Der Fantast und die letzten Visionen - Michaela Göhr - E-Book

Der Fantast und die letzten Visionen E-Book

Michaela Göhr

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Beschreibung

Stell dir vor ...
du müsstest dich entscheiden,
alles zu verraten, woran du je geglaubt
und alles zu vernichten, wofür du je gekämpft hast,
um das Kostbarste zu behalten.

Die Welt steht kurz vor dem Abgrund. Simon, der sich zunehmend an sein eigentliches Ich erinnert, kämpft verzweifelt an der Seite seiner Geschwister, um die Menschheit zu vereinen und die Zivilisation vor dem Untergang zu bewahren. Doch lohnt es sich überhaupt, sie zu retten? Immerhin deutet alles darauf hin, dass die Apokalypse bereits begonnen hat.

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Zur Autorin
Impressum
visionen
Letzte erste Worte
Teil 1
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
Teil 2
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
Teil 3
38.
Noch mehr Fantastisches ...
FANTASTische Abenteuer für Kids ab 9 Jahren!
Andersträumer

 

Michaela Göhr

 

Der Fantast und die letzten Visionen

 

 

 

Band 5

 

Urban-Fantasy

Zur Autorin

 

1972 geboren und aufgewachsen in einer sauerländischen Kleinstadt studierte sie nach dem Abitur Sonderpädagogik, arbeitet seit vielen Jahren an einer Förderschule Sehen und lebt mit Mann und Kind gegenüber ihres Elternhauses. Mit dem Schreiben begann sie bereits in der Kindheit, drückte ihre Gedanken zunächst in Geschichten, Gedichten und Liedern aus. Die Leidenschaft, Romane zu verfassen, entdeckte sie erst im Herbst 2014. Seitdem schreibt sie Urban-Fantasy für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

 

Dank

 

Ich danke Elisabeth Marienhagen und allen Menschen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Außerdem bedanke ich mich bei Kathrin Franke-Mois von Coverdesign Epic Moon für die schöne Neugestaltung des Umschlags.

 

 

Die Reihe umfasst folgende Bände:

 

Der Fantast (Band 1) Der Fantast und das Erbe der Ra (Band 2) Der Fantast und die Macht der Gedanken (Band 3) Der Fantast und das Apokryptikum (Band 4) Der Fantast und die letzten Visionen (Band 5)

 

Alle Bände sind sowohl als Taschenbuch als auch als eBook erhältlich.

 

 

Sämtliche Charaktere in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind daher rein zufällig.

Impressum

 

Text: © Copyright by Michaela Göhr Birkenweg 24, 58553 [email protected]://derfantast.jimdofree.comhttps://www.facebook.com/derfantast24/

 

Umschlag: © Gestaltung von Coverdesing Epic Moonhttps://www.facebook.com/EpicMoonCoverdesign/ Bilder: Erik Bjerkesjö, Pixabay

 

Erstausgabe Juni 2018

2. Auflage Juli 2021

 

 

 

 

 

visionen

 

träume

von lichterhellenunsere nacht

 

visioneneiner besseren welttragen unerträgliches

 

helfen dortwo kein schritt mehrmöglich scheint

 

geben unsflügel

 

Letzte erste Worte

 

Mein erster Versuch, diese Welt endgültig zu verlassen, scheiterte kläglich an der Tatsache, dass ich weiterhin gebraucht wurde. Und das, obwohl ich es großspurig öffentlich verkündet hatte! Ihr fragt euch zu Recht, warum ich es an dieser Stelle noch einmal erwähne, wo es doch mein Schicksal zu sein scheint, bis zum bitteren Ende durchzuhalten.

Nun, ihr könnt mir glauben, dass ich den gleichen Fehler nicht zweimal begehe und mir diesmal absolut sicher bin. Dies sind tatsächlich meine letzten Worte. Zumindest die letzten, die je ein Mensch von mir lesen wird.

Um ehrlich zu sein, war mir mein Irrtum derart peinlich, dass ich allein aus diesem Grund am liebsten darauf verzichtet hätte. Doch ich gab meinem Bruder das Versprechen, auch dieses schwere Stück Weg schriftlich festzuhalten – und ich wäre nicht mehr ich selbst, wenn ich nicht alles daransetzen würde, es zu halten.

Dennoch habe ich bis zum letzten Augenblick gezögert, gezaudert, mit mir gerungen und gezweifelt, ob es richtig ist, der Welt diese Worte zu zeigen. Selbst jetzt, nachdem ich weiß, dass es notwendig ist, gibt es einen Teil von mir, der sie am liebsten hierlassen möchte. An dem Ort, wo sie als bloße Erinnerungen keinen Schaden anrichten können, wo alles bleibt, was jemals wichtig war, ist oder werden wird.

Unvergessen. Lebendig. Gegenwärtig.

Im Ursprung allen Seins.

Denn dorthin bin ich nun endlich zurückgekehrt.

Ich bin froh und unendlich dankbar, dass ich die vergangene Zeit erleben durfte. Jede Sekunde, jeden Augenblick - ob schön oder hässlich, geliebt oder gehasst. Nichts davon werde ich jemals vollkommen vergessen. Denn ein menschliches Leben, JEDES Leben stellt eine wertvolle Bereicherung dar. Wie ein Gefäß mit einer unendlich kostbaren Flüssigkeit, von der man nicht einen Tropfen verschütten oder sinnlos verschwenden möchte.

Doch nichts bleibt, wie es ist.

Leben bedeutet Veränderung.

Veränderung bedeutet, dass etwas Neues beginnt.

Und für Neues muss Altes weichen.

So war es und wird es immer sein.

Zumindest liegen diese Ereignisse so weit in eurer Zukunft, dass meine Worte lediglich fantastische Möglichkeiten für euch darstellen, nicht mehr und nicht weniger.

In diesem Sinne wünsche ich euch spannende Lesemomente und hoffe, dass ihr mich in guter Erinnerung behaltet - ganz gleich, welche Bedeutung ihr dem vorliegenden Werk beimesst. Denn ich weiß, dass es euch nicht völlig unberührt lassen wird. Nicht, wenn ihr mir bis hierher gefolgt seid und an meinen Abenteuern teilgenommen habt.

Und auch nicht, sofern euch das Schicksal der Menschheit ebenso sehr am Herzen liegt wie mir.

 

In Liebe

euer Simon alias Mic

 

Teil 1

 

Teuflische Pläne

 

1.

 

„Bringst du mich zur Schule?“

„Warum? Du hast eine Monatskarte für die E-Tram. Ich bin nicht dein Fahrdienst.“

„Ich dachte ja auch, du fliegst mich hin …“

Nun mach schon, ich muss mit dir reden! Außerdem habe ich den Schulstoff für die nächsten vier Wochen bereits gestern Nachmittag durchgekaut. Du erwartest nicht ernsthaft, dass ich da weiterhin täglich hingehe?

Der gedanklich hinzugefügte Kommentar des jüngsten Familienmitgliedes am Frühstückstisch war wesentlich überzeugender und erinnerte mich daran, dass Debbie einen brisanten Auftrag hatte, bei dem ich sie bestmöglich unterstützen sollte. Also seufzte ich ergeben und meinte: „Ausnahmsweise - aber nur, weil ich eh gleich losmuss.“

Es war nicht gelogen. Ich musste immer irgendwohin. In diesem Moment gab es zwar keinen Notfall, der mich zur Eile zwang, doch ein internationales Medizinertreffen in Quebec stand auf dem Tagesplan. Auf dem Weg konnte ich noch bei einigen alten Bekannten vorbeischauen, die ich länger nicht gesehen hatte. Aber vielleicht änderten sich diese Pläne gerade? Die Andeutungen meines Schützlings ließen den Schluss zu. Sie hätte jederzeit mit mir reden können. Auch wenn wir uns nur selten sahen. Für Kontakt zu mir brauchte sie nicht einmal ein Com, da die gedankliche Verbindung zwischen uns sowohl auf dem gesamten Erdball funktionierte als auch darüber hinaus und jenseits davon. Dass sie es bisher nicht getan hatte, bewies mir eigentlich schon, dass sie nicht bloß reden wollte, sondern mich gleichzeitig für etwas Wichtiges brauchte. Und dass dies vermutlich mehr oder weniger unangenehm für mich sein würde. Es war nur ein vages Gefühl, doch es trog mich selten. Mein Bruder Gab beherrschte die mentale Beeinflussung seiner Umgebung perfekt. Bei mir funktionierten diese Psychotricks jedoch nicht zuverlässig. Ich wusste, dass er mir quälende Gedanken oder Sorgen möglichst lange ersparen wollte. Deshalb teilte er mir derartige Dinge immer erst im letzten Moment mit und verschloss sich vor mir, so gut er konnte. Allerdings vermochte er es so wenig, wie es mir gelang, ihn dauerhaft aus meinem Innern auszusperren. Wir gehörten zusammen, waren Teil voneinander – schon immer. So nah beieinander, mit demselben Schicksal, ja sogar mit dem gleichen menschlichen Erbgut versehen, gab es einfach kein Entrinnen voreinander.

Das mit der Verwandtschaft lag daran, dass er seit zehn Jahren im Körper von Debbie steckte, dem einzigen Kind meiner Tochter Annie. Damit war er de facto meine Enkelin, was mich manchmal verwirrte, da er innerlich noch immer derselbe Gabriel war und unser mentaler Kontakt sich kein Stück geändert hatte. Trotzdem schien er sich als Mädchen ziemlich wohl zu fühlen.

