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Bei einem Konzert begegnen sich Erik und Helena, beide sind verheiratet und erleben das variantenreiche Spiel der Erotik, das zu Spannungen mit den Ehepartnern führt. Der erfolgreiche Pianist kann und will Helena nicht aufgeben, obgleich er seiner Ehefrau Helga und seinen Söhnen in Liebe und mit Verantwortung verbunden ist. Er sucht nach Wegen, das magische Dreieck aus, Erwartungen seiner Familie, Anziehungskraft einer anderen Frau und der herrschenden Moral, in einen Einklang zu bringen.
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Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Ekkehard Meyer wuchs in einer fünfköpfigen Familie im Nachkriegsberlin auf. Als Schüler begeisterte er sich für den Zusammenschluss Europas und hatte die Gelegenheit in Gastfamilien in Frankreich und England zu leben. Er gründete zusammen mit Freunden die EAG, eine Arbeitsgemeinschaft, die eine Vereinigung Europas unterstützte, für die er Manifeste und Liedertexte verfasste. Der Autor studierte Wirtschaftswissenschaften und Maschinenbau und erlebte intensiv die 1968er Protestbewegung der Studenten.
Die berufliche Tätigkeit führte den Autor in mehrere Städte des süddeutschen Raums. Er gestaltete für mittelständische Unternehmen und Industriebetriebe die ausländischen Vertriebswege und konnte die Denk- und Lebensweisen anderer Kulturkreise schätzen lernen.
Als der Broterwerb nicht mehr im Mittelpunkt stand, widmete sich der Autor zunächst der Musik und später der Literatur. Er ist Mitglied der Literarischen Gesellsaft Karlsruhe, einige seiner Kommentare und seine Bücher: Der europäische Schatten, Wirtschaft ohne Moral, wurden veröffentlicht.
Ekkehard Meyer ist verheiratet, hat zwei erwachsene Söhne und vier muntere Enkel.
Januar 2016
Der Mensch strebt danach gut zu sein und im Einklang mit sich und seiner Umwelt zu leben und Glück zu erhaschen. Er will ein Hypermensch werden, der in der Lage ist, seine niederen Triebe, wie: Hass, Rache, Eifersucht und Gier, zu beherrschen. Dabei behindern ihn oft seine Charaktereigenschaften, die er sich nicht aussuchen durfte und die geprägt sind durch: Erbanlagen, Umfeld und Erziehung.
Der erfolgreiche Pianist Erik kann und will kein treuer Ehemann sein, daher hadert er mit der herrschenden Moral. Insbesondere lehnt er sich gegen das sechste Gebot auf und versucht eine moralische Orientierung zu finden, die losgelöst von der Religion sein will. Als er der attraktiven Helena begegnet, wird er von ihrem Zauber gebannt, obwohl er mit Liebe und Verantwortung an seiner Ehefrau Helga und an seinen beiden Söhnen hängt.
Seine Konzertreisen führen ihn an viele malerische Plätze in der Welt. Die Leserin und der Leser können eintauchen in die majestätische Winterlandschaft der Alpen, in die Welt der Maories auf Neuseeland, in die Tierparks Südafrikas, sich zurückversetzen lassen in die Zeit der Pharaonen in Ägypten und in das Leben der Mayas in Mexiko, oder die Erhabenheit der Ewigen Stadt Rom auf sich wirken lassen. Sie können Anteil nehmen an den Herausforderungen der Eltern von heranwachsenden Kindern, erhalten Einblicke in die Welt der Oper und können über Missgeschicke hinter den Kulissen schmunzeln.
Immer wieder suchen Erik und Helena eine Begegnung, lassen sich vom Rausch der Sinne und ihrer Liebe gefangen nehmen und bestehen Abenteuer auf ihren gemeinsamen Reisen. Durch Eriks Verhalten werden die Gefühle seiner Ehefrau ungewollt verletzt und auch Helena fühlt sich durch seine Liebe zwar gekrönt, aber auch gekreuzigt. Daher versucht er das magische Dreieck aus: Erwartungen seiner Ehefrau, Sehnsüchte von Helena, Wunsch nach Überwindung von herrschenden Moralvorstellungen in einen Einklang zu bringen.
In kurzweilig erzählten Rückblenden werden die Ehen der Großeltern beschrieben und andere Formen eines Zusammenlebens betrachtet. Bietet eine ungebundene Partnerschaft Vorteile, ist die WG (Wohngemeinschaft) eine Alternative, kann die Ehefrau beruflich erfolgreich sein, ohne die Kindererziehung zu vernachlässigen, könnte das Familienleben in unterentwickelten Völkern oder in der Tierwelt ein Beispiel geben? Diese Fragen stellt sich Erik und er versucht herauszufinden, ob die Ehe noch als zeitgemäß angesehen werden kann und die Forderung nach sexueller Treue der Natur des (männlichen) Menschen gerecht wird. Anschaulich und humorvoll wird auch die reife Liebe beschrieben, die Helga und Erik erleben mit all den Freuden und Pannen des Altwerdens.
Wenn die Liebe dich ruft, so folge ihr,
auch wenn ihre Wege schwer und steil sind.
So wie die Liebe dich krönt,
so kann sie dich auch kreuzigen.
So wie sie dein Wachstum begünstigt,
so ist sie auch für dein Beschneiden.
