Der Fantast 1 - Michaela Göhr - E-Book

Der Fantast 1 E-Book

Michaela Göhr

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Beschreibung

NEUAUFLAGE!

Stell dir vor ...
eine einzigartige Gabe verliehe dir unvorstellbare Macht,
mit der du aufbauen oder einreißen,
helfen oder vernichten könntest.
Was würdest du damit tun?

Simon erscheint auf den ersten Blick wie ein durchschnittlicher junger Mann. Seine mentale Kraft ist jedoch phänomenal: Alles, was er sich vorstellt, wird real, gegenständlich, lebendig! Merkwürdige, aufreibende Ereignisse sind seit seiner frühsten Kindheit an der Tagesordnung, was die verzweifelten Eltern dazu bringt, sich Spezialisten anzuvertrauen. Ein Entschluss, der das Leben der kleinen Familie in große Gefahr bringt. Simon wehrt sich auf seine ganz eigene Art. Seine Vorstellung wächst mit ihm, bis er mit der geballten Macht seiner Fantasie zurückschlägt ...

Mit diesem Buch beginnt die spannende Lebensgeschichte des Fantasten, einem der ungewöhnlichsten Helden unserer Zeit.

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Zur Autorin
Prolog
Teil 1
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
Teil 2
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
Teil 3
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
Epilog
Das Abenteuer geht weiter!
FANTASTische Abenteuer für Kids ab 9 Jahren!
Andersträumer

 

Michaela Göhr

 

Der Fantast

 

Band 1

 

 

 

 

Urban-Fantasy-Roman

 

 

 

 

 

 

Zur Autorin

1972 geboren und aufgewachsen in einer sauerländischen Kleinstadt studierte sie nach dem Abitur Sonderpädagogik, arbeitet seit vielen Jahren an einer Förderschule Sehen und lebt mit Mann und Kind gegenüber ihres Elternhauses. Das Schreiben begann sie schon in ihrer Kindheit, wo sie ihre Gedanken in Gedichten, Liedern und kurzen Geschichten ausdrückte. Ihre Leidenschaft für längere Texte fand sie jedoch erst vor kurzer Zeit - die Fantasy-Reihe um die Figur des Fantasten ist ihr Debüt im Bereich der Romane.

 

Dank

Ich danke Kathrin Franke-Mois von Epic Moon – Coverdesign für die geniale Gestaltung des neuen Covers und allen Beteiligten, die mitgeholfen haben, dieses Buch zu erstellen. Nicht zuletzt gilt mein Dank den Lesern. Ohne sie wäre der Fantast nie erwachsen geworden.

 

 

Alle Bände der Reihe

Der Fantast (Band 1) Der Fantast und das Erbe der Ra (Band 2) Der Fantast und die Macht der Gedanken (Band 3) Der Fantast und das Apokryptikum (Band 4) Der Fantast und die letzten Visionen (Band 5)

 

Sämtliche im Buch vorkommenden Charaktere sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Impressum

 

Text: © Copyright by Michaela Göhr Birkenweg 24, 58553 [email protected]/derfantast24/derfantast.jimdo.com

 

Umschlaggestaltung: © Kathrin Franke-Mois

Epic Moon – Coverdesign / München

https://epicmooncoverdesign.com

 

Bilder: Erik Bjerkesjö

ISBN: 978-3739447193

 

Erstausgabe Juli 2016 letzte Überarbeitung: November 2020

 

Prolog

 

Vorsichtig zog ich meine Hand von dem Körper vor mir zurück. Wie erwartet hielt mein Spezialverband bombig. Die Blutung war dadurch vorübergehend gestoppt und der Mann, der reglos am Boden lag, würde zumindest so lange überleben, bis der Krankenwagen eintraf. Meine ziemlich verschwitzten Laufsachen waren voller Blut, aber darum wollte ich mich später kümmern.

Ach ja, den Notruf musste ich noch absetzen. Dazu war ich bisher nicht gekommen, da ich alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte, den schweren Kerl von dem Pfahl zu befreien, in den er wahrscheinlich aus voller Fahrt mit dem Mountainbike gerast war. Keine Ahnung, wie er das geschafft hatte! Der sportliche, junge Fahrer, dessen Bike verbeult in der Böschung lag, hatte zum Glück das Bewusstsein verloren, bevor ihm das ganze Ausmaß seiner Verletzung klar geworden sein dürfte. Und ich hatte mein Bestes getan, um ihn nicht unnötig wieder aufzuwecken, ihn damit Todesängsten und vermutlich mörderischen Schmerzen auszusetzen. Die 112 anzurufen war nun noch der letzte Schliff, sozusagen die Vollendung eines Kunstwerks. Ich tat es fast ohne nachzudenken und mit beinah schlafwandlerischer Sicherheit - kaum eine Telefonverbindung war mir vertrauter. Die Stimme des Mannes in der Zentrale kannte ich von zahllosen Anrufen. Meine eigene wurde selbstverständlich verzerrt - ich konnte und wollte es mir nicht leisten, erkannt zu werden.

Noch einmal kontrollierte ich Atmung und Puls meines ‚Patienten‘, den ich diesmal völlig zufällig gefunden hatte. Alles schien bestens. Der Radfahrer mit dem hässlichen Loch in der Bauchgegend schlummerte tief und fest, wurde durch die stabile Seitenlage sicher davor bewahrt, seine Zunge zu verschlucken. Der blutverschmierte Zaunpfahl ragte etwas ekelig neben ihm auf. Natürlich kannte ich die Regel, dass man niemals irgendwelche Gegenstände aus einem Körper rausholen sollte, wenn sie drinsteckten. Das Risiko von inneren Blutungen, die von einem Laien nicht gestoppt werden konnten, war viel zu groß. Meine präzise Kenntnis der menschlichen Anatomie und meine besonderen Fähigkeiten ließen mich jedoch ziemlich sicher wissen, wo ich wie zupacken oder zudrücken musste, um den Mann nicht noch mehr zu verletzen. Ich hoffte, dass irgendwer auf die Idee kommen würde, das lebensgefährliche Teil auszugraben und zu entsorgen. Zunächst wurde es allerdings gebraucht, um den Unfallhergang plausibel zu machen. Denn ich gedachte auf keinen Fall hier stehenzubleiben, bis die Rettungskräfte eintrafen. Erleichtert hörte ich bereits kurze Zeit später eine Sirene und machte mich schleunigst vom Acker, laufenderweise querfeldein. Während des Joggens wusch ich T-Shirt, Hände und Gesicht. Danach betrachtete ich - noch immer laufend - kritisch mein Spiegelbild. Alles wieder sauber, Fleckentferner sei Dank.

Schließlich erreichte ich den Ausgangspunkt meines meditativen Fitnesstrainings, den asphaltierten Weg, auf dem ich mein Fahrzeug benutzen konnte. Es war ein speziell von mir entwickelter Roller mit extrem niedriger Standhöhe. Trotz der winzigen Räder war das Teil verflixt schnell. Darauf stehend sah es aus, als würde ich direkt über den Boden gleiten oder eben in raschem Tempo laufen. Genau das war beabsichtigt, denn außer mir sah niemand dieses Fortbewegungsmittel. Genauso wenig, wie mein Handy, das ich zum Telefonieren benutzte oder den Verband, den ich dem Fremden angelegt hatte. Er würde sich auflösen, sobald ihn jemand anders berührte. Keiner würde wissen, dass er je existiert hatte. Niemand konnte die Spuren zu mir zurückverfolgen, was absolut wichtig war. Zufrieden mit mir fuhr ich nach Hause.

 

Wer ich bin, fragt ihr? Nun - ich bin Simon.

Ich bin der Fantast.

Teil 1

 

Kindheit mit Hindernissen

1.

 

Wahrscheinlich sollte ich weiter vorne anfangen, um mich vorzustellen. Sonst könnte jemand glauben, ich hätte einen ernsthaften Dachschaden. Okay, vielleicht habe ich den auch - kommt auf die Sichtweise an. Meine Freunde behaupten zumindest, ich habe einen Riesenknall. Keine Ahnung, ob sie damit recht behalten, aber bevor ihr euch ein Urteil über mich bildet, solltet ihr wenigstens vorher das eine oder andere von mir erfahren. Dann könnt ihr immer noch den Spinner in mir sehen - oder eben nicht.

Wie schon gesagt ist mein Name Simon. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und gerade dabei, den Master in Physik zu machen. Bis zum Beginn des Studiums habe ich zumindest phasenweise noch bei meinen Eltern gewohnt, aber seit mehr als vier Jahren hause ich mit meinem Kumpel zusammen in unserem eigenen kleinen Reich in Form einer Studentenbude. Alles normal soweit. Allerdings ist diese Normalität eher sorgfältige, teilweise hart erkämpfte Tarnung, um mich und meine Familie zu schützen. Wie nötig ein solcher Schutz für uns ist, haben wir leider bereits ziemlich früh und sehr bitter erfahren müssen.

