Der Fantast und das Apokryptikum - Michaela Göhr - E-Book

Der Fantast und das Apokryptikum E-Book

Michaela Göhr

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Beschreibung

Stell dir vor ...
Wo du dein Herz verschenkst,
bist du trotz aller Macht verwundbar.
In dieser Schwäche liegt
deine größte Stärke.

Simon kann sein Glück gar nicht fassen: Endlich wird er Vater! Kaum ist seine Tochter auf der Welt, muss er alles daransetzen, um seine Familie zu schützen. Nach und nach wird offenbar, dass die kleine Annie Teil eines schicksalhaften Planes ist. Sie gerät ins Kreuzfeuer jenseitiger Mächte, die erbittert um die Vorherrschaft über die Menschheit kämpfen. Die Rollen in diesem perfiden Spiel scheinen unwiderruflich festgelegt. Der Fantast begehrt auf, um sein Kind vor einem grausamen Schicksal bewahren. Ein verzweifeltes Ringen gegen das Unvermeidliche beginnt.

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Zur Autorin
Impressum
...
Augenblicke
Teil 1
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
Teil 2
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
Teil 3
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
Epilog
Noch mehr Fantastisches ...
FANTASTische Abenteuer für Kids ab 9 Jahren!
Andersträumer

 

 

 

Michaela Göhr

 

Der Fantast und das Apokryptikum

 

Band 4

 

Urban-Fantasy-Roman

 

Zur Autorin

 

1972 geboren und aufgewachsen in einer sauerländischen Kleinstadt studierte sie nach dem Abitur Sonderpädagogik, arbeitet seit vielen Jahren an einer Förderschule Sehen und lebt mit Mann und Kind gegenüber ihres Elternhauses. Mit dem Schreiben begann sie bereits in der Kindheit, drückte ihre Gedanken zunächst in Geschichten, Gedichten und Liedern aus. Die Leidenschaft, Romane zu verfassen, entdeckte sie erst im Herbst 2014. Seitdem schreibt sie Urban-Fantasy für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

 

Dank

 

Ich danke Elisabeth Marienhagen und allen Menschen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Außerdem bedanke ich mich bei Kathrin Franke-Mois von Coverdesign Epic Moon für die schöne Neugestaltung des Umschlags.

 

 

Die Reihe umfasst folgende Bände:

 

Der Fantast (Band 1) Der Fantast und das Erbe der Ra (Band 2) Der Fantast und die Macht der Gedanken (Band 3) Der Fantast und das Apokryptikum (Band 4) Der Fantast und die letzten Visionen (Band 5)

 

Alle Bände sind sowohl als Taschenbuch als auch als eBook erhältlich.

 

 

Sämtliche Charaktere in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind daher rein zufällig.

Impressum

 

Text: © Copyright by Michaela Göhr Birkenweg 24, 58553 [email protected]://derfantast.jimdofree.comhttps://www.facebook.com/derfantast24/

 

Umschlag: © Gestaltung von Coverdesing Epic Moonhttps://www.facebook.com/EpicMoonCoverdesign/ Bilder: Erik Bjerkesjö, Pixabay

 

Erstausgabe April 2017

2. Auflage Januar 2019

3. Auflage Mai 2021

 

 

 

 

 

...

 

Der Moment, in dem man sich abwendet, um eine neue Richtung einzuschlagen, beinhaltet immer einen Zwiespalt. Selten erkennen wir ihn so deutlich wie im Angesicht des Unabwendbaren.

 

Timo

 

Augenblicke

 

Durch die Augen meines Freundes habe ich nie auch nur den kleinsten Lichtstrahl gesehen. Und doch nahm ich alles um mich herum stets so deutlich wahr, als hätte ich es getan. Denn seine Erinnerungen an die bekannte Umgebung waren so gegenwärtig, dass sie mich einhüllten wie ein schützender Mantel. Es waren meine eigenen Seheindrücke, die sich darin spiegelten.

So viele Jahre ist dies nun schon her. Dennoch kommt es mir so vor, als sei er erst gestern durch die vertraute Tür geschritten, ohne sich noch einmal umzudrehen. Und mein Schmerz darüber ist gerade wieder so intensiv, dass diese alten Wunden aufbrechen, als hätten sie nie aufgehört zu bluten. Aber ich muss ihn zum Glück nicht mehr länger ertragen, wie so viele weitere schwere Dinge, die auf mir lasten. Denn ich habe beschlossen, Timo zu folgen - ihm und all den anderen geliebten Menschen, die ich im Laufe dieser langen Zeit loslassen musste. Nur noch wenige Augenblicke trennen mich von meiner eigentlichen Heimat, die mir vertraut ist, obwohl ich sie bisher kaum betreten durfte.

Dies sind meine letzten Momente auf Erden. Sie sind schmerzvoll und wehmütig, denn natürlich lasse ich geliebte Menschen zurück, so wie ich viel zu oft zurückbleiben musste. Aber so ist nun mal der Lauf der Dinge. Ich habe mich entschieden zu gehen, und sie respektieren meinen Entschluss.

Ich sage euch das an dieser Stelle, damit ihr wisst, dass es das letzte Buch von mir ist, das ihr in Händen haltet.

Mein ganzes Leben. Und Zoeys.

Unser Leben.

Nicht mehr und nicht weniger.

Aber ich hoffe, es ist genug.

 

Teil 1

 

Ankunft

und Bedrohung

 

1.

 

Es kommt!!!

Dieser mentale Ruf, verbunden mit einem merkwürdigen Ziehen im Unterbauch brachte mich dazu, meine Reisegeschwindigkeit bis zum absoluten Maximum zu beschleunigen. Unter Missachtung auftretender G-Kräfte und diverser Luftverkehrsregeln donnerte ich nahezu lautlos quer durch den Feierabendverkehr der Heli-Pendler. Es gelang mir, sämtliche Fluggeräte elegant zu umrunden, die wie geordnete Zugvogelschwärme über dem Ballungsgebiet schwirrten. Höher zu gehen machte wenig Sinn, denn dann wurde ich erst recht verfolgt und riskierte empfindliche Bußgelder.

Wie ich die Zeiten zurücksehnte, wo der Himmel noch mir allein gehört hatte! Das Schlimmste, was ehedem passieren konnte, war der Abschuss feindlicher Abwehrraketen auf mein ‚unbekanntes Flugobjekt‘. Heutzutage gestaltete sich die unauffällige Fortbewegung wesentlich schwieriger. Mein gedachtes Mittel dazu glich rein äußerlich den gängigen Modellen, sofern die Konzentration ausreichte.

Momentan verschwendete ich allerdings keinen Gedanken daran, den übrigen Verkehrsteilnehmern zu suggerieren, in einem hubschrauberartigen Gefährt zu sitzen. Deshalb erntete ich viel mehr erstaunte Blicke als sonst. Eine Flugverkehrskontrolle hatte ich bereits passiert und war mir sicher, demnächst ein Bild von mir und einen passenden Artikel mit aberwitzigen Geschwindigkeitsangaben im öffentlichen Netz zu entdecken. Vermutlich verbunden mit einem saftigen Knöllchen, das irgendwie den Weg zu meinen Eltern finden würde. Witzigerweise erhielten sie immer wieder Strafzettel für zu schnelles Fliegen, obwohl keiner von beiden einen derartigen Führerschein besaß. Mein Vater rief stoisch jedes Mal bei der zuständigen Behörde an und meldete den Irrtum. Daraufhin entschuldigte sich sein Gesprächspartner jeweils bei ihm und bat ihn, den Bescheid zu ignorieren.

Man musste es diesen Leuten nachsehen. Die Notwendigkeit zur regelmäßigen Kontrolle von Fluggeschwindigkeit, -höhe und -route bestand noch nicht allzu lange, und mit mir hatten die Planer des Systems von Anfang an ein Problem gehabt. Einerseits brauchten sie mich und wussten, dass die Öffentlichkeit es nicht gut aufnehmen würde, wenn ich wegen solcher Lappalien Schwierigkeiten bekäme. Andererseits sollte alles seine Richtigkeit und Ordnung haben. Irgendwer musste halt für die offensichtlichen Verkehrssünden büßen. Keine Ahnung, wie sie dabei jedes Mal auf meine armen, geplagten Eltern kamen. Aber solange diese die Strafen nicht zahlten, nahmen sie es mit Humor.

„Wie weit ist es? Ich bin gleich da, Schatz!“

Ich schickte meiner Frau einen mentalen Kuss, horchte gleichzeitig, ob es ihr und dem Baby gut ging. Anscheinend hatte unser kleiner Fratz sich ausgerechnet diesen Moment dazu ausgesucht, um auf die Welt zu kommen. Und das, obwohl Zoey durchaus ziemlich viel mitbestimmen konnte, was ihren Körper betraf. Aber das winzige Wesen in ihr schien jetzt schon seinen eigenen Willen zu haben und ihn rigoros durchzusetzen. Mit aller Macht drängte es, sein geborgenes Zuhause zu verlassen, um geboren zu werden. Ebenso dickköpfig versuchte mein Liebling, dieses Ereignis noch ein kleines bisschen hinauszuzögern - mir zuliebe.

Sie stöhnte. Beeil dich - sie will wirklich raus! Die Presswehen haben schon eingesetzt. Wenn ich jetzt dagegen arbeite, schade ich ihr vielleicht ...

„He, bloß nicht!“, rief ich entsetzt, während ich über den Flur stürmte. Vor dem Kreißsaal standen Timo und Susanna Hand in Hand. Anscheinend hatte Zoey ihre Eltern vor die Tür gesetzt, die sich nun vor mir öffnete.

Na endlich, empfing ich die erleichterte Botschaft von meinem Freund. Ich dachte schon, ich würde alles verpassen ... Meine Tochter sperrt mich aus!