Ich selbst kam mir mittlerweile unglaublich alt vor. Mein irdisches Leben währte nun schon knapp einhundert Jahre – viel zu lange für meinen Geschmack. Die meiste Zeit davon hatte ich in der schwer zu erschütternden Überzeugung gelebt, ein Mensch zu sein. Rein physikalisch gesehen war das auch so, obwohl mein Körper weder alterte noch sich dauerhaft verändern ließ. Dennoch war ich ganz normal geboren worden, bei liebevollen Eltern aufgewachsen, zur Schule gegangen, hatte Freunde gewonnen und irgendwann sogar eine Familie gegründet. Meine besonderen Fähigkeiten, die mich von klein auf begleitet hatten, nahm ich noch immer als Geschenk, das ich möglichst sinnvoll einsetzen sollte. Erst nach der Geburt meiner Enkelin hatte ich ziemlich schmerzhaft von meiner wahren Identität als Himmelsbote Mic erfahren, obwohl dies eigentlich nicht vorgesehen war. Seitdem sehnte ich mich zunehmend nach meiner Heimat, dem Zentrum. Ihr würdet diesen Ort vielleicht Himmel, Paradies oder Jenseits nennen. Nüchtern betrachtet stellt er Ursprung, Start und Ziel allen Seins dar, befindet sich praktisch überall und ist dennoch schwer zu erreichen.

Obwohl ich meinte, mich vollständig an mich selbst zu erinnern, gab es weiterhin etliche Dinge, die mir verborgen blieben. Vermutlich, weil mein menschliches Gehirn mit der Datenfülle heillos überlastet gewesen wäre. Da meine Überzeugung und Vorstellung bestimmte, wer ich war und ein Teil von mir noch immer in dem Wunschdenken festhing, menschlich zu sein, blockierte ich den Zugang zu meinem Gedächtnis sicherlich selbst. Reiner Selbstschutz, wie ich vermute. Ohne einen Anstoß von außen gelang es mir nur selten, in diese Bereiche vorzudringen.

Vor einigen Wochen war Gab praktisch über Nacht mit der Erinnerung an seine Existenz als Erzengel überfallen worden. Damit hatte er auch die vollständige Kontrolle über die zugehörige Kraft zurückerhalten. Für mich eine willkommene Gelegenheit, mich vom Dasein als Simon zu verabschieden. Allerdings hatte mich unser gemeinsamer Bruder Jesh, den ich als Anführer unseres Trios respektiere, um eine kurzfristige Erdaufenthaltsverlängerung gebeten. Etwas, das ich ihm unmöglich abschlagen konnte – auch, da es um die dringend benötigte Unterstützung meines Bruders ging.

Ich wohnte also noch immer im Haus meines Schwiegersohns in Westkalifornien und rettete von hier aus da und dort ein paar Leben, während gleichzeitig anderswo mindestens ebenso viele zerstört wurden. Dies war größtenteils dem Umstand zu verdanken, dass wir uns mitten im Zeitalter der sogenannten ‚apokalyptischen Zeichen‘ befanden, den Vorboten des angeblichen Weltuntergangs. Keiner konnte oder wollte mir bisher sagen, wann, ob und wie dieses Ereignis stattfinden sollte. Meine Hoffnung war und blieb, dass es ein rein metaphorischer Untergang sein würde. Bei Gelegenheit musste ich mich näher mit der Sache beschäftigen, aber bisher hatte ich alle Hände voll damit zu tun gehabt, meinen Job zu erledigen. Zum Glück lebten wir in einer der ruhigsten Gegenden der Welt, in der bislang nur wenige Auswirkungen der Apokalypse zu spüren waren. Die Menschen gingen zur Arbeit, zur Schule, begannen mit der Ausbildung oder dem Führerschein, pflanzten Gemüse an und verfolgten kopfschüttelnd die Nachrichten, in denen nahezu täglich neue Hiobsbotschaften die vorherigen aus den Headlines verdrängten. Kaum jemand nahm die Warnungen von Propheten, Sektenanhängern und gläubigen Christen ernst. Wie auch? Mal ganz ehrlich: Würdet ihr einen Menschen ernstnehmen, der mit einem selbstgebastelten Schild am Straßenrand steht, auf dem in ziemlich krakeliger Schrift ‚Tu Buße – das Ende ist nah‘ zu lesen ist? Wenn ich so jemanden traf, drückte ich ihm meistens ein paar Dollar in die Hand und bat ihn, sich noch schnell ein Eis zu kaufen oder was trinken zu gehen, anstatt sinnlos rumzustehen. Und manchmal hatte ich sogar Erfolg mit der Aktion, sofern ich dazu kam, sie dem Betreffenden zu erklären.

„Du verwöhnst unsere Tochter zu sehr, Dad“, murrte Annie. „Warum soll sie nicht mit der Bahn zur Schule fahren, wie alle anderen Kinder auch?“

„Normalerweise tut sie das doch“, gab ich zurück. „Ich habe bloß den Verdacht, dass sie vorher noch einen Abstecher woandershin machen möchte. Stimmt’s?“

„Hmm. Du hast mich ertappt“, gab das Mädchen zu und funkelte mich an. Du weißt ganz genau, dass wir meinen Eltern nichts erzählen dürfen. Was soll ich jetzt sagen?

Ich schmunzelte. Sie wäre in der Lage, ihnen absolut alles glaubhaft beizubiegen. Wie konnte jemand, der solche Kräfte in sich barg, so wenig fantasievoll damit umgehen?

Und ich dachte immer, ich könnte schlecht lügen, gab ich wortlos zurück. Erzähl ihnen was vom Pferd!

Stotternd brachte die Zehnjährige, die einen Erfahrungsschatz jenseits menschlicher Vorstellungskraft in sich trug, eine Geschichte hervor, in der es wirklich um ein Pferd ging, das sie angeblich reiten und pflegen durfte.

So wörtlich war das zwar eigentlich nicht gemeint, aber okay, es ist deine Story.

„... und wenn ich mit der Tram fahre, komme ich nicht mehr rechtzeitig zur Schule“, schloss sie.

„Sag das doch gleich!“, strahlte meine Tochter und drückte ihrer eigenen einen Schmatzer auf die Wange. „Wir haben nichts gegen ein Pflegepferd, solange du deine Schulaufgaben nicht dafür vernachlässigst. Aber bisher brauchen wir uns da sicherlich keine Sorgen zu machen.“

Ich unterdrückte einen Lachanfall. Der Tag, an dem Gabby – wie ich sie insgeheim gern nannte - den Schulstoff der fünften Klasse nicht mehr auf die Reihe bekäme, wäre vermutlich der letzte, den die Lehrer ihrer Schule erleben würden. Doch so weit sollte es nicht kommen. Einerseits hatte bereits ihre menschliche Intelligenz ausgereicht, um den Stoff der Grundschule lässig zu bewältigen, andererseits waren ihre mentalen Fähigkeiten zusammen mit ihrer Erinnerung an ihr wahres Ich exponentiell ins Unendliche geschossen und ermöglichten es ihr theoretisch mit Leichtigkeit, als ‚Wunderkind‘ aufzutreten. Praktisch hielten wir das für keine gute Idee, da bisher niemand außer uns beiden die leiseste Ahnung von ihren Kräften sowie ihrer eigentlichen Aufgabe hatte, und dies so lange wie möglich so bleiben sollte.

„Also los, Pferdenärrin – auf zu Gonzo, dem hübschesten Rappen der Welt“, grinste ich.

Hoffentlich kommen deine Eltern nicht auf die Idee, dein Pferd mal persönlich kennenlernen zu wollen ... Sonst musst du dir wohl oder übel was für sie einfallen lassen!

Sie sparte sich eine überflüssige Antwort. Bei Bedarf zauberte sie jedes beliebige Pferd herbei. Mit etwas Hilfe von mir konnte man sogar prima darauf reiten.

„Also gut, was möchtest du?“

Debbie winkte ihrer Mutter vom Helikopter aus zu. Erst als wir uns in Reiseflughöhe befanden, antwortete sie auf meine Frage.

„Du musst mir helfen, den Schwarzen Mann zu finden.“

Ich keuchte. Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht damit.

„Du meinst ... Black?“, vergewisserte ich mich heiser.

„Du weißt genau, von wem ich rede“, erwiderte sie erwartungsgemäß. „Ich weiß, dass ihr nicht die besten Freunde seid, aber eventuell ist dir aufgefallen, dass er schon seit geraumer Zeit verschwunden ist.“

Um ehrlich zu sein, hatte ich in den vergangenen dreißig, vierzig Jahren keinen einzigen Gedanken an diesen Albtraum verschwendet und war froh, es nicht mehr nötig zu haben.

