Der Fantast und die Macht der Gedanken - Michaela Göhr - E-Book

Der Fantast und die Macht der Gedanken E-Book

Michaela Göhr

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Beschreibung

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Stell dir vor ...
du könntest in die Vergangenheit reisen,
ohne die Chance, etwas daran zu ändern -
würdest du es trotzdem tun?

Nur zögernd nimmt Simon eine Einladung ins Weiße Haus an, um den Präsidenten der Vereinigten Staaten kennenzulernen. Er ahnt nicht, dass im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine Falle auf ihn wartet. Zudem gerät er immer tiefer in ein Zeitproblem, das seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umspannt. Die Situation spitzt sich zu, als sein paranormal begabter Schützling Zoey plötzlich beunruhigende Visionen hat und eine uralte Kreatur das Mädchen für seine finsteren Pläne missbraucht. Der Fantast weigert sich, diesem unsichtbaren Feind kampflos das Feld zu überlassen, obgleich sein Ringen gegen die Übermacht aussichtslos erscheint.

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Zur Autorin
Impressum
zeitlos
Zeitfaktor
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Michaela Göhr

 

Der Fantast

und die Macht der Gedanken

 

Band 3

 

 

 

Urban-Fantasy-Roman

 

Zur Autorin

 

1972 geboren und aufgewachsen in einer sauerländischen Kleinstadt studierte sie nach dem Abitur Sonderpädagogik, arbeitet seit vielen Jahren an einer Förderschule Sehen und lebt mit Mann und Kind gegenüber ihres Elternhauses. Mit dem Schreiben begann sie bereits in der Kindheit, drückte ihre Gedanken zunächst in Geschichten, Gedichten und Liedern aus. Die Leidenschaft, Romane zu verfassen, entdeckte sie erst im Herbst 2014. Seitdem schreibt sie Urban-Fantasy für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

 

 

Dank

 

Ich danke Elisabeth Marienhagen und allen Menschen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Außerdem bedanke ich mich bei Kathrin Franke-Mois von Epic Moon – Coverdesign für die schöne Neugestaltung des Umschlags.

 

 

Alle Bände der Reihe:

 

Der Fantast (Band 1)

Der Fantast und das Erbe der Ra (Band 2)

Der Fantast und die Macht der Gedanken (Band 3)

Der Fantast und das Apokryptikum (Band 4)

Der Fantast und die letzten Visionen (Band 5)

 

 

Sämtliche im Buch vorkommende Akteure und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind daher rein zufällig.

Impressum

 

Text: © Copyright by Michaela Göhr Birkenweg 24, 58553 [email protected]://derfantast.jimdo.comhttps://www.facebook.com/derfantast24/

 

Umschlag: © Gestaltung von Coverdesing Epic Moonhttps://www.facebook.com/EpicMoonCoverdesign/ Bilder: Erik Bjerkesjö, Pixabay

 

Erstausgabe September 2016

2. Auflage Januar 2019

3. Auflage März 2021

 

 

 

zeitlos

 

wo zwischen zwei herzschlägen sterne entstehen

 

sich welten verändern im augen- blick

 

zwei silben getrennt durch äonen des schweigens

 

sich lösen und fallen unendlich weit

 

lässt die zeit sich selbst los und wird frei –

 

für die ewigkeit deines lachens

 

Zeitfaktor

 

Die Dinge, die hier beschrieben sind, habe ich bereits erlebt. Sie sind für mich Vergangenheit, gelebte Zeit. Diese ist relativ – jeder Physiker weiß um die entsprechende Theorie. Da wir uns in den meisten Fällen unser Leben lang mit unserem Planeten und auf ihm bewegen, fällt es uns nur nicht auf. Einen praktischen Nutzen können wir normalerweise kaum daraus ziehen.

In meinem Fall gibt es eine Ausnahme, da ich mich in gewissen Grenzen außerhalb der gewöhnlichen Pfade aufhalten kann. Deshalb nehme ich mir fest vor, dieses Buch nicht zu lesen. Ebenso wenig alle weiteren Werke von mir, die folgen mögen. Jedenfalls keinesfalls direkt nach ihrem Erscheinen und sicherlich noch viele Jahre danach nicht. Man spielt nicht mit der Zeit – auch nicht als Fantast. Da ich die Zukunft nicht beeinflussen kann, wäre es fatal, sie vorher zu kennen. Für die meisten anderen Menschen ist es bedeutungslos, da ihr eigenes Schicksal nicht damit verknüpft ist. Aber für mich selbst sowie eine Handvoll eingeweihter Personen ist es höchst gefährlich. Sie werden sich davor hüten, mein Werk auch nur in die Hand zu nehmen.

Ich erwähne es nur, um Missverständnisse zu vermeiden und von vornherein klarzustellen, dass ich mich auf keinerlei Diskussionen über mein Buch einlasse, ganz egal, wer mich darauf anspricht. Dies hat keinesfalls etwas mit schlechter Laune zu tun, lediglich mit den oben angeführten Tatsachen.

Ich könnte mich noch seitenweise über das Thema Zeit auslassen, da sie ein ebenso komplexes wie interessantes Gebiet darstellt. Allerdings macht es an dieser Stelle nicht viel Sinn und auch meine eigene Zeit ist normalerweise zu gut ausgefüllt, um mich mehr als nötig mit diesen theoretischen und abstrakten Gedanken zu befassen. Deshalb möchte ich lieber sofort ins praktische Geschehen eintauchen und meine Leser mit auf die abenteuerliche Reise nehmen, die über die Grenzen des Normalen und Vorstellbaren hinaus geht. Nun – Grenzen sind dazu da, um zu wissen, wann man sie überschreitet. In diesem Sinne wünsche ich grenzenloses Staunen und unbegrenztes Lesevergnügen – zumindest für eine gewisse Zeit.

 

Euer Simon

Teil 1

 

Vergangenheit und Neue Welt

 

1.

 

Der Brief aus den USA sah äußerst wichtig aus. Er kam per Einschreiben, trug das Siegel des Präsidenten und war an mich adressiert. Wie üblich erreichte er mich nicht zu Hause, sondern über meine Dienststelle beim Bundesnachrichtendienst. Mein Chef überreichte ihn mir persönlich in seinem Büro. Dabei blickte er mich erwartungsvoll an.

Mindestens zwei Minuten lang starrte ich auf den Umschlag, bevor ich erneut aufsah. Es war mehr Verlegenheit, die mich schweigen ließ.

„Und? Möchtest du ihn nicht aufmachen?“, ermunterte mich mein Gegenüber halb erstaunt, halb erheitert.

Ich schüttelte den Kopf. „So sieht er viel schöner aus, finde ich. Aber wenn du neugierig bist – bitte sehr.“

Ich hielt ihm das Kuvert hin. Er wehrte lachend ab. „Schon gut, du hast mich erwischt! Ich weiß bereits, was drinsteht – und du offensichtlich auch. Viel wichtiger ist: Möchtest du hin?“

Ich zuckte hilflos die Achseln. Es war eine Einladung ins Weiße Haus – zu einem persönlichen Gespräch mit dem Oberhaupt der Vereinigten Staaten. Alles sehr offiziell und doch ganz privat.

„Hast du das arrangiert?“, fragte ich misstrauisch.

„Wofür hältst du mich!“, protestierte mein Chef entrüstet. „Natürlich nicht! Aber selbstverständlich weiß ich darüber Bescheid. Und ich habe auch die Bedingungen ausgehandelt, unter denen dieses Treffen ablaufen wird, sofern es denn stattfindet. Ich denke, es war in deinem Sinne, die Medien und die Öffentlichkeit davon auszuschließen.“

Ich nickte langsam.

„Wie lange weißt du es schon?“, fragte ich dann.

Ohne Anflug von schlechtem Gewissen sah mein Boss mich an. „Das Weiße Haus hat mich um ein Treffen mit dir gebeten, seit du von deinem Weltraumausflug zurückgekehrt bist. Aber ich habe sie stets abgewimmelt mit der Begründung, du seist momentan zu beschäftigt, tot oder anderweitig unterwegs. Dies ist sicherlich die zehnte Einladung. Diesmal sah ich keinen Grund, sie dir nicht zu geben. Hätte ich es vorher tun sollen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke! Ich bin echt froh, dass ich es nicht wusste. Das hätte mich vermutlich ziemlich überfordert. Aber jetzt ... Denkst du, ich sollte hingehen?“

Dabei sah ich meinen Gesprächspartner so ratlos an, dass dieser schon wieder schmunzeln musste.

„Manchmal wundere ich mich wirklich über dich, Simon. Du triffst in den heikelsten Situationen kaltblütige Entscheidungen, die Leben retten – und das in Sekundenbruchteilen. Aber wenn es um so was Banales geht, weißt du nicht, was du tun sollst. Irgendwie typisch für dich. Ja, ich meine, du solltest es wagen. Sonst kommen sie irgendwann noch auf die dumme Idee, es anders zu versuchen.“

Ich gab ihm recht. Nur zu gut erinnerte ich mich an Mr. Moellers Topsecret-Behörde irgendwo im Nirgendwo, die mich vor über vier Jahren zwangsweise rekrutieren wollte. Vor nicht einmal allzu langer Zeit hatte ich diesen Leuten mit ihren brutalen, eher illegalen Methoden endgültig einen Korb gegeben. Aber das hieß ja nicht, dass es keine Zusammenarbeit mit der Weltmacht auf der anderen Seite des Großen Teichs geben konnte oder sollte. Ich fand die Aussicht, meinen Wirkungskreis auf diese Weise zu vergrößern im Gegenteil recht reizvoll – vor allem, wenn es eine Möglichkeit darstellte, noch effektiver weltweit gegen Krieg und Terror vorzugehen. Das offizielle Go meines Chefs dazu fand ich deshalb umso besser.

