Der Geschmack deiner Haut - Adelina Zwaan - E-Book
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Der Geschmack deiner Haut E-Book

Adelina Zwaan

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Beschreibung

Mann + Frau = beste Freunde?

Tamaras Beziehung zerbröckelt, denn Daniel betrügt sie. Mit der Freundin ihres besten Freundes und Arbeitskollegen Reino. Kurzerhand packt sie ihren Koffer. Im Berliner Nachtleben will sie sich an Daniel rächen und ihr Ego aufpolieren.
Am Bahnhof passt Reino sie ab, denn er sinnt ebenfalls auf Rache. Die Pläne geraten schnell ins Stocken. Prompt gerät Mara in einen Sog, der noch mehr Gefühlschaos auslöst und ihre tragische Vergangenheit neu aufrollt.

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der emotional bewegenden Liebesroman »Der Geschmack deiner Haut« von Adelina Zwaan. Wer diesen Roman liest, hat mehr von den Frühling. Jetzt bei AZ Books.

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Inhalt

Der Geschmack deiner Haut

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

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Bibliografie AZ Books

Über die Autorin

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Geschmack deiner Haut

Adelina Zwaan

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Widmung

 

Für meinen lieben Mann, Seelenpartner und allerbesten Freund

 

Mit dir ist alles so viel, wie es sich mit anderen zu wenig angefühlt hat. Du sorgst auf sehr sonderbare Weise dafür, dass ich mich angenommen fühle und zu etwas entwickle, was ich mir nicht einmal annähernd in meinen kühnsten Wunschträumen ausmalen konnte. Jeden Tag reißt du mir zärtlich das schlagende Herz aus der Brust, fordert meine Persönlichkeit heraus und fängt es von Liebe erfüllt ein, wenn es sich in einem wilden Kampf gegen ebendiese sträubt. Dann falle ich jedes Mal aus dem Himmel und lande weich in deinen liebenden Armen.

Mehr brauche ich nicht.

 

Adelina Zwaan

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Prolog

 

 

Im Partyraum herrscht ausgelassene Stimmung. Ein Kommilitone hält eine weitschweifige, philosophische Rede. Mit Bierflasche in der Hand steht er auf einem wackeligen Tisch. Von dort palavert er wild gestikulierend über den Sinn des Lebens.

Aus Sicht eines krepierenden Hundes.

Gleichermaßen abgestoßen wie fasziniert, lauscht das Publikum, weil eine Straßenbahn den Hund erfasst. Genau in dem Moment, in dem er seine Liebe zu einer Hündin erkennt.

Hinter mir öffnet sich die grau gestrichene Kellertür. Henner betritt den muffigen Raum, in dem sich gut und gerne zwanzig Studierende um das improvisierte Rednerpult drängen. Mit seinen grünen Augen überfliegt er den Raum, entdeckt mich und schließt die knarrende Kellertür, was den rhetorisch geschickten Redner aus dem Konzept bringt.

Reino von Borstel.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaut der große, schnörkelig sprechende und dunkeläugige Mann auf Henner. Der Grund versteht sich von selbst. Niemand lädt Henner zu unseren Zusammenkünften ein, dennoch taucht er gelegentlich ungefragt und ungebeten auf. So auch jetzt.

An den meisten Wochenenden versammeln wir uns in diesem Partyraum. Der befindet sich im Keller des Wohnhauses, in dem ich in einer Wohngemeinschaft wohne. Hier unten ist es nicht nur stickig, sondern auch beengt. Die verbrauchte Luft strotzt nur so von allerlei verbotenen Substanzen, die einige der Anwesenden in regelrechte Euphorie versetzen.

Auch davon halte ich nicht viel. Ich bleibe gern Herrin über meine sieben Sinne. Zudem habe ich mit dem Zeug einen echten Höllentrip erlebt und die ganze Nacht zitternd in einer Ecke gehockt. Hinterher haben einige Freunde gemeint, ich habe lediglich einen schlechten Tag erwischt.