„Wie kommst du darauf?“, fragte ich erstaunt. „Er hat dich nicht belästigt, oder?“

„Nein. Aber wenn ich unseren Bruder richtig verstanden habe, ist genau das beunruhigend. Nicht für die Kinder, die auf seine ‚Geschenke‘ durchaus verzichten können, sondern für ihn selbst.“

„Ich finde, der Saukerl kann gut allein auf sich aufpassen“, knurrte ich. „Wenn er beschlossen hat, sein scheußliches Geschäft auf der Erde einzustellen – umso besser! Freu dich und denk nicht mehr an ihn, würde ich sagen.“

„So läuft es nicht, wie dir allmählich wieder bewusst sein sollte. Glaubst du, dass deine emotionale Einstellung oder persönliche Meinung irgendwie zählt? Auch wenn du ihn nicht leiden kannst, hilfst du mir hoffentlich, ihn zu finden. Er wird gebraucht, Mic!“

„Wofür denn? Um den Kindern dieser Welt noch mehr Angst und Pein zu bescheren, als sie momentan ohnehin schon erleiden? Ich wusste nicht, dass er verschwunden ist, aber von mir aus kann es so bleiben!“

Meine junge Passagierin seufzte. Darin lag so viel Ernsthaftigkeit, dass es auf einen Außenstehenden belustigend gewirkt hätte. Mir machte dieses Geräusch bewusst, dass ich überreagierte. Also nahm ich mich zusammen und meinte beschwichtigend: „Okay, ich lasse die persönliche Schiene jetzt nicht mehr zu. Erzähl schon! So, wie es sich anhört, steckt Blacky in Schwierigkeiten und wir sollen ihn da rausholen, stimmt’s?“

„Richtig. Jesh geht davon aus, dass Lu ihn nach eurem Gespräch eingesperrt hat. Deine Andeutung, dass der alte Geist sie hintergangen haben könnte, hat sie anscheinend ernstgenommen. Nur leider kam sie nicht mehr dazu, ihn näher zu interviewen oder wieder freizulassen, bevor sie selbst aus ihrem Heim verbannt wurde. Also blieb er, wo er war – ohne Nahrung oder Chance auf die Erlösung, auf die er nun schon seit Ewigkeiten hofft.“

„Du erwartest jetzt nicht, dass ich Mitleid mit ihm habe, oder? Seine ‚Nahrung‘ besteht immerhin aus kindlicher Angst, die er selbst durch Albträume erzeugt! Ich denke, dass unsere Gegenspielerin da ausnahmsweise etwas Gutes bewirkt hat ...“

Die Bemerkung klang härter, als mein Innerstes sich anfühlte. Langsam dämmerte mir, was Gabs Worte bedeuteten. Auch wenn der Schwarze Mann und ich in der Vergangenheit erbitterte Gefechte ausgefochten hatten und ich ihn als einen meiner ärgsten Widersacher ansah: Ein solches Schicksal wünschte ich niemandem. Der Ort, an dem er sich vermutlich seit über dreißig Jahren befand, war buchstäblich die Hölle – und zwar seine persönliche. Luzifer selbst, von meinen Brüdern und mir mit dem Spitznamen Lu bedacht, würde dafür gesorgt haben, dass er sich an dem Ort so unwohl wie möglich fühlte. Da er dort keinen Nachschub an Angst erhielt – dem menschlichen Gefühl, von dem er sich dank eines uralten Fluchs alleinig ernähren musste – vegetierte er sicherlich äußerst qualvoll vor sich hin.

„Nein. Aber ich erwarte, dass du dich professionell verhältst. Offensichtlich schlägt deine menschliche Seite mal wieder voll zu – die ist momentan mehr als hinderlich, Mic! Oder sollte ich dich besser Simon nennen?“

„Jetzt hör auf zu klugscheißen, erzähl mir lieber, wie wir es anstellen sollen, Black da rauszuholen! Soweit ich weiß, ist Lus Paradies seit knapp dreißig Jahren dicht.“

„Für sie selbst schon. Für jeden anderen steht der Ort weiterhin offen. Bloß begibt sich niemand freiwillig dorthin.“

„Und was schlägst du vor, sollen wir jetzt tun? Ich glaube kaum, dass wir mit dem Heli weit kommen.“

Wir bewegten uns die ganze Zeit über bereits in gemächlichem, gleichmäßigem Tempo Richtung Norden – dorthin, wo meine Verabredung an diesem Nachmittag anberaumt war.

„Ob du landest oder uns direkt in die Hölle beförderst, ist mir eigentlich ziemlich egal“, gab meine Copilotin trocken zurück. „Mein Problem ist eher, dass ich nicht weiß, ob und wie ich diesen Körper verlassen kann, ohne ihm zu schaden. Und da ich ihn noch eine Weile brauchen werde, sollte ich nicht so sorglos damit umgehen wie du mit deinem.“

„Oh, na klar.“

Mir wurde bewusst, dass ich bisher keinen einzigen Gedanken an diesen Umstand verschwendet hatte. Der Geist meines Bruders war der eines Erzengels, doch die Hülle, in der er momentan steckte, war äußerst zerbrechlich. Dennoch hatte ich Jeshs Worte noch genau im Kopf, der uns beiden die offizielle Erlaubnis gegeben hatte, das Zentrum aufzusuchen, wenn wir Sehnsucht danach verspürten. Das war eigentlich ständig der Fall. Bisher waren wir nur nicht dazu gekommen.

Meinen Körper konnte ich seit einem dreiviertel Jahrhundert problemlos verlassen und wieder aufsuchen, indem ich ihn durch physische Gewalt praktisch dazu zwang, meinen Geist vollständig freizugeben. Etwas rabiater ausgedrückt: Ich tötete mich selbst. Es hatte mich ein hartes Stück Arbeit, Nerven und jede Menge Zeit gekostet, um diesen Weg herauszufinden. Doch er funktionierte tadellos und die Nebenwirkungen hielten sich meistens in Grenzen. Immerhin alterte ich nicht, jegliche Verletzung ließ sich gedankenschnell reparieren. Ich fragte mich, warum dies bei Gab nicht so vorgesehen war, wenn seine Aufgabe darin bestand, solche für Menschen unmöglichen Missionen durchzuführen! Dennoch musste es für ihn einen Weg ‚nach Hause‘ geben – und zwar einen, der nicht Debbies physischen Tod erforderte.

Wir befanden uns mittlerweile über einsamem, dicht bewaldetem Gebiet, in dem ich uns sorgsam zu Boden brachte. Wir genossen ein wenig die Ruhe der Naturkulisse, während jeder von uns in seinen eigenen Erinnerungen nach einer Lösung kramte. Schließlich murmelte meine Begleiterin: „Ich finde einfach nichts Passendes. Aber Jesh hat gesagt, du könntest mir helfen. Also bitte ...“

„Der ist gut!“, stöhnte ich.

Wie oft hatte ich im vergangenen Jahrhundert von einem unlösbar scheinenden Problem gestanden und mir das Hirn zermartert! Letztlich gab es für alles eine Lösung. Manchmal half es, die Dinge einfach auszuprobieren anstatt darüber zu theoretisieren.

„Ich nehme an, du hast es selbst schon versucht?“, fuhr ich vorsichtig fort und blickte sie forschend an, tastete nach ihren Gedanken und Gefühlen. Sie hätte es mir nicht verheimlicht, wenn sie dort gewesen wäre. Oder doch? Aber ich kam sofort zu dem Schluss, dass sie es nicht getan hatte. Allein mein Ansinnen in diese Richtung wies sie empört zurück. Tief atmend schüttelte sie den Kopf.

„Wo denkst du hin! Das ist alles noch so frisch ... Vor nicht mal einem Monat war ich ein ganz normales Mädchen mit einer liebevollen Familie, das zur Schule ging, Freundinnen und Hobbys hatte ... Na gut, mein Opa sah aus wie fünfundzwanzig, konnte verrückte Dinge tun, mit mir ohne Worte sprechen und in unsichtbaren Flugobjekten durch die Gegend fliegen. Das war vielleicht nicht normal, obwohl ich dich nie für das gehalten hätte, was du eigentlich bist ... Plötzlich, quasi über Nacht, wurde ich mit einem riesigen Berg Erinnerungen erschlagen. Ich hatte genug zu tun, mich neu zu sortieren, mit dem klarzukommen, was da auf mich einstürzte und mich in diese absurde Rolle einzufinden, damit zu leben, dass du gleichzeitig mein Opa und mein Bruder bist. Man erfährt nicht alle Tage, dass man als Engel im Körper eines zehnjährigen Mädchens steckt und dazu auserkoren ist, die Welt zu regieren. Weltherrschaft ... Hallo? Von hier aus? Und zugleich ihren Untergang vorbereiten? HA!“ Sie lachte bitter. „Was hab ich mir bloß dabei gedacht, diesem Wahnsinn zuzustimmen?“

Ich nahm sie tröstend in den Arm. Sie ließ es zu – ein Zeichen dafür, wie verzweifelt sie war, wie sehr sie sich nach körperlicher Nähe sehnte.

„Ich bin so froh, dass du noch da bist“, flüsterte sie unhörbar, während sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. „Ohne dich würde ich es niemals schaffen.“

Eine Welle ihrer Zuneigung überschwemmte mich, ließ mich mal wieder spüren, wie sehr sie mir andernfalls gefehlt hätte. Ich lächelte, gab ihr das zurück, was sie in diesem Moment am dringendsten brauchte: Zuversicht.

„Wir schaffen es gemeinsam, bis ans Ende der Welt und noch weiter“, meinte ich überzeugt. „Lass es uns zusammen versuchen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, kenne den Weg in- und auswendig. Vielleicht kann ich dich führen, wenn du es zulässt. Gleichzeitig schaue ich, ob es deinem Körper weiterhin gut geht. Vertraust du mir?“

„Aber sicher.“

Wir machten es uns nebeneinander auf dem Waldboden bequem. Ich spürte, wie schnell ihr Herz schlug, dass sie alle Anzeichen von Aufregung, ja sogar Angst zeigte.

„Als Erstes musst du die Kontrolle über deine Körperfunktionen erlangen“, verlangte ich. „Atme tief, konzentriere dich auf den Herzschlag, merke, wie er langsamer wird ...“

Sie tat es ohne Widerrede. Schon kurz darauf merkte ich, wie sie ruhiger wurde, beherrscht und diszipliniert. Ihr Geist war perfekt geeignet, diesem Körper seinen Willen aufzuzwingen. Auch wenn sie nicht jedes Molekül kontrollieren konnte, gelang es ihr bei den hauptsächlichen Funktionen. Noch immer wusste ich nicht genau, worauf das hinauslaufen würde. Mir schwebte vor, meinen eigenen Körper zu verlassen und dann zu schauen, in wieweit ich den Geist meines Bruders dazu überreden konnte, sich von dem seinen zu lösen, ohne dass dieser das Atmen einstellte. Sobald ich merkte, dass Debbie sich vollkommen unter Kontrolle hatte, vollzog ich den nötigen Schritt, indem meine Vorstellung mechanisch die Blut- und Sauerstoffversorgung des Gehirns unterband. Das wiederum sorgte dafür, dass ich innerhalb von Sekunden die Verbindung zu meinem Körper verlor. Dieses Verfahren funktionierte seit langer Zeit zuverlässig, stellte regelrechte Routine dar.