„Meinst du, ich lass dich zusehen?“ Er musste mein Grinsen dabei spüren, das schnell in ein Strahlen überging, als ich das schwarz behaarte Köpfchen erblickte, das die Hebamme bereits behutsam gedreht hatte. Natürlich bekam Timo jede Einzelheit mit. Ich hielt Zoeys Hand, spürte ihre Schmerzen, ihre Anstrengung und gleichzeitig die unbändige Freude, die sie bei alledem empfand. Sie keuchte und presse noch einmal.

„Gleich ist es geschafft!“, rief der Doc, der in einer Ecke des kleinen Raumes stand und das Geschehen interessiert beobachtete.

Nur Momente später hielt die Geburtshelferin ein schmieriges Bündel in den Händen, das über die blutige Versorgungspipeline mit seiner Mutter verbunden war. Wie hypnotisiert hing mein Blick daran.

„Möchten Sie die Nabelschnur durchschneiden?“, fragte die Hebamme schüchtern. Ich tat es beinah mechanisch, ohne mich vom Fleck zu rühren oder Zoeys Hand loszulassen. Mit der zweiten strich ich dem winzigen Wesen zärtlich über das nasse Köpfchen. Meine Tochter! Der Gedanke hatte etwas Magisches, Unglaubliches. Sie war gesund und munter, aber gab noch keinen Laut von sich. Erst als die Frau sie energisch an den Beinchen packte und auf den Kopf stellte, atmete sie einmal tief, bevor sie zu quäken begann.

„Annie“, seufzte Zoey glücklich. Sie schloss einen kurzen Moment die Augen. Dann wurde ihr das inzwischen gebadete und abgetrocknete Kind auf den Bauch gelegt. Es war sofort still.

Darf ich jetzt endlich meine Enkelin begrüßen?

Timos Stimme in meinem Kopf klang nicht vorwurfsvoll. Er teilte meinen Glückstaumel. Wir wussten beide, dass dies mein einzigartiger Moment war, so wie er seinen bei Zoeys Geburt gehabt hatte. Meine Frau lachte ihr bezauberndes Lachen. Sie sah trotz der gerade überstandenen Anstrengung wunderschön aus. Ihre Augen strahlten wie Sterne, als sie leise murmelte: „Kommt ruhig rein, Papa!“

Annie hatte inzwischen den Weg zu einer der beiden Nahrungsquellen gefunden und begann konzentriert zu saugen. Noch immer starrte ich völlig fasziniert diesen neuen Erdenbürger an, genoss die Idee, dass er ab jetzt zu uns gehörte. Ich half, ihm sein erstes Kleideroutfit anzulegen, und umarmte meinen Freund sowie dessen Frau, die mittlerweile hinzugetreten waren. Sie gratulierten uns herzlich. Susanna meinte mit Tränen in den Augen: „Es ist wie ein Kreis, der sich schließt. Oh Simon, ich glaub, deine Eltern werden unheimlich glücklich sein!“

„Ja, das sind sie schon“, erwiderte ich leise. Telefoniert hatte ich nicht, aber die Textnachricht ging raus, bevor das Baby vollständig den Mutterschoß durchbrochen hatte. Auch die Antwort hatte ich inzwischen gelesen. Sie lautete: „Glückwunsch! Holst du uns ab?“

Timo fuhr seinem Enkelkind behutsam über das dunkelhaarige Köpfchen, berührte Nase und Mund, streichelte zärtlich seine winzigen Ohren und den Körper bis hin zu den perfekten Händchen und Füßchen.

„Sie sieht aus wie eine Mischung zwischen Mama und Papa“, strahlte er selig. „Das kannst du fühlen?“, staunte ich.

„Nö. Aber wenn ich deine Erinnerung von Zoey kurz nach ihrer Geburt mit deinem Spiegelbild kombiniere und das Gefühlte sowie das Bild von deiner Tochter damit vergleiche, kriege ich irgendwie Annie raus.“

Ich lachte. Die Fähigkeit meines Freundes, durch meine Augen zu sehen und sein großartiges Denkvermögen ließen beinah vergessen, dass seine eigenen Sehorgane von Geburt an funktionslos waren. Eine nette Gesichtsdekoration, die jedoch so echt wirkte, dass er die meisten Menschen problemlos damit täuschen konnte.

Wir verließen den Geburtsraum, begleiteten Zoey und die kleine Annie über den Gang. Ich durfte die Glaswiege unseres Nachwuchses schieben, Timo das Bett seiner Tochter. Er wollte es unbedingt, obwohl es auch ein Pfleger gemacht hätte. Im Zimmer des Krankenhauses küsste ich meine beiden Lieblinge und verabschiedete mich, um der Bitte meiner Eltern nachzukommen. Die Mädels brauchten ohnehin ein wenig Ruhe.

Das Anstrengendste an der Sache war, sie zu verschieben, bis du deinen Hintern endlich hierher bewegt hast, teilte mir die blutjunge Mutter mental mit, während ich mich wieder aufs Dach des Klinikums begab. Hier befanden sich der Start- und Landeplatz für die Rettungshelikopter sowie Zoeys und meiner. Nach einigen Diskussionen mit der Stadt hatten wir die offizielle Genehmigung erhalten, ebenfalls dort zu landen, um Notfälle ins Krankenhaus zu bringen. Nicht, dass wir es vorher nicht getan hatten, aber nun durften wir es sogar. Also brauchte ich mich nicht ganz so sehr mit dem Start zu beeilen.

„Kann gar nicht so schlimm gewesen sein - du bist doch noch taufrisch“,neckte ich sie zurück. „Außerdem wolltest du sicherlich nicht den Rekord für die schnellste Geburt der Klinik brechen, oder?“

Meine Verbindung zu ihr war so stark, dass ich sie lachen hörte und spürte, wie sie mir zärtlich den Arm entlangstrich, während ich zweihundert Meter über dem Klinikdach schwebte, dann den zweiten Gang einlegte, um nach Norden zu düsen. Ihre innere Berührung löste einen Schauer bei mir aus, ein momentan unpassendes körperliches Verlangen.

„Wie lange brauchst du, um ...“, begann ich. Natürlich wusste sie schon, was ich wollte.

Was glaubst du denn? So eine Geburt bringt einiges durcheinander im Körper der Frau. Da sind jede Menge Baustellen, die erst mal repariert werden müssen. Eigentlich solltest du das wissen! Normalerweise dauert die Blutung noch mindestens zwei Wochen, manchmal auch vier bis sechs. Und dann gibt es innere Verletzungen, die heilen müssen ...

Ich stöhnte. Natürlich wusste ich das! Aber ich sprach mit Zoey, nicht mit einer gewöhnlichen Frau.

„Und wie lange dauert das bei dir?“, fragte ich amüsiert. Mir war klar, dass sie mich nur vereimern wollte.

Du musst schon warten, bis sie mich hier rausschmeißen, Liebling. Keine Ahnung, wann das sein wird. Ich denke mal, nicht vor morgen früh.

„Ok, das halte ich aus. Bin gleich wieder da, Schatz!“

Dieses ‚Gleich-wieder-da‘ dauerte wie üblich doch etwas länger. Kaum gestartet empfing ich den ersten Notruf. Er kam von meinem Arbeitskollegen Sören.

„Ich weiß, dass es gerade nicht so gut passt, doch wir brauchen dich hier dringend“, erklärte er. Mehr brauchte er nicht zu sagen - ich wusste sofort, dass es ernst war. Seine Anrufkoordinaten wurden dank moderner Technik direkt auf mein gedachtes Gerät übermittelt, das ich stets auf dem neusten Stand hielt.

„Bin so gut wie da“, erwiderte ich, korrigierte den Kurs und beschleunigte. Den enormen G-Kräften widerstand mein Körper problemlos, indem meine Moleküle sich ständig an ihre ursprüngliche Form und Zusammensetzung erinnerten. Angenehm war die Prozedur deshalb trotzdem nicht.

Der Einsatz fand in der Nähe von Zittau statt, bekannt als Umschlagplatz für superschweres Helium und Uran aus dem Ostblock. Mein Team hatte den Auftrag, eine im Länderdreieck operierende kriminelle Bande unschädlich zu machen - möglichst ohne dabei Aufsehen zu erregen. Allerdings schien etwas mächtig schiefgegangen zu sein, wenn Sören mich kontaktierte. Er selbst nahm eigentlich auch nicht mehr an solchen Außeneinsätzen teil, sondern koordinierte die Arbeit verschiedener Spezialeinheiten, die teils dem BND angehörten, teils mit ihm zusammenarbeiteten. Aber diese Operation erforderte viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung, die Sören als langjähriges Mitglied des Spezialteams um den Fantasten mitbrachte. Deshalb hatte sich der Vierundfünfzigjährige aus seinem Schreibtischsessel bequemt und war dem Befehl von ganz oben gefolgt, die Sache persönlich vor Ort zu leiten.

Mein Eintreffen erfolgte mit einem Donnerschlag. Leider konnte ich diesen nicht mehr verhindern, da die betreffende Rakete mit dem Sprengsatz außerhalb meiner Reichweite gestartet worden war und ich erst kurz vor der Detonation davon erfuhr. Immerhin gelang es mir mit einer gedachten Schutzblase, mein Team und die übrigen Menschen im Explosionsradius vor den schlimmsten Folgen zu bewahren. Dies galt bedauerlicherweise nicht für das Knalltrauma, das einigen Anwesenden vorübergehend das Gehör raubte. Zoey fehlte mir in diesem Moment sehr. Schock und Orientierungslosigkeit der Betroffenen waren so groß, dass viele davon nicht nur handlungsunfähig schienen, sondern zur Gefahr für andere wurden. Zum Glück traf dies nicht auf Sören und Marina sowie die Handvoll Elitesoldaten ihres Teams zu, die Schutzhelme getragen hatten. Für mehr als ein hastiges Hallo blieb allerdings keine Zeit.