Also nahm ich am Ende des Arbeitstages den ungeöffneten Umschlag für Zoey mit nach Hause und begann mit den Vorbereitungen für eine Reise in die USA. Natürlich wollten meine Freunde unbedingt dabei sein. Eigentlich war nur eine Begleitperson für mich vorgesehen, aber der Boss überzeugte seinen amerikanischen Gesprächspartner aus dem Weißen Haus schließlich davon, dass ich nur mit ‚Betreuerteam‘ erscheinen würde. Wenn Divas und Stars bei Staatsbesuchen nicht ohne ihren persönlichen Friseur oder Psychotherapeuten auskommen konnten, dann ging es bei mir eben nicht ohne die kleine Familie meines besten Freundes. Immerhin benötigten wir keine Flugtickets erster Klasse. Ich setze mich freiwillig schon seit etlichen Jahren nicht mehr in ein reales Flugzeug. Diese Maschinen fliegen mir viel zu hoch. Das ist keine Frage von Höhenangst, sondern von Verlustangst – und zwar vor dem Verlust meiner Fähigkeiten. Seit den Erfahrungen im Weltraum weiß ich, dass es noch eine erhebliche Steigerung dieses Gefühls gibt und auch Möglichkeiten, damit fertigzuwerden, aber das bedeutet nicht, dass ich das Bedürfnis verspüre, jemals wieder die Erdkugel zu verlassen. Nein, ich bleibe lieber dort, wo ich hingehöre – mitten in der Atmosphäre, dicht überm Boden, umschmeichelt von Luft und Erdanziehung und somit Herr meiner Sinne und Vorstellungskraft. Jemandem, der mich nicht kennt, wird diese ‚Flugangst‘ vielleicht befremdlich erscheinen, eventuell sogar lächerlich oder kindisch. Aber ich versichere euch, dass ein Flug in über fünftausend Metern Höhe absolut kein Vergnügen für mich ist – eher pure Agonie. Dafür halte ich vieles aus, was für jeden anderen Menschen sicherlich unerträglich wäre, allein schon von der körperlichen Konstitution her gesehen.

Jedenfalls freuten Timo und Susanna sich auf ein paar Urlaubstage in Washington D.C. und Zoey war begeistert darüber, endlich mal wieder eine längere Reise mit mir zu unternehmen. Die schlaue Kleine war Fliegen mit dem Fantasten von Geburt an gewöhnt, aber in letzter Zeit kamen wir viel zu selten dazu. Mittlerweile wollte sie genau wissen, wo es hinging und welche Gebiete wir passieren würden. Also sah sie sich die Strecke vorher akribisch auf dem Globus an.

„Du wirst eh nicht viel erkennen, weil es dunkel ist“, sagte ich zu ihr. „Außerdem haben wir die meiste Zeit Wasser unter uns, also schläfst du besser.“ „Och, menno, können wir nicht mal starten, wenn’s noch hell ist?“, maulte Timos Töchterchen und sah mich bittend an. Es war schwer, diesem Blick zu widerstehen, dennoch schüttelte ich den Kopf. „Du weißt genau, dass das nicht geht.“

Ich wusste, wie dickköpfig die kleine Prinzessin sein konnte, aber die Sinnlosigkeit ihres Ansinnens war ihr ebenso bewusst wie uns Erwachsenen. Ohne Not würde ich nicht riskieren, bei dem Flug gesehen zu werden, da unser Fluggerät nur in meiner Vorstellung existierte. Diese Fantasie war zwar mit Leichtigkeit dazu in der Lage, uns an jeden gewünschten Ort zu bringen, für andere Menschen jedoch nicht sichtbar. Das bekam ich noch immer nicht hin, als Illusionist war ich absolut unbrauchbar.

Wir starteten kaum eine Woche später zu unserem USA-Abenteuer, drei Tage vor dem geplanten Treffen. Wenn wir schon mal gemeinsam diesen Kontinent bereisten und ich es zeitlich einrichten konnte, wollten wir Disneyland unbedingt mitnehmen. Es lag zwar nicht gerade auf dem Weg, den Umweg nahm ich jedoch gern in Kauf. Schließlich geschah es für die Menschen, die mir am wichtigsten auf der Welt waren und ein ‚Zu-Weit‘ gab es für mich längst nicht mehr.

Für mein Patenkind war dies der erste Besuch eines richtigen Freizeitparks, dementsprechend bestaunte sie die bunte Wunderwelt mit großen Augen. Allerdings gab es bald Tränen der Enttäuschung, weil sie einige der wilderen Sachen nicht machen durfte. „Zu klein“, war das Fazit des Aufsichtspersonals bei fast allem, was sie interessierte. Mit ein bisschen Schummeln und Ablenkung schmuggelten wir Zoey schließlich in die meisten Attraktionen, die eigentlich für wesentlich ältere Kinder und Jugendliche gedacht waren. Von Kinderkarussells hielt die clevere Vierjährige damals schon nicht mehr viel. Zudem war sie durch den ständigen Umgang mit mir einiges gewöhnt. So lachte und jauchzte sie in Fahrgeschäften, in denen sechzehnjährige Girls hinter uns in Panik kreischten und aus denen gestandene Männer mit weichen Knien ausstiegen. Den Ärger, den es anschließend zweimal mit dem Parkpersonal gab, focht ich jeweils allein mit den Angestellten aus. Schließlich war es nicht Zoeys Schuld, dass sie körperlich noch klein war. Meinen blinden Freund konnte Disneyland nicht besonders beeindrucken. Bei den wenigen Achterbahnen lächelte er nur mild und meinte, dass sich die lange Anreise und der hohe Eintrittspreis deswegen garantiert nicht lohnen würden.

„Wer einmal deinen ‚tanzenden Hubschrauber‘ erlebt hat, braucht in seinem Leben nie wieder so eine langweilige Bahn“, murmelte er nach dem Besuch der rasanteren Attraktionen des Parks. Selbst die visuellen Eindrücke, die er von mir erhielt, warfen ihn nicht gerade um. Zumindest den Mädels gefiel die farbenfrohe Scheinwelt, und so trösteten mein Freund und ich uns mit dem Gedanken an einen Abstecher nach New Jersey, wo es in einem wesentlich spektakulärer angelegten Park einige der besten Achterbahnen der Welt geben sollte.

Die Gelegenheit ergab sich bereits am nächsten Morgen, weil der zweite geplante Parkbesuchstag buchstäblich ins Wasser fiel. Es schüttete wie aus Eimern. Also packten wir kurzerhand unsere Siebensachen, nutzten die Tarnung durch die tiefhängenden Regenwolken und düsten zurück gen Osten. Hier war das Wetter wesentlich besser. Wir setzten die Damen am späten Vormittag an einem wunderschönen, sonnigen Sandstrand ab, um unseren ‚Männertag‘ anzugehen.

Den Besuch des Freizeitparks werden wir sicherlich nicht so schnell vergessen. Weniger der wirklich tollen Attraktionen wegen, die wir zunächst in vollen Zügen auskosteten, sondern weil mir wieder einmal sehr deutlich wurde, wie wenig zufällig scheinbare Zufälle sind. Nach etwa drei Stunden Park, die wir möglichst geschickt aufteilten, jedoch trotzdem hauptsächlich mit Anstehen verbrachten, kamen wir zu einer der Hauptattraktionen, bei der die Schlange erwartungsgemäß noch länger war als bei den übrigen Fahrgeschäften. Dennoch wollte Timo unbedingt dort hinein.

„Ich liebe Bungeestarts“, schwärmte er.

„Kann ich dir auch so verschaffen“, murmelte ich düster. Nichtsdestotrotz stellte ich mich natürlich mit ihm gemeinsam an. Mehr aus Langeweile denn aus wirklichem Interesse nahm ich die Umgebung in Augenschein, während wir uns langsam dem Ziel näherten. Dabei bemerkte ich mit dem geschulten Blick des BND-Agenten zwei Typen, die sich verdächtig verhielten. Sie wirkten sehr nervös und drückten sich in der Nähe der Achterbahn herum, an der wir gerade in der Monsterschlange standen. Schon vom Aussehen her hätte ich sie als Syrer eingeschätzt – ihre Sprache bestätigte diesen Eindruck. Was mich stutzig machte, war ihre Kleidung, die nicht wirklich dem warmen Wetter angemessen schien. Ich informierte Timo und bat ihn, mir den Platz in der Schlange freizuhalten. Daraufhin stahl ich mich gekonnt aus der Reihe und näherte mich ohne Eile den beiden Gestalten in dicken Lederjacken. Sie bemerkten mich erst, als ich ganz nah hinter ihnen stand.

„Na, schöner Tag zum Sterben?“, raunte ich auf Arabisch.

Die Augen der beiden wurden groß. Einer griff in Richtung des Auslösers, der seinen Sprengstoffgürtel zünden sollte. Abgesehen davon, dass es dank meiner Entschärfungstaktik nichts mehr auszulösen gab, erreichte seine Hand ihr Ziel nie. Ebenso wenig wie die des zweiten Mannes es schaffte, das Butterflymesser aus der Tasche zu ziehen. Von den umstehenden Menschen bekam niemand mit, was geschah. Für sie sah es so aus, als würde ich zwei alte Bekannte begrüßen und mit ihnen Arm in Arm davonspazieren.