Khalil Gibran (1883 bis 1931) „Der Prophet“
Der Autor/ Kurztext für Buchrücken
Vorwort des Autors
Geleitwort/Widmung
Kapitel 1
Die Begegnung
München, 1985
Kapitel 2
Heranwachsende Kinder
Berlin, 1986
Kapitel 3
Ein folgenreiches Wiedersehen
München, 1986
Kapitel 4
Im Rausch der Sinne
Lech, 1988
Kapitel 5
Martha erzählt vom Zweiten Weltkrieg
Berlin, 1988
Kapitel 6
Begegnung mit dem Diktator
Berlin, rückblickend auf 1936
Kapitel 7
Liebe in der Welt der Oper
Karlsruhe, 1990
Kapitel 8
Prägende Kindheitserlebnisse
Garmisch, 1991
Kapitel 9
Ein abenteuerlicher Segeltörn
Neuseeland, 1996
Kapitel 10
Familienleben im Busch
Südafrika, 2001
Kapitel 11
Versteckspiel
Ägypten, 2006
Kapitel 12
Formen des Zusammenlebens
Mexiko, 2009
Kapitel 13
Der Hypermensch
Rom, 2014
Kapitel 14
Das letzte Konzert,
Berlin, 2015
Einmal mehr blickte die Welt der Kunst nach München, denn die berühmte Gemäldegalerie Steinberg hatte zu einer Vernissage eingeladen. Der Maler, van Tol, der auch internationale Anerkennung fand, stellte Bilder aus seiner jüngsten Schaffensperiode vor und wurde von Besuchern umringt. Dieses Ereignis lockte Künstler, Kritiker, Mäzene, Kaufinteressierte und Neugierige nach München und fand sogar im lokalen Fernsehen Erwähnung.
Die polierten Marmorböden der Galerie, die hohen Säulen, die breite Treppe und die Kerzenleuchter verliehen ihr ein edles Ambiente. Erik saß am Flügel in der Gemäldegalerie und beobachtete die illustren Gäste, als ihm Herr Steinberg ein Zeichen gab mit dem Klavierspiel zu beginnen. Er spielte bekannte Melodien als Hintergrundmusik, die ihm als geübten Pianisten wenig Anstrengung abverlangten. Müßig ließ Erik seinen Blick über die Zuhörer wandern, die sich an Sektgläsern festhielten, in kleinen Gruppen vor den Bildern standen und sein Klavierspielen kaum würdigten. Da traf ihn ein Blick, der ihm so unter die Haut ging, dass er versehentlich einen unpassenden Akkord spielte. Erik erwiderte diesen Kontakt mit einem Gesichtsausdruck, der Verwirrung aber auch Faszination erkennen ließ. Der Blick kam von einer Besucherin, die in einem Halbkreis um den Flügel herumspazierte, als sollte er eingekesselt werden. Sie war schlank, dunkelhaarig, keine schöne, eher eine aparte Frau, Mitte dreißig, mit großen, ausdruckstarken Augen. Sie wirkte eher unauffällig in ihrem grauen Kostüm mit dem lieblos gesteckten Halstuch, nur ihr Blick und ihr Gang in den beängstigend hohen Schuhen, hatten etwas Bemerkenswertes und Provozierendes. Die Füße wurden sorgfältig voreinander gesetzt und ihre Hüfte machte eine kleine schwingende Bewegung bei jedem Schritt, während sie den Kopf so aufrecht hielt, dass ein Buch beim Gehen vom Kopf nicht heruntergefallen wäre. Der Gang erinnerte an den von Mannequins auf einem Laufsteg.
Erik spielte jetzt den Titel, den Frank Sinatra erfolgreich gesungen hatte: Strangers in the night, und beobachtete diese faszinierende Frau aus dem Augenwinkel. Dann legte er eine Pause ein und schlenderte gemächlich zum Büfett, das im Vorraum aufgebaut war. Hier waren Garnelen zu einem Schwan geformt, dem Wappentier der Galerie Steinberg und es gab andere erlesene Appetithäppchen. Erik angelte sich gerade ein Lachsschnittchen, als neben ihm eine flinke Hand nach einer Olive pickte.
„Können Sie den Titel: Blue Moon, für mich spielen?“, fragte die geheimnisvolle Fremde, die plötzlich neben ihm stand. Ihm fiel fast das Schnittchen aus der Hand, als er sie so dicht neben sich spürte. „Ich spiele fast alles, was hier gewünscht wird, es ist meine Aufgabe die Besucher zu erfreuen. Ihnen einen Wunsch zu erfüllen, bereitet mir eine besondere Freude. Wollen Sie hier ein Bild kaufen?“, gab er lächelnd zurück.
Sie wiegte den Kopf hin und her, knabberte lustlos an ihrer Olive und antwortete: „Ich suche ein großes Bild in Brauntönen gehalten für den Eingangsbereich unseres Gemeindehauses, es soll noch gegenständlich sein, aber auch mit einer Hinwendung zum Unendlichen.“
Er schüttelte den Kopf und musste schmunzeln: „Ihre Gemeinde muss wohlhabend sein, wenn sie hier ein Bild erwerben will. Ich versuche mir vorzustellen, wie der Maler eine Hinwendung zum Unendlichen auf die Leinwand bringen könnte. Musikalisch könnte das vielleicht gelingen.“
Sie blickte ihm nun voll ins Gesicht. „Ich habe wenig Hoffnungen hier ein geeignetes Bild zu finden, aber wie sich die Unendlichkeit musikalisch einfangen lässt, das würde ich liebend gerne hören.“
Mit einem Blick zum Flügel sagte er: „Die Arbeit ruft“, und ging zurück in den Ausstellungsraum. Erik spielte zunächst ein paar Titel, dann nahm er das Mikrophon in die Hand und verkündete mit süffisantem Lächeln: „Und nun: Blue Moon, auf Wunsch einer bildersuchenden, himmelwärts gewandten Dame.“ Er spielte zunächst diesen Titel, wie er in den Noten steht, aber dann wandelte er das Thema ab und improvisierte eine Melodie hinzu mit zarten, fast sphärisch klingenden Tönen, die in ein großes Crescendo mündete und der Fremden und auch anderen Zuhörern sichtbar unter die Haut ging.
Erik Müller war ein bekannter und gesuchter Pianist, groß, sportlich mit braungelocktem Haar, stets gutgelaunt, der mit einer unterhaltenden und witzigen Moderation zu jedem vorgetragenen Titel seine Zuhörer fesseln konnte. Viele Besucher sind wohl zu der Vernissage mehr gekommen, um ihn zu erleben und weniger, um Bilder zu kaufen.