Nett gemeint, aber sorry. Sie ahnen nicht, dass schlechte Tage bei mir die Norm sind.

Ich erlebe ausschließlich Scheißtage. Mit wenig bis gar keinem Sonnenlicht, jeden Nachmittag mindestens einmal einen kräftigen Hagelschauer. Am Abend ziehen Schneegestöber und Blitzeis durch das Land. Von den Nächten mag ich gar nicht erst erzählen. Mit derlei Grundbedingungen kann jeder Trip nur in die Hose gehen.

Da verlasse ich mich schon eher auf körpereigenes Zeugs. Das hebt genauso gut in den Himmel, wenn man weiß, wie man es gescheit anstellt.

Die hier Versammelten studieren Lehramt an der Universität Leipzig. In unserer freien Zeit setzen wir uns gerne mit philosophischen Themen auseinander. Unsere Reden gleichen denen von Rappern, die sich in gewagten, doch durchaus poetischen Lines dissen.

Momentan disst mich Herr von Borstel.

Das hat Tradition. Seit wir uns das erste Mal begegnet sind, fordern wir uns auf diese kindische Art heraus. Er ist geistreich und sprachgewandt, mir aber ein Dorn im Auge.

Vor drei Wochen habe ich meinen dreiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Mein blutjunges Gesicht glüht. Hitze steigt auf und ich muss mich arg beherrschen, damit ich nicht etwas Feindseliges in Richtung Rednerpult brülle. Alles nur wegen des Vortrags, den ein adeliger Selbstdarsteller hält.

Die schmalzige Geschichte des verliebten Köters nervt. Nicht nur sämtliche seiner rhetorischen Kniffe, auch der Blick, die Gestik und die Mimik zielen einzig darauf ab, mich zu provozieren.

Auf einen Schlag fallen mir zehn Gegenargumente ein, warum der Hund nicht verliebt sein kann. Ich finde die Metapher, die er bringt, abgedroschen und leicht durchschaubar, aber ansatzweise schlau ausgedacht und mit beeindruckenden Stilelementen gespickt. Das wäre der einzige Grund, der mir einen kleinen Applaus abringen würde.

Wenn überhaupt.

An den Gesichtern der Zuhörer, die seine Rede noch immer gebannt verfolgen, erkenne ich blankes Entzücken. Das fehlt mir eindeutig.

»Grüß dich, Tamara«, quatscht Henner mich schräg von der Seite an.

Normalerweise verkehrt er in den teuren Clubs der Stadt. Dort, wo sich die feinen Pinkel vergnügen. In vollen Zügen frönt er dem süßen Leben als Sohn eines einflussreichen Juristen. Wie ein Wohltäter spendiert Henner kostspielige Getränke und versammelt mit Vorliebe geleckte Affen um sich, die ein Stück vom Wohlstandskuchen abhaben wollen und Freundschaft für reine Zeitverschwendung halten.

»Hast du dich etwa im Puff geirrt? Bekommst du nicht fette Eiterpickel beim Anblick des Arbeiterpacks?«

Vergnügt lacht er auf und legt seinen Kopf schief, als wäre ich ihm nicht auf den Schlips getreten. Den Status, der ihn durch Geburt in die Höhe hebt, finde ich mindestens genauso ätzend wie seinen düsteren Charakter.

Derweil präsentiert er makellose Beißerchen, bis er sich wieder fängt und die Hand vor den Mund legt. Die verschämte Geste lässt ihn jedoch nicht einen Deut liebenswürdig wirken.

Alles an ihm stößt mich extrem ab. Die giftgrünen Katzenaugen lösen eine unangenehme Gänsehaut aus. Selbst im Hörsaal spüre ich dieses Augenpaar beständig auf meinem Nacken ruhen, was mich direkt anwidert.

»Ich mag dich, Tamara«, hüstelt er und räuspert sich.

Ich mag ihn nicht.