„Kümmert euch um die Leute und bringt sie hier weg, sobald es geht“, befahl ich. „Überlasst diese Idioten mir. Die können was erleben ...“

Um uns herum brannte die Welt. Die Sprengwirkung hätte ohne meinen Schutz ausgereicht, um das gesamte Gebäude und die umgebenden Wohnhäuser in Schutt und Asche zu legen. So wurde die Wirkung gedämpft, jedoch nicht aufgehoben. Die gedachte Blase war nachgiebig, sodass viel von der Energie verpuffte. Aber es blieb noch genug übrig, um alles außerhalb von ihr in Brand zu setzen: Bäume, Sträucher, geparkte Autos, Müllcontainer und einen Berg alter Autoreifen. So rasch wie möglich löschte ich diese Feuer und kümmerte mich hernach um die Übeltäter, die zu entkommen versuchten. Sie kamen nicht weit. Und wie ich dem Team versprochen hatte, erlebten sie ihr blaues Wunder. Wer mich kennt, wird wissen, dass Blau seit etlichen Jahren und eigentlich nur noch gewohnheitsmäßig meine Lieblings-Kleider-Tarnfarbe war.

Spaß beiseite, ich war mächtig sauer auf die Typen. Deshalb ließ ich sie ein wenig von dem spüren, was sie meinem Team und den vielen unschuldigen Zivilisten angedacht hatten. Natürlich entstand dabei kein ernsthafter Schaden. Das Gefühl, in einem brennenden Hubschrauber zu sitzen war sicherlich genug, um ihnen die Lust am Fliegen für längere Zeit zu rauben. Meine Fähigkeiten als Illusionist waren zwar begrenzt, doch für eine Handvoll Bösewichte reichten sie allemal. Ich sorgte dafür, dass ihr Pilot nicht vor Schreck das Fluggerät crashte, obwohl die Landung alles andere als sanft erfolgte. Unten empfing ich die geschockten Gangster mit recht unangenehmen Fesseln und der Nachricht, dass sie in ihr Heimatland ausgeliefert werden würden. Tschechien war für seine harten Gefängnisbedingungen bekannt, meiner Meinung nach gerade richtig für diese hirnlosen, skrupellosen Verbrecher. Nur um den jüngsten von ihnen tat es mir leid. Er schien mit höchstens zwanzig Jahren nur halb so alt wie der Rest. Zu jung, um sein Leben sinnlos zu vergeuden.

Bevor ich mich jedoch näher damit befassen oder auch nur mehr als drei Worte mit meinem Team wechseln konnte, traf schon der nächste Hilferuf bei mir ein. Es war Mariko, die im Erdbebenforschungszentrum von Fukushima arbeitete. „Hallo Simon, hier ist in Kürze die Hölle los!“

Mein innerliches Stöhnen wurde von ihren Worten ertränkt. Ein Beben sollte diesen so gefährdeten Ort bald erschüttern. In den vergangenen fünf Jahren war ich viermal dort gewesen. Das Kernkraftwerk, ehemals Hauptsorgenkind der Region, hatte längst ausgedient, aber das dafür entstandene Fusionskraftwerk, das zig Millionen Haushalte mit Strom versorgte, musste natürlich ziemlich genau an derselben Stelle stehen. Nicht zum ersten Mal verfluchte ich die japanische Regierung, die einfach stur an dieser dummen Regelung festhielt. Traditionen!

Während ich mit Höchstgeschwindigkeit gen Osten düste, informierte ich meine Eltern darüber, dass es später werden würde als gedacht. Mein Schatz und ihr Vater wussten längst Bescheid. Ihnen brauchte ich solche Dinge nicht mitzuteilen, da es ohnehin nicht viel gab, was sie aus meinem Leben nicht erfuhren. Es war wesentlich schwieriger, ihnen etwas davon zu verheimlichen.

Können die ihre Kraftwerke nicht woanders hin bauen? Du solltest ihnen einmal nicht helfen, damit sie es lernen.

Timos Kommentar war nicht ernst gemeint. Genau wie ich konnte er sich viel zu gut an die Folgen des ersten Super-GAUs vor über dreißig Jahren in der Stadt erinnern. Damals hatte ich noch keine Beziehungen zu diesem fernöstlichen Land geknüpft, sodass ich zu spät von dem Reaktorunglück erfuhr, das etliche Menschen ins Unglück gestürzt und so gewaltige Umweltschäden angerichtet hatte.

Auch mit etwa neun- bis zehnfacher Schallgeschwindigkeit brauchte ich einige Zeit für den Weg nach Japan. Ich nutzte sie, um Mails zu lesen, zu beantworten, Freunde in aller Welt anzurufen, die Eindrücke von der Geburt schriftlich festzuhalten und Fotos von meinem Baby zu verschicken. Annie ... Sie stellte das größte Wunder dar. Eine absolut beeindruckende Bestätigung der Aussage, dass es das Wort ‚unmöglich‘ nicht geben durfte. Nicht für mich. Aber der Ausdruck ‚unglaublich‘ war schon beinah zu schwach, weil ich gedacht hatte, hundertprozentig zeugungsunfähig zu sein. Mein besonderer Körper, den ich seit etwa fünfundzwanzig Jahren besaß und dessen Erinnerungsvermögen der Atome dafür sorgte, dass diese stets wieder zueinanderfanden, verbot eigentlich, dass auch nur der kleineste Teil davon abhandenkam. Zumindest nichts, was ursprünglich dazugehörte. So wie die hundertviermillionendreihundertzweiundsiebzigtausendsechshundertundzwölf Spermien, die sich darin befanden. Nun war es genau ein Spermium weniger. Das Wunder daran war, dass seine Atome nicht danach drängten, wieder ein Teil von mir zu werden.

Für diejenigen unter euch, die meine bisherige Lebensgeschichte nicht kennen, hört sich das vielleicht kompliziert an, verrückt oder zu abgefahren, um wahr zu sein. Aber wer das denkt, kann dieses Buch auf der Stelle zur Seite legen, denn es wird im Verlauf der Geschichte sicherlich nicht besser, sondern schlimmer. Ich empfehle in diesem Fall dringend, meine vorherigen Bücher zu lesen, um sich einen genaueren Eindruck von mir zu verschaffen, weil ich nämlich nicht bereit bin, alles noch mal durchzukauen.

Wo war ich? Ach ja, in Japan. Natürlich kam ich nicht mehr ganz pünktlich, um vor dem Beben einen Schutz für das Kraftwerk zu errichten und mich dann um die panischen Anwohner zu kümmern. Leider war die Vorhersage zu kurzfristig - besser gesagt, ich war noch nicht so weit, dass ich rasch genug diese gigantische Entfernung zurücklegen konnte. Vielleicht, wenn die Technik mir den Weg zu einem schnelleren Antrieb ebnen würde, beziehungsweise meine Vorstellung bereit wäre, sich von den physikalischen Gesetzmäßigkeiten zu lösen. Aber bisher schien keine der Optionen in Reichweite.

Jedes Beben war etwas anders. Zudem hing es davon ab, ob anschließend Tsunami-Wellen folgten und wie hoch sie waren. Deshalb konnte ich nicht einfach einen wirksamen Universalschutz für das Gebäude erdenken und ihn auf unbestimmte Zeit stehen lassen. Außerdem waren gedachte Objekte von mir stets in Gefahr, wieder zu verschwinden, sobald mein Geist sich vom Körper löste. Andere Leute nennen das ‚Sterben‘, aber bei mir ist diese Trennung in jedem Fall temporär und keinesfalls ganz so dramatisch. In bestimmten Situationen führe ich den Zustand sogar absichtlich herbei, weil er mir in begrenztem Maße Zeitreisen ermöglicht und die Kontaktaufnahme zur spirituellen Welt erleichtert. Mit diesen reichlich vertrackten Infos kann ein Neuling vermutlich ebenfalls wenig anfangen, aber Zeit ist kostbar und meine musste ich jetzt dringend damit zubringen, den Menschen in Fukushima zu helfen.

„Es fängt an“, bemerkte Mariko. „Wo steckst du?“

Sie klang nicht mal besonders aufgeregt. Vielleicht, weil sie mittlerweile ziemlich genau einschätzen konnte, wie lange ich für die Strecke brauchte, und wusste, dass ich nur noch zwei Minuten entfernt war.

„Im Landeanflug“, bestätigte ich gleich darauf. „Soll es das Übliche sein?“

„Jaaa, mach schnell, das wird gerade heftig!“

Indem ich mich auf sie konzentrierte sowie auf das Gebäude in einigen Kilometern Entfernung, spürte ich die Erdbewegung und machte mich daran, das Wichtigste mit einer dehnbaren, unzerstörbaren Verpackung zu schützen: die Fusionskammer. Noch lief das Kraftwerk - auch so eine unverantwortliche Risikokalkulation, über die ich mich maßlos ärgerte. Es wurde nicht eher abgeschaltet, bis ernsthafte Schäden an der Hülle auftraten oder die Fusionsreaktion außer Kontrolle geriet. Dies konnte jederzeit geschehen, wenn die Erde derart schwankte! Sie verließen sich also vollständig darauf, dass ich das Gleichgewicht rechtzeitig herstellen würde und so die Stromversorgung des halben Landes sicherte. Nur mit dem lächerlichen Risiko behaftet, dass die Massenträgheit andernfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür sorgen würde, dass das komplette Gebäude samt Umfeld in einem mächtigen Feuerball verschwand. Kein irdisches Material hielt die gigantischen Temperaturen aus, die in einem Fusionsreaktor entstanden. Wenn das umgebende Magnetfeld versagte oder gestört wurde, war es aus. Shuryo, wie der Japaner sagen würde, zu Deutsch: Ende.