Gegen zweiundzwanzig Uhr ging die Ausstellung zu Ende und Erik fragte die Fremde, ob sie gleich nach Hause gehen müsse, oder noch auf ein Glas Wein in die nahegelegene Weinstube mitkommen wolle. Sie nickte, ohne zu zögern und stöckelte neben ihm her, hatte aber auf dem Kopfsteinpflaster mit den hohen Schuhen Schwierigkeiten und hakte sich, ohne zu fragen, bei ihm ein. In dem Weinlokal wählte sie, mit Hinweis auf die Heimfahrt mit dem Auto, ein Glas Sprudel und er bestellte sich einen kräftigen, trocknen Spätburgunder. Sie stellten sich gegenseitig vor. Ihr Name: Helena, gefiel ihm, er erinnerte an die schöne Frau aus der griechischen Mythologie, die von Paris entführt wurde und den Trojanischen Krieg ausgelöst hatte. Erik wollte mehr über sie in Erfahrung bringen, insbesondere, interessierte es ihn, ob sie verheiratet ist und er fragte scheinheilig: „Überlässt Ihr Ehemann immer Ihnen die Auswahl von Bildern, oder mag er Vernissagen nicht?“ Helena erkannte sofort den Pferdefuß in seiner Frage und überlegte, ob sie sich öffnen wollte und antwortete: „Mein Mann ist farbenblind oder farbschwach, wenn man es freundlicher formulieren möchte, übrigens sind das über zwanzig Prozent der Männer, Frauen sind sehr selten von einer Farbschwäche betroffen, er interessiert sich schon deshalb nicht für Bilder. Begleitet Ihre Frau Sie nicht auf ihren Tourneen?“
Er trug zwar keinen Ehering, aber machte auch keinen Hehl aus seinem Familienstand, wenn er danach gefragt wurde: „Sie begleitet mich in Länder, die sie gerne sehen möchte, wenn wir einen Betreuer für unsere beiden Söhne finden und das ist selten der Fall.“
„Wie sind Ihre Söhne und vermissen sie nicht den oft verreisten Vater“, hakte sie interessiert nach.
„Pascal ist jetzt acht Jahre alt, hat wohl von seinem Vater einige Gene mit auf den Lebensweg bekommen, er spielt gut Klavier, steht gerne im Rampenlicht, hat ein ausgleichendes und fröhliches Gemüt, sprudelt vor Ideen und ist im Alltag etwas anstrengend. Rudolf ist erst sechs Jahre alt, hat von seiner Mutter die Sensibilität mitbekommen, versucht alles mitzumachen, was der Ältere ausheckt und ist ein sonniges, unkompliziertes Kind.
Nach der Geburt von Pascal hat meine Frau, Helga, ihr Medizinstudium abgebrochen, um sich voll der Kindererziehung widmen zu können. Gelegentlich kommt der Ehemann dabei zu kurz.“
Helena zuckte leicht zusammen, als hätte er ihr einen Vorwurf gemacht: „Unser Sohn Carsten ist jetzt dreizehn Jahre alt, er ist zwar intelligent, aber er spielt überall den Clown, verhält sich aufmüpfig und befindet sich derzeit in einer schwierigen Phase.
Irgendwie hat er von Anfang an seine Mutter nicht beachtet, er strahlte immer nur seinen Vater an. Damals war das Geld bei uns knapp, auch konnte ich mir ein Leben zuhause nur mit Putzen und Windelnwickeln nicht vorstellen, daher habe ich, sobald ich konnte, meine berufliche Tätigkeit in meiner Steuerkanzlei wieder aufgenommen. Es hat mir Spaß gemacht mit Kunden zusammenzukommen, Probleme zu lösen, die Kanzlei erfolgreich zu machen und Geld zu verdienen. Meine Mutter kümmerte sich liebevoll um ihren ersten Enkel und wirkte fast traurig, wenn sie ihn abends wieder abgeben musste.“
Erik wirkte nachdenklich und ihre Darstellung überzeugte ihn nicht ganz. Er stellte sich seinen Sohn vor, der von der Schule mit seinen Problemen heimkommt und keine Mutter, sondern nur die Oma vorfindet. Dennoch interessierte ihn diese Frau, auch weil sie berufstätig war und Mutter: „Ich kann mir gut vorstellen, dass eine aktive, vom beruflichen Erfolg verwöhnte Frau, zu wenig Erfüllung bei der Kinderbetreuung findet. Ich halte jedoch den Mutter-Kind Kontakt in den ersten Lebensjahren für wichtig und war froh, dass Helga nicht nach beruflichen Erfolgen strebte. Das zusätzlich verdiente Geld wird auch zusätzlich ausgegeben und wird nach einiger Zeit gar nicht als Zusatzeinkommen oder Erhöhung des Lebensstandards wahrgenommen.“
Helena lehnte sich zurück und sah ihm bohrend in die Augen: „Hat Ihre Frau den Verzicht ihrer beruflichen Karriere erklärt oder haben Sie ihn eingefordert? Wir Frauen sind schon mit der Geburt belastet, sollen wir automatisch auch noch mit der Betreuung der Kinder bestraft werden und auf eine berufliche Tätigkeit verzichten?“
„Ich begrüße es, wenn der Frau die Kindererziehung wichtiger ist als ihre Karriere, einfordern sollte man es nicht.“
Das ganze Thema war ihr wenig angenehm und daher lenkte Helena das Gespräch schnell in eine andere Richtung: „Waren Sie schon einmal in Neuseeland? Die Berichte, die ich von diesem Land gehört habe, fesseln mich und ich würde gerne auf einem Segelboot in den Wellen des Pazifiks kreuzen und auch das milde Klima und die Schönheit des Landes erleben, sowie mich in die Welt der Magie der Maoris entführen lassen.“