 

Ich erwartete, Gab eingesperrt in seiner zierlichen Hülle zu entdecken, doch er stand lächelnd direkt neben mir.

„Es war ganz leicht“, bemerkte er, augenscheinlich prächtig über meine Verwirrung amüsiert. Die Brust des Mädchens vor uns hob und senkte sich gleichmäßig – es schlief tief und fest.

„Genau das ist das Geheimnis“, nickte mein Bruder, indem er meine Gedanken dazu auffing. „Ich hatte es halt nur noch nie versucht. Eigentlich müsste es bei dir jetzt ebenfalls funktionieren.“

Ich unterdrückte einen unschönen Laut und knurrte: „Schön, dann können wir ja starten.“

Ich wandte mich ohne ein weiteres Wort um, machte den Schritt, der uns von der anderen Dimension trennte und wusste, dass mein Begleiter mir folgte. Der neidvoll-grummelige Gedanke daran, wie viel Mühe und Umstand es mich gekostet hatte, einen Weg hierher zu finden und wie leicht es Gab dagegen fiel, wurden von der ernüchternden Erkenntnis neutralisiert, dass ich keinen Plan hatte, wie wir von hier aus an den gewünschten Ort gelangen sollten.

„Du weißt nicht zufällig ...“, begann ich. Das Nichts, das uns umgab, war freundlich, vertraut und hell wie eh und je. Es barg keinerlei Hinweise auf einen Weg zur ‚anderen Seite‘.

„Nein. Aber ich hatte gehofft, dass du einen für uns bahnst.“

Neidlos musste ich anerkennen, dass mein Bruder wesentlich besser und schneller damit zurechtkam, die Beschränkungen des irdischen Daseins abzuschütteln. Mir fiel das ‚Umswitchen‘ immer noch schwer.

„Mach dir nichts draus, nach meinem letzten Erdaufenthalt hab ich fast ein Jahrzehnt gebraucht, um mich wieder daran zu gewöhnen“, war sein tröstlicher Kommentar.Anstatt darauf einzugehen, justierte ich meine Vorstellung lieber auf das Wesentliche. Wege zu schaffen war eigentlich sehr einfach. Dazu war ich praktisch gemacht. Natürlich gab es auch einen in die Hölle – und er führte durch diese gedachte Tür dort.

„Immerhin hast du es geschafft“, nickte mein Begleiter anerkennend. „Zwar ziemlich mickrig für ein so wichtiges Portal, aber Hauptsache, wir gelangen dadurch zum Ziel.“

Momentan war mir nicht nach Scherzen zumute. Der Gedanke daran, was uns auf der anderen Seite erwartete, krampfte mein Innerstes zusammen.

„Nächstes Mal lasse ich dir den Vortritt“, gab ich deshalb eher mürrisch zurück.

„War doch nur Spaß ... Ich hoffe, du hast deinen Humor nicht gänzlich verloren.“

„Nein“, seufzte ich und öffnete die Tür. Dahinter war es wie erwartet finster. „Aber ich habe Schiss.“

„Ich doch auch“, murmelte er. „Wenigstens sind wir zusammen.“

Nie war ich dankbarer für seine Gesellschaft gewesen als in diesem Moment. Tief atmend schloss ich zu ihm auf. Seite an Seite traten wir entschlossen über die Schwelle.

 

2.

 

Es war das Gefühl, nach oben zu fallen, obgleich oben und unten im Nichts eigentlich bedeutungslos sein sollten. Dennoch kehrte sich alles um. Wie beim Rückwärtslauf eines Films. Unwillkürlich entfuhr uns beiden gleichzeitig ein Laut der Überraschung. Gleich darauf hatten wir uns wieder gefangen und mussten lachen, hielten uns aneinander fest, um stehenzubleiben. Wo auch immer wir standen. Zunächst einmal schien es keinerlei Beleuchtung zu geben. Das Nichts, das uns umgab, bestand aus Dunkelheit anstatt aus der gewohnten Helligkeit. Unsicher blickte ich meinen Bruder an, den ich trotzdem klar erkennen konnte. Er leuchtete von innen heraus, wenn auch nur ganz schwach. Mit der Erinnerung daran, dass wir selbst Lichtquellen waren, kehrte mein eigenes Leuchten zurück. Mir gelang es, das Licht um uns herum ausdehnen, bis es unsere Umgebung genug erhellte, um alles darin wahrzunehmen. Im selben Moment strahlte auch Gab heller und sagte: „Danke, endlich kommt Licht in die Sache! Dann lass uns mal auf die Suche gehen.“

„Aber wo?“ Ratlos versuchte ich die Schwärze hinter der Kugel aus erleuchtetem Nichts zu durchdringen. Mit ausreichend Konzentration darauf dehnte ich den Bereich weiter aus, jedoch verbarg sich dahinter nur wieder Nichts.

„Vielleicht existiert hier ebenfalls eine Art Zentrum, ein Ort, von dem alles ausgeht. Und vermutlich gelangen wir genauso dorthin, wie in unserem eigenen Zuhause – durch die Erinnerung daran. Nur habe ich keine solche. Du etwa?“

Ich zögerte. „Nicht ganz. Aber da wir nach einem Gefängnis suchen ...“ Nur ungern und sehr vage erinnerte ich mich an meine Rolle als ‚Drache‘, Lus Werkzeug zur Vernichtung meiner neu geborenen Enkeltochter. Allein durch die unendliche Liebe meiner Frau Zoey, die ihr Leben für mich geopfert hatte, konnte der Fluch gebrochen werden. Doch zuvor war ich tief in Lus Geist eingedrungen, hatte ihr Wesen, ihre Gedanken in mich aufgenommen und verinnerlicht, war von ihr beherrscht und überwältigt worden. Sie hatte meinen Geist in ein grausames, unüberwindliches Gefängnis gesperrt. Dieses entstand nun immer deutlicher vor meinem inneren Auge. Gabs Keuchen entnahm ich, dass er es ebenfalls wahrnahm. „Du hast es geschafft!“, stieß er hervor.

Blinzelnd stellte ich fest, dass wir an einem völlig anderen Ort standen als vorhin. Eine unendliche, deprimierend leere, heiße Wüste aus Sand und Geröll erstreckte sich rings um uns. Es gab keine einzelne Sonne, stattdessen schossen von allen Seiten gleichzeitig unzählige grelle Lichtstrahlen auf uns herab. Es fühlte sich wie auf einer besonders brutal ausgeleuchteten Bühne an. Das Licht stach unangenehm in den Augen, sodass ich fast automatisch eine Sonnenbrille aufsetzte. Mein Bruder trug ebenfalls dunkle Gläser und erinnerte mich daran, dass jeder von uns einen Teil der Fähigkeiten des anderen besaß.

„Cool“, sagten wir beide gleichzeitig und mussten grinsen.

„Obercool“, erklang eine heisere, dennoch bekannt unangenehme Stimme vor uns. „Ich hätte nie gedacht, euch hier zu treffen ... Ziemlich ungewohnter Anblick, aber irgendwie tröstlich, dass selbst ihr in der Lage seid, hierher zu finden.“

Black stand in der Mitte eines Quaders aus schimmerndem, durchscheinendem Material, der absolut nicht in diese Umgebung passte. Merkwürdigerweise wies er nicht die geringste Ähnlichkeit mit meinem erinnerten Gefängnis auf, befand sich jedoch genau an der Stelle, wo dieses eben noch in meiner Vorstellung existiert hatte. Vielleicht war es dasselbe, lediglich umgebaut für seinen neuen Insassen?

Der Schwarze Mann wirkte mehr grau und kleiner als bei unseren letzten Begegnungen. Der fehlende Hut sowie seine leicht gekrümmte, verkrampft wirkende Haltung trugen viel dazu bei. Bei näherer Betrachtung schien er jeglichen Kontakt mit den Wänden seines Gefängnisses zu vermeiden. Dieses ähnelte einer Telefonzelle, die so knapp bemessen war, dass er leicht gekrümmt in der Mitte stand, um nichts zu berühren. Wäre das Wesen dort nicht ein wandelnder Albtraum gewesen, hätte ich alles getan, um es sofort und auf der Stelle zu befreien. Doch auch so wirkte der Schwarze Mann derart gequält, dass es mich zutiefst erschütterte. Ich hätte nie gedacht, dass es eine solch wirksame Grausamkeit gegenüber dem uralten, furchterregenden Geist geben könnte. Vor allem wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dass Lu dazu fähig sein würde, ihn auf diese Weise zu foltern. Es bewies mir, wie weit sie ging, um ihre Wut an ihren Opfern auszulassen. Sie bediente sich sogar der Macht, die sie am meisten verachtete.

Das Gefängnis des Angstbringers bestand zum Teil aus positiven Emotionen, wie ich mit geübtem Blick feststellte. Eine ähnliche Mauer hatte ich einst für ihn erdacht, um ihn daran zu hindern, mich zu berühren und dadurch hierher zu bringen. Damals war er ungleich stärker und mächtiger gewesen, meine Barriere hatte ihn nicht lange aufgehalten. Doch dieses Gebilde war anders, irgendwie solider. Die in den Wänden verbaute Mischung aus menschlicher Liebe, Mut und Hoffnung war scheinbar nach Lus ureigenem Rezept mit uralten Flüchen verwoben worden und enthielt zudem mehr als nur eine Spur Neid sowie eine gute Prise Verachtung. Im Grunde war alles darin enthalten - nur keine Angst. Mir war völlig klar, dass die Zutaten den Seelen entstammten, die sich dem Teufel verschrieben hatten.

