstahl mag haltbarer sein als ein Holzstuhl, aber der Holzstuhl wird nicht unbedingt zusammenbrechen, wenn Sie sich das nächste Mal darauf setzen.

Können Wissenschaftler mit einem vernünftigen Grad von Sicherheit voraussagen, wie lange eine Zeitungssammlung von einem bestimmten Alter halten wird? Nein, das können sie nicht; es hat nie eine Langzeitstudie gegeben, es ist nie versucht worden, eine den tatsächlichen Verlust an Festigkeit anzeigende Kurve zu erarbeiten, die auf Beispielen für das natürliche Altern von Zeitungspapier oder auch auf Beispielen irgendwelchen anderen Papiers basierte. Vor Jahren hat der Papierwissenschaftler William K.Wilson im National Bureau of Standards mit einer solchen Studie begonnen. Drei Jahrzehnte lang hielt er die mit Qualitätsverlust verbundenen Veränderungen fest, denen eine Auswahl kommerziellen Buchdruckpapiers unterworfen war; dann beschloss jemand, den grünen Aktenschrank, in dem das Papier lagerte, sauber zu machen – und das war das Ende des Experiments. «Es hat meinen Blutdruck leicht erhöht», sagte mir Wilson.

Da wirkliche Langzeitergebnisse nicht vorliegen, stützten sich die Vorhersagen auf Experimente mit dem methodologisch anfechtbaren «künstlichen Altern». (oder mit «beschleunigtem Altern»): Man backt eine Papierprobe ein oder zwei Wochen lang in einem Laborofen und stellt dann standardisierte Tests damit an. Anhand der Ergebnisse kann man mit Hilfe einer Art Taschenspielertrick der Chemiker, der so genannten Arrhenius-Gleichung, zu etwas gelangen, das aussieht wie eine vernünftige Schätzung der Anzahl von Jahren, die das Material bei normalen Temperaturen überdauern wird. Aber die Ergebnisse dieser Art von Wahrsagerei, Berechnungen, die mit ernstem Gesicht und bedächtigem Kopfschütteln von Bibliotheksverwaltungsleuten beschworen werden, sind durch die Bank falsch – und werden heute von vielen Papierwissenschaftlern mit Skepsis betrachtet. Die Verfasser der ASTM Standards [Standards der American Society for Testing and Materials] schreiben zum Beispiel, die Anwendung der Arrhenius-Gleichung, um die Lebenserwartung von Papier vorherzusagen, sei «eine interessante akademische Übung, aber die Unsicherheit der Extrapolation ist zu groß, als dass man diesen Ansatz sehr ernst nehmen könnte». William Wilson weist darauf hin, dass man nicht vorhersagen kann, wie lange ein Ei im Karton sich halten wird, wenn man es fünf Minuten lang in kochendes Wasser legt. Papier hat eine komplexe und bisher noch unzureichend ausgewiesene Chemie, mit vielen verschiedenen molekularen und mechanischen Prozessen, die nebeneinander herlaufen; ein schwedischer Forscher schrieb, es sei eine «naive Hoffnung», zu glauben, dass wir «die Lebensdauer von Büchern mit Hilfe akzelerierter Alterungstests und der Arrhenius-Gleichung» abschätzen können.

In gewisser Weise jedoch nehmen alle noch bestehenden Zeitungssammlungen in und außerhalb von Bibliotheken teil an einem immensen, sich ganz von selbst vollziehenden Experiment natürlichen Alterns – ein Experiment, das die Doktrin vom unmittelbar bevorstehenden Zerfall des Zeitungspapiers widerlegt. Peter Waters, der frühere Leiter des Konservierungslabors der Library of Congress, sagte mir, er sehe keinen Grund, warum altes Papier aus Holzstoff seine Textfracht nicht «eine verdammt lange Zeit» tragen könne, wenn es ordentlich gelagert werde. Er merkt an, dass die meisten der zellulosespaltenden chemischen Reaktionen, die einem Buch oder einem Band mit Zeitungen widerfahren können, sich offenbar im ersten Jahrzehnt seiner Existenz abspielen; fünfzig Jahre Umgang mit Papier (Waters ist Meisterbuchbinder) haben ihn gelehrt, dass die Geschwindigkeit, mit der Papier an Festigkeit verliert, im Laufe der Zeit beträchtlich abnimmt – die Kurve, die den beobachteten Zerfall verzeichnet, läuft in einer horizontalen Linie aus. Es besteht also eine sehr gute Chance, dass ein Band mit Ausgaben der New Yorker World, der sich neunzig Jahre lang gut gehalten hat, sich noch in ziemlich demselben Zustand befinden wird, wenn er einhundertachtzig Jahre alt ist, immer vorausgesetzt, dass jemand bereit ist, sich vernünftig darum zu kümmern.

Die Zeitungen der British Library haben den Bombenkrieg und den Altersbiss ihrer Säure überlebt, aber ihre Hüter begehrten den Raum, den sie einnahmen. Das englische Gesetz verlangt, dass die Bibliothek britische Zeitungen im Original aufbewahrt, sieht aber nichts dergleichen für ausländische Zeitungen vor, und so kündigte die Bibliothek 1996 denn in aller Ruhe an, man habe die Absicht, ungefähr sechzigtausend Bände abzustoßen – fast alle nicht in Ländern des Commonwealth publizierten und nach 1850 gedruckten Zeitungen, von denen man Mikrofilmkopien erworben hatte. (Die Mikrofilme, viele davon vor Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten aufgenommen, sind von unterschiedlicher Qualität – manche gut, manche nicht so gut, alle auf kontrastreichem Schwarz-Weiß-Material, das nicht dazu gedacht war, die Schattierungen, die Zwischentöne von Fotografien zu reproduzieren.) Die Ankündigung erschien in Gestalt eines Artikels im Nachrichtenblatt der Zeitungsbibliothek; nicht lange danach wurde er zu einer kurzen Pressedienst-Story ausgearbeitet: «British Library trennt sich von historischen Zeitungen.»

1997 wählte die Bibliothek über fünfundsiebzigtausend Bände mit westeuropäischen Zeitungen und Zeitschriften aus, die ausrangiert werden sollten, Blätter aus Frankreich, Belgien, Deutschland, Österreich, Griechenland, Italien, Portugal, aus den Niederlanden und der Schweiz. Eine Anzahl dieser Titel konnte bei staatlichen Bibliotheken und Universitätsbibliotheken untergebracht werden; andere sollten verkauft oder weggeworfen werden. (Ich erfuhr von diesen Entwicklungen erstmals 1999; die Bibliotheksleitung hat noch immer keinen Bericht darüber vorgelegt, wohin alles gegangen ist.) Die Baylor University in Texas erbat und erhielt acht Folgen wichtiger französischer und italienischer Zeitungen aus der Zeit nach 1850; manche von ihnen sollen in die berühmte Armstrong-Browning-Sammlung eingegliedert werden, da Robert und Elizabeth Barrett Browning diese Zeitungen wahrscheinlich in den Jahren ihres Exils gelesen haben.