Gelangweilt und durch seinen halbherzigen Versuch, lieb Kind zu tun, schaue ich zum Redner. Der taxiert uns noch immer in feinster Ich-bin-hier-der-Lehrer-Manier. Reino von Borstel trinkt einen kräftigen Schluck Bier und widmet sich erneut sein wissbegieriges Publikum.

Ich kann mir nicht helfen, aber er besitzt das seltene Talent, mich permanent in Aufruhr zu versetzen. Keine Ahnung, warum das so ist. Nur eines weiß ich: Seine herausfordernden und verstörenden Reden hinterlassen gigantische Krater in mir, in denen ich mich konturlos und geistlos anfühle.

Und winzig.

Niemals würde ich dies offen zugeben und mir eher die Zunge abbeißen, als es ihm gegenüber zu erwähnen. Er ähnelt einem unerforschten, mysteriösen und schwarzen Loch. Unaufhaltsam saugt er Materie auf und transformiert sie hinterher. Zu was auch immer.

Bislang bleibe ich unsicher, ob der adlige Nachname meine Ablehnung steigert, das kolossale Ego oder das immerwährende Lächeln. Unter Umständen ist es eine Mischung aus allem.

Im Internet wimmelt es von Borstels, jedoch schweigt er sich bislang beharrlich aus, woher das Adelsprädikat stammt. Das Geheimnis um seinen Familienstammbaum weckt die Neugier. Nicht allein meine, auch die der anderen Studentinnen. Kein Geheimnis ist hingegen, dass seine Familie vermögend ist.

Und wo sich Geld auf Konten eifrig vermehrt, verwandelt Fortuna postwendend jeden Kackhaufen in pures Gold und wiegt es mit Erfolg auf. Abartig, doch trifft das Sprichwort abermals zu: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.

Neben dem Studium schlägt sich Herr von Borstel nicht in ein oder zwei geisttötenden Jobs durch das Studentenleben wie wir. Seine goldene Adelsnase darf sich in die Lehrbücher stecken, wann immer es ihr beliebt. Die Mark und Pfennige in seiner Hand dreht er nicht mehrmals um, wie es die Mehrheit der hier versammelten Studenten kennt.

Haufenweise Frauen scharen sich um ihn. Verschossen schauen sie in seine tiefschwarzen Augen, weil dieser Knabe nicht nur reich, sondern auch ansehnlich geraten ist. Groß, sportlich, gewitzt.

Aber auch hier kann ich mir nicht helfen. Aus irgendeinem Grund reagiere ich absolut allergisch auf reiche Pinkel, die der Erfolg einseitig und parteiisch verwöhnt. Für mich stinkt dieser Schlag Mensch schon auf drei Meilen gegen den Wind nach Machtgeilheit und Hinterlist. Einerlei, wie gut sie aussehen. Sie und ihre Vorfahren haben sich an den Lohnabhängigen gesättigt, um selbst wie die Maden im Speck zu leben.

Abermals schaut er her.

Absichtlich verziehe ich mein Gesicht zu einer desinteressierten Grimasse und gebe ihm damit unmissverständlich zu verstehen, was ich von seiner schwülstigen Rede halte. Nichts. Das Ende sehe ich bereits vorher. Wir streiten uns nachher bis aufs Messer.

Kein Witz. Einmal habe ich mich nach einer Rede derart arg mit ihm gestritten und ein Küchenmesser gezückt. So extrem habe ich mich von seinen schlüssigen Argumentationen erschlagen gefühlt. Klar hat mich der Wutausbruch zutiefst erschrocken. Entsprechend beschämt und von seinen Lachsalven begleitet, habe ich das Messer fallen lassen, bin aus der Wohnung gestolpert und stundenlang bei strömenden Regen durch Leipzig-Plagwitz gelatscht. Noch nach Wochen bin ich aus der Haut gefahren, wenn jemand in meiner Gegenwart seinen Namen erwähnt hat.

Mich bringt auf, wie logisch er die Argumente anbringt. Er hält allen Debatten stand, argumentiert ausgeklügelt und überzeugend. Besonders die Art und Weise, wie fundiert er jede seiner ketzerischen Theorien belegt, lässt mein Herz vor Wut überschäumen.