Diese Einzelheiten erfasste ich eher beiläufig, während ich die jämmerliche Gestalt noch näher in Augenschein nahm. Eingefallen, gebrochen und leer fixierten mich die schwarzen Löcher in dem grauen Gesicht. Seine Kleidung war löchrig und zerrissen. Wo darunter der Körper sichtbar wurde, wirkte dieser ebenfalls krank und zerstört - mit halb vernarbten Wunden überall. Sie stammten vermutlich von unachtsamen Berührungen der Gefängniswände.

„Verschont mich mit eurem Mitleid, holt mich lieber hier raus“, krächzte der Gefangene.

„Hallo Black, ich freu mich auch, dich zu sehen“, gab mein Bruder ungerührt zurück. „Siehst ziemlich ausgekotzt aus.“

Ich unterdrückte einen unpassenden Heiterkeitsausbruch, da die Ausdrucksweise des zehnjährigen Mädchens absolut nicht zur momentanen Gestalt neben mir passte.

„Schlagt mir noch ins Gesicht, ich hab’s ja verdient ... Immerhin verdanke ich euch, dass ich hier sein darf“, knurrte der erbärmlich zugerichtete Geist.

„Wenn du darauf zielst, dass du uns beiden dein Dasein als Angstmacher verdankst und Mic deine Radikaldiät im Zwinger, dann ist das wohl wahr“, stellte Gab ruhig fest. „Aber ich denke auch nicht, dass du die Gründe dafür vergessen hast.“

„Das ist jetzt etwa fünftausend Jahre her! Hab ich nicht langsam genug gelitten?“

Gleich darauf keuchte der Sprecher, weil eine unbedachte Bewegung seines Kopfes eine Berührung mit der leuchtenden Decke zur Folge hatte. Es war nur ein kurzer Augenblick, doch er reichte aus, um ihm an der Stelle die graue Kopfhaut wegzuätzen. Eine schwarze Flüssigkeit drang aus der Wunde und lief ihm seitlich den kahlen Schädel hinab. Mein Entsetzen darüber entlockte dem eingefallenen Gesicht ein schwaches Grinsen. „Danke, das war’s wert ... Okay, ich bitte euch – holt mich hier raus!“

Meine kurzfristige Emotion zerfiel zu Asche.

„Dazu sind wir hier“, erwiderte ich kühl. „Aber nicht unbedingt, um uns deine dämlichen Sprüche anzuhören, und schon gar nicht, weil du uns darum bittest.“

Vorsichtig fasste ich eine Wand der Folterkammer an. Die Berührung verletzte mich nicht sofort, wurde jedoch auf Dauer sehr unangenehm. Die emotionale Mischung vertrug ich nur unwesentlich besser als der momentane Gefängnisinsasse. Schaudernd fragte ich mich, wie man es jahrelang darin aushalten konnte, ohne verrückt zu werden.

Indem ich mich überwand, den gesamten Quader von außen und innen zu inspizieren, wurde mir bewusst, dass er sich nicht öffnen ließ. Nichts aus meiner Vorstellung war stark genug, es mit den eingebauten Flüchen in diesen Wänden aufzunehmen. Doch ich befand mich ja nicht allein hier – aus gutem Grund.

„Du siehst es also ebenfalls“, murmelte Gab. Anscheinend waren meine Gedanken mal wieder so deutlich gewesen, dass er sie auch ohne mein Zutun gelesen hatte. Wir verschwendeten keine Zeit mehr, nahmen körperlichen Kontakt auf, konzentrierten uns darauf, diese geballte Ladung Scheußlichkeit zu vernichten.

„Vielleicht schließt du besser die Augen und hältst deine Hände dicht am Körper“, riet ich dem Gefangenen. Doch dieser schnaufte bloß verächtlich. „Es wird mich nicht umbringen ... Das wäre kontraproduktiv, abgesehen davon, dass es schlecht möglich ist.“

„Von Sterben spricht ja auch keiner“, konterte Gab augenzwinkernd. „Wenn du riskieren willst, eventuell blind und ohne Hände weiter zu existieren – meinetwegen.“

Hastig schloss der alte Geist die Augen und schlug zusätzlich die vernarbten Hände vors Gesicht.

„Übrigens hast du den größten Schritt bereits getan, wenn du deine Existenz als ‚Leiden‘ empfindest“, fügte mein Bruder ernst hinzu. „Von da aus ist es nicht mehr weit.“

Es kostete uns einen Großteil der gebündelten Kraft, um die Folterkammer zu zerlegen. Es gelang nur, indem wir das Geflecht sorgsam entwirrten, um die positiven Bestandteile davon in uns aufzunehmen und mit Hilfe dieser zusätzlichen Energie den Rest zu neutralisieren. Zum Glück waren die Flüche allein auf den Insassen des Quaders zugeschnitten, sodass sie an uns wirkungslos abprallten.

In einer grellen, lautlosen Explosion löste sich Blacks Gefängnis schließlich auf. Sobald es fort war, brach der Ex-Bewohner zusammen, als hätte es ihn den letzten Funken seines eisernen Willens gekostet. Geistesgegenwärtig breitete ich einen Teppich unter uns aus, um nicht erneut diesem scheußlichen Gefühl der Umkehrung und Desorientierung ausgesetzt zu sein. Mit dem Quader verschwand nämlich auch dessen Umgebung – sprich, der Boden unter unseren Füßen sowie die Wüste samt der Bühnenbeleuchtung. Wir ließen uns mit etwas Abstand zu Black nieder, um tief durchzuatmen. Die Anstrengung dieser Aktion hatte uns ziemlich zugesetzt.

„Bin ich froh, dass die hohe Lady fort ist“, murmelte der Geist verwaschen und versuchte, sich aufzusetzen. Es gelang ihm lediglich mit Unterstützung.

Wie sollten wir ihn hier rausbringen, schwach wie er war?

„Macht euch nicht die Mühe“, winkte er ab. „Ich finde den Weg allein. Habt ihr vergessen, dass hier seit Äonen mein Zuhause ist?“

„Schöner wohnen in der Hölle“, murmelte ich. „Kommt zu uns, hier sind jede Menge Zimmer frei und die Mieten günstig.“

Er lachte bitter. „Ich wünschte, ich könnte deinen Humor teilen. Aber er hilft mir nicht weiter, ebenso wenig wie die Hoffnung darauf, dass mein Fluch eventuell in naher Zukunft gebrochen wird. Was ich jetzt dringend brauche, habt ihr zwei momentan absolut nicht bei euch ... Warum bloß nicht?“

„Ist doch logisch“, gab mein Begleiter trocken zurück. „Hier gibt es nichts Beängstigendes mehr - dich eingeschlossen.“

„Schade. Eure Emotion wäre ein gutes Startkapital, um wieder auf die Beine zu kommen.“

„Ich denke, du wirst genug davon vorfinden, wenn du zur Erde zurückkehrst“, stellte ich fest. „Auch ohne deine eigene Art von Schrecken zu verbreiten. Du weißt, was momentan stattfindet?“

„Oh ja, selbst hier hört man davon. Obwohl ich zugeben muss, dass eure Stimmen seit Ewigkeiten die ersten sind, die an mein Ohr dringen. Wie lange war ich hier?“

„Mehr als dreißig irdische Jahre“, antwortete Gab. „Du hast eine Menge aufzuholen.“

„Dreißig JAHRE! Jetzt weiß ich, warum mein Nacken so steif ist“, stöhnte Black und fasste mit zitternder Hand nach seinem dürren Hals. Er wirkte inzwischen eher wie ein Greis, noch grauer und klappriger als zuvor.

„Was ist eigentlich mit den Seelen passiert, die Lu bei sich einquartiert hat?“, überlegte ich. „Die könnten doch genug Angst empfinden.“

„Ihr denkt nicht ernsthaft, dass sich auch nur eine Menschenseele hier aufhält, seitdem die Tore weit offenstehen. Niemand verirrt sich länger als ein paar Augenblicke hierher – leider. Deshalb bin ich völlig ausgedörrt.“

„Pech für dich. Dennoch werden wir jetzt gehen, stimmt’s, Mic?“, wandte Gab sich an mich.

Ich zögerte. Jeshs Bitte hatten wir erfüllt. Der Schwarze Mann war frei, wir brauchten uns nicht länger an diesem furchtbaren Ort aufzuhalten. Aus unerfindlichem Grund war mir trotzdem unwohl dabei, den Geist hier liegenzulassen. Es konnte mir absolut egal sein, was mit ihm geschah, doch da spielte etwas in mir einfach nicht mit.