Nur sehr wenige Menschen wissen von diesen Vorgängen. Obwohl ich mit einer Anzahl amerikanischer Zeitungsbibliothekare und Antiquare, die mit Zeitungen handeln, sprach, hörte ich nichts darüber; und selbst Leiter von Bibliotheken in England mit guten Verbindungen – zum Beispiel David McKitterick, Bibliothekar des Trinity College in Cambridge, der einem Beraterstab der British Library angehört – waren über das Projekt «Beseitigung von Überseebeständen» nicht informiert und erfuhren erst spät im Jahr 1999 davon, als die Sache sich herumsprach. McKitterick kritisiert die «sehr verschwiegene Art und Weise», in der das «De-akzessionieren» gehandhabt wurde (zumindest hätten andere britische Bibliotheken eine besser publik gemachte Chance bekommen sollen, die Zeitungen zu erwerben, sagt er), und er ist beunruhigt darüber, was alles auf den Listen steht; er erwähnt zum Beispiel die Zeitungen aus dem vorrevolutionären Russland, aus Nazi-Deutschland, aus dem besetzten Frankreich. «Ich habe inzwischen mit einer Anzahl von Wissenschaftlern darüber gesprochen», sagte mir McKitterick, «und sie sind empört. Wenn man eine großformatige Zeitung durch Mikrofilm ersetzt, macht man effektiv vieles von dem, was sie zu ihrer Zeit bedeutete, mausetot. Der Film wird nicht angemessen mit Illustrationen fertig – und trotzdem rangieren sie die großen illustrierten französischen Blätter des frühen zwanzigsten Jahrhundert aus.»

Aber die Bibliotheksverwalter hatten anderes im Sinn als Illustrationen und Gelehrsamkeit. «Zunehmender Druck auf die Lagerkapazitäten in Colindale» war die Rechtfertigung für ihre schreckliche Tat. Eine der bedeutendsten Bibliotheken der Welt war nicht fähig oder nicht gewillt, irgendwo in England ein zehntausend Quadratfuß großes Lagerhaus zu kaufen, zu bauen, umzubauen oder zu mieten, das ihrer einzigartigen Zeitungssammlung Platz geboten hätte.

Nachdem die westeuropäischen Zeitungen dergestalt «versorgt» und Tausende von Regalmetern leergeräumt worden waren, ohne dass es irgendwelchen politischen Ärger gegeben hatte, wandte man sich bei der British Library den Zeitungen aus Osteuropa, Südamerika und den USA zu. Man teilte der Library of Congress und der American Antiquarian Society in Worcester, Massachusetts, mit, was verfügbar war. Die Library of Congress lehnte alles ab, aber die American Antiquarian Society, die eine berühmte Sammlung früher Zeitungen besitzt (in schwarze Einbände mit Goldschnitt gebunden), übernahm mehrere Titel, vor allem solche, die die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs und unmittelbar danach abdecken. «Die Rotröcke kommen!», sagten die Bibliothekare, als sie die mit roten Rücken versehenen englischen Bände neben ihre schwarzen stellten. Das Richard Bland College in Petersburg, Virginia, übernahm mehrere Folgen aus dem neunzehnten Jahrhundert. John Blair, Leiter der Historischen Abteilung, sagt, er hätte mehr von der Sammlung der British Library übernommen, wenn in seinem College mehr Platz gewesen wäre; Blair erinnert sich, wie er in den fünfziger Jahren als junger Regalordner in einer großen Bibliothek in Massachusetts gearbeitet und Dutzende nicht mehr erwünschter Zeitungsbände nach Hause geschleppt hatte. «Sie haben sie einfach zum Müll geworfen», sagt er; er hat sie dann jahrelang im Unterricht benutzt. Blair verglich das Ausräumen der Zeitungssammlungen mit dem Übereifer, mit dem man Schienen demontierte, als es mit den Eisenbahngesellschaften bergab ging. «Heute bedauern sie vielleicht den Verlust mancher dieser frühen Wegerechte», sagte er.

Keine andere Bibliothek bekundete Interesse an der riesigen verbleibenden Masse des amerikanischen Materials. Der Plan, vom Verwaltungsrat der British Library abgesegnet, sah vor, alles, was nicht von anderen Bibliotheken angefordert wurde, Händlern anzubieten; alles, was die Händler nicht wollten, sollte weggeworfen werden: «Material, für das wir keine neue Bleibe finden können, wird Händlern zum Kauf angeboten oder notfalls zum Einstampfen weggegeben.» Brian Lang, der Direktor der British Library, bekräftigte diesen Plan in einem Brief an mich: «Es ist vorgesehen, dass Zeitungsjahrgänge, für die keine Angebote eingegangen sind, eingestampft werden.»

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Originale als Andenken

Ich wollte verhindern, dass die Zeitungen durch Händler in alle Winde zerstreut oder aber «eingestampft». (grauenhaftes Wort!) wurden, deshalb gründete ich in aller Eile eine gemeinnützige Gesellschaft, die ich American Newspaper Repository nannte, und als klar war, dass die Auktion stattfinden würde, ob mir das gefiel oder nicht, unterbreitete ich Gebote. Ein Händler aus Williamsport, Pennsylvania, Timothy Hughes, der mit «seltenen und frühen Zeitungen» handelt, bot, wie sich herausstellte, ebenfalls auf die Zeitungen. Hughes ist Eigentümer eines mittelgroßen, blassblauen Lagerhauses, das sauber und ordentlich gehalten und mit Reihen von Metallregalen gefüllt ist; in den Regalen lagern ungefähr achtzehntausend Zeitungsbände. Hughes ist ein unprätentiöser Mann mit einem kleinen Schnurrbart, redlich in seinen Geschäften; früher gehörte er dem Beirat des Little League Museum in South Williamsport an. Seine ganz normale Praxis besteht darin, die Zeitungen zu «ent-binden» – das heißt, sie mit einem Mehrzweckmesser aus der Bindung und ihrem chronologischen Kontext zu lösen (man hört geradezu, wie die Heftfäden mit einem gedämpften Pop reißen, wenn das Messer innen am Bundsteg des Bandes hinuntergleitet) – und dann einzelne Ausgaben mit reißerischen Schlagzeilen (Al Capone, die Lusitania, Bonnie and Clyde, Amelia Earhart) oder Ausgaben mit frühen Coca-Cola-Anzeigen oder Illustrationen von Thomas Nast, eingeschweißt auf weißer Pappe, bei Papierwarenmessen (wo Käufer hingehen, um nach alten Postkarten, Baseballkarten, Plakaten und anderen ephemeren Dingen Ausschau zu halten) oder über seinen gedruckten Katalog oder übers Internet zu verkaufen. Sein Vater, ein lustiger und bescheidener Mann, war früher Bandsägeblatt-Schärfer, genau wie sein Großvater; jetzt sind sein Vater und sein Bruder sowie ein liebenswürdiger ehemaliger Schullehrer, der Marc heißt, Angestellte der Firma: sie führen Bestellungen aus, bewegen mit dem Gabelstapler Paletten voll neu eingetroffener Bände, schreiben Texte für den Katalog und arbeiten sich nach und nach durch die Bestände, die fast alle aus Bibliotheken stammen.