Dabei lief es für mich als Kind zunächst absolut easy - meiner Meinung nach. Meine Eltern hatten es mit mir allerdings nicht immer leicht. Ich war nämlich von Geburt an anders. Nein, nicht äußerlich sichtbar anders. Es war schwierig für sie, dieses Anderssein unserer Umwelt begreiflich machen, da ich auf Außenstehende stets wie ein total durchschnittliches Baby wirkte. Kaum jemand außer ihnen bekam jemals mit, dass zwischendurch Dinge geschahen, die sich niemand erklären konnte. Beispielsweise erzählte mir meine Mutter, dass ich die ersten zwei Monate lang an ihrer Brust getrunken und auch Fläschchen genommen hatte. Urplötzlich hörte das auf. Selbstverständlich machten meine Eltern sich Sorgen darüber und rannten mit mir zum Kinderarzt. Dieser wog mich, ließ sich die zufälligerweise gerade schweren Windeln zeigen und zuckte dann mit den Schultern. „Ich kann nichts feststellen“, sagte er, „Ihr Bengel ist kerngesund. Er wiegt genug, ist gut genährt, die Pampers sind voll ... Also, wenn Sie mich fragen, nimmt er ausreichend Flüssigkeit zu sich und leidet auch keinen Hunger. Da kann ich Sie beruhigen.“

Natürlich beruhigte es meine Eltern keinesfalls, da sie wussten, dass ich zu Hause schon seit Tagen fast gar nichts mehr trank. Ich verweigerte die Mutterbrust, nahm höchstens mal einen winzigen Schluck Tee aus der Flasche. Einige aufreibende Tage und Nächte lang beobachtete meine Mutter mich daraufhin äußerst genau und stellte fest, dass ich alle paar Stunden unruhig wurde. Sobald sie mich auf den Arm nahm, schmiegte ich mich an sie und machte komische saugende Bewegungen mit dem Mund. An ihre Brust wollte ich aber trotzdem nicht. Sie erzählte dieses merkwürdige Verhalten sofort meinem Vater. Der hatte eine geniale Eingebung und meinte: „Leg ihn doch einfach mal an, bevor er unruhig wird. Vielleicht klappt es dann?“

Ich glaube, mein Pa ahnte etwas, tief in sich, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Er selbst beschreibt sich als ‚zu dem Zeitpunkt total ahnungslos und völlig unbedarft‘.

Meine Ma befolgte diesen verzweifelten Rat - siehe da: Klein Simon trank wieder! Des Rätsels Lösung war damit zwar noch lange nicht gefunden, aber zunächst waren alle Beteiligten mit dem Erfolg zufrieden.

Das Nächste, was meiner Familie auffiel, war mein nicht alltägliches Spielverhalten. Manchmal schüttelte ich die leeren Fäuste, als wäre eine Rassel oder ein Musikinstrument darin und lächelte glücklich. Dann wieder jammerte ich erst, als ob mir langweilig wäre. Wenn daraufhin nicht sofort jemand erschien - vorzugsweise der Papa - fing ich plötzlich an, mich im Ställchen zu winden, gluckste und kreischte vor Vergnügen. Als ob mein Vater mit mir Späße machte, mich mit seinem Bart kitzelte oder mir in den Bauch pustete.

Als ich älter wurde, laufen und sprechen lernte, wurde meinen Eltern bei immer mehr Gelegenheiten deutlich, dass ich ‚nicht ganz normal‘ war. Ich ritt auf vorgestellten Pferden durch die Wohnung, warf mit nicht vorhandenen Bällen meine Stofftiere um, baute mit unsichtbaren Holzklötzen riesige Türme, die beim Umfallen eine Vase zerschmetterten und schmiss meinem Vater in einem Wutanfall eine gedachte Triangel so feste an den Kopf, dass dieser eine Platzwunde davontrug.

Glücklicherweise geschah es äußerst selten, dass ich wütend wurde, sodass solche schwer erklärbaren Unfälle nur begrenzt auftraten. Selbstverständlich hielten meine Eltern trotzdem zu mir und verteidigten mich wie die Löwen gegen alle widrigen Umstände. Sie überlegten für Freunde, Nachbarn und Verwandte die genialsten Ausreden für mein Verhalten, redeten sich jedes Mal ein, dass es für alles eine logische Erklärung gab. Nur leider fanden sie diese immer weniger und mussten sich schließlich eingestehen, dass sie rat- und machtlos mir und meinen gegenständlich werdenden Fantasien gegenüber waren.

Ich zolle ihnen noch heute größten Respekt dafür, dass sie es mit mir aushielten, mir stets ihre große Liebe zeigten, mich ermutigten, meinen Weg zu gehen, und mich nie als Sonderling behandelten. Ich dankte es ihnen damals zumindest, indem ich mich Fremden gegenüber weitestgehend normal verhielt. Anscheinend hatte ich die Predigten meiner Mutter ordentlich verinnerlicht und mochte es gar nicht, wenn mich andere Kinder als ‚komisch‘ bezeichneten. So besuchte ich sowohl den Kindergarten am Ort als auch wohnortnahe Schulen. Unser Wohnort änderte sich allerdings von Zeit zu Zeit. Diesen Umstand, der definitiv mit meinen besonderen Fähigkeiten zusammenhing, möchte ich euch nicht vorenthalten.

Meinen ersten Besuch beim Kinderpsychologen hatte ich ungefähr mit vier. Ich hatte mit einem Nachbarskind gespielt - Alina, damals sieben und damit meine große Aufpasserin. Alina war der böse Wolf und wollte mich fangen. Ich war das kleine Schweinchen und mochte nicht gefangen werden. Also rief ich Hugo zur Hilfe. Hugo war mein Hund. Eigentlich ein Stoffhund, aber der war gerade nicht zur Hand. In meiner Vorstellung hatte Hugo ein recht ansehnliches Gebiss, auch wenn er nicht der Größte war. Hugo biss Alina ins Bein. Natürlich nicht feste, es war ja nur ein Spiel. Meine Aufpasserin weinte trotzdem und lief damit zu ihren Eltern. Sie behauptete, ich habe sie gebissen. Bei näherer Betrachtung konnten die Abdrücke an ihrer Wade zwar überhaupt nicht von mir stammen, aber Alina hatte geschrien, geweint und beteuert, ich habe es gemacht. Auch wenn ihr Vater mit meinem übereinkam, dass ich es nicht wirklich gewesen sein konnte, empfahl er ihm einen guten Therapeuten für mich. Vermutlich, weil ich darauf beharrte, mein Stoffhund sei schuld an dem Unglück.

Der Psychologe untersuchte mich von Kopf bis Fuß, stellte meinen Eltern Fragen, die diese kaum zu beantworten wussten und schien nicht die Hälfte von dem zu glauben, was sie letztlich mehr gegen ihren Willen preisgaben. Ich machte die Sache nicht besser, indem ich mich plötzlich an das Verbot meiner Mutter erinnerte, bei Fremden irgendwas zu erfinden, und das ‚normale Kind‘ spielte. Auf diese Weise glaubte der gute Mann den überbesorgten Eltern noch weniger und schickte sie schließlich leicht verärgert unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Inzwischen hatten sie ihre eigene Theorie, was die Verrücktheiten ihres Sohnes betraf. Besonders mein Vater begann sich mit dem Thema ‚paranormale Fähigkeiten‘ auseinanderzusetzen. Das Internet bot da eine reichliche Plattform an Foren sowie eine Fülle an nutzlosen, da völlig an meinen Symptomen vorbeigehenden Informationen und Spekulationen. Es spuckte auch den Namen eines Instituts in der Nähe unseres damaligen Wohnortes aus, das sich mit derartigen Fällen beschäftigte. An diese Adresse wandten sich meine Eltern als Nächstes und bereuen es bis heute noch.

Die Einrichtung zeigte sofort reges Interesse an mir und meinen Besonderheiten. Zunächst schien es, als würde jetzt alles besser werden, als bekämen wir endlich die dringend ersehnte Hilfe und Unterstützung. Zumindest fühlten meine Eltern sich das erste Mal wirklich ernstgenommen und verstanden. Unsere Familie wurde nach einem kurzen Gespräch zum Kennenlernen mit offenen Armen empfangen. Während dieser Unterhaltung hatte ich der netten, aber viel zu dünn angezogenen Dame einen kuscheligen Mantel verpasst und Fellstiefel dazu. Ihren Gesichtsausdruck dabei vergesse ich nie. Vor allem, als ich besorgt fragte: „Ist dir jetzt warm genug? Oder willst du noch eine Hose haben?“

Meine Mutter schüttelte leicht schmunzelnd den Kopf und meinte bloß: „Lass doch die liebe Frau in Ruhe, Simon. Bestimmt ist ihr viel zu heiß. Wer weiß, was du ihr alles angezogen hast.“

Mein Vater versuchte derweil vergeblich, einen heftigen Lachanfall zu unterdrücken. Den Leuten vom Institut wurde also sehr schnell klar, dass sie es bei mir mit etwas Besonderem zu tun hatten - Vergleichbares hatte es nie zuvor gegeben. Sie wollten mich am liebsten gleich dabehalten und ließen mich - nach endlosen, furchtbar langweiligen Gesprächen und noch langweiligeren Untersuchungen - nur äußerst widerwillig gehen. Nicht, ohne meinen geschmeichelten Eltern das feste Versprechen abgenommen zu haben, in der folgenden Woche erneut mit mir zu erscheinen.

Mein Vater gestand mir später, dass er sich ernsthaft eine Lösung für unsere Probleme erhofft und deswegen trotz aller Bedenken zugestimmt hatte. Und das, obwohl ihn eine innere Stimme eindeutig davor gewarnt hatte. Zu falsch erschien das Lächeln der sogenannten Wissenschaftler, zu viel Gier blitzte in ihren Augen. Nie wieder sollte er ein solch naives Vertrauen zu jemandem fassen, das steht fest!