Verdammt, dieses Beben war wirklich nicht von schlechten Eltern! Neben dem Kraftwerk, das angeblich ‚erdbebensicher‘ gebaut war, obwohl ich es mindestens dreimal in der vergangenen Zeit vor der Zerstörung bewahrt hatte, gab es einige Hochhäuser, die an ihre Belastungsgrenze stießen. Ich landete gar nicht erst, sondern sauste in geringer Höhe kreuz und quer durch die Stadt und die angrenzenden Gebiete. Für einen Großteil der einfachen Hütten kam ich zu spät. Wenigstens war kaum jemand zu Schaden gekommen, weil die Warnung für die meisten Menschen rechtzeitig genug erfolgt war, um die öffentlichen Schutzräume aufzusuchen. Mehreren Wolkenkratzern, die über den üblichen Radius hinaus schwankten, gab ich zusätzlichen Halt, etliche Ein- und Mehrfamilienhäuser stabilisierte ich mit meiner Vorstellung. Beinah mechanisch beteiligte ich mich an der Befreiung von unter Trümmern eingesperrten oder in höher gelegenen Gebäudeteilen gefangenen Menschen. Zwei kleine Jungen holte ich aus einem halb eingestürzten Gebäude, wo sie sich im Dachgeschoss vor ihren verzweifelten Eltern versteckt hatten und bei dem nun die Treppe verschwunden war. Alltägliche Routine, bei der mir Zoey genauso fehlte, wie bei dem Raketenanschlag vorhin.

„Schatz, werd schnell wieder fit - ich vermiss dich hier. Die Leute könnten deine Künste wirklich gut gebrauchen“, murmelte ich.

Du schaffst das ganz gut alleine, kam ihr munterer Kommentar. Mir geht’s prima, aber Annie braucht mich jetzt mehr als die Welt da draußen. So ist das nun mal, wenn man Kinder hat ... Daran musst du dich gewöhnen.

Ja, das stimmte sicherlich. Es würde für uns beide nicht leicht werden.

„Acht Komma sieben auf der Richterskala“, lautete Lee Yangs Kommentar. Der Leiter des Kraftwerks war längst vor Ort und verließ mit der übrigen Belegschaft soeben den Schutzbunker, als ich bei ihnen eintraf. Die Menschen waren jederzeit darauf gefasst, dass die Sirenen erneut ertönten, die vor Nachbeben warnten. Die Vorwarnzeit für diese Erschütterungen war wesentlich geringer, meistens keine fünf Minuten, während vor einem ersten Beben bis zu zwei Stunden blieben. Doch die größte Gefahr drohte nun aus Richtung Meer, wohin ich mich als Nächstes wandte.

„Darf ich mitkommen?“, bat Mariko. „Ich wollte schon immer mal mit dir fliegen.“

„Wirst du hier nicht mehr gebraucht?“, fragte ich erstaunt. Normalerweise war die routinierte Wissenschaftlerin unentbehrlich in einer solchen Notsituation.

„Meine Leute wissen genau Bescheid. Sie werden die Sicherheitskräfte anleiten. Außerdem vertraue ich dir. Dein Schutz wird halten, auch wenn noch weitere Beben kommen. Ist es nicht so?“

Sie sah mich verschmitzt durch ihre von Lachfältchen umgebenen mandelförmigen Augen an.

„Na, dann steig ein.“

„Äh - wo denn?“, fragte sie verwirrt und tastete meterweit von meinem Fluggerät entfernt im Leeren. Schmunzelnd erzeugte ich in ihrem Kopf das Bild eines ultramodernen Helis. Sie stieß überrascht die Luft aus.

„Wow! Wenn ich bloß wüsste, wie du das machst!“

„Die kombinierte Vorstellung und Illusion eines Hubschraubers - kein Ding.“

Rasch half ich ihr ins Cockpit. Die Angestellten, Erdbebenexperten sowie die Leute vom Sicherheitsdienst verfolgten das Schauspiel aus respektvollem Abstand mit typisch asiatischer Gleichmütigkeit. Sie taten so, als wäre es alltäglich, dennoch wusste ich genau, dass es nicht viele unter ihnen gab, die freiwillig mit Mariko tauschen würden.

„Magst du Rundumblick haben?“, fragte ich nach dem Start. Sie nickte nervös, also entfernte ich das Heli-Bild aus ihrer Wahrnehmung. Ein kurzer Aufschrei, das übliche Klammern an die trotzdem vorhandene Konstruktion, doch insgesamt verkraftete sie den Schock sehr schnell.

Wir bewegten uns zielstrebig in Richtung Küste, mit deren Wache und Tsunami-Warndienst ich längst Kontakt aufgenommen hatte. Nun galt es, die Folgen der Riesenwellen aufzufangen, bevor sie die bewohnten Küstenabschnitte trafen. Je nach Größe und Gewalt der Wassermassen war dies eine knifflige Angelegenheit. Die Abwendung der Gefahr war stets Stückwerk und auf einen relativ kleinen Radius beschränkt. Das Wissen darum, dass jede Grenze meiner Reichweite und Kraft selbst gesetzt war, half nur unwesentlich dabei, sie zu erweitern. An sich war der Gedanke nicht stark genug, sie aufzuheben, ähnlich dem Versuch, sich selbst zu tragen. Auch dem kräftigsten Menschen gelingt dies nicht ohne Hilfsmittel, obgleich er physisch gesehen eine wesentlich schwerere Masse heben kann. Blöder Vergleich. Doch wie soll ich es sonst erklären?

Jedenfalls blieb nicht mehr viel Zeit, sich ausgefallene Maßnahmen zu überlegen, denn die erste Welle rollte an. Sie war gewaltig, wie nach der Stärke des auslösenden Bebens zu erwarten. Aufhalten konnte ich sie nicht, umlenken nur in geringem Umfang. Aber ich konnte sie auflaufen lassen, ihre Kraft durch eine physikalisch geschickt geformte Wand brechen. Leider nur auf sehr begrenztem Raum. Ich kam mir vor wie David im Kampf gegen Goliath, nur in einem völlig anderen Maßstab.

Um die größtmögliche Wirkung zu erzielen, musste ich so dicht wie möglich ans Geschehen heran. Ich ließ Mariko deshalb allein im Heli zurück und sprang kurzerhand dort ab, wo die Welle aufs Ganze gesehen den größten Schaden anrichten und die meisten Opfer fordern würde. Einzig Kalkulation und Berechnung zählten jetzt. Für Gefühle und Gedanken an die vielen Menschen, die es außerhalb dieses Radius‘ treffen würde, war kein Platz, weil die Konzentration auf das Werk jede Unze meines Selbst und Willens erforderte.

Einsam stand ich am Strand. Ein Zwerg, auf den sich eine gigantische Wasserwand mit unglaublicher Wucht und Geschwindigkeit zubewegte. Sie war bestimmt zehn Meter hoch. Zumindest im unmittelbaren Umfeld hielt sich kein weiteres lebendes Wesen auf - alle hatten Schutz in höher gelegenen Gebieten gesucht oder waren auf die Dächer ihrer Häuser gestiegen. Meine Begleiterin meldete sich über unsere gedachte Funkverbindung.

„Bist du wahnsinnig geworden? Glaubst du, du kannst diese Monsterwelle von da aus anhalten? Komm sofort zurück und lass mich hier nicht allein!“

Ich antwortete nicht, da ich die komplexe Berechnung des optimalen Krümmungs- und Steigwinkels für meinen Wellenbrecher durchführte. Eine so hohe Tsunamiwelle hatte ich noch nie live gesehen! Jedes bisschen Energie verwendete ich nun darauf, diese Wand so weit wie möglich zu beiden Seiten auszudehnen und gleichzeitig nachgiebig und bombenfest zu gestalten.

Hilf mir bitte!

Mein mentaler Hilfeschrei wurde mit einer stützenden Hand beantwortet, die mich aufrecht hielt und mir Kraft gab, als die Wassermassen praktisch über mir zusammenstürzten, mit voller Wucht an meinen Schutzwall brandeten. Es war sicherlich ein spektakulärer Anblick, der sich Mariko bot. Ich hörte ihren Aufschrei durch das Tosen der Urgewalten, denen ich mit der Unterstützung meines Bruders trotzte. Unendliche Momente dauerte das Anbranden und Aufbegehren dieses Elements, dessen himmelhoch geschleuderte Mengen sowohl mich als auch die gesamte Umgebung mit prasselndem salzigen Niederschlag ertränkten. Dann war es vorbei. Das Wasser zog sich zurück, beinah ebenso schnell, wie es gekommen war.

Ich wusste, dass es rechts und links von meiner Barriere gewaltige Schäden gab. Gebäudeteile, Fahrzeuge, Bäume und alles, was nicht felsenfest gegründet war, wurde ins Meer gesogen, nachdem es von dieser furchtbaren Welle zermalmt worden war. Es hinterließ eine tiefe Erschütterung und Narbe in mir - dort, wo es schon zu viele davon gab. Meine Kraft war jedoch dermaßen erschöpft, dass ich Mühe hatte, den Heli mit seinem Passagier einigermaßen sanft zu Boden zu bringen, bevor ich zusammenbrach.

 

2.

 

„Simon, wach auf! Die nächste Welle kommt gleich!“

Marikos schrille Stimme durchbrach den Dämmerzustand, dem ich mich einen Moment lang hingegeben hatte. Ich kämpfte mich auf die Beine und hielt Ausschau nach dem neuen Tsunami. Ein paar Minuten blieben uns noch, bevor das Schicksal erneut zuschlagen würde. Kostbare Zeit, die ich keinesfalls vergeuden durfte.

„Lauf den Berg hoch“, bat ich meine Begleiterin, die mit Tränen im Gesicht zu mir aufsah. „Kümmere dich nicht um mich ... bitte. Ich brauch jetzt jede Sekunde!“

Dann schloss ich die Augen und fiel. Den Aufprall spürte ich nicht, da mein Geist sich längst an dem einzigen Ort befand, wo ich in dieser kurzen Zeit genug Regeneration und Kraft tanken konnte, um den neuerlichen Strapazen zu widerstehen. Jeder Augenblick war hier genau die Ewigkeit, die ich brauchte, um mich einigermaßen auszuruhen.