Wenn die amerikanischen Bibliotheken die Arbeit getan hätten, für die wir sie im arglosen Vertrauen darauf, dass sie sie auch tun, in den vergangenen fünf Jahrzehnten bezahlt haben – wenn sie sich vernünftig um unsere kommunalen Zeitungssammlungen gekümmert hätten, statt sie da zu stapeln, wo sie nicht hingehören, und sie schließlich an Bücherschlachter zu verkaufen oder kurzerhand zum Müll zu werfen (ein Angestellter einer Bibliothek in den Südstaaten rettete kürzlich eine Sammlung von Harper’s Weekly, die zehntausend Dollar wert war, aus einem Müllcontainer und verkaufte sie an einen Händler) – dann hätte die Entscheidung der British Library, Millionen und Abermillionen Seiten über urbanes Leben zu verauktionieren, zwar einen Tiefpunkt des Umgangs mit Kulturgütern markiert, doch wäre es nicht ein dermaßen katastrophaler Verlust für künftige Historiker gewesen. Immerhin wurden vor fünfzig Jahren in Bibliotheken überall in den Vereinigten Staaten gebundene Jahrgänge aller größeren städtischen Tageszeitungen, oft sogar in doppelten Sets, sicher aufbewahrt.

Aber das ist nun nicht mehr der Fall. Die Library of Congress und die New York Public Library zum Beispiel besaßen einst Pulitzers New Yorker World komplett, und die Harvard University, die Public Library von Chicago und die Chicago Tribune Company besaßen einst Sammlungen der Chicago Tribune. Sie haben sie heute nicht mehr. («Es tut mir leid, und ich bin entsetzt, aber ich muss sagen, dass sie weggeworfen worden sind», erklärte mir ein Angestellter der Auskunftsabteilung der Chicago Tribune. «Es war vor meiner Zeit.») An der Columbia University (deren Schule für Journalismus von Pulitzer gegründet wurde), an der New York Public Library und an der Library of Congress kann man Memoiren, Biographien, wissenschaftliche Studien und handschriftliche Briefe von Joseph Pulitzer durchsehen, Werke, die die von ihm durchgeführten Neuerungen im grafischen Design beschreiben und von seinem in der Öffentlichkeit geführten Streit mit Hearst über The Yellow Kid berichten, eine beliebte farbige Cartoon-Serie, die zuerst in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in der World erschien – ein Streit, aus dem der Begriff «Yellow Journalismus» hervorging. Aber die World selbst, dieses Meisterstück von einer halben Million Seiten, in dessen Diensten Pulitzer wütete und fluchte und schließlich erblindete, wurde schlampig und nur monochrom auf Mikrofilm aufgenommen und dann, wahrscheinlich in den frühen fünfziger Jahren, von der New York Public Library rausgeworfen. Die Columbia University sagte ihrer World nicht lange darauf Lebewohl; die New-York Historical Society folgte dem Beispiel um 1990.Die Bibliothek der University of Chicago produzierte, ebenfalls in den fünfziger Jahren, unter der Leitung des Mikrofilm-Fanatikers Herman Fussler (ehemals bibliothekarischer Leiter und Informationsspezialist für das Manhattan Project) eine schlechte Kopie der Chicago Tribune. Die Library of Congress warf kurzerhand die World und den größten Teil der Chicago Tribune aus ihren Regalen und ersetzte sie durch Kopien der von der New York Public Library und der University of Chicago hergestellten Mikrofilme. Und Kopien eben dieser aus den fünfziger Jahren stammenden Mikrofilme – an den Rändern verschwommen, dunkel, lückenhaft, mit Seiten, von denen ein Teil des Textes abgeschnitten ist, und anderen, die bis zur Unleserlichkeit verblasst sind – müssen in Zukunft auch den Benutzern der British Library dienen.

Alle größeren Zeitungsarchive – das Center for Research Libraries in Chicago, zum Beispiel, und die State Historical Society of Wisconsin, die beide einst Sammlungen von nationaler Bedeutung besaßen – bauen seit langem auf Mikrofilm und haben die meisten ihrer Bände mit nach 1880 gedruckten Originalausgaben weggegeben, verkauft oder weggeworfen. Fast alle größeren Universitätsbibliotheken, staatlichen Bibliotheken und großen öffentlichen Bibliotheken haben das Gleiche getan. Selbst die große American Antiquarian Society, die vor ein paar Jahren beschloss, sich nur noch auf Publikationen vor 1876 zu konzentrieren, vereinbarte mit Timothy Hughes den Tausch umfangreicher Folgen einiger Kleinstadtzeitungen – darunter zum Beispiel der Sentinel aus Fitchburg, Massachusetts, von 1888 an – gegen ältere Blätter, die man haben wollte.

Die Kansas State Historical Society, 1875 von einer Gruppe von Zeitungsverlegern gegründet, besaß bis vor wenigen Jahren eine außergewöhnlich erlesene Sammlung von Zeitungen aus anderen amerikanischen Staaten, darunter eine Serie der New Yorker Tribune aus der Zeit unmittelbar vor dem Bürgerkrieg, eine größere Folge des Bostoner Investigator und eine große Anzahl sonst nirgendwo zu findender Westküstenzeitungen und regionaler Blätter. Dann baute die Gesellschaft ein neues Gebäude, das kleiner war, als es hätte sein sollen, und veranstaltete 1997 eine Auktion. Ein Beobachter berichtete mir, die Konvolute, die Kansas am Ende verkaufte, seien so außergewöhnlich gewesen und von so hohem Wert, dass eine Gruppe von Käufern vorher zusammenkam, um sich abzusprechen, damit die Gebote nicht ins Uferlose stiegen. Es war «absolut einmaliges Material», sagte der Beobachter. Der nächste Schritt bestand laut Patricia Michaelis, der Direktorin der Bibliotheks- und Archivabteilung, darin, dass man den größten Teil der umfassenden Sammlung von nach 1875 gedruckten Zeitungen aus dem Staat Kansas abstieß; man bot sie zuerst Institutionen an und warf dann, was übrig geblieben war, fort. Michaelis glaubt, dass die Originalzeitungen sowieso zum Untergang verurteilt sind: «Sie zerbröseln einfach irgendwann, ihres Säuregehalts wegen, egal was man mit ihnen anstellt.» Ungefähr die Hälfte der Benutzer der Bibliothek kommen der Zeitungssammlung wegen. Und mögen sie die Mikrofilme? Michaelis lachte: «Na ja, es ist die einzige Möglichkeit, die wir ihnen bieten.»