Er nickte mit dem Kopf und sein Gesicht strahlte bei dem Gedanken an dieses Land: „Ja, ich hatte ein Konzert in Auckland und empfand Neuseeland als eines der schönsten Länder, das ich je auf meinen Reisen kennengelernt habe. Aber ist es entsetzlich weit, wenn das Flugzeug in Singapur zwischenlandet, dann hat man gerade einmal die Hälfte geschafft und man fühlt sich bei den freundlichen Menschen dort auch am Ende der Welt. Zu einer Segelbootfahrt fehlte mir die Zeit und der einzige Maori, mit dem ich sprechen konnte, war mein Taxifahrer. Die Landschaft hat mich an die Schweiz erinnert, nur dass es in Neuseeland wärmer ist und man sieht zusätzlich das Meer mit unzähligen Segelbooten.“
Sie warf ihm einen bewundernden Blick zu und fragte: „Haben Sie keinen Ausflug gemacht und mussten gleich zurückfliegen?“
„So etwas tue ich mir nicht an, ich habe schon einiges ansehen können, aber ich war ja nicht als Urlauber dort. An einem Sonntag habe ich mir ein Auto gemietet und bin auf der Nationalstraße eins nach Rotorua gefahren, das zu den interessantesten Thermalzonen der Erde zählt. Dabei muss man sich beim Fahren nach jeder Kurve sagen: Schön links bleiben, denn wo einst die Engländer herrschten, gibt es heute noch Linksverkehr. Heilkräftige Quellen sprudeln dort an jeder Ecke aus dem Boden und wer ein Bad im Mineralwasser der Polynesian Pools nimmt, wird von allen Gebrechen geheilt, aber nur, wenn er daran glaubt. Besonders beeindruckend sind die Geysire, sie schießen heißes Mineralwasser und Dampf in unterschiedlichen Zeitabständen fünfzehn Meter in die Höhe. Die Energiekosten für das Kochen sind in dem Maoridorf Whaka sehr gering, die Hausfrau stellt den Topf mit Gemüse morgens einfach in ein Erdloch und wenn sie mittags vom Feld kommt, dann ist das Gemüse gar.“
„Ach, ich würde mir gerne fremde Länder ansehen, aber mein Mann scheut weite Reisen und daher bleiben so exotische Ziele für mich wohl nur ein Wunschtraum“, bemerkte sie mit gesenktem Blick und lehnte sich zurück.
„Führen Sie denn ein so strenges Regime in Ihrer Ehe, dass die Partner nichts alleine unternehmen dürfen und wird das von beiden Seiten so gewollt?“
In Helenas Gesicht konnte man einen Hauch von Enttäuschung wahrnehmen: „Heinrich ist Pfarrer und steht daher etwas im Rampenlicht und von einer Pfarrersfrau erwartet man die Einhaltung gewisser Spielregeln. Auch haben wir uns bei der Trauung die gegenseitige Treue in der Ehe versprochen.“
Erik machte ein nachdenkliches Gesicht und kippelte auf seinem Stuhl vor und zurück, als wolle er ein wackliges Gleichgewicht demonstrieren: „Wenn sich der eine Partner zum Beispiel nicht für Musik interessiert, dann kann der andere Partner trotzdem alleine in ein Konzert gehen, ohne die eheliche Treue zu verraten.“
„Heinrich würde mir das zwar nicht verbieten, aber er würde mich deutlich fühlen lassen, dass er es missbilligt, mit Fragen: Wie lange dauert das Konzert, wann bist du wieder zuhause, geht denn niemand mit zu dem Konzert, was gibt es heute Abend zu essen. Er würde mich belauern, da er befürchten würde, hier eröffnet sich die Möglichkeit den Pfad der Tugend zu verlassen.“
„Dann sitzt jetzt Ihr Mann daheim und trommelt mit den Fingern auf dem Tisch, weil er jede Minute bis zu ihrer Rückkehr zählt?“
Ihr Gesicht entspannte sich und sie setzte ein Schmunzeln auf, das ihm sehr gut gefiel: „Eigentlich haben Sie Recht mit ihrer Vermutung, nur befindet er sich heute auf einem Kongress und erfährt gar nicht, wann ich nach Hause komme. Sonst würde ich auch jetzt nicht hier sitzen.“
Am Nachbartisch nahm jetzt rumpelnd ein älteres Ehepaar Platz. Er war von stattlicher Größe und sein Bauch schwappte in zwei Wellen über den Gürtel. Seine Kleidung wirkte gepflegt und das Gesicht mit dem grauen Schnauzbart, den eng beieinander liegenden Schweinsäugelein und dem Doppelkinn etwas feist, seine Gesten hatten etwas Gebieterisches. Der mitgeführte, pummlige Hund machte einen müden Eindruck, er hatte ein zottiges Fell und sein Gang war watschelig, als hätte er den Gang von seinem Herrchen übernommen. Sie versteckte ihre welke Haut, so gut es möglich war, unter teurem Schmuck, das Haar war etwas zu dunkel gefärbt und man sah leicht den hellen Haaransatz. Das elegante, prall gefüllte Kostüm ließ zwar auf einen gewissen Wohlstand schließen, aber es verriet auch, dass sie den Kampf gegen die Pfunde längst verloren hatte. Das Paar hatte sich nicht mehr viel zu sagen, denn sie sprach unentwegt nur mit dem Hund: Purzel Platz, ja, brav, hier dein Leckerli. Er starrte alle Gäste weiblichen Geschlechts schamlos an und ließ dann die junge Kellnerin kommen. Sie stellte mit ihrem flotten Gang, dem langen, blonden Haaren und ihrem frischen Lächeln einen erfreulichen Kontrast zu dem mürrischen Paar dar: „Ach, Ihnen möchte ich auch einmal im Mondschein begegnen!“, sagte er und gab ihr einen kleinen Klaps auf den Po, um zu unterstreichen, in welche Richtung seine Vorstellungen gingen.