 

„Du warst lange nicht hier“, stellte mein Bruder Abu Thalib fest. Er klang nicht vorwurfsvoll, eher amüsiert. „Immer noch voller Einsatz - mehr als eigentlich möglich ist ... Du kannst es nicht lassen, den Helden zu spielen, oder? Wann lernst du endlich, dass nicht du für die Geschicke der Menschen verantwortlich bist!“

„Erzähl mir nicht, wofür ich verantwortlich bin“, brummte ich. Doch ich war ihm nicht böse. Er hatte mir gerade geholfen und von seiner eigenen Kraft abgegeben.

Wie erwartet lachte er bloß. „Es ist so typisch für dich. Oder soll ich sagen typisch Simon? Aber ich weiß ja, dass du nur so selten aus deiner Haut kannst ... Dir ist klar, dass du jetzt noch mal von vorne anfangen musst!“

„Erinner mich nicht daran! Was hättest du gemacht?“

„Ich glaub, ich wäre bei meiner Tochter geblieben, wenn ich ehrlich sein soll.“

„Das ist typisch für dich! Oder sollte ich sagen typisch Ra?“

Ich wusste, dass ich ihn damit provozierte. Diesen Namen wollte er nicht mehr hören, da ihm seine Aktionen in dieser Gestalt sehr peinlich waren. Nun - er hatte angefangen! Doch er hatte sich wirklich um hundertachtzig Grad gedreht und quittierte auch diesen Nadelstich mit einem herzhaften Lachen.

„Touché“, gab er zu. „Aber mal ganz im Ernst - du solltest gut auf dein Töchterchen achtgeben. Gratuliere übrigens dazu. Schöner Name, Annie. Gefällt mir.“

„Was soll das heißen - gut auf sie achtgeben?“

Mein Misstrauen war geweckt. „Sag schon - was weißt du wieder, das ich nicht weiß?“

„Ist leider topsecret. Darf ich noch nicht verraten, nicht mal dir. Nur, dass Annie ein ziemliches Gefährdungspotential hat.“

„Oh nein! Ist sie etwa wie ihre Mutter?“

Ich stöhnte, indem ich mich an die Strapazen erinnerte, die ich wegen Zoeys Affinität zur Geisterwelt in der Vergangenheit durchstehen musste.

Abu Thalib schüttelte ernst den Kopf. „Nein, diesmal ist es ganz anders - und deshalb für Annie selbst noch viel gefährlicher als damals für Zoey. Die Mächte, die hinter deiner Tochter her sind, warten nur den Moment ab, in dem seine Eltern sie nicht mehr so vollkommen beschützen und behüten können. Jedenfalls gehen wir davon aus.“

„Und was wollen sie von ihr?“

Meine Stimme zitterte, obgleich ich an diesem Ort weder Stimmbänder besaß, noch körperliche Symptome von Emotionen verspüren sollte. Aber meine Vorstellung funktionierte auch hier ausgezeichnet.

„Ich befürchte mal, sie möchten deine Tochter einfach bloß aus dem Weg räumen, wenn du verstehst.“

„Na prima.“

Der Schock darüber wurde durch ein dringendes Signal gedämpft: Es wurde Zeit zu gehen. Dieses Gespür war so eindeutig, dass ich mich am liebsten direkt umgedreht hätte. Dennoch murmelte ich: „Danke für alles. Bis später!“

„Keine Ursache“, hörte ich, bevor sich die Welt veränderte.

 

„Er kommt wieder zu sich! Na, was für ein Glück! Ich dachte schon, er wäre hinüber.“

Die Stimme war eindeutig männlich. Auch ohne die Augen zu öffnen erkannte ich, dass sie einem Fischer gehörte, der die Sicherheit des Berges verlassen hatte, um mir zu helfen. Mariko hockte neben ihm und rüttelte an meiner Schulter.

„Jetzt komm schon, Simon! Wir haben nicht mehr viel Zeit! Du hast uns einen Mordsschreck eingejagt ...“

Rasch erhob ich mich und hielt dabei nach dem Tsunami Ausschau. Er war ein ganzes Stück näher gerückt, uns blieben weniger als fünf Minuten.

„Ihr müsst schnell weg von hier, die zweite Welle ist gleich da“, unterbrach ich den Redefluss meiner Begleiterin, doch diese fuhr unbeirrt fort.

„Du bist einfach umgekippt wie ein Baumstamm. Ich glaube, du hast nicht mal mehr geatmet!“

„Tut mir leid, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast, Mariko. Und Ihnen danke ich ebenfalls für Ihre Hilfsbereitschaft“, wandte ich mich freundlich an den Fischer. „Aber bitte bewegt euch jetzt schnell aus der Gefahrenzone!“

Ich wartete keine Antwort mehr ab. Dieser Tsunami war nur halb so hoch wie der letzte, trotzdem noch immer mächtig genug, um viel Schaden anzurichten. Bei der Überprüfung der näheren Umgebung stellte ich fest, dass meine neue Brandungsmauer ein Stück weiter südlich erdacht werden sollte. In dem Bereich harrten etliche Menschen auf den Dächern beschädigter Gebäude aus. Also bewegte ich mich mit Highspeed hundert Meter nach rechts, um den Schutzwall von dort aus zu errichten. Die beiden Japaner sahen mir verwundert hinterher. Endlich kamen sie auf die Idee, sich vom Strand wegzubewegen und bergauf zu laufen. Ziemlich spät! Schon baute sich die Welle über uns auf. Mein Schutz war bereit. Es gelang mir sogar, ihn noch ein paar Meter weiter in jede Richtung auszudehnen. Wieder entstanden gigantische Kräfte, als die heranrasende Wand aus Wasser auf meinen Wall traf. Aber diesmal hielt er problemlos stand.

Beim Rückzug des Meeres kehrte ich zu den beiden auf der Flucht förmlich erstarrten Menschen zurück und sammelte sie mit dem Heli ein. Den Fischer setzte ich auf dem nah gelegenen Hügel ab. Er war so perplex, dass er kein einziges Wort sprach. Nach Rücksprache mit dem Tsunami-Warndienst machten Mariko und ich uns so rasch wie möglich auf den Rückweg in die Stadt. Große Wellen befanden sich nicht mehr im Anzug, aber es konnte jederzeit Nachbeben geben. Sämtlicher Schutz vom ersten Beben war durch meinen Besuch auf der ‚anderen Seite‘ verschwunden. Wie Abu Thalib richtig festgestellt hatte - alles noch mal von vorn! Es gelang mir nicht vollständig.

Mitten bei der Arbeit in der Großstadt ertönten die Sirenen und zwangen mich zum Aufbruch, obgleich längst nicht alle gefährdeten Gebäude stabilisiert waren. Aber das Kraftwerk war wichtiger. Wenn dort etwas schiefging, hatte dies unendlich viel schlimmere Auswirkungen. Diesmal wurde es verdammt knapp. Nicht eine Sekunde später hätte ich in Reichweite sein dürfen - nah genug, um meine Vorstellung auf den Reaktor zu konzentrieren. Das umgebende Magnetkraftfeld begann bereits zu reißen, sodass die sonnenheiße Fusionsreaktion auf die Hülle traf. Es war praktisch der Super-GAU, der niemals eintreten durfte. Die Mitarbeiter des Kraftwerks sowie ganz Fukushima entgingen ihm nur um Haaresbreite. Dies war vollkommen ersichtlich, da die Außenhülle an einigen Stellen bereits Löcher aufwies und die gewaltige Energie der Sonne durch sie hindurchschien. Nur die noch stärkere Kraft meiner Vorstellung sowie ein unsichtbares Magnetfeld hielten und kontrollierten die Reaktion weiter. Eine spezielle Ummantelung sorgte dafür, dass keinerlei Strahlung austrat. Endlich kamen die Verantwortlichen auf die Idee, den Reaktor abzuschalten. Der Schweiß stand dem völlig geschockten Direktor auf der Stirn, als er sich überschwänglich bei mir bedankte.

„Sorgen Sie bloß dafür, dass das Kraftwerk vor dem nächsten Erdbeben runtergefahren wird“, entgegnete ich.

Mein Schutz musste noch eine ganze Weile halten, bis die Gefahr wirklich gebannt war, aber ich hatte nicht vor, ihn erneut zu vernichten.

Erst mit dem Dunkelwerden kehrte ich nach Hause zurück, um meine Eltern quasi en passant von ihrer Wohnung in Norddeutschland einzusammeln. Auch wenn die Besuchszeit eigentlich vorüber war, brachte ich sie zu meinen beiden Schätzen. Wir schlichen uns an den Schwestern vorbei, damit die frisch gebackenen Großeltern wenigstens am Tag der Geburt noch einen Blick auf ihr Enkelkind erhaschen konnten. Wie erwartet strahlten sie selig und meine Mutter drückte mich ganz fest. Mit Tränen in den Augen flüsterte sie: „Das ist das Beste, was du je gemacht hast, Simon! Ich bin so furchtbar stolz auf dich ...“

„Ich hätte nie gedacht, überhaupt mal Großvater zu werden“, murmelte mein Pa mit einem Lächeln für seine Enkeltochter. Dann blickte er zu seiner Frau und meinte verschmitzt: „Unser Sohn ist endlich erwachsen, Schatz!“

Mit fünfzig schon! Gratuliere!

Timos unnachahmlicher Humor gab mir genau die Art von Wärme, die ich momentan gut gebrauchen konnte, dazu das Gefühl, zu Hause zu sein.