„Jetzt mach aber mal ’nen Punkt!“, ächzte mein Bruder, der in meinen Gefühlen und Gedanken las wie in einem aufgeschlagenen Buch. „Wer von uns hat vorhin noch behauptet, dass dieser Abschaum bleiben kann, wo der Pfeffer wächst?“

„Ich kann nichts dafür!“, verteidigte ich mich. „Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir ihm zumindest etwas Starthilfe geben sollten. Immerhin hast du selbst gesagt, dass er noch gebraucht wird.“

Gab erwiderte nichts darauf, doch seine Gedanken konnte er nicht vor mir verschließen. Also wusste ich, dass er wusste, dass mein Gefühl ein bedeutsames Signal darstellte. Schließlich nickte er seufzend. „Na gut, was willst du tun?“

„Moment mal“, unterbrach uns Black heiser. „Ihr redet hier über mich, als wäre ich ein Einrichtungsgegenstand. Ich sagte, ich komme alleine zurecht. Jetzt verschwindet endlich!“

Am liebsten hätte ich ihn gepackt und geschüttelt, weil er trotz seines erbärmlichen Zustandes so arrogant und ätzend daherkam wie eh und je. Dem Drang widerstehend, ihm mental in den Hintern zu treten, knurrte ich bloß: „Das hat man davon, wenn man dir helfen will, du undankbares Stück Dreck!“

„Du kennst mich und solltest wissen, dass du keine Dankbarkeit von mir erwarten kannst, Fantast.“

Ohne ihn zu beachten fuhr ich an Gab gewandt fort: „Ich denke, ich kann ihm geben, was er braucht. Eine Art ‚Instantnahrung‘. Vielleicht ist es nicht genug, um ihm seine gewohnte Stärke zurückzugeben, doch sicherlich besser als nichts.“

„Du willst ihm eine Erinnerung von dir einflößen? Keine schlechte Idee!“, gab mein Bruder zurück. „Aber mach bitte schnell, ich finde es hier deprimierend.“

Da stimmte ich zu. Meine anfängliche Furcht vor dem Schritt in dieses dunkle Reich war zwar längst gänzlich verflogen, doch ein gewisses Unbehagen, das an körperliches Unwohlsein grenzte, hielt sich hartnäckig. Es half mir zumindest dabei, eine passende Erinnerung heraufzubeschwören. Diejenige, die sich beim Thema Angst zuerst aufdrängte, war genau die Art von Seelenstriptease, die ich um jeden Preis vermeiden wollte, da sie den Schwarzen Mann selbst betraf. Nein, diese Genugtuung würde ich ihm nicht gönnen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf eine andere Erinnerung, die auf ihre Art mindestens genauso furchtbar war und mir noch immer hin und wieder Albträume bescherte: das Gefühl, vom Teufel persönlich besessen zu sein.

Leicht war es nicht, mich dem dunklen, ungeliebten Gesellen vor mir zu öffnen. Es erforderte meine gesamte Selbstdisziplin, um die negative Emotion, die ich normalerweise verdrängte, nicht nur zuzulassen, sondern auch noch aktiv zu teilen. Mit zusammengebissenen Zähnen schickte ich mich schließlich an, ihn zu berühren, um ihm das Gefühl zu vermitteln. Doch er machte eine erschrockene Abwehrbewegung.

„Bleib mir vom Leib!“, murmelte er, allerdings längst nicht mehr so abweisend und arrogant wie eben. „Das ist unnötige Qual für uns beide ... Aaah, aber du bereitest mir gerade das Äquivalent eines Zuckerflashs! Gar nicht mal übel für eine bloße Erinnerung.“

Es war das Höchste an Anerkennung, was ich von ihm erwarten durfte. Deshalb gab es mir das warme Leuchten zurück, das ich zwischendurch fast vollständig verloren hatte.

Black erhob sich. Mittlerweile sah er beinah wieder aus wie früher, nur noch immer ohne den Hut. Er reckte und streckt sich und wurde dabei merklich größer. Sein Grinsen weckte alte Abneigungen.

„Okay, wir gehen jetzt besser. Komm, Gab“, murmelte ich.

Dieser hatte sich bis dahin zurückgehalten. Auch bei ihm spürte ich eine deutliche Zunahme negativer Gefühle, deshalb beeilten wir uns, den Rückweg anzutreten.

„Wir sehen uns!“, rief Black, als wir uns umwandten, um gemeinsam zurück in die irdische Dimension zu schreiten.

 

3.

 

Beim Erwachen fühlte ich mich so gerädert, als hätte ich den ganzen Tag lang körperlich geschuftet.

„Ich wusste gar nicht, dass Schlafen derart anstrengend sein kann“, stöhnte Debbie neben mir. Sie hielt sich den Kopf und wirkte mindestens genauso mitgenommen.

„Wir hatten unheimliches Glück, dass Lu nicht zu Hause war“, murmelte ich. „Sonst wäre dieser Besuch noch sehr viel anstrengender und gefährlicher geworden – wenn nicht gar unmöglich.“

„Ich weiß“, nickte meine junge Begleiterin. „Bringst du mich wieder nach Hause? Ich schätze, Schule ist jetzt nicht so mein Ding.“

„Dann ruf an und melde dich wenigstens krank.“

Mit Blick auf die Uhr stöhnte ich und fügte trocken hinzu: „Vergiss es. Ich schreib dir eine Entschuldigung für den Tag. Entweder du kommst mit mir nach Quebec oder ich bringe dich zur nächsten Tramstation. In jedem Fall solltest du dich mal zu Hause melden, sonst macht deine Mutter sich Sorgen.“

„Wieso, wie spät ... Hypertrash, verdammter!“

Sie fluchte ungehemmt beim Spähen auf ihr Wristcom. Es war bereits früher Nachmittag. Synchron telefonierten wir – ich mit meinem Kontakt in der kanadischen Provinzhauptstadt, sie mit Annie. Währenddessen erhoben wir uns wieder in die Luft und ich machte die Möglichkeiten ausfindig, wie meine Enkelin den Weg zum elterlichen Wohnhaus antreten konnte. Bringen würde ich sie nicht mehr dorthin, sonst wäre das Ärztetreffen vorbei, bis ich eintraf.

Trocken bemerkte sie: „Du könntest wesentlich schneller unterwegs sein, wenn du endlich auf deine geliebten Flugmaschinen verzichten würdest. Für Passagiere sind sie praktisch, aber dich halten sie eigentlich nur auf.“

Verwirrt starrte ich sie an, was sie mit einem schelmischen Lächeln quittierte.

„Anscheinend weiß ich mal wieder mehr über dich als du selbst. Kommt dir bekannt vor, oder?“

„Oh ja, und wie!“, grollte ich und merkte, wie mein hitziges Temperament zuschlagen wollte.

„Wenn du mich zurückbringst, verrate ich es dir.“

„Ich wusste, dass du mich damit erpresst!“

Vergeblich zermarterte ich mir das Hirn nach der Bedeutung ihrer kryptischen Worte.

„Ich erpresse dich nicht“, gab sie würdevoll zurück. „Ich helfe dir lediglich. Wenn du mich alleine zurückschickst, bleibt nicht genug Zeit, es dir zu sagen.“

„Du hättest es längst tun können!“

Mein Tonfall war bitter, obwohl keine Veranlassung dazu bestand. Immer wieder tauchten Dinge auf, an die ich mich nicht erinnern konnte, während es meinem Gegenstück leichtfiel. Mir war klar, dass der Grund allein darin lag, fast ein ganzes Jahrhundert in diesem Körper zugebracht zu haben, den größten Teil davon ohne Erinnerung an mich selbst. Wie erwartet entgegnete Debbie: „Hätte ich gemacht, wenn es kein spontaner Geistesblitz gewesen wäre, der mich auf dem Rückweg aus der Hölle heimsuchte. In dem Moment fand ich es nicht so passend.“

Seufzend ergab ich mich und schlug die gewünschte Richtung ein.

Sie ließ mich noch einen Augenblick lang schmoren, bevor sie begann: „Bei einer unserer früheren Begegnungen, bei der ich dich in dieser Dimension besuchen kam, hast du mich gefragt, wie ich es fertigbringe, ohne Zeitverlust den Ort zu wechseln. Erinnerst du dich? Das war ganz am Anfang deiner Beziehung zu Zoey, kurz nach eurem Abenteuer mit dem Gedankenvergifter und der anschließenden Amnesie.“

Ihre Worte beschworen die Bilder herauf, inklusive der schönen und schrecklichen Erinnerungen.

„Wie könnte ich das jemals vergessen? Du hast mir gesagt, dass du dich dazu auf eine Ebene außerhalb der Zeit begibst. Es ist die Grundlage der Fähigkeit, mich bei Trennung von diesem Körper in die Vergangenheit zu bewegen. Wenigstens weiß ich jetzt, was du damals gemeint hast.“

„Und warum nutzt du dein Wissen dann nicht?“

Ich starrte sie an. Sie erwiderte den Blick so heiter und gelassen, dass ich den Gedanken an einen Witz auf meine Kosten sofort wieder verwarf. Stattdessen fragte ich so ruhig wie möglich zurück: „Wie stellst du dir das vor? Soll ich meinen Körper irgendwo ‚parken‘ und als Geist durch die Gegend reisen?“

„Nö, du nimmst ihn schon mit. Nur bei realer Kleidung dürfte dir das schwerfallen, da du diese nicht bis auf atomare Ebene zerlegen kannst ...“

Allmählich dämmerte mir, worauf sie hinauswollte. Der Gedanke schien ungeheuerlich, gleichzeitig so simpel, dass ich mich wunderte, bisher nicht darauf gekommen zu sein.

„Du meinst, ich könnte mich selbst teleportieren?“

„Ein Versuch wäre es zumindest wert, denkst du nicht?“

Natürlich war es das!

Während des gesamten Rückfluges, den ich nicht einmal besonders beschleunigte, um noch Zeit zum Nachdenken zu haben, suchte ich nach dem nötigen Wissen, um mein Vorhaben durchzuziehen, und stieß auf den Haken an der Sache.

„Selbst wenn es mir gelingt, mich zu dem Ärztekongress zu beamen - wo kriege ich was zum Anziehen her?“

Debbie prustete los. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“

Ihr Heiterkeitsausbruch schien mir völlig unpassend, da mir dieses Problem durchaus zu schaffen machte. Natürlich war ich in der Lage, mir jede beliebige Kleidung vorzustellen. Sie würde mich selbst wärmen und meine Blöße bedecken. Allerdings nur vor meinen Augen sowie vor denen einiger weniger Menschen, denen ich das entsprechende Bild davon mental vermitteln konnte. Dies war eigentlich die Fähigkeit meines Bruders. Er vermochte riesige Menschenansammlungen auf einmal zu beeinflussen, über die Medien bei Bedarf sogar ganze Völker.