Eine andere historische Gesellschaft im mittleren Westen hatte in einer zugigen Scheune eine Sammlung zwölf Fuß hoch und zwanzig Fuß breit gestapelt, neben Reihen von Fahrrädern mit Wellenantrieb und den zerlegten Teilen einer Maschinenhalle aus dem neunzehnten Jahrhundert. Dort befanden sich Tausende von Bänden lokaler Zeitungen und eine Folge der New York Times. Shawn Godwin, ein damaliger Angestellter der Gesellschaft, schrieb mir, dieser «Kubus Geschichte» sei auf Geheiß des leitenden Archivars beseitigt worden: Die Bände wurden mit der Kettensäge zerteilt und in einer Dampfmaschine verheizt, die eine alte, als Schaustück erhaltene Sägemühle antrieb. «Ich fragte einen der einfühlsameren stellvertretenden Direktoren, ob es möglich sei, heimlich ein paar von den Bänden mitgehen zu lassen», schreibt Godwin. «Er bedeutete mir, wenn ich Stillschweigen bewahrte und kein Aufhebens davon machte, ginge das wohl in Ordnung.» Godwin rettete einen kleinen Stapel und gab sich Mühe, auf die von der Sägemühle aufsteigende Rauchwolke nicht zu achten.

Die «Säuberung» geht weiter. Seit Mitte der achtziger Jahre gibt es das umfassende U.S.Newspaper Program, ein Regierungsprojekt mit dem Ziel, so viele Zeitungen im Land wie möglich zu katalogisieren (ein nützliches Vorhaben) und diejenigen Lokalblätter, die in früheren Jahrzehnten übergangen worden sind, auf Mikrofilm aufzunehmen: die Bibliotheken erhielten ungefähr fünfundvierzig Millionen Dollar an sogenannten Erhaltungsgeldern – und nicht einen einzigen Dollar für Lagerraum. Das National Endowment for the Humanities [NEH], das das U.S.Newspaper Program finanziert (und auch ein verwandtes Unternehmen, das Brittle Books Program zur Rettung brüchig werdender Bücher), stellt nicht die Bedingung, dass Bibliotheken tatsächlich ihre Originale erhalten, also physisch wieder «ins Regal stellen», wenn sie zur staatlich finanzierten Aufnahme auf Mikrofilm außer Haus gewesen sind. Die NEH-Gelder zur Mikroverfilmung haben am Ende eine letzte große Wegwerfwelle ausgelöst, weil Bibliotheken die staatlichen Gelder dazu benutzt haben, ihre Raumprobleme zu lösen. Seit den Verfolgungen der Mönche im England des sechzehnten Jahrhunderts hat keine Regierung mehr die methodische Vernichtung so reichen Quellenmaterials toleriert oder vielmehr geradezu dazu angespornt.

Ist all dieses Material inzwischen im Internet greifbar, oder wird es das bald sein? Irgendwann könnten achtzig oder hundert Jahre einer guten städtischen Zeitung sehr wohl die Quelle für eine reiche und nützliche Datenbank sein. Aber vorerst ist das Scannen und Speichern und Verzeichnen Hunderttausender von Seiten in kleinem Schriftgrad, mit Halbtonfotos und farbigen Illustrationen eine furchtbar teure Angelegenheit; und selbst wenn unbegrenzt Geld da wäre, bliebe die gewaltige technische Herausforderung, zu akzeptablen Auflösungsstandards zu gelangen, wenn man für Formate so groß wie die einer aufgeschlagenen Zeitung digitale Kameras benutzt. Auch werden qualitativ hochstehende digitale Faksimiles unserer größeren Zeitungen niemals existieren, wenn wir uns nicht jetzt, im Augenblick, entscheiden, es in Zukunft besser zu machen und an den Originalen festzuhalten – auch an den mangelhaften mit den bröseligen Rändern. Man kann schließlich nicht etwas digitalisieren, das stückweise verhökert oder weggeworfen worden ist; und die Versuche, die Bilder ganzer Zeitungsseiten von alten Mikrofilmen abzuscannen, haben nicht recht funktioniert – und werden nie gut funktionieren–, weil der Mikrofilm selbst oft die reinste Zumutung für die Augen ist. HarpWeek, ein Unternehmen, das eine digitale Kopie von Harper’s Weekly im Netz anbietet, hat Zehntausende von Dollars ausgegeben bei dem Versuch, die zur Verfügung stehenden Mikrofilme zu scannen. Man stellte fest, dass dreißig Prozent der so entstandenen Bilder schlecht waren. Heute arbeitet das Unternehmen mit zwei Original-Sets der Zeitschrift, die man aus ihren Einbänden herausgeschnitten hat, damit man die losen Seiten flach auf den Scanner legen kann.

Inmitten der allgemeinen Verwüstung gibt es ein paar mutige und mit Voraussicht begabte Bibliothekare, deren Leistungen noch nicht besungen worden sind. Charles Longley, dem kürzlich in den Ruhestand gegangenen Kurator für Mikrotexte und Zeitungen der Boston Public Library, und seiner festen Überzeugung, dass die in seiner Institution gesammelten Zeitungsbände «Teil des kulturellen Erbes der Stadt» sind und dass «die Bibliothek sich Fahrlässigkeit zuschulden kommen ließe, wenn sie sie nicht behielte», ist es zu verdanken, dass die Bibliothek nicht nur an ihren bestehenden Zeitungssammlungen festgehalten, sondern weiterhin, bis in die Gegenwart, sämtliche Bostoner Zeitungen sowie ausgewählte Blätter aus Massachusetts, in braunes Packpapier gewickelt, aufgehoben hat; außerdem hat die Bibliothek bedeutende Sammlungen gebundener Bostoner Zeitungen, die einst Harvard und anderen Bibliotheken in der Gegend gehörten, fest übernommen. Longley hatte Glück: seine Ansichten wurden von dem langjährigen Stadtbibliothekar geteilt, dem kürzlich verstorbenen Philip McNiff; oft nämlich erweist sich ein Wechsel in der Verwaltung als verhängnisvoll für die Sammlung.

An der Ohio State Library ist eine Bibliothekarin, Lucy Caswell, die Seidentücher in gedämpften Farben trägt und die Cartoon Research Library leitet, nahezu im Alleingang damit beschäftigt, eine Sammlung von gebundenen Zeitungen aus allen Landesteilen wieder aufzubauen: sie kauft für Forschungszwecke Material zurück, das von Händlern und Sammlern angeboten wird, darunter als Herzstück die in lebenslangen Bemühungen zusammengetragene Sammlung von Bill Blackbeard und seiner Academy of Comic Art in San Francisco.