In Gesprächen über die perfekte Ausrichtung der Didaktik setzt er mich problemlos schachmatt. Anstatt mich jedoch von seinem Intellekt geschlagen zu geben, stachelt es mein Ego an, mich diesem ungleichen Kampf weiterhin zu stellen.

Ganz sicher landet er eines Tages im Schulamt. Ich sehe ihn mit Ende vierzig als stellvertretenden Schulamtsleiter hinter einem klobigen Schreibtisch hocken, weil er logisch und geschickt allesamt in diese Richtung manipuliert.

Seine Augen lodern vor Feuereifer und ich möchte mich zu keinem peinlichen Zwischenruf verleiten lassen. Über meine feindseligen Gedanken zerknirscht, schnappe ich eine Bierflasche und wende mich ab.

Unterdessen applaudiert die Menge erfreut über das pfiffige Ende. Kunstfertig spannt er darin den Bogen zu einem innerlich verletzten Kind, welches sich nach Liebe und Nähe sehnt, diese aber zeitgleich ablehnt.

Gemurmel erfüllt den Raum. Lachen und Kichern breiten sich wie eine Krankheit aus, die keiner will und doch jeder bekommt. Ich schenke von Borstel keinen Applaus. Stattdessen nippe ich an meinem Bier und verdrehe die Augen.

»Ich gehe nachher tanzen. Kommst du mit?«, fragt Henner und öffnet sich ungefragt ein Bier.

»Hast du heute Abend keine Edelnutte in deiner Nobelbar gefunden, dass du dich hier im Proletariat nach einer verlausten Stundenbegleitung umsehen musst? Du Armer.«

Henner tritt einen Schritt auf mich zu. Seine Augen gleiten über mein Gesicht und lassen prompt all meine Nackenhaare aufstehen. »Kann sein, dass dir die Fuzzys hier dein Getue abkaufen. Mich täuscht du nicht, Tamara. Du tust immer hochtrabend, hast aber mehr von denen nackt gesehen als eine Hebamme Babys in ihrem ganzen Arbeitsleben auf die Welt holt«, entgegnet er und deutet mit seinem Kopf zu den plaudernden Studenten. Die rotten sich mittlerweile in Grüppchen zusammen, um die Rede zu diskutieren.

»Wir wohnen in einer WG. Da bleibt es nicht aus, jemanden entblößt zu sehen. Du musst wissen: Eine Arbeiterwohnung ist von Hause aus winzig konzipiert, wodurch sich deren Bewohner mehrmals täglich über den Weg laufen. Tja, du lachst, aber so lebt es sich am hinteren Ende des Schweinenapfes«, antworte ich bissig und trinke gelangweilt mein Bier.

Das abgedroschene Vorurteil, alle Bewohner einer studentischen Wohngemeinschaft würden es wie in der Kommune eins kreuz und quer miteinander treiben, ödet mich entsetzlich an. In den seltensten Fällen entspricht es den Tatsachen.

»Ziehst du bei mir ein?«

»Du hast eindeutig einen Knall«, breche ich in höhnisches Gelächter aus und schüttele meinen Kopf.

Henner steht mit Händen in den Hosentaschen vor mir und grinst verlegen, als wäre ihm seine Frage plötzlich unangenehm. Die Lider senken sich über die grüne Iris. Im gedimmten Licht des Kellers schimmert sie leicht. Immerhin hört er endlich damit auf, mich anzustarren.

»War mein Beitrag etwa so sterbenslangweilig, dass du dich seit Neuestem lieber mit Henner unterhältst, statt mir zu lauschen, Tamara?«, erkundigt sich Reino von Borstel.

Ich drehe mich um und setze ein gekünsteltes Lächeln auf. »Auf einer Skala von eins bis zehn landest du heute bei läppischen Minus dreihundert. Ich gratuliere recht herzlich dazu. Schließlich kann nicht jeder von sich behaupten, mich jemals derart gelangweilt zu haben wie du heute Abend.«

Reino lacht. Auf seinen Wangen zeigen sich lange Lachfalte, die vom Nasenflügel bis zu den Mundwinkeln reichen. Sie lassen ihn unverschämt attraktiv wirken. Die Augen ziehen sich mit nach unten. So auch jetzt.