Ich besaß einen winzigen Teil seiner Kraft, so wie er ein wenig meiner Vorstellung nutzen konnte – ausreichend, um so nützliche Dinge wie Zahnbürste, Taschentuch oder ein Glas zu erdenken. Auch einen Stuhl bekam er hin. Man musste kaum Angst haben, dass er nicht stabil genug war, um sich darauf zu setzen. Mir hingegen war es möglich, bis zu sechs Menschen in näherer Umgebung gleichzeitig das Bild meiner vorgestellten Dinge glaubhaft zu vermitteln, sodass sie den Heli sahen oder eben gedachte Hosen. Doch das Treffen würde gemeinsam mit ungefähr dreißig Medizinern stattfinden. Wie sollte ich das managen, ohne peinlich aufzufallen?

„Also, wenn das deine größte Sorge ist, dann brauche ich mir sicherlich keine Gedanken darum zu machen, dass du unterwegs verlorengehen könntest.“

„Äh – wie bitte?“

„Das wäre in meinen Augen die größere Gefahr. Kleidung!“ Die wegwerfende Handbewegung sagte alles. „Zur Not borgst du dir welche, sofern dir entfallen sein sollte, wie du auf elektronischem Weg an dein Geld rankommst, um sie dir legal zu besorgen.“

„Oh, na klar!“

Wieder mal waren ihre Gedankengänge so nüchtern und logisch, dass sie mich unweigerlich an meinen alten Freund Timo erinnerte, auf dessen Gesellschaft ich nun schon seit knapp vierzig Jahren schmerzlich verzichten musste. Noch immer vermisste ich ihn, doch Debbie füllte diese Lücke auf erstaunliche Weise.

„Könntest du das mit dem ‚Verlorengehen‘ bitte etwas präzisieren?“, fügte ich leicht beunruhigt hinzu.

„Null Problemo – obwohl du es dir eigentlich selbst denken kannst. Alles eine Frage von Konzentration und Fokussierung. Wenn Start- und Zielpunkt nicht hundertprozentig definiert sind, du die benötigte Energiemenge nicht exakt einschätzt oder versuchst, eher anzukommen, als du gestartet bist, landest du im Nirwana. Wortwörtlich. Und dich da wieder rauszuholen, wird mir in diesem Zustand ziemlich schwerfallen. Vermutlich wärst du darin gefangen, bis es Jesh und mir gemeinsam gelingt oder ein Wunder geschieht.“

Ich wusste genau, was meine Begleiterin damit andeuten wollte und dass es keineswegs ratsam war, sich auf dieses sogenannte ‚Wunder‘ zu verlassen. Auch wenn ich der Macht, die es bewirken würde, hundertprozentig vertraute, wusste ich mit ebensolcher Gewissheit, dass sie selbst verschuldete Unfälle dieser Art garantiert weder gutheißen noch folgenlos entschuldigen würde. Dazu stand ich schon viel zu lange in ihrem Dienst. Und auch wenn ich seit Anbeginn der Menschheit eine sehr große Affinität zu ihr besaß und mir menschliches Denken und Handeln buchstäblich in Fleisch und Blut übergegangen waren, konnte ich doch nicht mehr Unwissenheit als Grund für meine Impulsivität vorschieben.

„Okay, dann sollte ich vielleicht mit einer kurzen vertrauten Strecke üben“, stimmte ich zu. „Wenigstens kenne ich den Ort in Quebec gut genug, um es zu versuchen.“

Wir landeten nicht auf dem heimatlichen Grundstück, da Debbie behauptet hatte, nach der Schule zu einer Freundin gegangen zu sein. Immerhin hielten ihre Eltern sie für groß und vernünftig genug, um nichts Verbotenes oder Dummes anzustellen, deshalb brauchte sie keinen Ärger deswegen zu befürchten.

„Manchmal machen mich diese Heimlichkeiten ganz krank“, murmelte sie neben mir. Dem konnte ich nur zustimmen. Mir selbst fiel es keinesfalls leicht, meiner eigenen Tochter gegenüber nicht offen sein zu dürfen. Ich wusste, dass sie zumindest von unserer inneren Verbindung eine ungefähre Ahnung hatte. Sie schob es auf die Verwandtschaft mit Zoey und mir. Meine Frau und ich waren als Eltern einer eher durchschnittlich veranlagten Tochter recht ungeeignet gewesen, wie wir schmerzvoll in Annies Jugend feststellen mussten. Doch unser Verhältnis zu ihr hatte sich später merklich gebessert.

Nun, da ihre Mutter längst gestorben war und ich als Dauergast in ihrem Haus lebte, akzeptierte sie meine und Debbies Besonderheiten und schaffte es, ihren Mann Piet immer wieder zu beruhigen, wenn er sich Gedanken um den Geisteszustand seine Tochter machte. Der Sorge enthob diese ihn weitgehend, seitdem sie sich an alles erinnerte. Zuvor war es nicht immer gelungen, ihre besonderen Fähigkeiten vor den Eltern zu verbergen, da sie unbekümmert mit ihnen umgegangen war – eben wie ein kleines Mädchen, das ihren Vorteil daraus gern ausnutzte. Seit diesem Tag war jedoch keiner vergangen, an dem wir offen und vollkommen ehrlich mit Annie und Piet reden konnten. Und das machte uns sehr zu schaffen.

„Ich denke, dass es nur noch für eine kurze Zeit ist“, gab ich ermunternd zurück. „Bald werden die Karten aufgedeckt und neu gemischt.“

Sie seufzte völlig untypisch für eine Zehnjährige.

„Kommst du noch ein kleines Stück weit mit? Dann kann ich dich bei deinem ersten Versuch wenigstens etwas unterstützen.“

„Du könntest genauso gut hier warten“, grummelte ich, setzte mich jedoch mit ihr gemeinsam in Bewegung. Wir grüßten einen Nachbarn, der mit dem Hund spazieren ging und warteten, bis er außer Sichtweite war. Dann fokussierte ich mich auf die nächste Hausecke, dachte mich mit aller Macht dorthin und löste gleichzeitig meinen menschlichen Körper in seine Atome auf.

 

Das Gefühl dabei zu beschreiben, ist gar nicht einfach. Ein Moment der völligen Desorientierung, gepaart mit dem vertrauten, nur leicht unangenehmen Eindruck des Sterbens und gleichzeitig ein enormer Sog, der jedes Teilchen von mir wie ein Staubsauger durch eine enge Röhre zog. Dies alles im Bruchteil einer Sekunde, bevor ich mich in der anderen Dimension wiederfand – unmittelbar vor der gewünschten Hauswand. Dann die Konzentration darauf, meinen Körper wieder zusammenzubasteln, das Erinnerungsvermögen seiner Atome auszunutzen, bis er vollständig vor mir lag. Schließlich der Schritt zurück ...

 

Tief durchschnaufend erhob ich mich, bedeckte die nackte Haut sogleich mit einem gedachten Umhang. Vor mir stand eine schmunzelnde Debbie, die mir Hose und T-Shirt reichte.

„Na also. Es hat zwar einiges länger gedauert als erwartet, aber wahrscheinlich kommt die Schnelligkeit mit der Übung.“

„Wie lange war ich denn weg?“

Ein rascher Blick auf die Uhr sagte mir nicht viel, da ich vorher nicht daran gedacht hatte, die Zeit zu nehmen. Nur, dass es keinesfalls besonders lange gewesen sein konnte – nicht mehr als ein paar Minuten. Höchstens.

„Ich hab nicht genau gemessen, aber immerhin habe ich es geschafft, in der Zwischenzeit deine Sachen einzusammeln und die fünfzig Meter von dort nach hier zurückzulegen. Also bestimmt zwei Minuten.“

Erleichtert atmete ich auf.

„Theoretisch müsstest du es in ungefähr zwanzig Sekunden schaffen“, ergänzte meine Begleiterin.

„Und woher weißt du das so genau?“, gab ich schnippisch zurück. „Es ist schließlich mein Körper, den ich da zerlegen und wieder zusammensetzen muss.“

„Schon gut, du bist der Meister des atomaren Zusammenbaus“, winkte sie beschwichtigend ab. „Theorie und Praxis klaffen eben doch manchmal etwas auseinander.“

Tief durchatmend klärte ich meine Gedanken, um in meinem Gedächtnisspeicher die Information auszugraben, wie lange eine atomare Bindung dauerte, aus wie vielen Atomen mein Körper bestand und wie viele Aktionen jener Art gleichzeitig stattfinden mussten, um diese beeindruckende Leistung zu vollbringen.

„Wie kommst du darauf, dass ich pro Sekunde ungefähr sieben bis acht Billionen Atome binden kann?“

„War nur eine grobe Schätzung, wenn du dir Zeit lässt.“

Mittlerweile waren wir ein Stück weitergegangen, unser Heim lag direkt um die Ecke.

„Tust du mir einen Gefallen und packst die Klamotten in deinen Rucksack?“, bat ich Debbie nervös. „Ich habe jetzt weder große Lust, deinen Eltern über den Weg zu laufen, noch, mich hier auf der Straße auszuziehen. Du kannst mir den Krempel anschließend einfach ins Zimmer werfen.“

„Ausnahmsweise. Aber nur, weil es das erste Mal für dich ist. Zukünftig fällt dir bestimmt was Praktischeres ein.“

Ich nickte, bedankte und verabschiedete mich. Garantiert bekam ich eine elegantere Lösung für das Kleiderproblem hin, doch momentan war ich einfach zu hibbelig und zu aufgeregt. Selbst wenn ich für den Sprung nur zwei Minuten veranschlagte, wurde die Zeit langsam knapp! Vor allem, weil ich mich am Ziel erst mal um ein angemessenes Outfit kümmern musste. Bis zum Beginn des Treffens blieb keine Viertelstunde mehr. Ich hatte zwar bereits angedeutet, dass es etwas später werden könnte, doch eigentlich wollte ich lieber pünktlich erscheinen. Vielleicht nur nicht unbedingt im Adamskostüm.