Vor mehreren Jahren kaufte Caswell ein paar Bände der Chicago Tribune (von einem Händler, der sie von einem anderen Händler gekauft hatte); zwei dieser Bände, einer von 1899 und einer von 1914, lagen gerade auf einem Bücherkarren in der Cartoon Research Library, als ich dort einen Besuch machte – vier Zoll dicke Ungetüme mit Buckramrücken, mit festen, dreifach an die Einbände genieteten Schlaufen, die dem stirnrunzelnden Benutzer helfen sollten, die schweren Dinger aus dem Regal zu wuchten. Ihr Äußeres ist zerschrammt und bestoßen, aber sie sind trotzdem von großer Schönheit; bei ihrem Anblick musste ich an Mickeys Buch vom besenerweckenden Zauber in Fantasia denken. Ich schlug den Band von 1914 auf. Auf den Innenseiten des Deckels prangte das Siegel der Harvard University, und darunter las ich:

FROM THE BEQUEST OF

ICHABOD TUCKER

[Class of 1791]

OF SALEM, MASS.

[Legat des Ichabod Tucker

(Jahrgang 1791) aus Salem, Mass.]

Das Papier krümelte nicht – die Seiten ließen sich leicht wenden und lesen. Ich rief bei der Microform-Abteilung von Harvard an und fragte, ob es dort die Chicago Tribune von 1899 und 1914 auf Papier gebe; ich wollte mich vergewissern, ob die Bände in Ohio eventuell aus einem Duplikatset stammten, den man verkauft hatte. Eine ernst und aufrichtig klingende Frau in der Microform-Abteilung sagte: «Oh, wir haben nie gebundene Exemplare, die so weit zurückgehen – sie halten sich nicht.» Sie halten sich nicht, meine Liebe, wenn du sie nicht bewahrst und hütest.

Abgesehen von dem, was Lucy Caswell und Charles Longley haben retten können, ist die Vernichtung einst zugänglicher Sammlungen größerer Tageszeitungen des späten neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts ziemlich weit fortgeschritten. Einige staatliche Bibliotheken, so die in Pennsylvania, Harrisburg, zum Beispiel, gingen, als sie ihre Entsorgungsprogramme planten, weiter zurück als bis 1870 oder 1880 und bestimmten 1850 als das drakonische Jahr: was danach kam, musste auf die Müllkippe. «Pennsylvania war der erste amerikanische Staat, der in seinem gesamten Gebiet die Mikroverfilmung und Abschaffung seiner Zeitungsbestände durchführte», berichtete mir Bill Blackbeard. «Man ist dabei außerordentlich gründlich und brutal vorgegangen. Unglücklicherweise wurden einige der frühesten farbigen Sonntags-Comic Strips in den Zeitungen Philadelphias gedruckt. Deshalb habe ich viele davon nie zu sehen gekriegt.» Die State Library of Pennsylvania hat auch ihren Set mit den Originalausgaben des Philadelphia Inquirer nicht behalten, und das Gleiche gilt für die Free Library of Philadelphia – ein dortiger Bibliothekar schrieb mir, die auf Papier aus Holzstoff gedruckten Zeitungen «zerfallen». Bell and Howell Information and Learning (früher University Microfilms) wird Ihnen jedoch den gesamten Inquirer auf Spulen aus Archivpolyester in kleinen weißen Pappschachteln für 621515Dollar verkaufen.

Die Firma Bell and Howell/​UMI besitzt inzwischen Microfilm-Negative von den meisten der großen Zeitungen des Landes; und soweit zum Scannen keine Originale mehr zur Verfügung stehen, wird, wenn die Scan-Möglichkeiten sich verbessern, der «Master»-Mikrofilm (teilweise das Erbe inzwischen eingegangener Film-Laboratorien und von mäßiger Qualität) zwangsläufig zur Grundlage für künftige digitale Versionen alter Zeitungen werden, und die Firma wird dann auch den Zugang dazu kontrollieren. Bell and Howell hat also mit Erfolg unsere Vergangenheit privatisiert: ob es uns gefällt oder nicht, man hat dort nahezu ein Monopol auf die Reproduktionsrechte für die Hauptquellen der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Wo sind all die verschmähten Zeitungen geblieben? Viele sind rausgeworfen worden – und werden noch immer rausgeworfen, während die Verfilmungen in den einzelnen Staaten fortschreiten. Aber ein gewaltiger Bestand lagert bei den Historic Newspaper Archives, Inc., der größten Firma für das Geschäft mit Geburtsdaten. Wenn Sie zum Beispiel bei Hammacher Schlemmer anrufen, oder bei Potpourri, oder anhand des Katalogs von Miles Kimball eine «echte Zeitung» von dem Tag, an dem ein geliebter Mensch geboren wurde, bestellen, dann werden die Historic Newspaper Archives Ihre Bestellung ausführen. In dem fünfundzwanzigtausend Quadratfuß großen Lagerhaus der Firma in Rahway, New Jersey, warten unzählige, teilweise bereits ausgeweidete Zeitungsbände in trauriger Unordnung in hohen Industrieregalen oder aufgestapelt zu vier Fuß hohen Türmen und auf Paletten. Eines Winternachmittags sah ich mir das an. Das Weihnachtsgeschäft war vorüber, und es ging ziemlich ruhig zu. Zerrissene Seiten, die über mir aus beschädigten Bänden heraushingen, flatterten und knatterten in einer warmen Brise, die von an der Decke befestigten kühlschrankgroßen Heizgeräten herunterwehte. Wenn eine Bestellung auf eine Ausgabe mit bestimmtem Datum kommt, zieht ein Arbeiter zum Beispiel einen Band des Lewistoner Evening Journal (einst im Besitz des Bowdoin College) hervor, schneidet die Ausgabe heraus, begradigt die rauen Ränder mit Hilfe einer großen elektrischen, Guillotine genannten Maschine (sie war auf der einen Seite mit Fotos von Badeanzugmodellen geschmückt) und schiebt die Seiten in eine durchsichtige Plastikhülle zum Versand. Jeder Sendung wird ein in Schmuckschrift gedrucktes «Echtheitszertifikat» beigelegt.