Sieben Tage später standen wir also erneut auf der Matte. Meine Ma hatte eine große Tasche mit Sachen für mich und sich gepackt. Der zuständige Abteilungsleiter für paranormale Phänomene hatte nämlich bereits angedeutet, dass die Tests, die sie mit mir vorhatten, auch ein Langzeit-EKG und Schlaf-Untersuchungen beinhalten würden. Dafür sollte ich ein paar Tage im Labor zubringen. Natürlich nahm meine Mutter an, dass sie selbst ebenfalls dableiben würde, ähnlich wie bei einem Krankenhausaufenthalt. Aber der wichtige Mann lächelte nur und meinte: „Sie können Simon nach den ersten zwei Tagen ganz oft besuchen, doch zuerst brauchen wir ihn allein, ohne Sie.“

Meine Eltern mussten das zunächst einmal verdauen. Besonders meine Mutter wollte sich damit überhaupt nicht abfinden und mich gleich wieder mitnehmen. Aber diese Leute waren nahezu perfekt darin, Erklärungen für unerklärliche Dinge zu finden, warfen mit Fachbegriffen um sich und machten meinen Sorgeberechtigten unmissverständlich und völlig einleuchtend klar, wie wichtig es für meine Entwicklung, für das Institut und letztendlich auch für sie selber sei, dass diese Untersuchungen gemacht würden. Schließlich unterschrieben sie eine Einwilligung, die der Einrichtung scheinbar unbegrenzte Freiheit bei meiner Behandlung erlaubte. Und das, ohne es wirklich zu realisieren.

Meiner Meinung nach gab es in dieser Abteilung des Instituts zumindest einen Menschen, der ebenfalls über besondere Fähigkeiten verfügte - Hypnose halte ich für gar nicht mal so unwahrscheinlich.

2.

 

Ich blieb also dort, nur begleitet von meinem treuen Freund Hugo und einer Reisetasche voller Kleidung. Ohne meinen Stoffhund hätte ich die Geschichte, die nun folgte, sicherlich nicht durchgestanden. Aber vielleicht hätten sie mich dann auch wieder nach Hause geschickt, wer weiß? Jedenfalls begriff ich in diesem Moment nicht im Mindesten die Tragweite dessen, was kommen sollte. Ich war noch ein Kind. Recht störrisch zwar und gewohnt, mal eine Nacht ohne Mama auszukommen (wenn ich bei Oma übernachten durfte), aber eben doch ziemlich klein.

Die wenigen Leute, denen ich später meine Erlebnisse erzählte, wunderten sich darüber, dass ich so viele Details behalten hatte. Doch ich versichere euch, dass mein gutes Gedächtnis sich rein auf diese speziellen Ereignisse beschränkt. Manche Dinge brennen sich unauslöschlich in die Erinnerung ein - meistens diejenigen, die man am liebsten wieder löschen würde.

Mein Abenteuer begann damit, dass ich in ein Gästezimmer gebracht wurde. Es lag in einem oberen Stockwerk des Gebäudes, jedenfalls fuhr ich zum ersten Mal mit dem Fahrstuhl. Das allein war schon aufregend. Der junge Mann, der mich begleitete, sah nett aus und lachte über meine Späße. Dann schloss er eine Tür auf. Ich betrat einen Raum, in dem alles farblos und langweilig war. Ein weißes Bett mit weißem Bettzeug, ein weißer Stuhl, ein weißer Tisch, weiße Wände ohne Bilder. Puh! Meine Tasche wurde neben dem Bett abgestellt. Der Mann begann, ein paar meiner Sachen auszuräumen: Schlafanzug, Zahnputzzeug, Hausschuhe.

„Hast du gar nichts zum Spielen dabei?“, fragte mein Begleiter verwundert, indem er alles durchsuchte.

Ich schüttelte den Kopf. „Mama meint, das nimmt nur unnötig Platz weg, weil ich eh nicht damit spiele.“

Der Mann zuckte leicht bedauernd die Achseln und verabschiedete sich. „In einer Stunde möchte Dr. Riefert dich sehen“, sagte er. „Bis dahin sollst du hier im Zimmer bleiben. Tschüss!“

„He, warte!“, rief ich ihm hinterher. Ich wollte absolut nicht so lange Zeit ganz alleine in diesem langweiligen Raum verbringen. Aber der Mann hatte bereits die Tür hinter sich ins Schloss gezogen. Ich rüttelte an der Klinke - es war abgeschlossen!

„He!“, schrie ich noch mal lauter, zog vergeblich am Türgriff. Keine Reaktion. Wütend trat ich nach der Tür und stieß mir den dicken Zeh an. Jetzt tat der zusätzlich weh. Also weinte ich ein bisschen und schmiss mich dabei aufs Bett. Da lag Hugo, dem ich mein Leid klagte. Mein Freund war verständnisvoll und leckte mir die Wange ab. Ich vergrub das Gesicht in seinem Fell und war erst mal eine Weile beleidigt. Dann aber siegte mein kindliches Gemüt und ich fing an, mit Lego zu bauen. Lego war für mich damals das Größte. Ich erdachte mir bei jeder Gelegenheit enorme Mengen von Steinen und verbaute sie zu den höchsten und schönsten Türmen, Flugzeugen und Fahrzeugen. So vertieft war ich ins Spiel, dass ich gar nicht bemerkte, wie jemand leise die Tür öffnete und das Zimmer betrat. Erst als dieser Jemand mein Raumschiff wegkickte und die zugehörige Raumstation dabei zerstörte, blickte ich auf.

„Hey, du machst mein Gebautes kaputt!“, schrie ich - nun wieder die blanke Wut verspürend. Der Mann, der mich vorhin hergebracht hatte, zuckte erschrocken zurück.

„Was ...“, begann er und bückte sich. Dabei stieß er mit dem Hintern den Tower an, der über einen Meter hoch aufragte. Krachend fiel er um.

„Du machst alles kaputt!“, kreischte ich, nahm das restliche Raumschiff und schmiss es dem perplexen Mann an den Kopf.

„Entschuldige, ich wollte nicht ...“, stammelte der Angegriffene, erhob sich taumelnd, rutschte auf dem verstreuten Lego aus, hielt sich die schmerzende Stirn, auf der rasch eine dicke Beule entstand und ergriff panisch die Flucht. Die Tür ließ er dabei offen. Ich lief ihm sofort hinterher und rief: „Das war nicht so gemeint, komm zurück!“

Der Flüchtige verschwand schon um eine Ecke.

„Warte auf mich!“, jammerte ich, sah jedoch niemanden mehr, als ich die Biegung erreichte. Vor mir befand sich der Fahrstuhl. Ich drückte auf den Knopf, aber es passierte nicht sofort etwas. Da betrat ich das Treppenhaus direkt nebenan. Es waren ziemlich viele Stufen und ich konnte sie noch nicht alle zählen. Ich machte mir einen Spaß daraus, bei jedem Absatz von ganz oben hinunter zu springen. Das tat ich zu Hause auch gerne. Mama meinte, ich würde sie damit in den Wahnsinn treiben, aber bisher hatte sie es noch immer recht ordentlich verkraftet. Vor allem, weil ich mir nie dabei wehtat. Das lag hauptsächlich daran, dass ich mir am Ende ein großes weiches Kissen vorstellte. Kissen sind superpraktisch, kann ich euch sagen! Sie haben bislang die meisten meiner Stürze problemlos aufgefangen.

Ich war beinah unten, als mir zwei Männer in weißen Kitteln entgegenkamen. Sie waren in ein hitziges Gespräch vertieft und bemerkten mich zunächst nicht. Erst als ich „Platz da, ich kooomme“ rief und sprang, blickten beide auf. Natürlich gingen sie nicht beiseite, sondern standen wie die Salzsäulen, bis ich direkt vor ihren Füßen landete, mich elegant seitlich an ihnen vorbei über das Kissen abrollte und wieder aufstand. Dann erst kam Leben in sie.

„Hast du dir was getan, mein Junge?“, rief der eine aufgebracht, indem er mich von den Haarspitzen bis zu den Schlappen musterte. Der andere schüttelte fassungslos den Kopf und murmelte: „Ich hab’s dir gesagt, er ist total irre!“

Nun erkannte ich den zweiten Sprecher, es war der Mann, den ich vorhin aus meinem Zimmer vertrieben hatte. Auf seiner Stirn prangte jetzt eine Schramme, die in allen Regenbogenfarben zu schillern begann. Erschrocken sah ich die Verletzung an.

„Ich bin ok“, sagte ich hastig. „Aber es tut mir leid mit deiner Beule. Das ... das wollte ich gar nicht. Ich war bloß wütend, weil du mein ganzes Lego kaputtgemacht hast!“

„Das war Lego?“

Der ohnehin schon bleiche Mensch wurde noch eine Spur käsiger. „Entschuldige, aber ich halt das nicht länger aus!“, stöhnte er. Mit einem verzweifelten Blick zu dem zweiten Mann hielt er sich die Hand vor dem Mund, drehte auf dem Absatz herum und lief die wenigen Treppenstufen hinunter bis zur Glastür. Der Zurückgebliebene lächelte mir zu. In seinen Augen war zu sehen, dass er keineswegs erschrocken war, sondern nur berechnend und neugierig. Jetzt erst bemerkte ich, dass ich diesen Mann auch schon mal gesehen hatte - heute Morgen bei den Untersuchungen. Aber da hatte er nicht diesen Kittel getragen. Als Dr. Riefert hatte er sich vorgestellt und schien der Boss hier zu sein. Er legte mir die Hand auf die Schulter.

„Da hast du ja gleich richtig was angestellt, Junge. Simon heißt du, nicht wahr?“

Ich nickte beschämt. Aber der Doktor lachte bloß. Irgendwie klang es nicht echt, sogar etwas nervös. Obwohl ich den zweiten Mann offensichtlich verletzt hatte, wäre mir seine Gesellschaft jetzt wesentlich lieber gewesen.