Die Kellnerin hätte ihm gerne eine passende Antwort gegeben, aber sie durfte den Gast nicht brüskieren, daher trat sie einen Schritt zurück, lächelte verkrampft und sagte artig: „Dann würden Sie sicherlich ihre Frau nach Hause begleiten.“
Erik hatte den Eindruck die Gäste am Nachbartisch würden zuhören, daher fuhr er leiser fort: „Bei einer Frau, die mir nur treu ist, weil sie keine Gelegenheit zur Untreue hat, wie es in manchen arabischen Ländern der Fall ist, müsste ich doch befürchten, dass sie die erste Gelegenheit zur Untreue sofort nutzen würde und sie daher dauernd eingesperrt lassen. Der Mann, der nur treu ist, weil keine Frau ihn reizvoll findet, ist eigentlich nicht treu, sondern nur chancenlos. Wenn schon Treue, dann sollte sie einer inneren Überzeugung entspringen und sollte nicht basieren auf der Furcht vor Strafe oder der Angst davor, die Moralvorstellungen der Mitmenschen zu verletzen.“
Helena setzte sich aufrecht hin, richtete ihren Blick in die Ferne und es entstand eine unangenehme Gesprächspause: „In der Kirche habe ich vor der versammelten Gemeinde gelobt: Ich bin treu, bis dass der Tod uns scheidet. In der Bibel heißt das sechste Gebot: Du sollst nicht ehebrechen. Ein ähnliches Gebot findet man auch in anderen Religionen, daher hat es sicherlich einen tieferen Sinn. Darf der Mensch sich über die elementaren Regeln des christlichen Zusammenlebens hinwegsetzen?“
Erik beugte sich vor und sah ihr lächelnd direkt in die Augen: „Auch ich wurde in der Kirche getraut, nicht aus innerer Überzeugung, sondern weil ich sonst beide Mütter in die Verzweiflung gestürzt hätte und weil die Kirche mit Orgel und Glanz einen passenden Rahmen für eine Trauung bildet. Da ich mich kenne und auch zu meinen Eigenschaften stehe, bin ich vorher mit meiner Frau zu dem Pastor gegangen und habe ernsthaft erklärt, dass wir der Frage: Willst du treu sein, bis dass der Tod euch scheidet, nicht zustimmen können. Wir sind dann übereingekommen den Text so zu ändern, dass ich zustimmen konnte. Ich finde die Formulierung: Willst du an der Seite deiner Frau stehen und zu ihr halten in guten und in schlechten Zeiten, ist mehr auf den Menschen und die Praxis zugeschnitten. Wir haben in Deutschland inzwischen eine Scheidungsrate von fast fünfzig Prozent, hier wird das Band der Ehe nicht durch den Tod, sondern durch den Scheidungsrichter getrennt.“
„Auf diese Abänderung hat sich der Pfarrer eingelassen?“, fragte sie ungläubig.
„Er hat ohne zu zögern zugestimmt und das schon 1975, vielleicht auch weil er selbst über diese Formulierung nicht ganz glücklich war. Die kirchliche Trauung hätte sonst nicht stattgefunden.“
Die Kellnerin kam vorsichtig, den Nebentisch meidend, vorbei und fragte nach Getränkewünschen. Helena bestellte sich jetzt ein Glas Sekt lehnte sich entspannt zurück und fragte provozierend: „Sind Sie und Ihre Frau sich treu?“
„Wir stehen zueinander, aber in sexueller Hinsicht zählen wir beide zu den Sündern, ich glaube sonst würde diese Ehe auch nicht mehr bestehen. Ein Seitensprung kann eine belebende Wirkung in der Ehe haben.“
„Ich bin der Überzeugung, wenn man sich in einer Beziehung wohl fühlt, dann hat man gar nicht das Bedürfnis nach einem anderen Partner und wenn man mit einem Anderen schläft, dann zerbricht etwas in der alten Beziehung.“
Erik nahm schmunzelnd einen Schluck Wein und fuhr sich mit der Hand durch das Haar: “Ich fühle mich in meiner Ehe wohl, kann aber die Reize von anderen Frauen nicht übersehen. Wie singt Hildegard Knef so schön als Frau: Soll so etwas Schönes nur einem gefallen, die Sonne, die Sterne gehören auch allen. Im Rausch einer jungen Beziehung könnte die Erde versinken und man möchte auf ewig mit diesem Partner zusammen sein, aber dieser Rausch hält nicht ewig an und das ist von der Schöpfung so eingerichtet, weil die Erhaltung der Spezies Mensch eine hohe Priorität hat und mit wechselnden Partnern wird die Erhaltung der Art sicherer!“
„Wechselt Ihre Frau auch den Partner und wie funktioniert so etwas im Alltag, kündigt sie dann an: Heute bin ich bei Peter, morgen bis du wieder dran?“
Er zögerte einen Augenblick, denn er befürchtete, dass Helena ihn wegen seiner Einstellung verachten könnte, aber er entschloss sich dann doch zu antworten: „Frauen sind sicherlich zurückhaltender als Männer. Die Hippiebewegung hat damals zu einer toleranteren Moral geführt. Man wollte die bürgerliche Doppelmoral anprangern und provozieren und gab sich in der Sexualität besonders freizügig, auch die Frauen. Der Spruch machte die Runde: Hast du zwei Mal mit derselben gepennt, gehörst du schon zum Establishment. Auch in unserem Freundeskreis wurde unter Eheleuten der Partnertausch praktiziert. Man lud gelegentlich ein anderes Paar ein, das einen Reiz ausübte und das eine tolerante Einstellung zur Sexualität hatte. Wenn die Frau interessiert war, dann nickte sie ihrem Mann diskret zu und das war dann die Lizenz mit Lust ans Werk zu gehen und umgekehrt. Fiel das Nicken aus, wurde locker geplaudert und der Abend wurde bald beendet.“
Helena hörte mit Faszination zu, aber sie konnte sich das alles noch nicht so richtig vorstellen: „Es ist doch nicht auszuschließen, dass dabei eine ungewollte Schwangerschaft entsteht und dies Experiment plötzlich eine dramatische Wendung erfährt, oder der Partner sich verliebt in seine Gespielin.“