Die beiden sagten kein Wort. Sie schienen irgendwie starr vor Angst, als ich sie vor mir her durch die vielen Besucher in Richtung Ausgang schob. Mein Plan sah vor, sie bei einem Wachmann abzusetzen und zu Timo zurückzukehren. Aber etwas an den Männern kam mir seltsam vor. Die Art, wie sie mich aus den Augenwinkeln ansahen ... Nun, wo ich sie von ihrem Plan abgehalten hatte, schienen sie noch viel angsterfüllter als vorher. Das machte mich ebenso misstrauisch wie die Tatsache, dass sie nicht mal wissen wollten, wer ich war. Also gingen wir nicht besonders weit, nur bis zum nächsten Toilettenhäuschen, in das ich sie freundlich aber bestimmt dirigierte. Ihr Zögern beim Eintreten gab mir die Gewissheit, dass wir beobachtet wurden.

Es sind Agenten.

Timo, der sich wie üblich in meine Gedanken eingeklinkt hatte und durch meine Augen sah, war mit seiner Schlussfolgerung mal wieder schneller gewesen als ich. Bei der routinemäßigen Durchsuchung meiner Begleiter nach Wanzen und sonstigen Dingen war ich genau bei seinem gedanklichen Beitrag fündig geworden.

Du hast recht. Bleibt mir noch Zeit für ein Interview?

Nein, ich bin gleich dran! Und ich möchte um Himmelswillen nicht alleine in diese Höllenmaschine steigen ... Komm lieber zurück! Du kannst sie dir später vornehmen.

Ich hörte, wie mein Freund versuchte, einige Leute vorzulassen. Er redete sich damit heraus, dass sein sehender Begleiter noch nicht da sei. Aber anscheinend wollte niemand seinen Einwand hören. Er wurde einfach weitergeschoben. Deshalb kettete ich die beiden Pseudo-Syrer mit meiner Vorstellung aneinander und ziemlich gut an der Wand fest, entschuldigte mich bei ihnen auf Englisch für die Unannehmlichkeiten, vertröstete sie auf später und machte mich schleunigst auf den Weg zur Achterbahn. In der knappen Minute, die ich brauchte, um dort anzukommen, hatte ich bereits einen direkten Weg zum Einstieg ausgekundschaftet und beschritt ihn, ohne besonders viel Rücksicht auf das Parkpersonal zu nehmen.

Beeil dich, ich muss jetzt einsteigen, auch noch ganz vorne!

„Mist!“, fluchte ich lautlos. „Vielleicht musst du doch alleine fahren – ich bin zwar fast da, aber es sind hundert Leute zwischen uns – oder der gesamte Zug.“

Oha, der Bügel rastet nicht ein ... SIMON!

Der Hilfeschrei ging mir durch Mark und Bein.

„Keine Sorge, ich lass dich schon nicht abstürzen“, beruhigte ich ihn. Ein Teil von mir nahm neben ihm im Wagon Platz, während der Rest sich aufmerksam umsah. Derjenige, der Timos Sitz manipuliert hatte, musste sich noch in der Nähe befinden!

Schon wurde die Abschussvorrichtung des Zuges auf maximale Spannung gebracht. Wir beschleunigten in dreieinhalb Sekunden auf gut zweihundert km/h.

„Das ist irre!“, kreischte Timo lachend, als wir in den senkrechten Steilflug auf über hundertdreißig Meter und den riesigen Looping übergingen. Diese Aktion hätte er auch ohne mein Eingreifen überlebt, nicht jedoch die darauf folgenden Korkenzieherdrehungen, die ihn dank der unauffälligen Fehlfunktion seines Überrollbügels aus dem Wagen katapultiert hätten. Die Fahrt dauerte nur eine Minute. Während der gesamten Zeit bemühte ich mich darum, Timo zu schützen, die Drahtzieher dieser ungeheuerlichen Aktion zu finden und gleichzeitig nicht aufzufallen. Leider bemerkte mich einer der Männer vom Sicherheitspersonal, an dem ich soeben erst vorbeigestürmt war. Er kam in dem Moment auf mich zu, als es interessant wurde. Der Typ setzte zu einer Moralpredigt an, doch ich hob bloß die Hand und bedeutete ihm zu schweigen.

„Kennen Sie diesen Mann dort?“, fragte ich und deutete auf den Kerl in der Arbeitskluft der Fahrgeschäftmitarbeiter, der meinem Freund soeben aus dem Wagen half.

„Nein, aber Sie!“, erwiderte der Angestellte anklagend.

„Bevor Sie sich jetzt aufregen – ich entschuldige mich für mein Verhalten vorhin. Dieser Kerl dort drüben hat soeben den linken vorderen Überrollbügel an Ihrem Zug manipuliert. Mein blinder Freund hat bei der letzten Fahrt auf dem Platz gesessen und Todesängste ausgestanden – er wäre um ein Haar abgestürzt! In diesem Moment ist der Mann dabei, den angerichteten Schaden wieder rückgängig zu machen. Um den sollten Sie sich besser kümmern.“

„Woher wollen Sie ... He, warten Sie!“, rief er mir nach. Ich war schon bei Timo und wir drängelten uns ein wenig vor, um Abstand zu den Parkangestellten zu gewinnen.

„Etwas extrem Seltsames passiert hier“, sagte ich tonlos. „Es kommt mir vor wie ein extra für mich arrangiertes Bühnenstück oder wie ein Test ... Bin mal gespannt, ob ich bestanden habe oder durchgefallen bin.“

Oder was im dritten Akt angesagt ist!

Mittlerweile hatte ich drei Beobachter ausgemacht sowie einen Menschen, der fasziniert vor mehreren Bildschirmen hockte und derweil per Handy mit einem Unbekannten sprach. Zwei Monitore zeigten die Kameras, die den Park überwachten. Sie waren so eingestellt, dass mein Freund und ich deutlich zu erkennen waren. Auf einem dritten lief soeben die Wiederholung der Achterbahnfahrt mit Timo in Spitzenposition, ein weiterer zeigte das obligatorische Bild von ihm, das automatisch bei der Fahrt von jedem Gast gemacht wurde. Sein Gesicht wirkte durch die mörderische Beschleunigung etwas verzerrt, ansonsten jedoch durchaus happy, regelrecht verzückt.

Als wir bei der nächsten Kamera vorbeikamen, blickte ich deshalb bewusst auf, lächelte freundlich und winkte. Der Mann am Telefon verstummte, als er dies bemerkte und meinte, er würde sich später wieder melden. Dann öffnete er die Tür des Transporters, in dem er saß, um sich misstrauisch umzusehen. Da wir uns noch mehrere hundert Meter von dem Parkplatz entfernt befanden, auf dem sein Fahrzeug stand, war seine Aktion ziemlich sinnlos. Ich dachte auch gar nicht daran, ihm sofort auf die Pelle zu rücken. Zunächst besuchten wir nämlich die beiden Toilettenbesetzer, die es trotz Verstärkung bisher nicht geschafft hatten, sich zu befreien. Ich fand es schon bemerkenswert cool, dass einer ihrer Retter mit einer kleinen Metallsäge aufgekreuzt war und sich damit an den gedachten Handschellen zu schaffen machte. Diese Leute legten eine derartige Routine im Umgang mit meinen gegenständlichen Vorstellungen an den Tag, dass ich mir sicher war, es mit absoluten Profis zu tun zu haben, die ihre Hausaufgaben gründlich gemacht hatten. Allerdings hatte ich den Mann im Lieferwagen vermutlich eiskalt erwischt, da er sich außerhalb meines Aktionsradius‘ wähnte. Manche Dinge ändern sich mit der Zeit und so ließ sich dieser Bereich mittlerweile bei Bedarf ziemlich erweitern.

Auch zwei meiner drei Observierer befanden sich über dreihundert Meter vom Geschehen entfernt, sie hatten starke Ferngläser dabei. Eigentlich sollte ich sie garantiert nicht entdecken. Der dritte war der Mann, der Timos Sitzplatz manipuliert hatte und uns nun in einigem Abstand folgte. Er wirkte ebenso nervös wie die beiden vorgeblichen Selbstmordattentäter, woraus ich schloss, dass er sich für eine persönliche Begegnung mit mir wappnete. Welche Horrorstorys mussten diese Menschen über mich gehört haben? Nun, das Versteckspiel war eindeutig vorbei und ich war meganeugierig, was die offensichtlich sorgfältig vorbereitete Aktion zu bedeuten hatte – und natürlich ebenso darauf, wie sie so genau geplant werden konnte, wo wir diesen Ausflug doch recht spontan unternommen hatten.

Timo und ich tauschten uns nur sehr kurz über unsere Spekulationen diesbezüglich aus, bis wir das verrammelte Toilettenhäuschen erreichten, an dem ein Schild mit der Aufschrift ‚gesperrt‘ hing. Vier Männer erwarteten uns drinnen, offensichtlich bereits auf unsere Ankunft vorbereitet. Dennoch sah ich in ihren Augen mehr als nur ein wenig Unsicherheit. Ich befreite die beiden Schauspieler von ihren unsichtbaren Ketten und sah sie erwartungsvoll an. Als niemand ein Wort sagte, hob ich eine Augenbraue und meinte spöttisch: „Bleiben wir zum Gespräch hier oder würdet ihr uns ein etwas netteres Ambiente dafür bieten, Jungs?“

Auf dem Weg zum Ausgang bekamen wir jede Menge schweigsame Gesellschaft. Keiner dieser Menschen trug eine Waffe – bis auf den Butterfly-Messer-Besitzer, bei dem ich davon ausging, dass das Utensil lediglich Teil seiner Tarnung darstellte. Ich wusste, dass ihnen klar war, wie unsinnig der Versuch von Zwang oder Gewalt wäre. Sie mussten auf meine freiwillige Mitarbeit hoffen. Der Lieferwagen mit dem technischen Schnickschnack parkte nun mitten auf dem Eingangsplatz und der Mann mit dem Handy stand breitbeinig davor. Niemand scheuchte ihn weg, was darauf schließen ließ, dass er zumindest im Besitz eines wichtigen Ausweises war.