„Mein Assistent hat mir gerade berichtet, dass du ihn mit irgendwas beworfen hast, als er kam, um dich abzuholen. Da wollte ich selbst nachsehen. Und dann kommst du wie ein Kamikaze-Flieger im Sturzflug die Treppe runtergehüpft!“

Er lachte wieder dieses unangenehme Lachen, während er mich die paar Stufen hinunter sowie durch die gleiche Tür führte, durch die sein Assistent soeben gehechtet war.

„Wie hast du das eben übrigens gemacht?“, wollte er beiläufig wissen.

„Was denn?“, fragte ich unschuldig.

„Na, das mit dem tollen Sprung“, erklärte Dr. Riefert und sah mich verwundert an. „Das muss doch wehtun, wenn man von so hoch runterspringt. Ein Wunder, dass du dir nichts dabei gebrochen hast!“

Ich merkte, dass er mich dazu bringen wollte, mein Geheimnis preiszugeben. Aber da hatte er sich geschnitten! Der Mann war mir alles andere als sympathisch, solchen Leuten verrät man seine Geheimnisse nicht.

„Ich hab genug Übung“, sagte ich deshalb ausweichend. „Zu Hause haben wir auch Treppen. Nur nicht ganz so viele.“

Mittlerweile waren wir bei einer Tür am Ende eines langen Flures angelangt. Wir traten hindurch und befanden uns in einem Labor. Staunend betrachtete ich die zahlreichen Apparate, die herumstanden, lief von einem zum nächsten und erkundigte mich, was man damit machte. Die Namen sagten mir nichts, aber Dr. Riefert erklärte mir schmunzelnd die Funktionen einzelner Geräte. Die meisten davon fanden sich in jeder gut ausgestatteten Klinik: Vom Röntgengerät über Ultraschall, EKG und EEG, Computertomographie bis hin zu verschiedenen Instrumenten zur Untersuchung von Augen und Ohren gab es hier alles. Darüber hinaus fanden sich ein Lügendetektor, mehrere PCs mit modernen Zufallsgeneratoren sowie weitere Möglichkeiten zur Erforschung von Psi-Kräften. Besonders auf die letztgenannten Geräte schien der Mann stolz zu sein.

„Wie ich deinen Eltern heute Morgen schon sagte - wir haben hier das bestausgestattete Labor dieser Art in ganz Deutschland“, meinte er.

In diesem Moment betrat eine Frau den Raum. Sie hatte ebenfalls einen weißen Kittel an und lächelte mir etwas unsicher zu. Ich erkannte in ihr die Dame, der ich bei unserer ersten Begegnung die warmen Sachen angezogen hatte.

„Das ist Frau Santer“, stellte der Doktor sie vor. „Sie wird sich ab jetzt um dich kümmern, zusammen mit einem weiteren Kollegen. Die beiden werden hauptsächlich die Untersuchungen leiten. Wenn du mich also entschuldigen würdest - ich habe noch einige Dinge zu erledigen. Wir sehen uns heute Abend wieder.“

Damit verschwand er und ließ mich mit Frau Santer allein. Ich weiß nicht mehr genau, was sie alles mit mir angestellt hat. Es war ähnlich wie beim Kinderarzt, nur viel ausführlicher. Ich wurde geröntgt, gewogen, gemessen, bekam überall Saugnäpfe angebracht und noch einiges mehr. Zwischenzeitlich kam ein weiterer Mann dazu. Er stellte sich als Bernd vor und war mir gleich sympathisch. Allerdings nur, bis er versuchte, mir Blut abzunehmen. Ich hasste Blutabnehmen! Der Kinderarzt hatte es damals mit einem Trick geschafft, indem er mich abgelenkt hatte. Aber das war ihm nur ein einziges Mal gelungen. Danach war ich gewarnt und ließ solche miesen Sachen nicht mehr mit mir anstellen. Schon als Bernd deshalb mit der Spritze ankam und mir den Ärmel hochschob, wusste ich, was das werden sollte. Ich schüttelte vehement den Kopf.

„Nein, das will ich nicht!“

„Es ist aber nötig, tut auch gar nicht weh!“, versuchte Frau Santer ihr Glück. Sie war ein wenig nervös, weil sie ahnte, dass ich mich irgendwie wehren würde. Bernd hielt mich auf einem Stuhl fest, während seine Partnerin Anstalten machte, mir die fiese Nadel in den Arm zu schieben.

„Neeeiiin!“, brüllte ich diesmal energisch und erdachte eine Panzerung, an der sich die Spitze verbog. Triumphierend sah ich die verdutzten Leute an. Die hatten erst mal keine Lust mehr, mir Blut abzunehmen. Kopfschüttelnd trug Bernd die gekrümmte Tülle davon und legte sie sorgsam in einen kleinen Behälter. Danach gab es ein Spiel, das etwas mehr Spaß machte, zumindest am Anfang. Frau Santer erklärte es mir. Ich sollte herausfinden, welche Karte ihr Kollege sich auf seinem Bildschirm ansah und sie aus vier Bildern heraussuchen. Da meine Ansätze telepathischer Fähigkeiten damals noch völlig brachlagen, waren die beiden mit dem Ergebnis vermutlich nicht gerade zufrieden. Ich bekam Hunger, doch Bernd bestand darauf, ein weiteres Spiel zu machen. Dazu sollte ich die Augen schließen und immer auf den Körperteil von mir tippen, von dem ich meinte, dass er als Nächstes auf dem Bildschirm erscheinen würde. Erst war das lustig, doch dann verspürte ich plötzlich einen Pikser am linken Arm und riss die Augen auf. Da stand der freundliche Bernd, grinsend mein Körperteil haltend, während eine ebenfalls schmunzelnde Frau Santer mir Blut abnahm. So gemein waren die also! Ich war furchtbar wütend und wollte sofort zu meiner Mama. Aber natürlich war das nicht möglich. Wir besuchten stattdessen die kleine Kantine des Instituts für ein verspätetes Mittagessen, bei dem sich mein Groll wieder etwas legte. Allerdings wirklich nur ein bisschen. Ich mochte es hier nicht. Ich mochte diesen Doktor nicht, diese Frau Santer noch weniger. Bernd fand ich jetzt auch nicht mehr nett und der andere Mitarbeiter war ja leider fort, weil ich ihn vertrieben hatte. Obwohl ich es gewöhnt war, ab und zu lange im Kindergarten zu bleiben und meine Eltern dann erst am späten Nachmittag wiedersah, überfiel mich eine Welle von Heimweh.

„Ich will nach Hause!“, nörgelte ich deshalb, als wir vor meiner Zimmertür ankamen. Frau Santer sah mich etwas mitleidig an und schüttelte den Kopf.

„Aber das geht nicht, Simon“, sagte sie sanft. „Wir haben doch schon geklärt, dass du erst übermorgen zurück zu deinen Eltern kommst. Nur zweimal schlafen, danach siehst du Mama und Papa wieder. Versprochen!“

Ich schniefte leicht und ließ mich von ihr ins Zimmer schieben. Dann drehte ich mich hoffnungsvoll um.

„Darf ich sie wenigstens anrufen? Das geht doch, oder?“

Erneut schüttelte Frau Santer den Kopf.

„Tut mir leid, Kleiner, doch der Doktor hat gesagt, dass du diese zwei Tage lang überhaupt keinen Kontakt zu deinen Eltern haben sollst. Sonst werden die Ergebnisse verfälscht.“

„Aber wie ... aber – ich will aber anrufen!“, schrie ich und weinte jetzt wirklich. Wie der Blitz wollte ich an der Frau vorbei aus dem Zimmer laufen, um ein Telefon zu suchen, doch sie schob mir rasch die Tür vor der Nase zu und schloss ab. Anscheinend hatte sie Angst, dass ich ihr ansonsten irgendwas antun konnte in meiner Wut. Wenn ich an meinen Ausbruch vom Vormittag dachte, war ihre Sorge berechtigt. So rüttelte ich nur vergeblich an der Klinke, trommelte mit den Fäusten dagegen und kreischte: „Ihr seid alle so gemein! Na wartet, das werdet ihr noch bereuen!“

Aber die Frau auf der anderen Seite, die garantiert hinter der Tür stand, antwortete nicht. Bitterböse schlug ich ein letztes Mal gegen das Metall, dass es schepperte. Dann lief ich laut heulend zum Bett. In diesem Moment fühlte ich mich so hilflos und allein wie nie zuvor in meinem Leben. Alle hatten mich im Stich gelassen. Die Tränen kullerten in das weiße Kissen sowie auf Hugo, den ich zitternd vor Wut und Traurigkeit an mich gepresst hielt.

Natürlich war ich nicht einen Moment unbeobachtet geblieben. Keins der gewechselten Worte, keine Aktivität war meinen Peinigern entgangen. Alles wurde genau aufgezeichnet und am Bildschirm live verfolgt. Aber das ahnte ich zu dieser Zeit nicht. Die Möglichkeit versteckter Kameras und Mikros war mir noch nicht vertraut. Krimis durfte ich natürlich nicht anschauen, nur Kindersendungen, die meine Eltern für absolut harmlos hielten. Selbst manche Trickfilmserien befanden sie für zu brutal. Sie achteten sehr streng darauf, dass ich niemals Gewaltszenen zu sehen bekam. Vielleicht haltet ihr das für übertrieben, aber ihr steckt sicherlich nicht in der Haut meiner Eltern. Diese wollten bloß mich und sich davor bewahren, durch irgendwelche unbedacht nachgeahmten Handlungen verletzt oder getötet zu werden. Ich glaube, alle Eltern schützen ihre Kinder instinktiv vor gefährlichen Gegenständen oder lebensgefährlichen Aktionen. Bei mir bestand dieser Schutz hauptsächlich darin, mir die fraglichen Dinge gar nicht erst zu zeigen. Sinnvoll, wenn man bedenkt, worin meine Begabung besteht. Alles, was ich schon mal gesehen habe, kann ich erdenken. Und sofern ich weiß, wie es funktioniert, bin ich auch fähig, es zu benutzen. Ich war zwar damals noch keine fünf, konnte mir allerdings bereits eine ganze Menge vorstellen.