Bereits am nächsten Morgen durfte Zoey die Klinik verlassen, so wie sie es vorausgesehen hatte. Die Ärzte kannten meine Frau mit ihrer besonderen Gabe zu Genüge. Die Feststellung von Dr. Schäfer, dass die Nachwirkungen der Geburt bei ihr vollständig abgeklungen waren, kam keinesfalls überraschend.

„Du solltest dich trotzdem in der nächsten Zeit etwas schonen“, riet er ihr freundschaftlich. Sie war seit ihrer Studentenzeit mehr oder weniger als ‚Dauerpraktikantin‘ in der Klinik und mit dem gesamten Personal vom Chefarzt bis zur Putzfrau per du.

Auf dem Weg nach Hause wurde mir wieder einmal bewusst, wie sehr sich unser Städtchen in den letzten Jahren gewandelt hatte. Allein das Verkehrsnetz zeigte sich völlig anders, dem technischen Standard angepasst. Natürlich war auch die Stadt selbst in alle Richtungen gewachsen. Über uns herrschte der übliche Flugverkehr, um uns das geordnete Chaos von Schienen- und Verkehrsleitsystem, unter uns befand sich das U-Bahn-Netz. Keine Staus, keine Ampeln, kaum mal Wartezeiten. Eigentlich brauchte man sich nur noch ins voll automatisierte Fahrzeug zu setzen, das Ziel anzugeben und sich zurückzulehnen. Ältere Fahrer, zu denen ich mich längst zählte, misstrauten der Technik und hätten viel lieber manuell gelenkt. Aber dies war seit ungefähr drei Jahren nicht mehr erlaubt, bei moderneren Autos überhaupt nicht möglich. Susannas Vehikel besaß deshalb kein Lenkrad und lag damit voll im Trend.

Selbstverständlich behielt ich trotzdem stets die Straße und die Verkehrssituation im Blick. Mein Vertrauen in die neue Technologie ging nur so weit, wie ich sie kontrollieren konnte, vor allem, wenn es meine Familie betraf. Diese Vorsicht erwies sich mal wieder als lebensrettend. Diesmal war es ein kleiner Hund, der sich offensichtlich selbstständig gemacht hatte und vor uns auf die Straße lief. Wenn er mir nicht schon vorher aufgefallen wäre, hätte ich sicherlich nicht mehr rechtzeitig geschafft, in die automatische Lenkung einzugreifen, um einen Schlenker zu fahren. Die Bewegungs- und Hindernissensoren des Fahrzeugs hatten das kleine Geschöpf nicht einmal registriert. Noch während wir vorbeifuhren, schob ein Teil von mir das Hündchen sanft auf den Bürgersteig zurück, wo es sofort von der aufgelösten Besitzerin aufgehoben und geherzt wurde.

„Was machst du für Sachen, Fips“, schalt die ältere Dame mit zittriger Stimme. „Du hast Glück, dass die Frau am Steuer so gut aufgepasst hat ...“

Wir unterhielten uns angeregt über die großen Schäden, die Erbeben und Tsunamis in Japan trotz meines Eingreifens hinterlassen hatten. Gegen Naturkatastrophen war meine Vorstellung nun mal ziemlich machtlos. Sicherlich war es genau so gedacht. Ich wusste sehr wohl, dass mein Bruder recht hatte. Es war anmaßend zu glauben, mehr als nur ein Rädchen im Getriebe zu sein, ein Tropfen Wasser in der Wüste. Dennoch war ich nicht bereit, tatenlos zuzusehen, wenn mich irgendwer um Hilfe bat. Ohne mein Eingreifen wäre es zu einer noch heftigeren Katastrophe gekommen, die weit mehr Menschen das Leben gekostet hätte - ganz zu schweigen vom Ausmaß der Zerstörung. Aber vielleicht lag ich mit dieser Annahme auch völlig falsch? Ursache und Wirkung. Wenn-dann-Kausalität ...

Wenn mich der Notruf nicht erreicht hätte, wäre das Kraftwerk mit Sicherheit vor dem ersten Beben abgeschaltet worden. Wahrscheinlich hätten noch mehr Menschen durch die beiden Tsunamis ihr Hab und Gut verloren oder sogar ihr Leben. Aber wer konnte sagen, ob diejenigen, die ich gerettet hatte, nicht morgen, nächste Woche oder im folgenden Monat auf andere Art und Weise sterben würden? Diese Gedanken bewegten mich längst nicht mehr so wie früher, da ich sie schon viel zu oft durchgekaut hatte. Die Warnung meine Tochter betreffend beschäftigte mich hingegen sehr. Nicht mal die beiden Menschen, mit denen mich die engste überhaupt vorstellbare Beziehung verband, wussten bislang davon.

Um meine Eltern nicht unnötig zu beunruhigen, beriet ich die Angelegenheit erst mit ihnen, als unsere Gäste abends wohlbehalten ihr Quartier bezogen hatten. Der Kriegsrat tagte im oberen Stockwerk, in Zoeys und meinem Reich, wo die neue Mitbewohnerin längst in ihrer entzückenden Wiege lag. Rasch erzählte ich das Wenige, was mir der Große bei unserem Gespräch mitgeteilt hatte. Wie erwartet rief es allgemeines Stöhnen hervor. Zu genau erinnerten sich alle Beteiligten an die schwierigen Zeiten in der Vergangenheit, in der sowohl Zoeys Schicksal als auch das ihrer Umwelt mehrmals auf Messers Schneide gestanden hatten.

„Hat dir der Mistkerl wenigstens verraten, wie wir Annie schützen können?“, wollte Susanna düster wissen.

Sie verzieh ihm noch immer nicht, dass er ihre Tochter vor über zwanzig Jahren entführt hatte, um sie zu opfern. Dass er in diesem Moment nicht er selbst gewesen war, konnte ihre Abneigung kaum mildern. Ich verstand ihre Einstellung, vor allem, da sie ihn in seiner jetzigen Gestalt überhaupt nicht kannte, auch nicht sein völlig verändertes Wesen.

„Nein, aber ich vermute, dass wir einfach bloß gut auf sie achtgeben müssen“, erwiderte ich.

„Wir dürfen sie möglichst nie alleine lassen und nicht zu Fremden geben. Meine Eltern sollten wir instruieren, keinen Unbekannten an Annie heranzulassen, ja sogar niemandem Zutritt zu gewähren, solange ihr Enkelkind zu Besuch ist.“

„Und was ist, wenn die Mächte, die unsere Tochter bedrohen, für ihre Großeltern unsichtbar sind?“, fragte Zoey stirnrunzelnd. „Sofern wir sichergehen wollen, dass sie nicht von bösen Geistern, Dämonen oder sonstigen Wesen von der anderen Seite bedroht, entführt oder getötet wird, dürfen wir sie keine Sekunde lang unbeobachtet lassen. Einer von uns beiden muss stets bei ihr sein, um über sie zu wachen ... Oh, Simon, das ist völlig unmöglich!“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Wir schaffen das schon“, sagte ich leise und nahm sie in den Arm. Bei dem Gedanken daran, dass Annie ein Unglück zustoßen könnte, schnürte sich mir die Kehle zu. Es kam mir so furchtbar unfair vor, dass es immer die Menschen traf, die mir am meisten bedeuteten. Aber ich ahnte, dass es mit unserer Tochter etwas Außergewöhnliches auf sich hatte und sie sich genau aus diesem Grund in Zoeys und meiner Obhut befand: Weil wir sie am Leben erhalten konnten und dazu bereit waren, bis zum Äußersten um sie zu kämpfen.

 

3.

 

Die nächsten Wochen wurden auch ohne besondere Gefahren von außen ziemlich stressig. Wie das so ist bei Babys - sie haben ihren eigenen Tag-Nacht-Rhythmus, brauchen ständig Futter und kriegen diese komischen Drei-Monats-Koliken, von denen Zoey zum Glück früher verschont geblieben war. Ansonsten erwies sich Annie als recht pflegeleichtes und angenehm gewöhnliches Kind. Sie zeigte keine merkwürdigen Anwandlungen oder paranormalen Begabungen und war einfach nur süß. Jedoch ohne die besondere Ausstrahlung ihrer Mutter, der in diesem Alter jeder Umstehende praktisch zu Füßen gelegen hatte.

Für meine Eltern, Timo, Susanna und mich war es eine ziemliche Erleichterung. Nur Zoey wirkte ab und zu etwas enttäuscht darüber, dass sie zu ihrer Tochter keine so innige Beziehung haben konnte wie zu mir. Das hieß nicht, dass es nicht ein zartes Band gab, das uns beide mit dem kleinen Wesen verband. Aber die innere Berührung Annies war so schwach, dass es enorme Konzentration brauchte, um sie überhaupt wahrzunehmen. Ihre Aura war die eines völlig normalen Menschen, die Verbindung zu ihr ähnlich wie zu meinen Eltern: Nur spürbar, sofern wir nah beieinander waren, einseitig und sehr selten wirklich aktiv. Ich denke, wenn wir nicht beide so besorgt um Annies Sicherheit gewesen wären, hätten wir dieses Band nicht einmal bemerkt, da es praktisch von allem anderen überlagert wurde.

Die Umstellung war für uns ziemlich groß.

Ganz nach Plan gab Zoey ihren Job beim BND auf, wo sie als Teil meines Spezialteams im geheimen Staatsdienst gearbeitet hatte, um eine kleine Arztpraxis zu eröffnen. Diese richteten wir jedoch nicht wie zunächst angedacht in der Stadt ein, sondern mit vereinten Kräften bei uns zu Hause. Auf dem weitläufigen Grundstück direkt am See entstand mit Hilfe meiner Vorstellung recht zügig ein Anbau mit passenden Räumlichkeiten. Auch wenn dies bedeutete, dass die Ruhe und Beschaulichkeit dieses wundervollen Ortes wochentags vorbei waren, wollte niemand, dass meine Frau ihre fabelhaften Heilkräfte nicht mehr einsetzen konnte. Zumal sie viel Zeit und Energie investiert hatte, um ihr Medizinstudium zu beenden und die Zulassung als praktische Ärztin zu erhalten. Timo und Susanna unterstützten uns, so gut es ging. Sie passten gern auf ihr Enkelkind auf, jedoch nur, wenn zumindest ein Elternteil unmittelbar greifbar war.