Ich tippe auf die Regierung im Hintergrund.

Dem stimmte ich voll zu. Dennoch war ich ziemlich sauer. Schließlich hatten diese Menschen nicht nur mit dem Leben meines Freundes gespielt, sondern zudem scharfe Sprengladungen mit in den Park gebracht und somit zumindest theoretisch noch weitere Personen gefährdet.

Endlich stand ich vor dem offensichtlichen Kommandanten dieser Aktion. Obwohl sein Handykontakt sicherlich weitaus interessanter gewesen wäre, konnte er mir zumindest ein paar Antworten geben. Deshalb fragte ich ohne Umschweife: „Werden Sie wenigstens mit mir reden oder hat es Ihnen auch die Sprache verschlagen? Ihre Leute sind nicht nur lausige Schauspieler, sondern darüber hinaus ziemlich schüchtern. Irgendwer muss ihnen eingeredet haben, dass sie besser einen Heidenrespekt vor mir haben sollten, um nicht zu sagen mächtigen Schiss.“

Dabei wies ich hinter mich, wo mittlerweile sechs Männer und zwei Frauen verlegen von einem Bein aufs andere traten. Das brachte den Mann vor mir kurz zum Lachen. Er gab seine versteinerte, militärisch wirkende Haltung auf, ging auf uns zu und schüttelte erst mir und dann Timo die Hand.

„Willkommen in den Vereinigten Staaten“, begrüßte er uns und nickte einem seiner Mitarbeiter bestätigend zu. Dieser wandte sich an die übrigen Anwesenden. Sein Befehl zum Wegtreten der Truppe klang irgendwie erleichtert. Die kleine Versammlung zerstreute sich rasch, bis wir allein mit dem Boss waren. Er schien im Gegensatz zu seinen Untergebenen nicht zu befürchten, dass wir ihm irgendwas antun könnten, sondern wirkte sehr souverän und professionell. Vermutlich war diese spektakuläre, speziell für Timo und mich geplante Show auf seinem Mist gewachsen.

„Steigen Sie ein.“ Mit diesen Worten öffnete er uns einladend die hintere Schiebetür des Fahrzeugs. Ich zögerte.

„Worauf warten Sie?“, fragte der Amerikaner freundlich. „Wir möchten nur mit Ihnen reden, das ist alles. Zur Sicherheit behalten wir die Familie Ihres Freundes gut im Auge, sodass es völlig gleich ist, ob er uns begleitet oder sich zu Frau und Tochter ins Hotel begibt. Dorthin haben wir die beiden mittlerweile nämlich gebracht, um ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.“

Aha. So lief das also!

Kacke. Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt ...

Ich stimmte meinem Freund aus tiefstem Herzen zu, unterdrückte genau wie er die aufwallenden Emotionen.

„Sie wissen, dass ich morgen einen Termin im Weißen Haus beim Präsidenten habe?“, bemerkte ich, während Timo mit völlig unbewegtem Gesicht vor mir in den Transporter kletterte, um sich auf die angebotene Bank zu setzen. Unser Gastgeber blickte mich kurz an, schob von außen die Schiebetür zu und schwang sich vor uns in den Fahrersitz.

„Selbstverständlich“, nickte er dabei. „Unser Staatschef lässt Ihnen ausrichten, dass er die Unannehmlichkeiten bedauert, aber er räumt Ihrem Treffen mit uns höchste Priorität ein. Dafür zeigte er sich gern bereit, sein persönliches Gespräch mit Ihnen noch ein wenig zu verschieben.“

Ich atmete tief durch, um weiterhin ruhig zu bleiben, und fragte dann wie beiläufig: „Wer sind Sie und was zum Kuckuck sollte diese alberne Aktion eben?“

„Mein Deckname lautet Wolf. Ich bin Major einer streng geheimen Spezialeinheit, die unmittelbar dem Weißen Haus untersteht und Aufträge mit höchster Brisanz durchführt. Unsere Leute gehören zu den am besten ausgebildeten Spezialisten der Welt und wir rekrutieren nur absolute Profis. Der kleine Test gerade beweist mir, dass Sie eindeutig dieser Kategorie zugeordnet werden müssen. Sie haben unsere Erwartungen hinsichtlich Effektivität und Diskretion bei der Problemlösung nicht nur erfüllt, sondern sogar übertroffen.“

„Und bei diesem Test war die Möglichkeit meines Ablebens einkalkuliert?“, knurrte Timo.

„Ein gewisses Restrisiko bleibt bei solchen Feldstudien unter realen Bedingungen immer“, bestätigte Wolf, indem er meinen Freund durch den Rückspiegel fixierte. „Sie sind wirklich blind, oder?“

„Welche Antwort erwarten Sie jetzt von mir?“, gab mein Sitznachbar eisig zurück. Ich fühlte seine Wut auf diesen Typen und konnte ihn voll verstehen.

Er wusste, dass ich dich irgendwie retten würde, beruhigte ich ihn, legte ihm zusätzlich die Hand auf die Schulter. Laut sagte ich: „Sie wissen, dass Sie sich mit solchen gefährlichen Experimenten bei uns nicht sonderlich beliebt machen.“

Der Mann vor uns nickte seufzend. „Ich dachte mir, dass Sie es nicht so gut aufnehmen. Aber zumindest wollten wir die Frau und das Mädchen dabei außen vor lassen. Die Aktion hätte eigentlich bereits gestern in Disneyland stattfinden sollen. Da Sie sich dort jedoch nicht für eine Minute getrennt haben, blieb uns nur diese Ersatzlösung.“

„Woher wussten Sie, dass wir hier sein würden?“, hakte ich interessiert nach.

Internet, erklang Timos spontaner Kommentar hinter meiner Stirn. Ich schlug mir innerlich dagegen. Na klar! Wir hatten gestern Abend noch gegoogelt, um nach Ersatz für den entgangenen Achterbahnspaß zu suchen. Dabei waren wir auf diesen Park gestoßen und hatten die Tickets online gekauft. Die Wettervorhersage war sehr eindeutig gewesen. Ansonsten wären wir eben allein hergekommen und hätten die Mädels abends abgeholt. Per Überschalljet war es ein durchaus lohnendes Tagesausflugsziel.

„Wir haben uns erlaubt, die mobilen Medien zu überwachen, die Sie in ihren Hotelzimmern verwendet haben“, kam prompt die erwartete Antwort.

„Privatsphäre bedeutet Ihnen nichts, nehme ich an“, grummelte mein Freund, den dieses Geständnis nicht gerade besänftigte. Während des Gesprächs hatte ich aufmerksam die Route verfolgt und festgestellt, dass wir uns an der Küste entlang auf einen größeren Touristenort zubewegten.

Ich glaube, er will dich jetzt doch erst loswerden, stellte ich gedanklich fest.

„Immerhin besitzen Sie den Anstand, mich sofort zu meiner Familie zu bringen“, fügte Timo hinzu. Der Fahrer blickte erstaunt in den Rückspiegel. „So blind, wie es heißt, sind Sie anscheinend nicht.“

Trotz seiner gereizten Stimmung musste der Angesprochene schmunzeln. „Der Begriff ist relativ“, konterte er galant. „Ein Facharzt würde Ihnen Brief und Siegel darauf geben, dass meine Augen keinerlei Funktion haben. Aber es gibt andere Mittel und Wege der Wahrnehmung, und sei es über einen durchaus sehr hilfreichen sehenden Begleiter.“

Wolf schien sich an Dinge zu erinnern, die er zwischenzeitlich vergessen hatte und nickte. Kurz darauf bogen wir bei einem Nobelhotel ab und brachten meinen Gefährten zur Rezeption. Der Portier wusste anscheinend Bescheid und kümmerte sich sofort darum, dass Timo zum Aufzug geleitet wurde.

„Mach’s gut – ich hoffe mal, bis später.“

Damit verabschiedete ich mich und folgte Wolf zurück zum Wagen. Wir fuhren nur noch ein kurzes Stück bis zu einem einsam gelegenen Platz, an dem ein Hubschrauber auf uns wartete. Anscheinend hatten meine Gastgeber wirklich an alles gedacht. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung bedeutete mir der Major umzusteigen und begrüßte seinerseits den Piloten, während er sich neben ihn setzte. Ich machte es mir auf dem Rücksitz gemütlich und lauschte zunächst einmal dem Gespräch, das über Kopfhörer geführt wurde. Da ich selbst keinen erhalten hatte, nahm ich an, dass dies entweder ein weiterer Test meiner Fähigkeiten sein sollte oder die Unterhaltung mich nichts anging. Letzteres schied eigentlich aus. Der Pilot, der offenbar genaustens in den Plan eingeweiht war, erhielt nur eine detaillierte Schilderung aller Ereignisse im Park.

Als der Erzähler fertig war, mischte ich mich deshalb mit leicht unterkühltem Tonfall ein.

„Weiß mein Chef, dass Sie dabei sind, mich für Ihre Sondereinsatztruppe zu rekrutieren?“

Die beiden zuckten lediglich kurz zusammen, als sie meine Stimme durch die Kopfhörer vernahmen.

„Nun ja ... noch nicht“, gab Wolf schließlich zu. „Das offizielle Angebot zur Zusammenarbeit sollte eigentlich erst nach dem Gespräch mit dem Präsidenten erfolgen. Aber ein guter Bekannter gab mir den Tipp mit dem Feldversuch und meinte, dass wir Sie auf diese Weise viel schneller und gründlicher kennenlernen würden. Auch wenn es mir persönlich zunächst ziemlich rabiat erschien, muss ich ihm im Nachhinein recht geben.“

„Dürfte ich den Namen Ihres Kontaktmanns erfahren?“

„Er wollte lieber nicht genannt werden.“

„Aha.“

Die Aussage bekräftigte meinen Verdacht bezüglich der Identität dieses ‚guten Bekannten‘, mit dem ich genug unangenehme Erinnerungen verband.