Auf meiner Liegestatt ersann ich Rachepläne - einer furchtbarer als der andere. Bernd sollte Kekskrümel im Bett vorfinden, Frau Santers Eis wollte ich mit Senf garnieren. Das hatte ich mal bei Papa gemacht und durfte dafür drei Tage lang keine Hörspiel-CDs hören. Als schlimmste aller Strafen überlegte ich, dem doofen Doktor Uhu ins Haar zu schmieren. Das hatte ich bei Jannis aus meiner Kindergartengruppe getan. Dieser hatte mich zuvor dermaßen geärgert, dass ich nicht anders konnte. Der Junge hatte geschrien und geweint, als der Flüssigkleber alles zugekleistert hatte, sich seine Haare nicht mehr kämmen ließen, ganz hart wurden und in unmöglichen Formationen abstanden. Es gab einen Riesenaufstand, weil niemand wusste, was da wie geschehen war. Jannis gab mir die Schuld, konnte es aber nicht beweisen. Die Erzieherinnen standen vor einem Rätsel, das sich nicht lösen ließ. Erst am Ende des Kindergartentages, kurz bevor Jannis abgeholt wurde, verschwand der Kleber auf wundersame Weise, sodass ihm seine Eltern die Geschichte nicht mal glauben wollten. Das war Rache pur! Zumindest in den Augen eines Viereinhalbjährigen.

Letztlich tat ich nichts von alledem. Nicht, weil ich plötzlich Skrupel bekommen hätte, sondern weil mir irgendwann noch eine viel schlimmere Strafe einfiel - ich würde ihnen einfach gar nichts zeigen, wenn sie irgendwelche Dinge von mir sehen wollten. Das war beschlossene Sache. Wer mich und meinen Dickkopf kennt, wird wissen, dass ich es auch durchhielt.

Sie ließen mich diesmal ziemlich lange in der kahlen Umgebung schmoren. Sensorische Deprivation nennt sich das, wie ich heute weiß. Aber nachdem ich mich wieder gefangen hatte, nutzte ich die Zeit, um zu spielen, mir mit meiner Freundin Tinkerbell einen Ball zuzuwerfen und Hugo beizubringen, Stöckchen zu apportieren. Der eintönige Raum sah für mich weder weiß noch langweilig aus, sondern wie das Zimmer eines kleinen Jungen - bunt, chaotisch, mit Spielzeug überall auf dem Boden, wo man drauftreten konnte. Wenn ich geahnt hätte, dass ich die ganze Zeit über beobachtet wurde, hätte ich sicherlich nicht so sorglos gespielt - und dem guten Doktor keine so großen Rätsel damit aufgegeben.

Erst spät am Nachmittag wurde ich wieder aus meinem Gefängnis befreit. Frau Santer kam, um mich abzuholen. Vorsichtig betrat sie den Raum. Da ich durch ihr Anklopfen diesmal vorbereitet war, hatte ich das Zimmer in seinen langweiligen Urzustand versetzt. Sie hätte sich also gar keine Mühe geben müssen. Trotzig starrte ich sie an und folgte ihr nur widerwillig. Bedauernd dachte ich dabei, dass es vermutlich überhaupt keinen Spaß machen würde - aber es war ja mein voller Ernst, das sollten sie auch merken! Die drei Erwachsenen, die bei den folgenden Tests anwesend waren, begriffen rasch, dass mit mir an diesem Abend kein Staat zu machen war. Ich weigerte mich, ihre blöden Spielchen mitzumachen, dachte mir nicht das kleinste bisschen aus. Die Ratespiele mit Karten, Bildern und Symbolen gingen mir ohnehin auf die Nerven und als Dr. Riefert von mir verlangte, einen Würfel schweben zu lassen, lachte ich bloß.

„Das geht gar nicht“, sagte ich nüchtern. „Der Würfel kann doch nicht schweben!“

Das war nicht mal gelogen. Schweben lassen kann ich nämlich nichts. Die Gesetze der Schwerkraft gelten für mich genauso wie für jeden anderen Menschen. Aber auch bei den weiteren Dingen, die der Doktor von mir wollte, stellte ich mich dumm. Schließlich verlor er die Geduld, schüttelte mich und schrie: „Du kleines Miststück, ich weiß genau, dass du dir Sachen ausdenken kannst, die gegenständlich werden, also tu es endlich!“ Meine Antwort bestand darin, ihm eine Hand voll Matsch ins Gesicht zu werfen - mitten in den offenen Mund. Er spuckte, hustete, würgte, wischte sich darüber (und gab dem Ganzen dadurch ein interessantes Muster) und rannte eilig zum Spiegel. Selbstverständlich sah er meinen gedachten Schlamm nicht, doch er spürte ihn genau. Keine Ahnung, ob das Zeug wirklich nach Matsche schmeckte, aber richtig gut schien es ihm nicht zu gefallen. Ich musste lachen. Endlich wurde es trotzdem lustig! Bevor Dr. Riefert sich jedoch darüber auslassen konnte oder wusste, wie ihm geschah, ließ ich den Dreck bereits wieder verschwinden und nichts blieb zurück. Seine Fragen danach, was das eben war und wie ich es gemacht hatte, beantwortete ich ebenso wenig. Stattdessen sagte ich: „Ich will jetzt mit meiner Mama sprechen, sonst spiel ich gar nicht mehr mit!“

Diesen Wunsch bekam ich nicht erfüllt, aber ich musste auch nichts weiter tun, da die Erwachsenen beschlossen hatten, dass ich ins Bett gehen sollte.

3.

 

In der Zwischenzeit waren meine Eltern keinesfalls untätig geblieben, auch wenn ich davon erst viel später erfuhr. Bereits auf dem Heimweg, der immerhin knappe zwei Stunden dauerte, kamen ihnen Bedenken wegen der Sache. Sie schienen langsam wie aus einer Narkose zu erwachen und zu sich zu kommen.

„Was haben wir uns bloß dabei gedacht?“, jammerte meine Mutter. „Wie konnten wir Simon nur ganz alleine bei diesen Leuten lassen! Er wird sich zu Tode ängstigen. Wir kennen diese Menschen nicht einmal!“

„Es sind Wissenschaftler“, sagte mein Vater. „Sie werden ihm schon nichts antun. Er amüsiert sich bestimmt prächtig.“

Er bemühte sich nach Kräften, es selbst zu glauben, doch er schaffte es nicht vollständig. Meine Mutter ließ sich auch nicht wirklich beruhigen. Eigentlich wollte sie gleich wieder umkehren. Aber schließlich siegte der Verstand über den Instinkt und die beiden fuhren erst mal nach Hause. Dort wählte mein Vater sofort die Nummer des Instituts. Er nannte seinen Namen und sein Anliegen. Die Frau am Ende der Leitung ließ ihn daraufhin warten. Nach endlosen Minuten in der Warteschleife meldete sie sich erneut und meinte: „Hören Sie bitte, Ihr Sohn befindet sich momentan mitten in einer wichtigen Untersuchung und darf auf keinen Fall gestört werden.“

„Wann kann ich denn mit ihm sprechen?“

Die Antwort ließ wieder lange auf sich warten. Dann sagte die Stimme: „Rufen Sie morgen früh ab acht Uhr noch mal an.“

„Was?“, explodierte mein Vater. „Hören Sie mir jetzt mal zu: Mein vierjähriger Sohn ist bei Ihnen. Ganz allein. Bei völlig Fremden. Meine Frau und ich würden ihm wenigstens gerne gute Nacht sagen, wenn schon niemand von uns bei ihm bleiben darf. Das verstehen Sie doch wohl!“

Die Frau am Ende der Leitung hörte sich bedauernd, aber resolut an.

„Ich kann Ihnen da leider nicht helfen. Doktor Riefert besteht darauf, dass Ihr Sohn keinen Kontakt zu seinen Bezugspersonen haben soll, bevor die Examination abgeschlossen ist. Das könnte die Ergebnisse verfälschen. Und das wollen Sie nicht, oder?“

Mein Vater verlangte, diesen Mann zu sprechen, doch auch da gab ihm die Dame einen Korb.

„Tut mir ebenfalls leid“, sagte sie, „aber er leitet die Untersuchungen und braucht dazu absolute Ruhe. Nach Feierabend nimmt er keine Kundengespräche mehr an. Versuchen Sie es lieber morgen noch mal. Auf Wiederhören.“

Damit legte sie auf. Mein Vater starrte auf das Telefon, als wäre es ein Ungeheuer, konnte nicht glauben, was er eben erlebt hatte. Er sah auf die Uhr - es war früher Nachmittag.

„Ich fahre zurück“, beschloss er, „und hole Simon wieder ab. Das ist mir jetzt wirklich zu dumm!“

„Wir fahren“, berichtigte ihn meine Mutter kämpferisch. „Du denkst nicht allen Ernstes, ich bleibe hier, um Däumchen zu drehen!“

Gesagt, getan. Sie betankten den Wagen und bewältigten die gesamte Strecke bis zum Institut ein weiteres Mal. Doch am Tor wurden sie nicht eingelassen. Der Empfang war nicht mehr besetzt, auf ihr Klingeln reagierte niemand. Mittlerweile war es kurz nach fünf Uhr. Auch der Versuch, übers Handy die Institutsnummer anzurufen, scheiterte. Es meldete sich nur eine Bandansage, die sie darüber informierte, dass sie außerhalb der Sprechzeiten anriefen.