„Schwangerschaftsverhütung war für unsere Eltern ein großes Thema“, flüsterte Erik hinter vorgehaltener Hand, „heute hat es glücklicherweise seine Dramatik verloren. Wäre unser Leben ohne jedes Risiko nicht furchtbar monoton und langweilig und würde in die Spießigkeit führen? Erschreckt Sie nicht der Gedanke einen Ehealltag so zu führen, wie das Ehepaar am Nebentisch? Ist das Abenteuer nicht das Salz in der Suppe unseres Lebens?“
Sie schien für einen Moment sehr nachdenklich und betroffen zu sein und schwenkte hilflos ihr Sektglas, dann fasste sie sich wieder, hob den Kopf und sagte: „Ich glaube, dass Gott der Schöpfer der Erde und des Menschen ist. Er hat uns zwar den Auftrag gegeben uns zu vermehren, aber uns auch geboten die Ehe nicht zu brechen. Mit der fleischlichen Lust will er uns in Versuchung führen und er erwartet von einem tugendhaften Menschen, dass er seine Triebe beherrschen kann und die göttlichen Gebote einhält.“
„Ich habe meine liebe Not mit dem oft missbrauchten Wort: Gott, und insbesondere mit der Schöpfungsgeschichte. Wenn wir Gott als eine weise Stimme in unserem Innern betrachten, einen klugen Plan, nachdem die Schöpfung aufgebaut ist und sich weiterentwickelt, sinnträchtige Regeln, die ein Zusammenleben ordnen, die Erkenntnis, dass ich nicht alles erfassen kann und nur ein sehr kleiner Teil des Ganzen bin, dann wäre ich ein gottgläubiger Mensch. Wenn wir aber mit dem Wort: Gott, eine Instanz meinen, die wachend und beobachtend die Welt umspannt, unsere Gebete erhört, ordnend in den Gang der Welt eingreift und für meine guten Taten ein Plätzchen im Paradies bereithält, dann bin ich der Überzeugung, diesen Gott gibt es nicht!“
Wieder blitzten ihre ausdrucksstarken Augen auf, sie klatschte mit der Hand auf den Tisch und fauchte zurück: „Wie könnte denn sonst die Welt entstanden sein?“
„Man vermutet, dass die Erde von einigen Milliarden Jahren entstanden ist und sich unser Universum seit dem Urknall mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnt. Die Erde ist der einzig bekannte Planet, auf dem es organisches Leben gibt. Wahrscheinlich gibt es Parallelwelten, aber die sind so unendlich weit entfernt, dass sie für uns bedeutungslos sind. Das Leben hier verdanken wir einer Reihe von Zufällen, wie: Entfernung von der Sonne, Neigung der Erdachse, die von Mond stabilisiert wird, heißer Erdkern, schützende Ozonschicht, hinreichend Wasser und tausend andere Faktoren. Ist nur eines davon zufällig nicht vorhanden, so könnte sich auf der Erde kein Leben entwickeln.“
Helena setzte sich jetzt aufrecht hin, dabei berührte ihr Knie unbeabsichtigt sein Knie und er verspürte ein Knistern, das ihm gut gefiel und das sein Bein für einen Moment lähmte. Dann bewegte er es vorsichtig, aber vergeblich einige Millimeter in ihre Richtung, in der Hoffnung ihr dort noch einmal zu begegnen. Wie anziehend sie nun aussah, als ihre Züge ernst wurden sie die Hände flach auf den Tisch legte und energisch sagte:
„Wenn Sie das Wort: Gott, nicht benutzen wollen, so sprechen wir doch von einer allmächtigen Kraft, die diesen Plan erdacht hat und diese Zufälle herbeigeführt hat.“
Erik schmunzelte und beugte sich weit zu ihr hin: „Schön, dass Sie so flexibel sind. Nur bleibt doch die entscheidende Frage: Greift diese Kraft ordnend und strafend in das Weltgeschehen ein? Die bei der Vereidigung unserer Regierungsmitglieder benutzte Formel: So wahr mir Gott helfe, erscheint mir wie ein amtlich angeordneter Unfug. Diese Floskel setzt voraus, dass es einen helfenden Gott gibt und er gewillt ist, gerade diesen Bundeskanzler zu unterstützen. Auch Ihre Formulierung bereitet mir Probleme: Gott hat uns den Auftrag gegeben, Gott erwartet von uns die Einhaltung seiner Gebote, denn wer darf sich anmaßen, zu wissen was Gott erwartet und wie könnte dieser Gott uns seinen Auftrag mitteilen?“
„Die Zehn Gebote sind in der Bibel festgeschrieben, zweites Buch Moses, Exodus. In meinem Leben hat mir Gott schon mehrfach Zeichen gegeben. Vor fünf Jahren war ich an Morbus-Crohn erkrankt, eine unangenehme, chronische Entzündung des Darms, diese Krankheit gilt in der Medizin als unheilbar. Ich habe zu unserem Herrgott gebetet und er hat mir bedeutet: Glaube fest an deine Heilung, stelle die Ernährung um, vermeide alle Hektik in deinem Leben. Ich habe alle Medikamente abgesetzt, die auch massive Nebenwirkungen ausgelöst hatten und sie durch Weihrauchtabletten aus Indien ersetzt, auf die mich ein Heilpraktiker aufmerksam gemacht hatte. Dann habe ich mich intensiv auf die Umsetzung des göttlichen Rates konzentriert und bin heute ohne Befund, mein Hausarzt spricht von einem Wunder.“
„Es macht mich sehr glücklich, dass Sie diese heimtückische Krankheit überwinden konnten. Morbus-Crohn wird durch eine Fehlsteuerung des eigenen Immunsystems ausgelöst. Wenn es gelingt, das eigene Immunsystem richtig zu aktivieren, dann kann ich mir eine solche Heilung ganz ohne die teuren pharmazeutischen Produkte gut vorstellen. Dabei ist es ganz unwichtig, ob diese Programmierung des eigenen Immunsystems durch Handauflegen einer Wunderheilerin, den Fetisch eines Medizinmannes oder einen Gang nach Lourdes ausgelöst wird.