„Bestellen Sie ihm schöne Grüße von mir und richten Sie ihm aus, dass er immer noch ein Arschloch ist. Vielleicht besuche ich ihn bei Gelegenheit in seinem Sandloch, um mich für die Nettigkeit dieses Tipps zu bedanken.“

Das Schweigen der beiden Männer vor mir war beredet genug, um zu wissen, dass ich mit meiner Vermutung genau ins Schwarze getroffen hatte. Schließlich waren wir an unserem Ziel angelangt – eine militärische Basis mitten in einem ausgedehnten Waldgebiet. Hier gab es einen Übungsplatz mit Trainingshindernissen, ein Areal für Schießübungen, Gebäudeteile sowie alte Fahrzeuge zur Simulation von Terroreinsätzen, Geiselnahmen und Ähnlichem.

„Ziemlich cooles Gelände“, befand ich anerkennend.

„Das ist längst nicht alles“, bemerkte der Major lächelnd.

„Oh, es gibt noch mehr außer drei unterirdischen Trainingshallen, zwei Waffenkammern – eine davon gut versteckt – drei Schulungsräumen, zwei Labors, etlichen Quartieren, einem Mannschaftsraum, einer Kantine, diversen Büros und einem Raum, die mit Technik vollgestopft ist? Erinnert mich irgendwie an unser altes BND-Hauptquartier in Pullach, nur moderner eingerichtet.“

Der Pilot, der bislang kein Sterbenswort mit mir gewechselt hatte, bekam plötzlich einen stummen Lachanfall. Er zeigte mir den Daumen hoch und kicherte: „Ich glaub, die Geländeführung kannst du dir sparen, Wolf.“

Mittlerweile waren wir gelandet und wurden von mehreren Soldaten in Tarnkleidung empfangen, die beim Anblick ihres Chefs strammstanden. Auch der Pilot stieg aus, begleitete uns ins niedrige Gebäude, das mit Tarnnetzen und durch die Bauweise recht gut vor neugierigen Blicken von oben geschützt war.

Eins muss man ihnen lassen, meldete sich Timos Stimme in meinem Hinterkopf zu Wort. Sie sind perfekt ausgestattet und organisiert. Da könntest du dich eigentlich mal richtig austoben.

 

2.

 

Die Amerikaner schienen eine Vorliebe für unterirdisch angelegte Großprojekte zu haben. Dieses hier kam mir wesentlich bodenständiger vor als das letzte, das ich besichtigen durfte. Die Menschen, die ich traf, wirkten heiter und ausgeglichen. Es stimmte mich selbst fröhlicher. Etwas von meinem Misstrauen gegenüber Wolf schwand angesichts der guten Stimmung, die in dem Camp herrschte.

Der Major führte mich nicht großartig herum, sondern sofort zu den wichtigen Leuten, denen er mich vorstellen wollte. Zu meiner größten Überraschung war ein alter Bekannter darunter, den ich an diesem Ort am wenigsten erwartet hätte.

„Hallo Sam, mein Freund!“, begrüßte ich ihn freudig. Er empfing mich mit einem breiten Grinsen.

„Wusste ich doch, dass du kommst. Na, was sagst du zu meinem neuen Job? Ich bin für die Überwachungs- und Kommunikationstechnik zuständig. Offenbar befand man mich für würdig, diesem speziellen Verein hier beizutreten, obwohl es wahrscheinlich nicht unbedingt meine herausragenden Fähigkeiten als Techniker sind, die sie dazu bewogen haben.“

„Was sonst?“, überlegte ich scheinbar angestrengt. Dann schnipste ich mit den Fingern und rief: „Ich hab’s! Sie glauben, dass du mich kennst und ihnen deshalb irgendwie nützlich sein wirst. Aber vielleicht sollten wir mit diesem Irrtum gleich an Ort und Stelle aufräumen.“

„He, he!“ Der ehemalige NASA-Mitarbeiter hob mit einem typischen Verschwörer-Funkeln in den Augen beschwichtigend die Hände. „Du lässt meine ganze Tarnung auffliegen! Die schmeißen mich hochkant raus, wenn sie merken, dass alles nur ein Bluff ist und ich doch nicht der Experte bin, für den sie mich halten.“

Wolf dirigierte mich weiter zu einem der Labors, in dem gleich mehrere Menschen versammelt waren. Der Major stellte einen davon als Professor Koutalis vor, einen als Doktor Wang und die einzige Frau als Doktor Lewis. Sam, der uns begleitet hatte, wurde ebenfalls vorgestellt.

„Zwei dieser drei Fachleute sind kurzfristig unsere Gäste“, erklärte der Kommandant. „Es schien uns am zweckmäßigsten, sie hierher einzuladen, um möglichst viele Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Dr. Lewis leitet unser humanmedizinisches Labor. Sie ist mit ihrem Assistenten sowohl für die Gesundheit und medizinische Versorgung des Teams zuständig als auch für die Erforschung neuer Mittel und Wege zur Behandlung von Verletzungen, wie sie typischerweise bei unseren Einsätzen auftreten. Knochenbrüche, Bänderrisse, Prellungen, Schnitt- und Schussverletzungen sind ihr Spezialgebiet. Doktor Wang ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Hirnforschung, Schmerztherapie und Hirnchirurgie. Professor Koutalis hingegen befasst sich mit dem Phänomen, das uns bei Ihnen natürlich brennend interessiert – er beschäftigt sich eingehend mit den sogenannten paranormalen Fähigkeiten des Menschen.“

Bei Erwähnung dieser Profession entfuhr mir ein unwillkürliches Geräusch. Ich musste mich dazu zwingen, ihm wie den beiden übrigen Studierten die Hand zu reichen.

„Keine Sorge, ich bin mehr als Beobachter hier“, beruhigte er mich lächelnd. „Wir wissen alle um Ihre traumatischen Kindheitserlebnisse in dieser Richtung und möchten Ihnen sicherlich nicht zu nahe treten. Ich denke, dass eine genauere Untersuchung Ihrer Fähigkeiten weder nötig noch überhaupt möglich sein wird. Schätzungsweise sprengen Sie jede bekannte Skala, ohne sich dabei anzustrengen. Aber vielleicht habe ich später ein paar Fragen an Sie, falls es Ihnen nichts ausmacht, sie mir zu beantworten.“

Der Mann wirkte total sympathisch, ebenso wie die beiden Mediziner. Deshalb fiel es mir hernach wesentlich leichter, freundlich zu ihm zu sein. Ich fragte mich, warum der Gehirnchirurg hier war und stellte diese Frage auch laut.

„Ist das nicht offensichtlich?“, lächelte Wang. „Wir sind alle unheimlich gespannt zu erfahren, wie Sie Ihre Wunderdinge bewerkstelligen. Die einzige Antwort darauf – sofern es überhaupt eine gibt, die wir erfassen können – liegt vermutlich in Ihrem Kopf. Nun, ich bin prädestiniert dafür, die Anzeichen für ungewöhnliche Aktivitäten in Ihrem Hirn zu finden. Und da Sie als Versuchsobjekt wundervolle, bisher nie erträumte Möglichkeiten bieten, wäre es mir eine große Freude und auch eine persönliche Ehre, Sie eingehend untersuchen zu dürfen.“

Erstaunt blickte ich die Versammelten an und wandte mich an Sam. „Hast du Ihnen das mit den ‚wundervollen Untersuchungsmöglichkeiten‘ erzählt?“

Mein Bekannter sah mich irritiert an. „Aber Simon – das ist doch logisch! Wir alle kennen deine Geschichte aus zwei Büchern, die du selbst verfasst hast. Übrigens ziemlich beeindruckende Werke ...“

„Zwei? Aber das zweite ist noch gar nicht im Handel! Wie ...“ Ich verstummte. Etwas äußerst Unheimliches ging hier vor. Die Anwesenden starrten mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Selbst Timo konnte sich keinen Reim darauf machen, obwohl seine Logik sonst unfehlbar war.

Ich muss mal schnell was nachgucken, bekam ich mit, bevor er sich ausklinkte.

Ich atmete tief durch, konzentrierte mich wieder auf das naheliegende Geschehen. Wie auch immer diese Leute vorab von dem Manuskript erfahren hatten, es erklärte eine Menge. Beinah verdächtigte ich meine Eltern oder Susanna, die Testleser gespielt hatten. Timo brauchte ich das Werk nicht lesen zu lassen, da er den Schreibprozess größtenteils begleitet und mir dabei bereits oft Tipps gegeben hatte. Ich war sicher, dass er mir eine Weitergabe des Textes nicht hätte verheimlichen können. Selbst wenn – seine Verblüffung über die Enthüllung gerade war völlig echt gewesen.

Aber all dies spielte momentan nur eine sehr untergeordnete Rolle, da eine noch unbeantwortete Frage im Raum stand, die mich emotional ein wenig aus der Bahn zu werfen drohte. Dr. Lewis sah mich mitfühlend an.