„Die machen hier echt früh Feierabend!“, stöhnte mein Papa, der sich für den Tag extra frei genommen hatte. Er ballte die Fäuste in ohnmächtiger Wut, während meine Mutter die Hände vors Gesicht schlug. Sie machte sich heftige Vorwürfe. Beide konnten es nicht fassen, dass man sie so behandelte.

„Wir müssen doch irgendwas tun können!“, rief meine Ma. „Ich will jetzt nicht ohne Simon wieder fahren.“

Mein Vater zögerte. Immerhin hatten sie nichts Greifbares in der Hand und keinen Grund, sich wirklich Sorgen zu machen. Es war ja schließlich so vereinbart, dass ihr Sohn dablieb. Das hatte er sogar schriftlich. Mit zitternden Händen holte er das Stück Papier aus der Jackentasche. Er überflog den Vertrag und blieb am Kleingedruckten hängen. Dort stand in einem Absatz:

Hiermit erkläre(n) ich / wir uns damit einverstanden, dass die Beschäftigten des Instituts (...) während des Aufenthaltes in einer der Einrichtungen alle notwendigen Maßnahmen im Rahmen der Untersuchungen ergreifen dürfen, die der Aufdeckung, Klärung und Erforschung von paranormalen Fähigkeiten dienen, sofern diese Maßnahmen dem Probanden keinen gesundheitlichen Schaden zufügen (...).

Weiter unten hieß es zudem:

 ... Ich / wir verzichte(n) auf jegliche Regressansprüche gegenüber der oben genannten Institution und nehmen zur Kenntnis, dass die Untersuchung auf paranormale Fähigkeiten immer auf eigenes Risiko geschieht. Bei Minderjährigen geben die Erziehungsberechtigten mit der Unterschrift des Vertrags automatisch ihr Einverständnis dazu.

Was ihm am Morgen so einleuchtend und verständlich vorgekommen war, erschien ihm nun eher verdächtig, fast schon kriminell.

„Was haben wir uns nur dabei gedacht?“, murmelte er ungläubig den Kopf schüttelnd.

„Was meinst du?“, fragte meine Ma verwundert.

„Ich meine, dass wir absolute Volltrottel waren. Das hier bedeutet nämlich, dass wir zugestimmt haben, dass diese Leute mit Simon im Grunde machen können was sie wollen, solange er sich in ihrem Gebäude aufhält. Verstehst du? Da steht nur, dass sie ihm keinen wirklichen Schaden zufügen dürfen. Aber weißt du, was die untersuchen und wie diese ominösen Tests aussehen? Sie könnten sonst was mit unserem Sohn anstellen - und wir haben allem zugestimmt!“

Die letzten Worte schrie er fast und knüllte das Dokument dabei in der Faust.

Jetzt packte meine Mutter ebenfalls das nackte Entsetzen.

„Das wäre ja ... das ... oh nein! Das können die doch nicht einfach machen! Das ist doch garantiert nicht erlaubt, so was in einen Vertrag reinzuschreiben. Als Kleingedrucktes auch noch!“

Schweren Herzens fuhren sie schließlich unverrichteter Dinge wieder nach Hause und versuchten dabei, sich gegenseitig Mut zu machen. Alles würde sich morgen aufklären, bestimmt.

 

*

 

Der zweite Tag im Institut begann ziemlich früh. Ich wurde unsanft aus dem Bett geworfen, als Bernd in den Raum stürmte. Er hatte es sehr eilig. „Hallo Simon, du musst sofort aufstehen!“, sagte er hastig, während er bereits anfing, meine verstreuten Anziehsachen einzusammeln und in die Tasche zu stopfen.

„Warum denn?“, fragte ich verschlafen.

„Wir machen einen Ausflug zu einem anderen Labor. Dort wollen dich zwei weitere Wissenschaftler kennenlernen.“

„Ok. Aber wieso müssen wir so früh losfahren?“

Ich war immer noch reichlich verwirrt.

„Wir sind für eine bestimmte Zeit verabredet und dürfen nicht zu spät kommen“, sagte Bernd. Mittlerweile hatte er alle meine Sachen eingepackt und mir geholfen, mich anzuziehen. Normalerweise mochte ich so was nicht, aber im Augenblick war ich viel zu müde und zu irritiert, um mich gegen diese Kleinkind-Behandlung zu wehren.

„Komm mit!“, drängte der Mann, der sich meine Reisetasche umgehängt hatte und zog an meiner Hand. Ich schnappte mir schnell noch Hugo und ließ mich schlaftrunken zum Aufzug ziehen. Als wir ausstiegen, roch es nach Benzin. Dr. Riefert erwartete uns am Ausgang, der direkt in eine Tiefgarage führte.

„So, Kleiner“, begrüßte er mich. „Bereit für dein neues Abenteuer? Wir müssen uns jetzt verabschieden, aber ich glaube, das fällt dir nicht allzu schwer.“

„Komme ich denn nicht wieder hierher zurück?“, fragte ich verwundert. Ich hatte mir zuvor nichts dabei gedacht, nun jedoch fiel mir auch die Tatsache auf, dass Bernd alle meine Sachen eingepackt hatte. Der Doktor schüttelte den Kopf.

„Nein, die Untersuchung im zweiten Labor dauern zu lange. Das lohnt sich nicht.“

„Aber Mama und Papa wollten mich doch morgen hier abholen!“, rief ich erschrocken.

„Deine Eltern wissen Bescheid. Die kommen dann dorthin“, sagte er beruhigend.

„Bestimmt?“, fragte ich misstrauisch. „Davon habt ihr vorher überhaupt nichts gesagt!“

„Wir haben ja jetzt erst festgestellt, dass wir weitere Untersuchungen brauchen. Das konnten wir gestern früh noch gar nicht absehen. Deshalb haben wir vorhin deine Eltern angerufen und es ihnen mitgeteilt. Sie holen dich morgen Nachmittag bei unserem zweiten Labor ab.“

„Wo ist denn dieses Labor?“, wollte ich wissen.

„Weit außerhalb der Stadt“, sagte Bernd. „Wir müssen ein paar Stunden mit dem Auto fahren. Komm jetzt, es geht los!“

Nur zögerlich stieg ich in den Van. Etwas in mir sträubte sich dagegen, als ahnte ich bereits, dass die Reise viel länger dauern würde, als diese Menschen mir weismachen wollten.

 

*

 

„Was soll das heißen - er ist nicht mehr hier?“, brüllte mein Vater entsetzt. Er starrte den Mitarbeiter des Instituts fassungslos an, der ihm soeben die gleiche Geschichte erzählt hatte wie Bernd mir einige Zeit zuvor. Meine Eltern saßen seit Punkt acht Uhr im Empfangsbereich, um mich abzuholen. Aber in den vergangenen zwei Stunden hatte ihnen niemand sagen können, wo ich mich befand. Und nun das! Die Nachricht von meiner ‚Verlegung‘ schlug dem Fass den Boden aus. Vor allem meine Mutter schien einem Zusammenbruch nah, obwohl der Angestellte sich nach Kräften bemühte, sie zu beruhigen. Mein Vater atmete dreimal tief durch, bevor er den Mann wieder ansah.

„Und was schlagen Sie vor, sollen wir jetzt tun? Wir wollen unsern Sohn wiederhaben, und zwar sofort!“

Sein Gesprächspartner, der immer mehr einem nervlichen Wrack glich, schluckte schwer.

„Am besten rufen wir erst mal Frau Doktor Richter an, die Institutsleiterin. Das hätten wir gleich machen müssen.“

Keine fünf Minuten später saßen meine blassen Eltern in einem geschmackvoll eingerichteten Büro gegenüber einer rigide wirkenden Frau. Sie hörte mit steinerner Miene zuerst den gestammelten Bericht ihres Institutsmitarbeiters und danach die ergänzenden Erklärungen ihrer Besucher an. Als diese geendet hatten, nahm sie wortlos den Telefonhörer und wählte eine kurze Nummer. „Richter. Hallo, Herr Salomo, könnten Sie mir bitte Dr. Riefert aus Abteilung C geben?“

Die Antwort schien die Frau nicht sonderlich zu erfreuen. „Dann holen Sie ihn, woher auch immer. Es ist sehr wichtig. Ach, kontaktieren Sie freundlicherweise auch Frau Santer. Ich würde sie ebenfalls gerne umgehend in meinem Büro sehen. Danke!“

Frau Richter sah meine Eltern an. Ihr Blick war schwer zu deuten, aber es lag eine ungeheure Härte darin.

„Wenn es stimmt, was Sie mir erzählen - und es scheint mir fast so - dann geschehen hier ungeheuerliche Dinge. Es ist tragisch, dass Sie die Leidtragenden dabei sind ...“

Sie sagte noch einiges mehr, aber keiner meiner Erziehungsberechtigten konnte sich später genau daran erinnern. Sie erzählten mir bloß, dass es ihnen unheimlich schwergefallen sei, zu warten, und dass sie am liebsten direkt zur Polizei gegangen wären. Natürlich verstanden sie, dass das Institut zunächst alle Möglichkeiten ausschöpfen wollte, um diese Angelegenheit intern zu regeln. Die Leiterin schien sehr kooperativ und beteuerte, in keiner Weise Kenntnis von den Vorgängen gehabt zu haben. Aber während meine Eltern ihre kostbare Zeit mit sinnloser Warterei vergeudeten, entfernte ihr Kind sich immer weiter von ihnen.