Anfangs nahmen wir die Aufsichtspflicht mehr als ernst, ließen unsere Tochter praktisch keinen Moment aus den Augen. Nachdem allerdings tage- und wochenlang alles völlig normal blieb, weder bösen Geister noch finsteren Gestalten auftauchten und auch sonst niemand besonderes Interesse an unserem Kind zeigte, entspannten wir uns ein wenig. Der Alltag holte uns allmählich wieder ein.

Etwa zwei Monate später nahmen wir Annie das erste Mal zu einem Ausflug nach Übersee mit. Wir wollten Bekannte und Freunde in den USA besuchen, ihnen unseren Nachwuchs vorstellen und ich beabsichtigte, routinemäßige Stippvisiten, Besprechungen und Trainingseinsätze mit einem befreundeten Spezialteam einzuschieben.

„Flieg vorsichtig“, verabschiedete mich mein knapp achtzigjähriger Vater, der gemeinsam mit seiner Frau noch immer eine kleine Ferienpension an der Nordseeküste betrieb. Meine Mutter war wegen eines Hüftleidens nicht mehr ganz so gut zu Fuß, aber trotzdem häufig im Garten anzutreffen. Die beiden winkten uns nach, als wir vor ihrem Haus abhoben, in vorschriftsmäßiger Geschwindigkeit und Höhe den Verkehrsluftraum durchquerten und dann in eine extra für heute angemeldete Flugbahn wechselten, um mit meinem Familienjet ganz sanft auf mehrfache Schallgeschwindigkeit zu beschleunigen. Annie schien diese Art der Fortbewegung zu gefallen, denn sie quietschte fidel in ihrem Baby-Safe, gluckste und plapperte ununterbrochen. Zoey hob sie auf ihren Schoß, als der gröbste Andruck vorbei war. „Schau dir das gut an, Kleines. Wenn du mal groß bist, gibt es diese Weite und dieses Blau vielleicht gar nicht mehr. Eventuell haben sie dann bereits alles mit schwimmenden Städten gepflastert, weil an Land kein Platz dafür ist.“

Ich lachte. „Was heißt hier eventuell? Da, wo wir hinfliegen, ist das schon Alltag.“

„Wirklich? Ich dachte, richtige Pontonstädte gibt es bisher nur in Mexiko und auf den Malediven ...“

„Little York kennst du nicht? Und gerade sind sie dabei, New Los Angeles zu errichten.“

Ich war erstaunt, dass sie von diesen Projekten noch nichts gehört oder gesehen hatte. Aber wahrscheinlich waren die vergangenen Monate einfach zu anstrengend für sie gewesen. Regelmäßig war sie bei den Nachrichten auf dem Sofa eingepennt. Mein letzter Besuch in den Vereinigten Staaten war zu einer Zeit während ihrer Schwangerschaft erfolgt, in der sie sehr viel mit Prüfungen, Anträgen auf ihre ärztliche Zulassung und Telefonaten mit Behörden zu tun gehabt hatte.

„Wow! Können wir uns das auf dem Weg anschauen?“

Zoey wirkte regelrecht fasziniert von der Idee.

„Natürlich, es ist es kein großer Umweg über N.L.A.“

„Es ist sehr schön, dass Annie und ich bei Professor Koutalis wohnen dürfen, während du überall rumtingelst. Besonders gespannt bin ich auf Dimitri. Den hab ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.“

Meine Frau setzte Annie wieder in ihre Schale, weil es leichte Turbulenzen gab.

„Er wohnt zwar schon seit einigen Jahren nicht mehr bei seinen Eltern“, entgegnete ich, „aber du wirst ihn wahrscheinlich trotzdem dort treffen, weil er scharf darauf ist, seine Pilotenkenntnisse in meinem Heli auszuprobieren. Wo er doch auf einen eigenen spart ...“

Die Turbulenzen wurden stärker, sodass ich unsere Geschwindigkeit drosseln musste.

„Hast du das öfter?“, rief Zoey gegen das lauter werdende Pfeifen des Windes an, von dem unser Fluggerät immer heftiger aus verschiedenen Richtungen attackiert wurde. Ein Luftloch riss uns nach unten, bevor ich es durch meine Vorstellung ausgleichen konnte.

„Nein“, murmelte ich. Annie war eingeschlafen. Ich wollte sie nur ungern aus ihrem Schlummer reißen, indem ich in der nötigen Lautstärke gebrüllt hätte. Deshalb wandte ich mich mental an meine Frau. Der Sturm um uns erreichte mindestens Hurrikanestärke und schien von überall her zu kommen. Wir wurden herumgewirbelt wie in einem Tornado. Ich konnte beinah nichts dagegen tun, uns nur mühsam oben halten, weil es einfach keinen sicht- oder messbaren Sturm gab. Meine Instrumente zeigten völlig normale Luftdruck- und Temperaturwerte, es gab kein Gewitter, keine erkennbare Luftbewegung, keine Wolkenberge. Um uns war schönstes Maiwetter. Das Meer lag ruhig unter uns, ein Kreuzfahrtschiff glitt dahin. Wir jedoch kämpften mit unmöglichen Gewalten, die mein Fluggerät schier zu zerreißen drohten.

Keine Ahnung, was das ist, aber es hat keinen natürlichen Ursprung, erklärte ich tonlos.

Vielleicht sind das die ‚Mächte‘ von denen dein Bruder gesprochen hat!

Ich spürte Zoeys Angst.

Bleib ruhig, Schatz - auf diese Art und Weise werden sie uns nicht zum Absturz bringen! Das schaffen sie nicht ... Kannst du da draußen irgendwas erkennen?

Ich selbst musste nun meine gesamte Konzentration darauf verwenden, um nicht genau den Fall eintreten zu lassen, den ich gerade dementiert hatte: unseren Absturz. Das Wüten wurde noch heftiger, als würde nun ein Riese den Jet in seiner Faust halten, herumwirbeln und versuchen, ihn wie ein Papierflugzeug zusammenzudrücken. Ich drückte von innen dagegen, stemmte mich mit aller Macht gegen die übernatürliche Gewalt. Meine Konstruktion ächzte, verformte sich, die Flügel rissen ab, ich erneuerte sie. Zoey lehnte sich schützend über unser Kind und wimmerte leicht. Sie stand Todesängste aus, starrte aber trotzig in die umgebende Luft, die völlig unsichtbar um uns wirbelte, uns hob und niederwarf wie ein Spielzeug.

Da ist etwas! Es ist ... gigantisch. Ein Monster mit vielen Armen! Fast wie ein Krake mit einem beinah menschlichen Gesicht. Oh Simon, dieses Ding macht mir solche Angst! Es darf Annie nicht kriegen!

Ich stöhnte. Das war ein Dämon! Mit so einem hatte ich es in meiner gesamten Karriere noch nie zu tun gehabt, aber ich wusste, dass es einer war. Was sonst konnte derartige Kräfte entwickeln? Es schien unmöglich, zu landen oder aus der Reichweite dieses Giganten zu entkommen. Er hielt uns irgendwie fest. Doch solange ich meine gesamte Energie darauf verwenden musste, nicht zermalmt, zerrissen oder zu Tode geschleudert zu werden, gelang es mir nicht, ihn für mich sichtbar werden zu lassen, geschweige denn gegen ihn anzutreten. Zoey konnte jedoch ebenfalls Geister sehen und mit ihnen reden. Vielleicht ließ dieser hier sich irgendwie von ihr vertreiben? Die Chance schien gering, aber momentan mussten wir nach jedem Strohhalm greifen.

„Versuch du es!“, flüsterte ich. „Sag ihm, dass er verschwinden soll, bevor wir ungemütlich werden. Droh ihm, mach ihm Angst ...“

Wenn du es kannst, dann werde doch einfach ungemütlich! Mein Schatz wirkte verzweifelt. Ich kann das nicht! So was hab ich noch nie gemacht ...

„Irgendwann ist immer das erste Mal. Jetzt wäre ein passender Moment, Zoey!“

Sie musste meine eigene Verzweiflung sowie die Zunahme meiner Erschöpfung spüren. Dieser Dämon war verflucht stark! Soeben versuchte er, den Jet auseinanderzureißen. Ich hielt dagegen.

„Hau ab!“, hörte ich meine Frau schreien. Der Klang ihrer Worte ebnete mir den Weg in die andere Welt. Für einen Moment vernahm ich ein hämisches Lachen, sah ein albtraumhaftes Geschöpf mit zu vielen Armen, das an unserem Gefährt riss. Dann war die Vision wieder weg, weil ich mich zu sehr auf das Hier und Jetzt konzentrieren musste. Mist!

„Rede weiter mit ihm“, ermunterte ich sie. „Sag etwas, irgendwas. Solange du dich mit deiner Stimme an ihn wendest, sehe ich ihn.“

Gleichzeitig spürte ich, wie sinnlos es war, an diesem dämlichen Jet festzuhalten. Er würde uns nicht retten. Wir brauchten etwas anderes ...

„Halt das Baby fest und lenk den Dämon ab, ich versuche ihn auszutricksen!“, bat ich meine Frau.

„Lass uns sofort los, du fettes, hässliches Monster!“, giftete Zoey und umklammerte Annies Sitzschale.