Wie gedacht blieb das Mädchen erwartungsvoll stehen, anstatt nach Hause zu marschieren. Unter ihrem prüfenden Blick fiel es mir doppelt schwer, die nötige Konzentration aufzubringen, doch schließlich hatte ich es vorhin schon mal fertiggebracht. Ich rief mir den gewünschten Ort haargenau in Erinnerung und löste meinen Körper auf, sobald mein inneres Bild perfekt war.

 

Wieder das haltlose, irritierende Gefühl bei der Trennung von meiner nicht mehr existenten Hülle, gleichzeitig der mächtige Sog. Diesmal war ich darauf vorbereitet und es kam mir weniger unangenehm vor. Überrascht stellte ich fest, dass ich die gewaltige Entfernung nach Kanada genauso gedankenschnell zurückgelegt hatte, wie die fünfzig Meter beim Probedurchlauf. Ich befand mich auf dem ‚Besucherörtchen‘ des Tagungsortes, wo sich außer mir zurzeit glücklicherweise keine Menschenseele aufhielt. Neugierig betrachtete ich mein Spiegelbild. Natürlich gab es keins. Doch ich wollte sehen, wann und wie mein Körper für meine Umgebung sichtbar wurde, wenn ich ihn neu erschuf. Deshalb tat ich es dort, wo die Reflexion auf den Boden traf.

Auf diese Art brauchte ich mindestens ebenso lange wie beim ersten Mal, aber es war sehr faszinierend, dabei aus dem neuen Blickwinkel zuzusehen. Wie in einem uralten Star-Treck-Film materialisierte sich mein Körper langsam, war erst durchscheinend, wurde nach und nach fester. Wenigstens sah es nicht besonders ekelig oder abstoßend aus, auch wenn die inneren Organe zeitweilig zu erkennen waren.Dann erregte ein Geräusch meine Aufmerksamkeit. Jemand schickte sich an, die Tür zu öffnen!

 

Ich schlug die Augen auf, sprang im selben Moment auf und verschwand lautlos in der nächsten Kabine. Der Besucher – einer der Ärzte, mit denen ich mich gleich treffen wollte - trat ein und besetzte die Zelle neben mir. Ich wartete, bis er beschäftigt war, um mich dann ebenso leise aus dem Staub zu machen. Erst als ich auf die Straße trat, wurde mir bewusst, dass ich bis dahin jeden Kontakt mit bekannten Menschen gemieden hatte und begann mich zu fragen, warum. Längst trug ich gewohnte, wenn auch nur gedachte Kleidung und war problemlos imstande, zufälligen Passanten ein entsprechendes Bild zu vermitteln. Dennoch kam ich mir vor wie ein Einbrecher auf der Flucht. Vielleicht musste ich selbst erst mal mit dieser neu entdeckten Fähigkeit klarkommen, bevor ich Außenstehende daran teilhaben ließ? Oder es gab noch einen anderen Grund. Jedenfalls hatte ich das dringende Bedürfnis, sie geheim zu halten. Diese Reisemöglichkeit erschien mir wie ein Schatz, den ich sorgfältig behüten musste. Da mein Instinkt mich eigentlich nie trog, folgte ich ihm, vertraute darauf, dass die Entscheidung richtig war.

In nagelneuen, jedoch vom Stil her gewohnten Jeans sowie einem dezenten T-Shirt verließ ich kurze Zeit später ein kleines Geschäft im nah gelegenen Einkaufszentrum. Mehr an realer Kleidung trug ich nie, auch wenn dies schon mal witterungsbedingte Blicke auf sich zog. Hier war mein Prinzip längst, mich nicht nach kleinlichen Konventionen zu richten oder kurzlebigen Modeerscheinungen zu folgen. Deshalb war mir auch völlig gleichgültig, dass die Menschen, denen ich ungefähr fünf Minuten später förmlich die Hand gab oder freundschaftlich auf die Schulter klopfte, fast ausschließlich in Hemd und Sakko erschienen waren.

„Es ist schön, dass du es doch pünktlich geschafft hast“, bemerkte Dr. Renee Bernard bei einer herzlichen Umarmung. Die sympathische Fünfzigjährige, die ich seit mehr als drei Jahren kannte, lächelte warm. Sie gehörte zur Leitung des Herzforschungszentrums von Quebec, wo dieser Kongress stattfand. Es war der erste seiner Art und sorgte bereits jetzt für jede Menge Aufsehen in der Ärztewelt. Wobei ich mich insgeheim fragte, wie lange das Wissen, das es den Beteiligten vermitteln würde, noch sinnvoll und nützlich sein konnte. Dennoch hatte ich meine aktive Beteiligung an der Sache zugesichert. Immerhin ging es dabei um die Rettung von Menschenleben oder um bessere medizinische Versorgung.

Der Vortragsraum war medientechnisch perfekt eingerichtet. Er ermöglichte eine Liveschaltung zu einem weiteren Raum, der für seine Zwecke gut ausgestattet war. Dort befanden sich bereits zwei Männer und eine Frau in Weiß, die eifrig letzte Vorbereitungen für die geplanten Vorführungen trafen. Sie bekamen mein Eintreffen über Com mit, gaben mir den Daumen hoch und lächelten mir zu. Diesem ebenfalls bekannten Team winkte ich zurück und nickte bestätigend, als sie mich fragend ansahen. Ja, ich war bereit, um wie abgesprochen nach der offiziellen Begrüßung zu ihnen zu stoßen. Renee stellte mich vor. Beim Erheben erntete ich wohlwollenden Applaus. Nicht alle Gesichter sagten mir etwas, obwohl es sich um führende Mediziner mehrerer Fachgebiete handelte, die sich aus mindestens acht Ländern hier eingefunden hatten. Bisher waren meine Kontakte in dieser Richtung sehr viel spärlicher gesät als zu Hilfsorganisationen und Spezialeinheiten. Mir fiel es noch immer wesentlich schwerer, mich von meiner verletzlichen Seite zu präsentieren, als im Rahmen sonstiger Hilfstätigkeit vor die Kamera zu treten. Dennoch war ich fest dazu entschlossen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Eigentlich hätte ich es schon viel eher tun können, doch meinen inneren Schweinehund dafür zu überwinden war halt ziemlich schwer. Außerdem hatte ich als Entschuldigung immer genug andere, wichtigere und dringendere Angelegenheiten gehabt. Im Grunde hätte ich für die Rolle bei dieser ‚Show‘ nicht mal mein Gesicht zeigen müssen. Es wäre mir eindeutig lieber gewesen. Doch die Fachärztin für Herzchirurgie bestand darauf, mich dem versammelten Ärztekollegium vorzustellen. Bei dem, was ihnen gezeigt werden sollte, sah ich die Sinnhaftigkeit sogar ein. So kam wenigsten niemand auf die Idee, dass hier illegale Versuche am lebenden Menschen stattfanden. Dennoch wurde ich mit Ansprachen bombardiert, bevor ich dazu kam, den Raum zu verlassen.

„Stimmt es, dass Sie sich freiwillig für diese Versuche zur Verfügung stellen?“

„Haben Sie so etwas schon einmal gemacht?“

„Ist es wahr, dass Sie unbegrenzte Selbstheilungskräfte besitzen und es nicht möglich ist, dass Sie bei der Aktion sterben ...“

Solche und viele ähnliche Fragen prasselten auf mich ein, sodass die Gastgeberin der Versammlung schließlich um Ruhe bat. Ich fühlte mich wie bei einer Pressekonferenz, machte mich bereit, auf alles eine Antwort zu geben. Doch Renee löste die Sache geschickt, indem sie sagte: „Wir verstehen sehr gut, dass Sie jede Menge Fragen haben. Vielleicht sparen Sie sich diese für später auf? Vieles von dem, was Sie wissen möchten, beantwortet sich sicherlich gleich von selbst. Das Einzige, was Simon Ihnen noch einmal bestätigen sollte, ist die absolute Freiwilligkeit der Aktion.“

Ich bestätigte feierlich, dass ich das Ganze aus freien Stücken tat und die Vorführung jederzeit abbrechen konnte. Dann verließ ich unter heftiger werdendem Geraune den Raum. Auch wenn ich die anschließenden Diskussionen in Kleingruppen recht amüsant fand, konzentrierte ich mich nun lieber darauf, mich meiner eben erst erstandenen Kleidung wieder zu entledigen, die bereitliegenden weißen Shorts anzuziehen und so spärlich bekleidet den vorgesehenen OP-Saal aufzusuchen. Er befand sich in bequemer Entfernung für mich, um die Reaktionen der Zuschauer live zu verfolgen, nicht nur über Com.

Ich begrüßte die drei Fachärzte für Organtransplantationen, die zuerst ihre Kunst zeigen durften. Danach sollten Spezialisten aus der Endoprothetik zum Zuge kommen. Diese Bereiche hatten wir ausgewählt, weil die erzielten Fortschritte darin am eklatantesten waren. Annette, für die laufende Dokumentation zuständig, wandte sich zur Kamera, während sie die Tonübertragung in den großen Konferenzraum einschaltete.

„Ich begrüße Sie zur ersten Demonstration an diesem Nachmittag, bei der wir Ihnen bahnbrechende Neuentwicklungen der bionischen Organe Herz, Lunge und Niere zeigen möchten sowie deren erfolgreich vereinfachte Integration in den menschlichen Körper ...“

Während dieser einleitenden Worte begannen die beiden Chirurgen damit, die entsprechenden Organe bei mir freizulegen. Noch zeigte die Kamera eine Totale, sodass für die Zuschauer auf der anderen Seite deutlich zu erkennen war, dass ich keinesfalls dabei schlief.