„Wenn Ihnen das jetzt zu plötzlich kommt oder Sie die Befürchtung haben, dass es zu unangenehm für Sie wird, dann sagen Sie es bitte! Wir möchten Sie auf keinen Fall zu etwas drängen, das Sie in körperliche oder emotionale Schwierigkeiten bringt.“

Ich schüttelte langsam den Kopf. Mittlerweile hatte ich den Schock über das ungeahnte Wissen meiner Gesellschaft verdaut und arrangierte mich mit dem Gedanken daran. Die Fragen nach dem Woher konnte sicherlich noch warten, da sie momentan völlig irrelevant schien. Mir war klar, was diese Leute von mir wollten. Die ‚eingehende Untersuchung‘ bezog sich auf mein Gehirn und war hundertprozentig wörtlich gemeint. Da sie wussten, dass sie keinen wirklichen Schaden anrichten und mir nicht einmal körperliche Schmerzen zufügen konnten, würden sie sich nicht damit zufriedengeben, winzige Löcher in meinen Schädel zu bohren und Sonden reinzustecken. Nüchtern betrachtet war dieses Vorhaben nicht weiter schlimm. Lediglich meine negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit ließen mich davor zurückschrecken. Andererseits lag etwas Faszinierendes in dem Gedanken, dass meine Fähigkeiten sich irgendwie körperlich äußern oder irgendeine physisch messbare Wirkung entfalten könnten. Praktisch hatte es keinerlei Bedeutung für mich. Aber der Physiker in mir hatte immer schon nach physikalischen Lösungen gesucht, vor allem dort, wo es keine zu geben schien. Also seufzte ich kurz und hörte mir an, wie der Plan aussah.

„Zunächst würde ich gern eine routinemäßige physiologische Untersuchung durchführen“, begann die Ärztin.

Ich schüttelte den Kopf. „Eine Prüfung meiner körperlichen Funktionstüchtigkeit bringt Ihnen im besten Fall die Erkenntnis, dass ich völlig gesund bin. Ich dachte, Sie wollten schnell wieder nach Hause. Ich möchte hier zumindest keine unnötige Zeit vergeuden. Also beschränken Sie sich bitte auf die Dinge, die Ihnen wirklich am Herzen liegen.“

Die Frau schien nicht begeistert von meiner Antwort, aber sie verkniff sich nach einem Blickwechsel mit Dr. Wang weitere Kommentare dazu. Ihr männlicher Kollege fuhr fort: „Dann würden wir sofort zu Schritt zwei kommen – ein kurzer Test Ihrer regenerativen Fähigkeiten. Wir möchten uns verständlicherweise davon überzeugen, dass die Aussagen über Ihre Heilkräfte nicht übertrieben sind und Sie tatsächlich so wenig Schmerz empfinden, wie wir gehört haben. Natürlich wäre es schön, einmal die Gelegenheit zu nutzen, um eher zu vivisezieren als zu operieren, aber verlangen kann ich das selbstverständlich nicht von Ihnen.“

Allein das Wort ‚vivisezieren‘ hörte sich in meinen Ohren unangenehm an.

„Welche Vorteile hätte diese Methode denn für Ihre Arbeit?“, erkundigte ich mich etwas nervös.

„Genau weiß ich es ehrlich gesagt nicht“, gab Wang zu. „Ich habe ja keine Ahnung, was ich finden werde, aber es ist eine Sache, Werte mit Sonden zu messen und durch Kameras zu beobachten und eine ganz andere, die Dinge direkt anzusehen, sozusagen live dabei zu sein. Das geht natürlich nur, wenn die Wunderdinge, die über Sie erzählt werden, den Tatsachen entsprechen. Und das muss ich wirklich mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben.“

Ich kämpfte einen Augenblick lang gegen meinen inneren Schweinehund an, der mir riet, die Wissenschaftler zum Teufel zu schicken und auf der Stelle zu meinen Freunden zurückzufliegen. Wozu brauchte ich solche Untersuchungen? Mein Körpergefühl, das eigentlich hundertprozentig verlässlich war, sagte mir, dass mit meinem Gehirn alles in Ordnung war und sie dort so wenig Besonderes finden würden wie am Rest dieses Körpers. Seine Eigenheiten offenbarten sich nicht bei kurzfristigen Tests – es sei denn, ich griff bewusst in die Abläufe ein, die natürlicherweise stattfanden. Das Einzige, was fehlte war die Neubildung von Zellen.

Dann jedoch sah ich in die hoffnungsvollen Gesichter, dachte daran, dass diese Menschen extra wegen mir den eventuell ziemlich weiten Weg auf sich genommen hatten. Sie waren mir sympathisch, wohlgesonnen und schienen ein ehrliches Interesse an den Untersuchungen zu haben. Also riss ich mich zusammen und stimmte zu – mit dem Gefühl, ein heldenhaftes Opfer für die Wissenschaft zu bringen. Anschließend wandte ich mich an Sam, der noch immer schweigend neben Wolf im Raum stand. Mein Freund wirkte etwas blass, dennoch gefasst.

„Ich schätze, dass du jetzt lieber wieder an deine Arbeit gehst“, meinte ich zu ihm. „Ungern würde ich dabei helfen, alte unerfreuliche Erinnerungen zu wecken…“

Aber Sam lächelte tapfer. „Weißt du, ich wurde extra herbestellt, um bei dir zu bleiben, damit du wenigstens ein bekanntes Gesicht bei der Sache siehst. Vielleicht haben Sie Angst, dass du sonst zwischendurch Panik bekommst und ihnen irgendwas antust, dass du austickst oder etwas Unkontrollierbares geschieht. Schließlich wollen sie dir nicht nur Elektroden ankleben und ein EEG machen.“

„Ich weiß“, sagte ich leise. „Genau deshalb möchte ich, dass du gehst. Beim letzten Mal war die größte Folter für mich, dass du dabei zusehen musstest. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass es jetzt ein Vergnügen für dich darstellt, hier zu sein.“

„Du hast recht – ich wäre lieber woanders. Aber andererseits werden meine Albträume nicht besser, indem ich ihnen aus dem Weg gehe. Wir hatten bisher kaum Gelegenheit, über die Sache zu reden, und vor allem hatte ich in der Situation keine Möglichkeit, mit dir zu sprechen. Vielleicht wäre es mir gar nicht so wild vorgekommen, wenn ich zwischendurch erfahren hätte, wie es dir ging. So musste ich annehmen, dass du Höllenqualen durchleidest, die ich mir nicht annähernd vorstellen konnte. Verstehst du, was ich damit sagen möchte?“

„Du meinst, es könnte eine Art Desensibilisierung darstellen, eine Therapie gegen den Schock von damals?“

Ich fand den ehemaligen NASA-Mitarbeiter äußerst mutig.

„Nun ja, diesmal wird mich wohl niemand dazu zwingen, die ganze Zeit über hierzubleiben und zuzusehen. Soweit ich weiß, steht es mir jederzeit frei, den Raum zu verlassen“, erklärte Sam und blickte dabei Wolf an. Dieser nickte. „Selbstverständlich entscheiden Sie selbst, wie viel Sie vertragen. Das hatten wir doch ausdrücklich besprochen.“

Ich zuckte die Achseln. „Wie es dir beliebt. Wenn du bleiben möchtest, finde ich das in Ordnung – und es wäre wirklich schön, deine Gesellschaft noch etwas länger zu genießen. Ich hatte nur an dein Wohlbefinden gedacht.“

Während wir uns unterhielten, waren die Doktoren nicht untätig geblieben und hatten den Raum in ein OP-Zimmer verwandelt. Allerlei Gerätschaften waren nun neben der frisch mit einem sterilen Laken bezogenen Liege aufgebaut und betriebsbereit. Dr. Lewis näherte sich mir mit einer Injektion und einem Skalpell.

„Sie haben die Wahl“, meinte sie dann lächelnd.

Ich verzog gespielt angewidert das Gesicht. „Ich hasse Spritzen!“, sagte ich, nahm ihr das Teil sanft aus der Hand, ohne es zu berühren, formte aus der Nadel ein Herz.

Die Umstehenden lachten und applaudierten kurz. Dann wurden sie wieder ernst.

„Darf ich?“, fragte die Doktorin zögernd mit Blick auf ihr OP-Instrument. Ich nickte, setzte mich auf die Liege und hielt ihr den Arm hin. „Ich hoffe doch, dass Sie das machen.“

Schließlich fasste sie sich ein Herz und ritzte meine Haut am Unterarm ein wenig. Dabei sah sie mich so ängstlich an, dass ich lachen musste. „Ich dachte, Sie sind Ärztin. Führen Sie Ihre Operationen immer so zaghaft durch?“

Daraufhin stahl sich ein besonderes Funkeln in ihre Augen. Sie führte einen sauberen, tiefen Schnitt aus, der die Muskulatur des Unterarms freilegte. Wieder blickte sie mich an, während sie automatisch nach einem Tuch griff, um zu verhindern, dass meine Jeans mit Blut besudelt wurde.

„Ist es so besser?“, fragte sie kämpferisch. Keiner der Umstehenden sagte ein Wort, aber alle rückten ein wenig näher. Ich nickte und erwiderte ihren Blick freundlich. Dann ließ ich es zu, dass mein Körper die gewohnte Ordnung wieder herstellte – es geschah rasch, nahezu ohne bewusste Steuerung. Doktor Wang gab einen zischenden Laut von sich und ächzte: „Das ist unglaublich. Ich hätte nie gedacht ...“

Ich wandte mich zu ihm um. „Sofern das als Beweis genügt, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie schnell zu dem kommen würden, was Sie eigentlich vorhaben.“

Der Mann mit dem asiatischen Namen sah mich zweifelnd an. „Sind Sie sicher, dass Sie keine Betäubung wünschen? Nun, Sie können es sich noch immer überlegen.“

„Das brauche ich nicht zu tun, weil eine solche Behandlung leider absolut keine Wirkung bei mir zeigt.“

„Nun gut, wie Sie möchten. Ich werde jetzt Ihren Kopf kahlscheren, da die Haare uns im Weg wären.“

Er näherte sich mit einem elektrischen Haarschneider. Dieses Gerät blickte ich mit weitaus größerem Horror an als das Skalpell von Doktor Lewis.