Nicht alles wurde in Regalen aufbewahrt – manche Bände waren drei Paletten hoch an der Wand gestapelt; und die umfangreiche Sammlung der University of Maryland, ein Neuzugang, nahm ungefähr tausend Quadratfuß vom Fußboden in der Nähe des Verladeplatzes ein. Die Herald Tribune-Bände, die von den Historic Newspaper Archives nach und nach zerlegt werden, sind in blassblaues Leinen gebunden und in sehr gutem Zustand (soweit sie noch nicht unters Messer gekommen sind); aus dem Exlibris geht hervor, dass sie einst das Geschenk einer Mrs.Ogden Reid waren, die in den vierziger und fünfziger Jahren die Tribune besaß und mehr oder weniger leitete. Es ist ein Set mit mehrfachen Ausgaben pro Tag: jeweils fünf Ausgaben, separat gebunden. Ich nehme an, es waren die ehemaligen Archivbände der Herald Tribune; Mrs.Reid glaubte zweifellos, sie sichere den Fortbestand der Bände, als sie sie der Bibliothek schenkte. Hy Gordon, der nüchterne leitende Manager der Firma, sagte mir, er glaube, er habe die Herald Tribune-Bändevon der New York Public Library bekommen. Gordon verkaufte mir einen Band aus dem Set mit den Ausgaben vom 1. bis zum 15.Februar 1934 (mitsamt Tiefdruckbeilagen und farbigen Cartoons von Rea Irwin) zum ermäßigten Preis von dreihundert Dollar zuzüglich Versandkosten.

(Die New York Public Library beraubte sich ihrer Herald Tribune-Jahrgänge, muss jedoch dafür gelobt werden, dass sie eine große, zusammengestoppelte Serie der New York Times, von 1851 bis 1985, aufbewahrt; mehrere Jahrzehnte davon existieren in einer speziellen Bibliotheksausgabe auf Hadernpapier. Man darf sie in Raum 3155 unter Aufsicht lesen, als «eher seltenes» Material. Die Folge hat einige klaffende Lücken – zum Beispiel gibt es keinerlei Bände für die Jahre von 1915 bis 1925.Und keine wissenschaftliche Bibliothek, soweit ich weiß, hat die New York Times in den vergangenen zehn Jahren im Original aufbewahrt: die Zeitung bringt heute Tausende von Farbfotos im Jahr, aber auf den Mikrofilmen würde man das nicht erkennen.)

Ich sagte Hy Gordon, ich sei der Meinung, manche Bibliothekare hätten den Ernst der Lage, nämlich die Verschlechterung des Zeitungspapiers, übertrieben. «O ja, stimmt, es zerfällt überhaupt nicht», sagte er. «Die Ränder werden vielleicht rissig, aber das ist alles. Das Papier ist noch gut.»

Ich sagte, ich sei bekümmert, dass so viele Bibliotheken ihre gebundenen Zeitungen ausrangierten.

«Seien Sie nicht bekümmert», sagte er. «Es gibt eine Menge Dinge im Leben, die wichtiger sind.»

Ist das wirklich so? Wichtiger als die Tatsache, dass dieses Land einhundertundzwanzig Jahre seiner Geschichte abgebaut hat? Ich bin mir da nicht so sicher. Die Firma Historic Newspaper Archives besitzt zur Zeit wahrscheinlich die umfangreichste «Sammlung» amerikanischer Zeitungen nach 1880, die es in unserem Land oder irgendwo sonst in der Welt gibt – eine gespenstische, pervertierte Bibliothek: Sie besitzt sie, um sie zu zerstören. «Hier lagern seltene Originalausgaben von Zeitungen mit verbürgtem Wert, von denen viele aus der Library of Congress stammen», heißt es im Werbeprospekt der Firma. Und alle stehen zum Verkauf, zu 39,50Dollar pro Ausgabe. Ich sah Exlibris, die auf frühere Eigentümer hinwiesen, und entdeckte auf dem Rücken mancher Bände die Signaturen der New York State Library, der New York Public Library, der Brown University, der San Francisco Public Library, der Yale University, der Bibliothek der Wisconsin Historical Society, der American Antiquarian Society und vieler anderer. Eine inzwischen verstümmelte Folge der New Yorker World trägt dieses Exlibris:

Presented to

THE NEW-YORK HISTORICAL SOCIETY

by

THOMAS W.DEWART

former President of The Sun

and by

ROY W.HOWARD

President and Editor of the

New York World-Telegram and The Sun

[Der New-York Historical Society geschenkt von Thomas W.Dewart, dem ehemaligen Präsidenten der Sun, und von Roy W.Howard, Präsident und Herausgeber des New York World-Telegram und der Sun]

Und dann sah ich ein Regal voller Bände, die alle die folgende Warnung trugen:

THESE FILES ARE FOR

PERMANENT RECORD OF

The St.Louis Republic

HANDLE WITH CARE

Positively Must Not be Cut

or Clipped

[Diese Bände gehören zum festen Bestand der St.Louis Republic. Sorgfältig behandeln. Es darf nichts herausgenommen oder herausgeschnitten werden]

Die Warnung wurde in den Wind geschlagen.

3

Zerstören, um zu bewahren

Im April 1999, wenige Monate nach meinem Besuch in Hy Gordons Lagerhaus in Rahway, stieß ich zum ersten Mal auf eine kurze Beschreibung des Aussonderungsprojekts der British Library, und zwar auf deren Website. Ich wollte herausfinden, ob europäische Bibliotheken die Originale ihrer eigenen nationalen Zeitungen behalten, wenn sie Ersatzkopien auf Mikrofilm hergestellt haben. (Sie tun es oft; so muss man es der British Library hoch anrechnen, dass dort noch immer die großen britischen Tageszeitungen wie der Telegraph und der Guardian gebunden werden. Viele amerikanische Zeitungsbibliothekare würden das als ein exzentrisches und sinnloses Unterfangen ansehen.) Zeitungen von «besonderer historischer Bedeutung oder einem durch Illustrationen gegebenen Interesse sind nicht in das Aussonderungsprojekt einbezogen», las ich – aber das konnte doch nicht stimmen, denn auf der begleitenden Liste standen die World, die Chicago Tribune, die New York Times, die Herald Tribune, die Times-Picayune aus New Orleans, Hearsts New Yorker American (nur zwei Jahrgänge davon, aber immerhin), der Globe-Democrat aus St.Louis (aus der Zeit, in der Theodore Dreiser eine Kolumne für das Blatt schrieb), der Public Ledger aus Philadelphia und weitere größere Tageszeitungen. Jede dieser Folgen ist – überflüssig zu sagen – von historischer Bedeutung, und einige borden über von Illustrationen, die von Interesse sind. Und jede hat inzwischen, dank der jahrzehntelang von einer amerikanischen Bibliothek nach der anderen betriebenen Selbstberaubung, einen kaum vorstellbaren Grad von künstlich herbeigeführter Seltenheit erreicht.