Der Glaube oder die innere Einstellung kann das bewirken, denn dem Glauben wohnen immense Kräfte inne.“
Sie entspannte sich jetzt wieder, weil er ihre Beschreibung des göttlichen Wirkens nicht rundweg ablehnte oder gar lächerlich machte: „Ist Ihnen Gott noch nie begegnet?“
Sie sah ihm fest in die Augen und beugte sich leicht nach vorne, fast als wolle sie ihn beschwören nun keine falsche Antwort zu geben und er spürte, wie leidenschaftlich diese Augen sein konnten.
„Als Kind habe ich gebetet, Gott möge mir eine Fahrradbeleuchtung schenken, dann könnte ich, wie die anderen Kinder, auch bei Dunkelheit noch Rad fahren. Mein Gebet wurde lange Zeit nicht erhört, aber zu meinem zehnten Geburtstag bekam ich ein größeres Fahrrad und siehe da, es war eine Beleuchtung eingebaut. Ich dachte: Es gibt also einen Gott und er hat mein Gebet erhört. Heute sehe ich das ganz anders.“
Helenas Augen blitzten strafend aber auch anmutig auf, Ihr Körper beugte sich vor und mit den Händen unterstrich sie ihre Worte. In ihrer Empörung fand er sie noch anziehender und ihre Leidenschaft faszinierte ihn: „Dies ist ein kindisches und lange zurückliegendes Beispiel, ist Ihnen Gott seitdem nicht mehr begegnet?“
„Vielleicht ist er mir nicht begegnet, weil ich an keinen Gott glauben kann, der ordnend in den Alltag eingreift, wenn man ihn nur inständig darum bittet und der mich belohnt, wenn ich mich gottgefällig verhalte. Aber es gab viele Ereignisse in meinem Leben, die trotz meines Fehlverhaltens, zu einem glücklichen Ausgang geführt haben, Sie würden sagen, wo Gott schützend seine Hand über mir ausgebreitet hat. Zum Beispiel stand ich vor einiger Zeit auf einem Vorortbahnsteig und musste feststellen, dass mein Zug auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig einfahren wird. Nun konnte man die Gleise überqueren oder den langen Weg durch einen Tunnel mit Treppen wählen. Ein Schild warnte: Gleise überqueren ist verboten. Ich dachte, dass diese Warnung sicherlich nur für Gehbehinderte gilt, denn weit und breit war kein Zug zu sehen und wenn einer kommen sollte, dann könnte man wegspringen. Noch während ich überlegte, tauchte aus einer Kurve ohne jede Ankündigung die Front eines Zuges auf, donnerte mit hoher Geschwindigkeit auf den Bahnhof zu und war schon vorbei, als ich mich umdrehten wollte. Hier wäre wohl jedes Wegspringen zu spät gekommen. Ich glaube, dass wir alle eingebunden sind in den Lauf der Schöpfung und es hat jeder sein Geschick, wenn ein Ereignis kommen soll, dann wird es eintreten, so sehr wir uns auch bemühen es zu verhindern.“
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht während sie ihm andächtig zuhörte und er war gefangen von ihrer Art die Worte mit Gesten zu unterstreichen, auch wenn sie ihn nicht überzeugen konnte. Er mochte ihre großen, strahlenden Augen, die sinnlichen, kaum geschminkten Lippen und ihr üppiges, langes Haar, das bei manchen Bewegungen einen Teil ihres Gesichtes verdeckte.
„So betrachtet, sind unsere Sichtweisen gar nicht so weit von einander entfernt, nur würde ich bei Ihrem Erlebnis sagen, es war Gottes Fügung.“
Sie lächelte und entschuldigte sich, dann stand sie auf, um die Toilette aufzusuchen. Er sah ihr hinterher und ihm fiel wieder dieser schwingende, erotisierende Gang auf. Auch die Art, wie sie suchend umherschaute und dann ihren Weg fortsetzte, hatte etwas Anmutiges. Er stellte sich intensiv vor, wie sie sich jetzt in der Kabine gerade entblößt und wie das unter dem Rock wohl aussehen könnte. Als sie wieder auf den Tisch zukam, hätte er sie am liebsten in den Arm genommen, aber er sagte nur: „Wie schön, dass Sie den Weg zu mir wieder gefunden haben.“
„Mich hat Ihre Version von: Blue Moon, berauscht und begeistert, ich würde gern noch mal ein Konzert mit Ihnen erleben und unser Gespräch hat meine Sichtweise erweitert. Jetzt aber muss ich aufbrechen, denn ich möchte nicht, dass mein Sohn das lange Fortbleiben seiner Mutter bemerkt.“ Sie gab dem Kellner das Zeichen zum Bezahlen.
„Darf ich das regeln, denn durch Ihren Besuch der Vernissage wurde mein Engagement dort als Pianist gekrönt.“
Er bezahlte, holte ihren Mantel aus der Garderobe, half ihr in den Mantel und begleitete sie zu ihrem Wagen. Wieder hakte sie sich bei ihm ein und er spürte, wie ihre schwankende Hüfte seine gelegentlich berührte, was bei ihm ein kribbelndes Gefühl auslöste. Am Auto angekommen, kramte sie umständlich, als wolle sie noch Zeit gewinnen, den Autoschlüssel aus ihrer Handtasche und reichte ihm zum Abschied die Hand und senkte dabei etwas verlegen den Blick. Er schaute sie wehmütig an und überlegte: Will sie mich wiedersehen? Er raffte all seinen Mut zusammen, griff sich ihre Schulter, drückte ihr einen Kuss auf die Wange, dabei roch er ihr Parfum, spürte ihren Atem und ihre zarte Haut, dann murmelte er verlegen: „Ich würde Sie sehr gerne wiedersehen.“
„Wer weiß, Gottes Wege sind unergründlich“, gab sie lachend zurück, stieg elegant in ihr Auto und fuhr zügig los. Er winkte ihr noch eine Weile hinterher und war von Helenas Zauber noch ganz erfüllt, als er beschwingt in sein Hotel zurückstolzierte. Ein Gefühl erblühte in ihm, als habe er einen versteckten Goldschatz entdeckt.