„Muss das wirklich sein?“, fragte ich gequält.

Sam brach hinter mir in Gelächter aus. „Du lässt dich eher aufschlitzen, als dir die Haare schneiden? Das ist voll irre!“

„Du hast leicht reden“, verteidigte ich mich. „Weißt du, wie viele Haare du auf dem Kopf hast? Wenn du jedes einzelne davon ebenso spüren würdest wie deine Hautzellen, Nerven und Muskeln, dann wäre dir ihre Verstümmlung auch nicht gleichgültig.“

Ich sprach aus Erfahrung. Nur ein einziges Mal hatte ich nach meinem ‚Update‘ vor viereinhalb Jahren versucht, mir eine neue Frisur zuzulegen. Aber es war ein ziemlich unangenehmer Versuch gewesen, den ich bereits wenige Minuten später wieder aufgegeben hatte. Der Satz ‚wer schön sein will, muss leiden‘ hatte mit diesen Problemen eine völlig neue Dimension erhalten. Ich musste nicht schön sein, ganz und gar nicht. Rund hundertvierzigtausend einzelne Haare, genauer gesagt hundertdreiundvierzigtausendvierhundertneunundzwanzig dieser Hornfäden zieren noch heute mein Haupt. Sie wachsen nicht, fallen nicht aus und protestieren jedes für sich bei grober Behandlung.

Die beiden Doktoren schienen mein Anliegen zu verstehen, auch wenn sie es natürlich nicht wirklich nachvollziehen konnten. Sie berieten sich kurz und meinten dann, sie würden nur den notwendigen Teil der Haare entfernen. Erleichtert machte ich mich bereit für die ‚eingehende Untersuchung‘ von Dr. Wang.

Dein Buch wurde übrigens schon vor zwei Monaten herausgegeben, eröffnete mir Timo in dem Moment, als ich mich bereits in der horizontalen Position befand. Ich ächzte innerlich, beschloss aber, diesem unverständlichen Phänomen später nachzugehen, da die beiden Ärzte hinter mir anfingen, aktiv zu handeln. Insgesamt war die Prozedur weniger unangenehm als befürchtet, obgleich ich wie inzwischen bereits gewohnt jede Einzelheit daran spürte. Dabei spielte es keine Rolle, ob Dr. Wang meinem Schädel ein großzügiges ‚Fenster‘ verpasste oder ob er im Gehirn herumstocherte, Teile daraus entfernte, um an darunterliegende heranzukommen, und empfindliche Geräte irgendwo anschloss. Dies lag vor allem daran, dass ich ständig durch die Dinge abgelenkt wurde, die der Professor von mir verlangte. Er wollte, dass ich etwas durch den Raum trug, berichtete, was im Flur vor sich ging, ihm die Hand schüttelte, einen meiner berühmten bequemen Sessel für ihn erdachte und noch vieles mehr. Auch Sam forderte mich heraus – vor allem meine Lachmuskeln, indem er mir alte Geschichten aus dem Weltraum erzählte oder Anekdoten von seinen beiden Söhnen, die mittlerweile große Fans von mir waren. Es war nicht ganz leicht, trotzdem stillzuhalten, und es gelang mir nur mit eiserner Disziplin und Körperbeherrschung. Schließlich bat ich ihn, damit aufzuhören, da es mörderanstrengend wurde. Je weiter die beiden Mediziner in mein Hirn vordrangen, desto schwieriger wurde es, mich zu konzentrieren und Koutalis‘ Forderungen nachzukommen. Dr. Wang erreichte mein Sprachzentrum und es fiel mir zunehmend schwerer, Worte klar zu formulieren. In diesem Moment hörte ich in meinem Kopf eine bekannte Kinderstimme.

Ring, ring!

Hi, Zoey, was gibt’s?

Erzählst du mir eine Gutenachtgeschichte? Mama sagt, dass du noch weg bist, aber ich kann nicht einschlafen!

Ist grad ungünstig, Schatz. Sonst immer gerne, momentan kann ich nur nicht so klar denken ...

Oooch, schade! Geht’s dir nicht gut? Es fühlt sich so komisch an, wie du redest.

Es ist alles in Ordnung, nur nicht der passende Moment für Geschichten. Später vielleicht. Gute Nacht, Spatz!

Dann gute Nacht, Simon!

Hinter mir hörte ich zwei Menschen scharf einatmen.

„Was war das eben?“, fragte mich Doktor Wang aufgeregt.

„Das war mein Patenkind“, murmelte ich verwaschen. „Sie wollte eine Gutenachtgeschichte von mir hören. Hab ihr gesagt, dass es jetzt nicht passt.“

„Sie hatten mentalen Kontakt?“, vernahm ich Koutalis‘ verzückte Stimme. „Oh, das ist wunderbar!“

„Ich befürchte, ich werde Sie nicht mehr lange mit meiner Anwesenheit hier beehren können“, nuschelte ich unter großer Anstrengung, die Laute einigermaßen verständlich herauszubringen.

„Oh nein – wird es zu viel für Sie? Ich kann die Experimente jederzeit abbrechen, Sie müssen lediglich Bescheid sagen ...“

Die Stimme des Doktors schien sich immer weiter zu entfernen. Leider schaffte ich es nicht, ihm zu antworten, da sich mein Geist in diesem Augenblick vollständig löste. Der Kopf war halt empfindlicher als der Rest, der schon wesentlich mehr ertragen hatte.

 

Wie immer empfand ich im ersten Moment große Erleichterung, da das Gefühl der Zerstörung und Unordnung fort war. Ich ignorierte das Licht, das mich lockte und sah den beiden Medizinern zu, so wie ich es die ganze Zeit über schon getan hatte. Ohne die Verbindung zu diesem Körper war es eine völlig andere Erfahrung – als läge dort jemand, den ich kannte. Die Doktoren starrten zunächst fassungslos auf die Null-Linie meines Herzschlags und schienen wie gelähmt. Sam beruhigte sie mit den Worten: „Sie wissen, dass er nicht wirklich tot ist. Wenn Sie noch etwas zu Ende bringen möchten, tun Sie es einfach. Aber lassen Sie sich nicht zu viel Zeit damit. Ich schätze, das würde ihm nicht so gut gefallen. Vielleicht regeneriert er sich gleich wieder.“

Das besänftigte die beiden Akteure. Sie fuhren fort, in meinem Kopf herumzustochern. Diesen Anblick ertrug ich nicht lange. Deshalb begann ich, mich in dem Raum umzusehen, der für mich nun völlig anders aussah als vorhin. Es gab lauernde Schatten, Dinge, die sich bewegten und die Tür waberte, als wäre sie eine Fata Morgana. Indem ich auf dieses interessante Phänomen zuging, veränderte sich etwas um mich. Die Menschen schienen sich rückwärts zu bewegen. Erst langsam, dann immer schneller, wie bei einem Film, der zurückgespult wurde. Nach nur wenigen zurückgelegten Zentimetern war der Raum völlig leer und düster. Zögernd bewegte ich mich weiter und es wurde hell, dunkel, kurze Schemen zeugten davon, dass in den Hellphasen jemand anwesend war, aber es ging so schnell vorbei, dass der Effekt wie bei einer Stroboskoplampe wirkte. Je näher ich der Tür kam, desto rasender wurde das Spiel mit Licht und Schatten, bis alles in einem Wirbel verschwamm. Mir wurde leicht schwindlig vom Zusehen. Etwas trieb mich dennoch vorwärts – ich wollte diese Tür unbedingt erreichen und sehen, was dahinter lag. Es gelang mir fast, den Griff zu fassen. Nur Zentimeter davor wurde meine imaginäre Hand von einer unwiderstehlichen Kraft zurückgehalten.

Langsam drehte ich mich um und befand mich erneut in dem Kühlraum, in dem ich vor knapp fünf Jahren zu neuem Leben erwacht war. Vor mir lag mein unversehrter Körper in der Schublade, die eine Frau soeben aufgezogen hatte. Sie schrie hell auf. Das war das Letzte, was ich sah, bevor mich ein ungeheuerlicher Sog erfasste und mit Macht zurückzog. Das Bild verschwand und wurde durch einen erneuten Wirbel aus Licht und Dunkelheit ersetzt.

Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich neben mir selbst. Die beiden Ärzte schienen mit ihrer Untersuchung fertig und mit ihrem Latein am Ende.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Dr. Lewis mit Tränen in den Augen. „Er ist eindeutig tot, oder nicht?“

„Das glaube ich nicht!“, rief Sam heftig aus. „Er braucht vermutlich nur länger, weil Sie nicht aufgehört haben, an seinem Gehirn herumzupfuschen. Lassen Sie mich mal durch!“

Er drängelte sich bis zu mir vor und nahm meine Hand. „Komm schon, Simon!“, murmelte er drängend. „Mach keinen Blödsinn! Ich weiß, dass du da noch irgendwo steckst.“

Ich ließ mich nicht länger bitten und sorgte dafür, dass meine Moleküle sich wieder richtig ordneten. Um mich herum hörte ich erstickte Entsetzenslaute.

 

„Hi“, begrüßte ich die Anwesenden, die allesamt die Liege umstehend auf mich herabstarrten. Sam hielt noch immer meine Hand. Die Übrigen erholten sich langsam von ihrem Schock. Auf ihren Gesichtern breitete sich nach und nach Erleichterung aus.

„Wie lange war ich denn weg?“, erkundigte ich mich.