Ich rief eine freundlich klingende Person, Bhavna Tailor, an, die bei der British Library in der Zeitungsbibliothek für Akquisitionen und Bestandskontrolle zuständig ist («Bestandskontrolle», so habe ich seither gelernt, ist unter englischen Bibliothekaren der freundliche Ausdruck für «das Zeug loswerden, das man nicht brauchen kann»), und ich tat mein Bestes, um sie von der Kostbarkeit der Posten auf ihrer Veräußerungsliste zu überzeugen – sowie von der Mittelmäßigkeit mancher der Mikrofilmkopien, auf die man bei der British Library vertraute. Am selben Tag schickte ich ihr eine E-Mail. «Meine Hoffnung ist, dass dieser außergewöhnliche Schatz unversehrt und zugänglich für künftige Forscher erhalten werden kann», schrieb ich, «und nicht von Händlern zerlegt und stückweise verkauft wird.» Ich sei gewillt, nötigenfalls für die Abholung und Lagerung aufzukommen, erklärte ich ihr, sei es über ein gemeinnütziges Unternehmen oder als Privatperson, wenn es denn am Ende auf eine Wahl zwischen dieser Möglichkeit und der nicht mehr rückgängig zu machenden Zerstreuung der Zeitungen hinausliefe. Zehn Tage darauf erhielt ich eine Antwort von Bhavna Tailor. Sie werde meinen Brief zu ihren Akten legen, teilte sie mir mit, «und falls sich keine Abnehmer für die verbleibenden amerikanischen Titel finden, dann werde ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen und wir können alles weitere ausmachen». Ich schickte Lucy Caswell die Liste, weil sie die einzige mir bekannte Bibliothekarin war, die tatkräftig große Bestände von alten «Holzbreizeitungen». (wie man sie nennt) übernahm, aber Caswell war noch damit beschäftigt, die Wagenladungen gebundener Jahrgänge und einzelner Blätter zu verarbeiten, die ihre Bibliothek von Bill Blackbeard erworben hatte.

Im August, nachdem ich zwei weitere Anfragen geschickt hatte, erhielt ich einen Brief von der British Library, dem eine noch sehr viel längere Liste beilag: sie führte einhundertdreißig Zeitungen und verschiedene andere Periodica auf – mehr als dreimal so viele, wie im Mitteilungsblatt der Bibliothek und auf ihrer Website angegeben worden waren. Die New Yorker World war nach wie vor darunter – kaum zu glauben, keine Bibliothek hatte zugeschlagen–, ebenso die meisten anderen großen Zeitungen; und es waren reich illustrierte Blätter dabei, so zum Beispiel Leslie’s Illustrated Weekly sowie Graphic aus Chicago, und eine verblüffende Sammlung ethnischer Zeitungen und Zeitschriften (der Gaelic American von 1916 bis 1919, der American Hebrew von 1905 bis 1920, Dielli aus Boston, Svoboda aus Jersey City, die New Yorker Irish World von 1880 bis 1946, der British Californian, der Katolik aus Chicago, Vienybe Lietuvninku aus New York, die France Amerique, und so weiter und so fort); und politische Blätter (der jiddische Forward von 1917 bis 1975, zum Beispiel, und der Worker von 1943 bis 1968); und eine Anzahl ungewöhnlicher Branchenblätter wie Combustion und die Fur Trade Review (beide aus den dreißiger Jahren). «Es ist entschieden worden», schrieb Bhavna Tailor in steifem Ton, «dass es nicht angemessen wäre, wenn wir das verbleibende Material Einzelpersonen schenkten, statt es Institutionen zu überlassen.» Das Material, sagte sie, werde «dem höchsten Bieter zugeschlagen». Die Liste war offenkundig mehr oder weniger zur gleichen Zeit, in der ich sie erhielt, an Händler für alte Zeitungen gesandt worden. Das äußerste Datum für Angebote war der 30.September 1999.

Während ich auf die Titel starrte, schlug eine Woge vorausgeahnten Elends über mir zusammen. Der zeitliche Aspekt dieser Entwicklung war nicht gut. Ich hinkte zwei Jahre hinter allem her, schuldete zahllose Dankbriefe, Entschuldigungsbriefe, Berichtigungen oder freundliche Ermunterung; und meine Frau und ich hatten unsere verfügbaren finanziellen Reserven ziemlich erschöpft: wir hatten uns gerade in Maine ein Haus aus dem 18.Jahrhundert ohne jeden Türknauf gekauft. Da wollte ich mich nicht in ein aufreibendes, abscheulich teures Gerangel mit der British Library einlassen.

Aber, Mann, war das eine lange Liste! Die Bibliothek versuchte – vielleicht in technischer Übereinstimmung mit ihren Bekanntmachungspflichten – das Ausmaß ihrer Veräußerungen zu bagatellisieren. Und dann war da die Formulierung «dem höchsten Bieter». Augenscheinlich war es der Bibliothek gleichgültig, ob die Zeitungssammlung Raritäten enthielt oder nicht; man war gewillt, so vorzugehen, dass dem Todesstoß durch die Zeitungsschlächter nichts im Wege stand. Sie wollten das Geld. So telefonierte ich herum, heuerte Rechtsanwälte an, schrieb Briefe, gründete eine gemeinnützige Firma und appellierte an den Anstand der British Library. Es half nichts.

Das Format von Zeitungen ist unauflöslich mit unserer Aufnahme ihres Inhalts verbunden. Der Zeitungsleser geht nicht linear vor, nicht so, wie er lesen würde, hielte er ein Buch in den Händen, sondern in Kreisbewegungen auf der aufgeschlagenen, ausgebreiteten Doppelseite, sei es im Uhrzeigersinn, sei es gegen den Uhrzeigersinn, wobei er den Kopf wie auch die Augen bewegt, gelenkt von inselartigen Markierungen wie Fotos und Anzeigen. Auch die Zeitungen, die keinerlei Bilder bringen, haben etwas visuell Überbordendes, eine den Horizont usurpierende Präsenz, die vom Mikrofilmbild (ein Beobachter verglich es in den siebziger Jahren mit einem «Kuss durch eine Glasscheibe») untergraben und trivialisiert wird.

Trotzdem, an sich ist die Mikroverfilmung nicht verkehrt. Winzige Schwarzweißbilder von Dingen aufzunehmen, dagegen ist nichts einzuwenden, solange beim Aufnehmen nichts zerstört wird. Tatsächlich können Mikrofilme außerordentlich nützlich sein: sie sind tragbar und reproduzierbar, und für viele Arten schlichter Nachschlagearbeit können sie als Ersatz- oder «Puffer»-Exemplar dienen, wodurch sich die Abnutzung empfindlicher, unersetzlicher Originale reduziert. Kein Mensch hat etwas gegen Postkartenwiedergaben von Dürers Holzschnitten oder gegen Prachtbände mit Reproduktionen alter Plakate mit Ozeandampfern, denn die Existenz handlicher Kopien dieser Kunstwerke – in verkleinertem Format – bringt Museumskuratoren nicht auf die Idee, die Originale zu zerschneiden oder wegzuwerfen.