Vor einigen Jahren hatte sich Erik in Berlin-Zehlendorf ein älteres Einfamilienhaus mit einem baumbestandenen Grundstück gekauft. Immer, wenn es seine Zeit erlaubte, nahm er Reparaturen oder Umbauten vor und das machte ihm viel Spaß. Die Fassade war im Laufe der Jahre grau und unansehnlich geworden, daher hatte er sich ein Gerüst ausgeliehen, um die Fassade neu zu streichen. Zunächst wurden die Risse ausgebessert, dann wurde die Fassade mit einem Hochdruckreiniger gesäubert und mit Tiefengrund gestrichen, bevor die Fassadenfarbe aufgetragen wurde. Die Aktion beanspruchte eine Woche und war mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden. Seine Ehefrau, Helga, hätte ihn gern dabei unterstützt, aber ihr zarter Körper und Arthrosebeschwerden in den Gelenken erlaubten ihr keine schweren Arbeiten. Sie versuchte dieses Unvermögen zu kompensieren, indem sie ein besonders schmackhaftes Mahl zubereitete. Heute hatte sie eine Spargelsuppe vorgesehen, dann gab es Lammkoteletts mit grünen Bohnen und gratinierten Kartoffeln und schließlich Wallnusseis mit einem Schuss Eierlikör. Als er aus der Dusche kam, waren die Kerzen angezündet, das Feuer im offenen Kamin brannte, es erklang leise klassische Musik und das Essen stand auf einer Warmhalteplatte auf dem Tisch. Er musste nur noch den Wein einschenken. Nach dem Essen zündete Erik sich seine Pfeife an und die beiden Söhne Pascal und Rudolf zogen sich in ihre Kinderzimmer zurück. Das Ehepaar wechselte nun die Plätze vom Tisch zu den Sesseln vor dem offenen Kamin und er fragte besorgt: „Pascal wirkt in den letzten Tagen etwas bedrückt, ist Dir das auch aufgefallen?“
Sie nickte und antwortete mit innerer Bewegung: „Vor einigen Tagen wollte er nicht mehr zur Schule gehen, da habe ich nach den Gründen geforscht. Sein Klassenkamerad Igor kann ihn nicht leiden und bedroht und verprügelt ihn. Da Igor größer und stärker ist, kann Pascal sich nicht wehren. Während Du auf deiner Konzertreise warst, habe ich daraufhin Igors Eltern aufgesucht, ein neureiches, schlichtes Paar. Sie stopfen den Jungen mit Geld voll, sind aber durch Beruf und Hobbies so stark eingespannt, dass sie nicht Anteil nehmen können an seinen Nöten. Der Junge hat massive Probleme in der Schule und er kann mir eigentlich nur leidtun.“
Erik protestierte: „In erster Linie tut mir Pascal leid. Wie haben die Eltern reagiert?“
Helga berichtete weiter: „Sehr negativ, ich solle mich um meine eignen, missratenen Kinder kümmern, Igor sei ein friedfertiges Kind und wenn er prügelt, dann nur, um Angriffe abzuwehren und ich solle sofort ihr Haus verlassen. Das habe ich auch getan und angekündigt: Wenn Igor Gewalt anwendet, werde ich einschreiten.“
„Wie stellst Du Dir das vor, du weißt doch nicht ob und wann die Rauferei stattfindet und willst Du dich dann in eine Schlägerei einmischen?“
„Ich habe das Schulende abgewartet und bin den Kindern heimlich gefolgt. In einiger Entfernung von der Schule fing Igor an zu schubsen, stellte Pascal ein Bein und trat auf ihn ein, als er am Boden lag. Da habe ich ihn am Kragen gepackt, den Rohrstock aus dem Ärmel gezogen und habe dem Raufbold drei kräftige Hiebe auf den Hintern verabreicht und ihn aufgefordert sich bei Pascal zu entschuldigen. Das hat er dann auch mit weinerlicher Stimme getan.“
Erik wiegte den Kopf hin und her: „Da bewegst Du Dich am Rande der Legalität, wie hat sich Igor dann verhalten?“
„Ich finde meine Maßnahme im Rahmen der Notwehr oder der Nothilfe durchaus legal. Seit zwei Tagen ist Ruhe, Igor hat Pascal nicht mehr angefasst und ich denke, dass er zu Hause nichts erzählt hat, weil er Erklärungen aus dem Weg gehen wollte und die Hiebe als verdient betrachtet.“
„Du wirst unser Kind nicht immer beschützen können, es muss lernen sich selbst zu helfen.“
Von oben hörte man Pascals fordernde Stimme: „Papa, wann erzählst Du uns unsere Gutenachtgeschichte?“
Erik erkundigte sich: „Wovon soll denn die Geschichte diesmal handeln?“
„Von einem gefährlichen Löwen“, ertönte es von oben und der jüngere Bruder Rudolf ergänzte noch: „Und abenteuerlich soll die Geschichte auch sein.“
„Ich komme gleich hoch, bitte Spielsachen wegräumen, Waschen und Zähneputzen nicht vergessen.“
Man hörte von oben eine Diskussion, wer welches Spielzeug benutzt hat und wer es deshalb auch wegräumen muss. Um das Spielzeug aufzuräumen benötigt man eine Minute, die Auseinandersetzung über die Zuständigkeit zog sich über zwanzig Minuten hin. Schließlich waren gurgelnde Geräusche vernehmbar und die Toilettenspülung rauschte, die Kinder versammelten sich in Pascals Zimmer und dann erfolgte die Frage: „Wo bleibst Du denn?“
„Ich komme gleich“, versicherte Erik, stieg die Treppe empor, setzte sich auf den Bettrand und begann zu erzählen: „Vor zwei Monaten war ich zu einem Konzert in Kenia, das liegt in Afrika.“
„Das weiß ich doch, da wohnen die Massai Krieger“, unterbrach ihn Pascal.
„Nach dem Abendessen wollte ich noch ein wenig spazieren gehen und lief in das Buschland, das hinter der Hotelanlage