Wang lächelte verlegen. „Ihr Herzschlag hat vor über einer Stunde ausgesetzt. Die letzte Hirnaktivität hatten wir ungefähr zeitgleich. Seither warten wir darauf, dass Sie wieder aufwachen. Sie haben uns ziemlich geschockt, muss ich zugeben.“

„Eine Stunde? Oha! Ich hätte nie gedacht, dass mein Ausflug so lange gedauert hat.“

„Was für ein Ausflug?“, fragte Professor Koutalis aufgeregt.

Ich hob hilflos die Schultern. „Ich weiß es nicht. Das war total verrückt, wie eine Reise in die Vergangenheit ...“

Unumwunden erzählte ich ihnen, was geschehen war, aber selbst Sam nahm an, dass ich mich vermutlich auf einem guten Trip befunden hatte.

„Du vergisst, dass ich mich längst nicht mehr in diesem Körper befand“, bemerkte ich. Aber da es den Anwesenden zu abstrakt schien, konnten sie meine Eindrücke weder begreifen noch nachvollziehen. Es war nicht weiter wichtig, da das Erlebte allein für mich bedeutsam war.

Ich glaube, ich weiß jetzt, warum dein Buch schon auf dem Markt ist! Timo hörte sich sehr aufgeregt an. Du hast es sicher selbst veröffentlicht! Wenn du Zeitreisen beherrschst ...

Es klang total dämlich, war jedoch die einzige Erklärung, die bislang Sinn ergab.

Meinst du? Aber wie sollte ich es in diesem Zustand meinem Verleger zukommen lassen?

Keine Ahnung. Das finden wir noch heraus. Komm erst mal ins Hotel, dann können wir besser darüber reden!

Mal schauen, ob sie mich jetzt schon wieder gehen lassen, dämpfte ich seinen Optimismus. Ist doch egal – komm einfach!

Innerlich zustimmend bemerkte ich laut: „Es wird langsam spät. Mein Tag war reichlich anstrengend – Ihrer sicherlich auch. Also würde ich vorschlagen, alles Weitere auf morgen nach dem Frühstück zu verschieben. Wenn Sie erlauben, würde ich gern bei meinen Freunden im Hotel nächtigen. Sie brauchen mich weder zu bringen noch abzuholen – ich finde Sie schon. Schlafen Sie gut.“

Mit diesen Worten marschierte ich kurzerhand aus der Tür. Wolf machte Anstalten, mich zurückzuhalten, doch Professor Koutalis fasste ihn warnend am Arm und schüttelte den Kopf. Deshalb folgten die Anwesenden mir in respektvollem Abstand nach draußen – bis auf Sam, der mir rasch hinterherlief.

„War toll, dich mal wieder zu sehen und in Aktion zu erleben“, meinte er augenzwinkernd.

„Du warst echt eine Hilfe“, erwiderte ich ernsthaft. „Danke für deine nette Gesellschaft! Hattest du ein therapeutisches Aha-Erlebnis?“

„Nein, eher ein traumatisches Déjà-vu“, antwortete mein Begleiter. „Aber das war schon okay“, fügte er hastig hinzu, als er meinen besorgten Blick bemerkte. „Jetzt weiß ich wenigstens, dass man sich um dich echt keine Sorgen machen muss, egal wie furchtbar es aussieht. Von daher hat es mir wirklich geholfen.“

Inzwischen standen wir draußen und sahen einer kleinen Gruppe Männer zu, die im letzten Licht des ausklingenden Tages auf dem Übungsplatz ihre Reaktionsschnelligkeit und Körperkraft trainierten. Als sie mich erblickten, hörten sie schlagartig damit auf und selbst ihr Ausbilder starrte mich an.

„Steht auf meiner Stirn irgendwas geschrieben?“, murmelte ich.

Major Wolf, der inzwischen hinter uns getreten war, lachte leise. „Sie sind in diesem Camp seit Wochen Gesprächsthema, obwohl Ihr Kommen eigentlich topsecret ist. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Unter Geheimagenten sind Geheimnisse schneller erzählt, als man gucken kann. Also wenn Sie wirklich wegwollen – diese Männer, einschließlich meiner Wenigkeit, würden sich freuen, Sie in Aktion zu erleben. Und keine Sorge, sie sind sehr verschwiegen ...“

Ich verabschiedete mich herzlich, winkte den Leuten auf dem Übungsplatz zu und machte mich schleunigst auf und davon – mit Bungee-Start im äußerst beweglichen Spezial-Heli, mit dem man ohne Probleme auch kopfüber fliegen konnte. Seitdem ich eine Dokumentation über einen Konstrukteur ähnlicher Modellhubschrauber gesehen hatte, war ich von dieser Technik so fasziniert, dass ich sie auf meine ganz persönliche Art und Weise perfektioniert hatte.

„Wow“, hörte ich den Chef der Spezialeinheit rufen, indem ein Teil von mir noch einen Moment länger dortblieb. „Das ist wirklich mehr als beeindruckend. Haben Sie das schon bei ihm erlebt, Sam?“

Mein Freund schüttelte amüsiert den Kopf. „Nee, sicherlich nicht genau das, aber Ähnliches. Er lässt sich halt gern mal was Neues einfallen.“

 

3.

 

Bereits auf dem kurzen Flug zurück zu dem Hotel, in dem sich die Familie meines besten Freundes befand, wurde mir bewusst, dass etwas anders war als sonst. In meinem Kopf herrschte ein Chaos, das eigentlich nichts mit dem zu tun haben konnte, was die beiden Wissenschaftler darin angestellt hatten. Ich fühlte mich unwohl, schob ich es auf das aufwühlende Erlebnis von vorhin und hoffte, dass ein reichhaltiges Abendessen sowie eine gehörige Portion Schlaf mir wieder auf die Beine helfen würden. An viel mehr konnte ich in diesem Moment auch gar nicht denken, da meine körperlichen und geistigen Reserven restlos aufgebraucht waren. Nach einem späten Dinner begab ich mich deshalb bald zum Matratzenhorchdienst in der Nobelsuite der kleinen Familie. Ein eigenes Zimmer war für mich nicht vorgesehen, aber auch gar nicht nötig. Das Sofa bot ausreichend Platz – ebenso der Fußboden drum herum. So musste ich dem Paar nicht auf die Pelle rücken und Zoey konnte in ihrem separaten Räumchen ruhig schlafen. Zur Not hätte ich sogar mit dem Bad vorliebgenommen. Timo ließ mich in Ruhe, da er mir anmerkte, wie erschöpft ich war.

Auch am nächsten Morgen wollte das ungute Gefühl nicht vergehen. Zwar hatte mein Körper sich wieder vollkommen erholt und eigentlich hätte ich fit wie ein Turnschuh sein müssen, aber etwas störte nach wie vor.

„Was ist los mit dir?“, fragte Susanna mich beim Frühstück, bei dem ich nur dasaß und abwesend auf das Brötchen vor mir starrte.

„Keine Ahnung“, murmelte ich.

Dann kam Zoey, die stolz ein Kinderbrötchen, Marmelade und drei Scheiben Käse anschleppte. Ich blickte in ihre dunklen Augen und wusste auf einmal, was nicht stimmte: Ras Kraftquelle war in mir frei. Die Erkenntnis traf mich wie ein Hammerschlag, erschütterte mich bis ins Mark.

„Entschuldigt bitte“, brachte ich mühsam hervor, erhob mich hastig und rannte praktisch aus dem Raum. Plötzlich war mir furchtbar übel, sodass ich mich schleunigst auf die Toilette begab, um meinen Mageninhalt der Porzellanschüssel zu überantworten. Aber auch danach wurde es nicht wesentlich besser. Beim Blick in den Spiegel begegnete ich einem Stück von Ra selbst, die andere Zoey starrte mir daraus entgegen. Tief durchatmend beruhigte ich meinen rasenden Pulsschlag, zwang mich zur Konzentration auf mein Innerstes. Timo sperrte ich konsequent aus, da es ihn eventuell gefährdet hätte. Dann sammelte ich die Energie, die sich gleichmäßig überall verteilt in mir fand. Ich zog sie in ihr vorgestelltes Gefängnis zurück, das sich beim gestrigen Aufenthalt außerhalb meines Körpers verflüchtigt hatte. Dies forderte meine gesamte Aufmerksamkeit und Willensstärke, ähnlich dem mentalen Kampf gegen einen Tornado. Gerade, als ein weiterer Gast die Toilette benutzen wollte, wurde ich damit fertig. Verschwitzt wie nach einem Halbmarathon, zitternd vor Anstrengung und Erschöpfung taumelte ich aus dem Raum, an dem erstaunten Mann vorbei in Richtung Familienzimmer.

Was ist los? Timo klang besorgt.

„Jetzt ist wieder alles klar“, antwortete ich tonlos.

Für eine kurze Dusche und Wäsche meiner Kleidung hätte ich die Privatsphäre der Suite nicht extra aufsuchen müssen, aber die Ruhe dort tat einfach nur gut und ich gönnte mir ein ausgiebiges Bad.

Kommst du wieder runter oder soll ich dir dein Brötchen mitbringen?

„Wenn ihr schon fertig seid, bleibe ich lieber noch einen Moment hier“, gab ich zur Antwort und genoss die Entspannung im warmen Wasser.

Als meine drei Mitreisenden eintrafen, war ich bereits frisch eingekleidet und fühlte mich wieder halbwegs in Form. Bei einem raschen nachträglichen Frühstück berichtete ich Timo und Susanna von dem Erlebnis, was meinen Freund ins Grübeln brachte.

„Das ist natürlich ein Problem“, meinte er düster. „Es hört sich ja ganz interessant an, dass du in die Vergangenheit zurückkehren kannst, aber bei diesen Folgen ...“