Aber die Mikroverfilmung alter Zeitungen (die, nebenbei gesagt, viele tausend Holzstiche enthalten, die Ostereier und Papierpuppen zum Ausschneiden, die Schnittmuster und illustrierten Notenblätter gar nicht erst zu erwähnen) ist, gleich von Anfang an, unmittelbar mit ihrer Zerstörung verbunden gewesen. Das Lösen der Bindung jedes einzelnen Bandes, um das Verfahren zu beschleunigen und den so genannten Bundstegschatten (in der Mitte des aufgeschlagenen Bandes, wo die Seiten zur Bindung nach unten gebogen sind, ein Bereich, der schwerer zu beleuchten und zu fokussieren ist) zu vermeiden, ist in den Vereinigten Staaten lange Zeit die bevorzugte Methode bei der Mikrofotografie von Zeitungen gewesen. (In Europa neigt man beim Mikroverfilmen eher dazu, die Bindung nicht anzutasten.) Diese Technik wurde systematisch in der Library of Congress angewandt: Luther Evans, der sich als Leiter der Historical Records Survey der Works Progress Administration (WPA) einen Namen gemacht hatte – er führte in den dreißiger Jahren die Oberaufsicht über eine große Anzahl nahezu unlesbarer behelfsmäßiger Mikroverfilmungen überall im Land und wurde schließlich Leiter der Library of Congress–, beschrieb ein Pilotprojekt, nämlich die Verfilmung einiger Jahrgänge des Washingtoner Evening Star im Jahre 1941: «Der Einbandrücken wurde unter einer Schneidemaschine abgeschnitten, dann wurden die Seiten einzeln fotografiert.» Evans nannte dies «die ideale Technik für die Mikroverfilmung gebundener Zeitungen». S.Branson Marley, Leiter der Zeitungs- und Zeitschriftenabteilung der Bibliothek, schrieb Jahre später über diese Methode: «Es war eine ziemlich gravierende Entscheidung, denn es bedeutete, dass man einen Band, um ihn durch Verfilmung zu bewahren, zerstören musste; wenn Bände zu diesem Zweck erst einmal zerlegt waren, erwies es sich als unpraktisch und in der Regel als unmöglich, sie zu restaurieren.»

Das waren praktisch die Anfänge der Idee Zerstören, um zu bewahren, die sich, dank dem von der Library of Congress gegebenen Beispiel, von den fünfziger Jahren an in amerikanischen Bibliotheken mit Macht durchsetzte. Die Vorstellung, dass Druckerzeugnisse von höchster technischer Raffinesse, hergestellt in vier oder fünf Farben auf Millionen kostenden, von rund um die Uhr arbeitenden Druckerteams bedienten Maschinen, notwendigerweise das Opfer eines rohen, an Fehlerquellen reichen, parallaxenverzogenen Miniaturisierungsprozesses werden sollten, erschien den Verwaltungsdirektoren der Bibliotheken schlicht deshalb so attraktiv, weil sie die Zeitungen nicht lagern wollten: Zeitungen nehmen viel Platz ein, die Bände lassen sich schwer hin und her tragen (ein typischer, aus einer Bibliothek stammender Zeitungsband wiegt seine 20Pfund), und obendrein lösen sich von den Rändern lästige Papierflocken.

Im Vergleich zu der Lagerung der Originale in einem großen Gebäude ist die Mikroverfilmung (wie die Digitalisierung), auch in kontrastreichem Schwarz-Weiß, wahnsinnig teuer – es kostet über einhundertfünfzig Dollar, einen Band einer normalen Zeitungssammlung auf Film aufzunehmen, gegenüber knapp fünf Dollar pro Band, die es kostet, ein Außenlager dafür zu bauen und eine Person einzustellen, die mit dem Auto hin- und hertransportiert, was die Bibliotheksbesucher sehen wollen. Außerdem lassen sich Zeitungsseiten von allen Druckerzeugnissen am schwersten fotografieren (oder digitalisieren): sie sind sehr groß, haben schmale Ränder und sind mit winzigen Druckbuchstaben und sehr fein detaillierten Linien von Zeichnungen sowie Fotografien gefüllt. Man benutzt auch den Randbereich der Linse, wo die Verzerrung größer ist; man lässt sehr kleine Dinge sehr klein zusammenschrumpfen; und man beseitigt «Grauskala»- Nuancen – selbstverständlich gehen bei diesem Verfahren Informationen und Schönheit verloren. Bücher und Zeitschriften sind im Vergleich dazu leicht auf Film aufzunehmen.

Aber alle diese Schwierigkeiten schreckten die Visionäre damals, vor fünfzig oder sechzig Jahren, nicht ab: das Endprodukt mochte äußerlich nicht viel hermachen, aber es war aufregend, dass man diese Arbeit überhaupt bewältigen konnte. Und nachdem sie das schwindelerregende, hobbyhaft angegangene Werk vollbracht und mit Hilfe einer fortgeschrittenen Recordak-Filmtechnologie crackergroße Momentaufnahmen von den Inhalten ihrer Zeitungsregale gemacht hatten, schien es nur vernünftig, die alten Zeitungen wegzuwerfen, statt sie in einem Nebengebäude zu lagern für den Fall, dass der Mikrofilm sich als minderwertig erwies oder dass einzelne Ausgaben oder Seiten oder Monate fehlten, oder falls Besucher Fragen hatten (etwa zur Geschichte der amerikanischen Illustration oder Fotografie), die nur von den Originalen beantwortet werden konnten. Charles Z.Case von Recordak rühmte die Vorteile der «kondensierenden Aufnahmen in mikroskopisch kleiner, Platz sparender Form» in den höchsten Tönen; in einem der Werbefilme der Firma aus den dreißiger Jahren wird eine Regalwand mit Bänden der New York Times in der New York Public Library gezeigt, hoch aufgetürmt und willkürlich aneinandergereiht, um das Gefühl der Bedrückung zu verstärken. Und davor steht ein etwas stakeliges hölzernes Schränkchen voller Kodak-Mikrofilme. Den Recordak-Leuten war es früh gelungen, Keyes Metcalf, den damaligen Leiter der Präsenzbibliothek der New York Public Library, für sich zu gewinnen: er kaufte in den frühen dreißiger Jahren zwei Mikrofilm-Lesegeräte; später, als er Direktor der Bibliothek der Harvard University wurde, lancierte er mit Geldern der Rockefeller Foundation ein groß angelegtes Projekt zur Verfilmung ausländischer Zeitungen, um dazu beizutragen, wie er an den Direktor der Stiftung, der für den Bereich der Geisteswissenschaften zuständig war, schrieb, «die Mikrofotografie voranzubringen». In jenen frühen Tagen wurde für Mikrofilme das gleiche Material benutzt wie für Kinofilme – auf manchen Abzügen sieht man noch die Zahnkranzperforation von den ursprünglichen Negativen–, und man hat manchmal das Gefühl, dass die damaligen Verwaltungsdirektoren der Bibliotheken sich wie Hollywood-Mogule vorkamen, wenn sie vielbändige klassische Nachschlagewerke ihrer Präsenzbibliotheken auf die silbrige oder doch zumindest graugrünliche Leinwand brachten.