 

*

 

Die Fahrt dauerte endlos. Normalerweise hätte ich mir die Zeit mit selbst erdachten Spielen und Spielzeugen vertrieben. Aber ich hatte mir ja vorgenommen, mir in Gegenwart dieser Leute nichts auszudenken. Also ließ ich es bleiben. Den einzigen Luxus, den ich mir erlaubte, war ein gedachter Lolli.

Die Straßen wurden immer schlechter, bis wir schließlich in einen Feldweg einbogen, der uns kräftig durchschüttelte. Als wir anhielten, war es sicherlich bereits Mittag. Wir befanden uns auf einer Art Rastplatz mitten im Wald. Es war still und friedlich, jedoch sah ich weit und breit weder ein Haus noch eine Menschenseele. Hier sollte ein Labor sein? Bernd beantwortete meine Frage danach nicht. Er telefonierte. Dann sah er auf die Uhr und meinte: „Wir haben zwanzig Minuten Zeit, bis unsere Verabredung kommt. Sie bringen dich bis zum Ziel.“

„Warum fährst du mich nicht dorthin?“, fragte ich.

„Weil ich andere Sachen zu tun habe und der Weg bis dahin zu weit ist“, gab er kurz angebunden zurück. Ich stöhnte. Noch weiter fahren!

„Wie weit ist es denn noch?“, jammerte ich, während Bernd mich aus meinem Sitz befreite.

„Ein ganzes Stück“, antwortete er bedauernd, wobei er Zuversicht und Ehrlichkeit ausstrahlte. Aber mir wurde die Sache langsam immer unheimlicher. Ich dachte an seine List mit dem Blutabnehmen. Plötzlich befiel mich eine unerklärliche Angst.

„Ich möchte zurück!“, forderte ich. „Nimm mich bitte wieder mit, ich will nicht in dieses Labor!“

Ich blickte den Mann vor mir flehentlich an. In seinen Augen entdeckte ich Mitleid und dachte, dass er tatsächlich darüber nachdachte, meinem Wunsch nachzukommen. Aber dann schüttelte er den Kopf.

„Das geht leider nicht. Doktor Riefert wäre sehr böse auf mich, wenn er erfahren müsste, dass ich dich nicht wie geplant abgegeben habe. Und die Wissenschaftler, die dich untersuchen wollen, wären total enttäuscht. Sie freuen sich schon darauf, dich kennenzulernen. Möchtest du, dass sie enttäuscht sind?“

Mir war völlig egal, was diese Leute von mir dachten. Ich wollte eigentlich nur nach Hause.

 

*

 

Meine Eltern verbrachten die nächsten zwei Stunden damit, sich mit der Leiterin des Instituts zu unterhalten und Kaffee zu trinken. Die äußerst clever wirkende Professorin mit insgesamt zwei Doktortiteln schien sich sehr für mich zu interessieren. Sie stellte viele Fragen, durch die sich meine Eltern geschmeichelt fühlten. Natürlich vergaßen sie keinen Augenblick, weswegen sie hier waren. Endlich kam der Mann, mit dem sie bereits vergangene Woche Bekanntschaft geschlossen hatten. Er schüttelte ihnen strahlend die Hand, als wäre alles in bester Ordnung.

„Wir haben Sie eigentlich erst morgen erwartet“, stellte er dabei unbekümmert fest. „Was führt Sie jetzt schon her?“

„Wir möchten unseren Sohn abholen“, erwiderte mein Vater eisig. „Sie haben uns dabei bemerkenswert viele Hindernisse in den Weg gelegt. Also, wo befindet er sich?“

„Ihr Sprössling ist ein wahres Wunder. Er gibt uns weiterhin eine Menge Rätsel auf, von denen wir bisher offen gestanden nur wenige lösen konnten. Bitte verzeihen Sie mir, dass Sie so lange auf mich warten mussten, doch der Weg von unserem Zweitlabor bis hierher nahm viel Zeit in Anspruch. Simon befindet sich seit einigen Stunden dort. Als Sie hier ankamen, haben Sie ihn vermutlich knapp verpasst.“

„Ihr Mitarbeiter hat uns bereits gesagt, dass er nicht mehr hier im Haus ist“, knurrte mein Vater. „Aber das bedeutet nicht, dass wir damit einverstanden sind, dass er die Einrichtung verlassen hat. Wer gibt Ihnen das Recht, unser Kind ohne unser Wissen irgendwohin zu bringen? Und überhaupt - warum durften wir ihn gestern nicht mal anrufen, um mit ihm zu sprechen? Das hat uns vorher niemand gesagt! Wir hätten niemals zugestimmt, dass Sie Simon untersuchen, wenn wir das alles von Anfang an gewusst hätten! Er ist noch viel zu klein ...“

„Geht es ihm gut?“, unterbrach ihn meine Mutter.

„Selbstverständlich ist er wohlauf“, strahlte Dr. Riefert. An meinen Vater gewandt fügte er hinzu: „Sie haben recht, an Ihrer Stelle würde ich genauso reagieren. Ich muss mich für diesen Mangel an Information entschuldigen. Wir hatten einfach nicht bedacht, wie stark die Gabe Ihres Sohnes ist. Dafür waren unsere Messinstrumente hier im Labor nicht ausgerichtet. Simon hat zwei Psiometer kaputtgemacht, etwas das vor ihm noch nie einem Probanden gelungen ist. Ein weiteres haben wir hier nicht. Unser Personal fühlte sich zudem durch die Anwesenheit eines mit derartigen Kräften ausgestatteten Kindes bedroht. Ein Mitarbeiter, der den Jungen in seinem Zimmer besuchen wollte, berichtete, dass ihm unsichtbare, scharfkantige Gegenstände an den Kopf geworfen wurden. Sie können ihn gern sprechen, wenn Sie mir nicht glauben. Ihr Sohn verhielt sich phasenweise sehr störrisch bei den Untersuchungen, sodass unsere Wissenschaftler sich teilweise weigerten, weiter mit ihm zu arbeiten. Deshalb haben wir gestern Nacht beschlossen, ihn aus Sicherheitsgründen in das abgelegene, besser ausgestattete Zweitlabor des Instituts zu bringen. Nur noch einer meiner Mitarbeiter, der sehr zuverlässig ist und sich freiwillig dafür gemeldet hat, ist außer mir für Simon zuständig, sodass der Rest des Personals davon nicht mehr betroffen ist. Natürlich habe ich gleich heute früh versucht, Sie telefonisch zu erreichen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie sich bereits auf dem Weg hierher befanden.“

„Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, dass ein vierjähriger Knirps Ihnen auf der Nase herumgetanzt ist und dass Sie ihn deshalb irgendwohin abgeschoben haben, wo er keinen Schaden mehr anrichten kann? Das ist wirklich der Gipfel! Simon tut keiner Fliege was zuleide!“

Mein Vater war schon wieder auf hundertachtzig.

„Nun, bei Ihnen verhält er sich sicherlich friedlich, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass Sie noch nie unter seinen Launen gelitten haben“, meinte der Doc listig. „Aber an einem fremden Ort mit lauter unbekannten Personen - wer weiß da schon, was in so einem kleinen, fantasiebegabten Kinderhirn alles vorgeht? Vielleicht fühlte er sich von meinen Mitarbeitern oder von mir bedroht? Eventuell passte es ihm einfach nicht in den Kram. Diese Untersuchungen sind ja mitunter lästig und anstrengend, selbst für Erwachsene ...“

„Was haben Sie denn bloß mit ihm angestellt?“, jammerte meine Ma. „Er ist noch so klein. Sie können ihm doch nicht die gleichen Tests zumuten, wie einem Erwachsenen!“

Die Institutsleiterin, die bis jetzt geschwiegen hatte, schaltete sich ein: „Nun beruhigen Sie sich erst mal wieder. Das führt doch zu nichts! Doktor Riefert hat sicherlich nach bestem Wissen und Gewissen im Interesse des Instituts gehandelt, als er den Ortswechsel anordnete. Er hatte schließlich die Verantwortung sowohl für Ihren Sohn als auch für seine Mitarbeiter. Ist es nicht so, Doktor?“

Der Mann nickte eifrig. „Sehen Sie, Frau Dr. Richter sieht es genauso! Es war zum Wohle aller. Und Ihrem Nachwuchs geht es ja blendend. Davon können Sie sich gleich morgen selbst überzeugen.“

„Morgen erst? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Wir nehmen Simon heute mit. Und wenn ich ihn persönlich bei ihrem Zweitlabor irgendwo in der Pampa abholen muss. Ich hoffe, ich habe mich deutlich ausgedrückt!“

Mein Pa bemühte sich darum, nicht wieder zu schreien, aber er war kurz davor, aufzuspringen und den Raum zu verlassen. Die beiden Institutsangehörigen schienen das zu spüren. Sie sahen sich rasch an, dann befahl die Leiterin: „Sie haben den Vater des Jungen gehört, Doktor. Die Eltern möchten, dass Simon mit nach Hause kommt. Also brechen Sie die Versuchsreihe bitte sofort ab und senden Sie ihn hierher zurück, und zwar umgehend.“

Ihr Tonfall dabei war äußerst hart. Der Wissenschaftler zuckte leicht zusammen. Er schien widersprechen zu wollen, besann sich jedoch mit Blick auf meine bereits reichlich aufgeheizten Eltern sowie seine eiskalte Chefin eines Besseren und eilte wortlos hinaus. Diese seufzte, indem sie sich mit sehr viel mehr Wärme und Anteilnahme in den Augen an ihre übrigen Gäste wandte, die schon seit Stunden das Büro blockierten und sie von wichtigen Arbeiten abhielten.

„Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie so viel erdulden müssen“, sagte sie. „Das lag sicherlich nicht in unserer Absicht, auch nicht in der des Doktors. Selbst wenn er im Sinne des Instituts gedacht hat, war sein Handeln dennoch zu eigenmächtig und bestimmt nicht in meinem Sinne. Zudem widerspricht es sowohl unserer Philosophie als auch der gängigen Praxis, solche Tests an Minderjährigen durchzuführen, auch wenn Sie sich als Erziehungsberechtigte damit einverstanden erklärt haben. Möchten Sie eine Kleinigkeit essen? Wir haben eine recht brauchbare Kantine ...“

Nach dem späten Mittagessen dauerte es noch fast drei Stunden, bis meine Eltern wieder zu Doktor Richter ins Büro gerufen wurden. Mittlerweile war es kurz nach 17 Uhr, das Institut schien wie ausgestorben.

„Ah, Gott sei Dank, dass Sie noch da sind!“, empfing sie die besorgt wirkende Frau hinter dem großen Schreibtisch.

„Wo ist Simon?“, rief meine Mutter. „Ist etwas passiert?“

„Ich denke nicht, dass ihm etwas zugestoßen ist. Leider ist er jedoch auch nicht hier angekommen“, sagte die Institutsleiterin. „Wir versuchen seit geraumer Zeit, Doktor Rieferts Assistenten zu erreichen, der den Jungen begleiten sollte, doch es geht niemand ans Handy. Der Doktor hat mir berichtet, dass er sofort nach unserem Gespräch veranlasst hat, dass Simon zum Hauptinstitut zurückgefahren wird. Diese Anweisungen wurden von seinem Mitarbeiter bestätigt. Als er jedoch gut zwei Stunden später wieder anrief, um zu erfahren, wo der Junge bleibt, bekam er keinen Kontakt. Im Labor befand sich auch niemand mehr. Wir vermuten, dass das Transportfahrzeug irgendwo festhängt, wo kein Handyempfang besteht.“

„Bitte erklären Sie uns den Weg, den der Wagen nehmen sollte, dann fahren wir sofort los und suchen Simon!“, bat mein Vater aufgeregt.

„Nicht nötig“, wehrte die Institutsleiterin ab. „Dr. Riefert ist bereits auf dem Weg. Er fährt die Strecke häufig und kennt sich in der Gegend aus. Für Sie und mich wäre es wahrlich leicht, sich in diesem ländlichen Gebiet zu verfahren. Vor allem, weil ich Ihnen keine genaue Adresse nennen könnte. Das Labor liegt sehr abgelegen und einsam. Es hat sogar einen eigenen Stromgenerator und ist nicht ans öffentliche Netz angeschlossen.“

„Warum haben Sie uns nicht direkt informiert? Wir wären doch hinterhergefahren!“, rief meine Mutter aufgebracht.

„Ich wollte Sie nicht unnötig beunruhigen. Doch nun sieht es so aus, als würde Dr. Riefert den Wagen nicht finden. Eben rief er an und berichtete, er habe bereits über die Hälfte der Strecke zurückgelegt und noch immer keinen Kontakt zu seinem Mitarbeiter.“

Mein Papa, der langsam komplett die Kontrolle zu verlieren drohte, konstatierte tonlos: „Mir reicht’s. Ich mache jetzt das, was ich schon längst hätte tun sollen - ich gehe zur Polizei! Kommst du, Schatz?“

Die Inhaberin des Büros nickte. Sie wählte eine Nummer und reichte meinem perplexen Vater das Telefon.

„Das wollte ich gerade vorschlagen. Wenn Sie möchten, dürfen Sie gerne zuerst mit den Beamten sprechen. Nur zu!“

In dem Moment als ein Streifenwagen vor dem Haupteingang vorfuhr, klingelte Doktor Richters Handy. Meine Eltern, die neben ihr in der Eingangshalle standen, hörten gespannt zu.

„Hallo? Ah, Dr. Riefert, gut dass Sie dran sind ... Oh nein! Genau, wie wir dachten. Das ist schlimm ... Die Polizei ist zum Glück schon hier.“

Zwei Uniformierte waren inzwischen eingetreten und begrüßten die Anwesenden. Die Institutsleiterin erklärte ihnen rasch, wer am Apparat war und was er mit dem Fall zu tun hatte. Natürlich wollte einer der Beamten den Mann sofort sprechen. Der zweite Polizist stellte meinen Eltern inzwischen viele Fragen über mich. Name, Aussehen, unverwechselbare Kennzeichen. Sogar Hugo wurde auf einem Zettel notiert.

„Wir tun alles, was wir können“, versicherte ihr Gesprächspartner. Bevor sie jedoch dazu kamen, sich über das Institut und dessen Handlungsweise zu beschweren, gesellte sich Professor Richter bereits zu ihnen.

„Dr. Riefert ist jetzt beim Zweitlabor“, berichtete sie. „Weder auf dem Weg noch beim Labor gibt es die geringste Spur von Simon oder seinem Begleiter. Niemand weiß etwas über ihren Verbleib. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt.“

Erst jetzt fing meine Mama an zu weinen. Sie bekam einen richtigen Nervenzusammenbruch, schluchzte und begann sogar zu hyperventilieren. Der Beamte, dem sie soeben ein Interview gegeben hatte, begleitete sie und meinen Vater nach draußen, wo sie sich beruhigen sollte. Sobald sie außer Hörweite waren, erholte sich meine Mutter auf wundersame Weise. Meine Eltern berichteten dem Polizisten alles. Der Mann bekam immer größere Augen.

„Das sind ja tolle Neuigkeiten. Vielen Dank für Ihre Offenheit. Meine Kollegen werden sich dieses Institut, insbesondere Abteilung C, mal genauer anschauen. Was Sie erlebt haben, klingt zumindest merkwürdig. Haben Sie den Vertrag zufällig dabei, den Sie unterschrieben haben?“

Mein Vater zeigte ihm das Papier. Der Beamte pfiff nach dem Lesen anerkennend. „Ich bin zwar kein Jurist, aber dieser Text unterstreicht Ihre Aussage in meinen Augen noch mal kräftig. Darf ich mir eine Kopie davon machen?“

4.

 

Wir fuhren in raschem Tempo, Stunde um Stunde. Erst hatte ich versucht, von den beiden Erwachsenen vor mir etwas über unser Ziel zu erfahren, aber es war vergeblich. Der Mann am Steuer wirkte groß, stark, grimmig und unfreundlich. Die schlanke, recht zierliche Frau neben ihm sah jedoch auf eine eigentümliche Art sogar noch mehr zum Fürchten aus. Ihr Gesicht war eigentlich nicht hässlich, doch ihre Augen blickten mich so kalt an, dass ich eine Gänsehaut bekam.

Wir hielten nur einmal kurz an, um etwas zu essen. Der Mann drängte sofort danach wieder zum Aufbruch. Er gefiel mir immer weniger. Wenn die beiden Erwachsenen sich unterhielten, benutzten sie eine seltsame Sprache. Solche Laute hatte ich noch nie gehört. Ich verstand kein Wort, doch es interessierte mich ohnehin nicht, was sie sagten. Ich befand mich auf dem Rücksitz des Wagens in einer anderen Welt, nämlich in der von Winnie Puuh. Dieser Knuddelbär mit seinen Stofftierfreunden hatte es mir angetan. Besonders I-Aah fand ich klasse. Ich ließ ihn auf meinem Schoß herumlaufen und neben mir auf dem freien Sitz. Dabei verlor er ständig seinen Schwanz und Tigger sprang hinter ihm her, um das Teil mit der Nadel wieder anzustecken. Das Spiel nahm mich derart gefangen, dass ich gar nicht merkte, wie viel Zeit verging. Erst als wir anhielten und die beiden Erwachsenen ausstiegen, kam ich in die reale Welt zurück. Erschrocken bemerke ich, dass es draußen bereits stockdunkel war. Wütend klopfte ich an die Scheibe, bis mir jemand öffnete. Es war der grimmige Mann.

„Mach nicht so ein Theater und steig aus!“, knurrte er. Aber ich war furchtbar sauer.

„Ich will sofort zu Mama und Papa!“, forderte ich lautstark. „Ihr habt versprochen, dass ich abgeholt werde. Und jetzt ist es schon abends. Ich will keine Tests mehr machen!“

Der Mann lachte glucksend. „Du bist lustig“, sagte er und rief etwas in der komischen Sprache. Die Frau lachte nicht, nahm meine Hand und führte mich zu einem imposanten, alt aussehenden Haus, das scheinbar mitten im Wald lag. Jedenfalls befanden sich ringsherum hohe Bäume, deren tiefe Schatten in der Dunkelheit bedrohlich wirkten.

„Wo bin ich hier?“, fragte ich eingeschüchtert. „Und wo sind Mama und Papa? Warten sie drinnen auf mich?“

Die Frau antwortete nicht, griff lediglich meine Hand fester und zog mich zur Eingangstür. Auf ihr Schellen hin wurde die Tür geöffnet. Die Person sah aus wie eine Köchin. Sie hatte eine Schürze umgebunden und ein Häubchen auf dem Kopf. Meine Begleiterin sagte etwas zu ihr in der fremden Sprache, während das Mädchen ihr den Pelzmantel abnahm. Sie zog mir auch meine Jacke aus und nahm die Sachen mit sich. Wir gingen durch einen langen schmalen Flur und eine dunkle steile Treppe hoch. Dann durch einen weiteren beengten Gang mit mehreren Türen. Vor der letzten blieb sie stehen, öffnete sie. Dahinter lag ein kleiner Raum mit weiß getünchten Wänden.

„Das ist dein Zimmer“, sagte die Frau. „Hier schläfst du.“

„Schlafen? Aber ...“