Wieder hörte ich dieses grausige Lachen. Ich löste den Jet auf und ließ uns fallen. Wie in Zeitlupe merkte ich, dass wir den Fängen des Dämons entglitten und die Schwerkraft ihren Dienst tat. Zoey schrie panisch. Das Ding brüllte überrascht, schnappte nach uns, verfehlte uns knapp. Zwei weitere Arme schnellten aus verschiedenen Richtungen heran. Ich konzentrierte mich darauf, dass sie uns nicht erwischen konnten, umhüllte uns mit einem schmierseifenglatten Kokon. Zum Glück verlor ich die Gestalt nun nicht länger aus den Augen, weil ich mich auf sie fokussiert hatte und mich zumindest teilweise in ihrer Welt befand.

„Super gemacht, Schatz! Jetzt sehe ich ihn und er wird euch nichts mehr tun.“

„Aber wir fallen!“ Die Panik in Zoeys Stimme und Gedanken umhüllte mich einen Moment lang enger als der Kokon, den ich bereits wieder entfernte.

„Ja, doch es muss sein! Keine Sorge, ihr werdet sicher landen ... Das Kreuzfahrtschiff wird euch aufnehmen.“

Wir mussten uns trennen. Glasklar war dies die einzige Option, die Chancen auf Erfolg hatte. Das Ding war einfach zu groß für mich allein! Aus Erfahrung wusste ich, wie wenig meine Vorstellung schon bei einem deutlich kleineren Vertreter dieser Art ausrichten konnte, deshalb brauchte ich Hilfe. Bis sie eintraf, musste ich ihn von meiner Frau und meiner Tochter ablenken und startete im Fallen eine Reihe von Aktionen:

Für eine gefühlte Ewigkeit blendete ich den Dämon mit dem hellsten Licht, das es für dieses Geschöpf der Finsternis geben konnte - mit dem gebündelten Strahl meiner Liebe zu Zoey und Annie, den ich auf seine riesigen Augen richtete. Wie erwartet ertönte ein gewaltiges Fauchen. Das Biest zog seine vielen Arme zum Schutz an seinen hässlichen Kopf heran. Diesen Moment nutzte ich, um für meine Liebsten einen Fallschirm zu erdenken, der sie sanft abbremste und mit dem sie in Richtung des Vergnügungsdampfers schwebten. Sie waren nun schon nah über dem Wasser, doch vom Schiff aus hatte sie bisher niemand entdeckt.

„Kannst du den Schirm lenken, Schatz?“, erkundigte ich mich sicherheitshalber.

Natürlich ... Sei vorsichtig, wir brauchen dich noch!

Erleichtert bemerkte ich, dass Zoey ihren kühlen Kopf zurückhatte und mit Annie im gedachten Tragerucksack vor dem Bauch gekonnt auf das große Meeresfahrzeug zusteuerte. Nicht umsonst war sie sehr geübt im Umgang mit meinen Kreationen aller Art, weil sie bereits von klein auf damit trainierte. Sofort nach ihrer Landung führte ich erneut das Manöver durch, dass mir die Trennung von Körper und Geist ermöglichte. Meine momentan eher hinderlichen achtzig Kilo prallten heftig auf die Wasseroberfläche, sodass es anschließend sicherlich einiges an Reparaturarbeiten gab. Es interessierte mich gerade wenig.

 

Merkwürdigerweise hielt die Wirkung meiner Ablenkung noch immer an. Der Dämon heulte, schlug blind und wild mit seinen viele Armen um sich und erholte sich nur langsam von dem schweren Schlag, den ich ihm offensichtlich damit verpasst hatte. Verblüfft beobachtete ich die riesige Gestalt, die plötzlich sehr viel weniger beängstigend wirkte.

„Wie eine aufgeblasene Monsterpuppe“, murmelte ich.

„Natürlich. Was hast du denn gedacht?“

Die Stimme meines Bruders erklang in meinem Kopf. Ich brauchte mich nicht umzusehen, um zu wissen, dass er nicht da war, um mir zu helfen. Wozu auch? Der Blendstrahl, von dem ich angenommen hatte, dass er den Dämon vielleicht zehn oder fünfzehn Sekunden ablenken würde, hatte beinah ausgereicht, ihn zu vernichten.

„Geh nach Hause!“, befahl ich ihm mit aller Autorität, die ich aufbringen konnte. Der Gigant schrumpfte zusammen wie ein Gummitier, aus dem man die Luft rausließ, bis er mit einem leisen Plopp aus dieser Dimension verschwand.

„Würdest du dich jetzt bitte um deine Tochter kümmern, anstatt dich überflüssigerweise hier rumzutreiben und deine Energie an drittklassige Handlanger-Dämonen zu vergeuden?“

Abu Thalib klang nicht besonders amüsiert, eher genervt. „Ich habe noch andere Aufgaben, als auf dich aufzupassen.“

Annie! Mit Schrecken sah ich, wie das Schiff unter mir von einem unheimlichen Nebel eingehüllt wurde. Selbst von meinem momentanen Aufenthaltsort aus ahnte ich die unendliche Kälte, die davon ausging.

„Nein!“, hauchte ich. Mein Entsetzen konnte eigentlich nicht größer werden. Von wegen ich lenke das Monster ab! Dieser Pseudo-Dämon eben war nichts als eine gelungene Ablenkung für mich gewesen! Genug, um mich von meinen Liebsten zu trennen, sie quasi schutzlos zurückzulassen. Gedankenschnell war ich bei dem Ozeanriesen. Die Kälte durchdrang mich, als ich in den Nebel eintauchte. Obgleich sie mir physisch nichts anhaben konnte, war sie rein emotional bereits der Horror. Wie musste es den hunderten von Menschen auf dem Schiff ergehen! Sofort erkannte ich, dass ich in meinem jetzigen Zustand keine Hilfe sein würde und so schnell wie möglich meinen Körper brauchte. Jetzt! Aber wo war er? Indem ich die bewusste Suche danach aussperrte und mich rein auf meine Moleküle konzentrierte, befand ich mich bereits dort - tief im Meer.

 

Ich kam zu mir, als etwas an meinem linken Bein zerrte und mir den halben Arm abriss. Haie! Offensichtlich hatten die zahnbewehrten Meeresräuber mich als Beute für sich entdeckt und waren dabei, mich mundgerecht zu zerlegen. Ziemlich nachdrücklich redete ich es ihnen wieder aus, indem ich ihr empfindliches Seitenlinienorgan mit mittleren Stromstößen verwirrte. Sie zogen ab und durften nicht den kleinsten Happen ihrer Mahlzeit behalten. Pech für sie.

Noch während mein Körper sich regenerierte, bewegte ich mich pfeilschnell auf das Schiff zu. Ein gedachter Scooter beförderte mich mit Höchstgeschwindigkeit zum Rumpf des Stahlriesen. Auftauchen gelang mir allerdings nicht so schnell, da das Wasser ringsum meterdick gefroren war. Wärme. Ich brauchte viel Wärme! Ein glühender Kegel zerschmolz das Eis vor mir, da ich weder Lust noch Zeit für Umwege hatte. Mit einem mächtigen Satz beförderte ich mich über die Reling, kam knirschend auf dem vereisten Deck auf. Mein Atem gefror sofort zu winzigen Eiskristallen. Obwohl der Nebel sich verzogen hatte, war die Temperatur so weit unter null, dass die Luft kaum atembar schien. Bevor ich auf dem Boden festfror, war ich schon unterwegs zu Zoey und Annie. Die beiden hatte ich bereits vor meiner Ankunft auf einem der unteren Decks ausfindig gemacht. Sie saßen unter einer gefrorenen Wolldecke, es steckte nur noch wenig Leben in ihnen. Wie sehr verfluchte ich mich für meine unendliche Dummheit! Ich hätte es wissen müssen ...

Aber wie? Wie hättest du es wissen sollen?

Die Antwort tief in mir kam von meinem zweiten Bruder und beruhigte mein verzweifeltes Herzklopfen ein wenig.

Behutsam gab ich meinen Liebsten Wärme, taute sie buchstäblich von innen heraus auf. Zoey hatte Annie so eng wie möglich an sich gepresst und ihr offensichtlich das meiste von ihrer Körperwärme abgegeben. Deshalb war ihr eigener Herzschlag noch viel schwächer als der unseres Babys. Dennoch machte ich mir um sie etwas weniger Sorgen. Sie würde es schaffen und ihre Erfrierungen selbst heilen können, wenn sie jetzt genug Wärme erhielt, um ihren Kreislauf in Schwung zu bringen. Während ich meine Familie aufheizte, war ein Teil von mir schon unterwegs, um weitere Überlebende zu finden. Tief im Schiffsinneren war die Temperatur nicht so stark gefallen. Dort drängten sich einige hundert Passagiere, die es bis hierher geschafft hatten sowie etliche Mitglieder der Schiffsmannschaft. Vor allem die Maschinenraumbesatzung und das Küchenpersonal hatten mächtiges Glück gehabt. Ein paar Bewohner von Außenkabinen, hartnäckige Sonnenanbeter sowie die Crew auf der Brücke hatten diese Kälteattacke dagegen nicht überlebt.

„Simon?“

Zoeys Stimme drang schwach in mein Bewusstsein, holte mich zu ihr zurück. Sie hatte es geschafft und Annie auch! Tränen der Erleichterung gefroren auf meinen Wangen, während ich sie beide sanft auf die Stirn küsste und dick in gedachte Kleidung eingepackt zurückließ, um den restlichen Überlebenden zu helfen.

Der Einfachheit halber hüllte ich jeden Menschen, in dem ich noch eine Spur Leben fühlte, in wärmende Heizkleidung und steigerte die Temperatur ganz behutsam. Bei einem etwa neujährigen Jungen blieb ich länger. Er lebte noch, aber wirklich nur so eben. Bei ihm musste ich besonders vorsichtig vorgehen, um den Kreislauf nicht zu schnell anzuregen und so einen Kälteschock hervorzurufen. Er hatte wie die meisten Überlebenden Erfrierungen im Gesicht, an den Händen, an Armen und Beinen. Niemand an Bord hatte Winterkleidung getragen - wozu auch, Mitte Mai?