»Ich muss schon sagen, dass du keine meiner Reden magst, verwundert mich inzwischen nicht mehr.«

»Blitzmerker.«

Abermals lacht er, wobei seine Augen zu Henner gleiten. »Wer hat dich denn eingeladen?«

»Braucht die Bourgeoisie neuerdings ein Einladungsschreiben, um an Vergnügungen des Pöbels teilzunehmen?«, entgegne ich mit einer Frage, obwohl Henner soeben zum Antworten ansetzt.

»Warum reitest du ständig auf einer Präposition herum?«

»Weil sie nun einmal deinen Nachnamen ausschmückt. Der sagt doch alles. Und egal wie herum ich es drehe, vererbte Krankheiten scheinen dir grundsätzlich nicht fremd. Die Heiratsordnung, die Eheschließungen innerhalb der eigenen sozialen Gruppe bevorzugt oder vorschreibt, verursacht bekanntermaßen rezessiv vererbbare Krankheiten, wie jeder zweifelsfrei an dir erkennen kann. Wärst du mal besser im Hochadel geboren. Dort sind weit weniger Degenerationserscheinungen verbreitet. Vermutlich liegt das daran, weil sich die Landesfürsten ausgedehnte Reisen über die Landesgrenzen leisten konnten. Deswegen mussten sie nicht im eigenen Dorf auf Brautschau gehen. Der Landadel hingegen schon.«

»Wunderbar. Ich merke, du verstehst die Botschaft meiner Rede ...«

»Im üblichen Sprachgebrauch wird es auch plump ›Inzest‹ genannt und hat schreckliche Missbildungen zur Folge. Nicht nur körperlich.«

»Jetzt mal Klartext, Tamara. Deine Meinung hin oder her. Ein Punkt macht mich misstrauisch: Was genau macht dich zur Expertin von Inzest?«

»Geht dich einen feuchten Pups an.«

»Wie ich es auch drehe. Anscheinend hast du am eigenen Leib erfahren, was uns in dieser Sache eint. Ich stamme von verarmtem Landadel ab, was im Übrigen keine Schande ist. Hochmut hingegen schon.«

»Was, wenn dem sterbenden Köter keine Erleuchtung kommt? Was, wenn er nichts als Unmut verspürt? Sagen wir einmal darüber, dass er den dämlichen Knochen vergraben hat, statt ihn sich zu Gemüte zu führen, bevor er vor die Straßenbahn gerannt ist?«

»Das ist ein recht unterhaltsamer Denkansatz. Hast du darum nur sporadische Liebesbeziehungen oder finde ich den Grund doch eher im Missbrauch?«

»Keine Liebesbeziehungen, von Borstel. Die Unterschicht sagt ganz schnöde ›Fick-Freunde‹ dazu.«

Hinter mir kräht Henner aus vollem Hals, weil er unseren Disput ungeniert belauscht. Grimmig schaut Reino ihn an, worauf Henner schleunigst verstummt. Von Borstel zieht mich an meinem Unterarm in eine ruhige Gesprächsecke, doch ich winde mich geschickt aus seinem Griff und bleibe bockbeinig stehen.

»Warum so widerspenstig? Es geht ein Gerücht um, dass du händeringend einen neuen Job suchst, Tamara. Ich trete dir meinen ab, da ich aktuell auf ein anderes Angebot scharf bin. Ein Freund meines Vaters sucht in seiner Firma eine Assistentin, die ihn bei seinem Medienauftritt unterstützt. Ist erstklassig bezahlt und unbefristet. Daneben ist es genau dein Ding. Soll ich dich vorschlagen?«

Ich trinke einen großen Schluck Bier und stelle danach die leere Flasche geräuschvoll auf einem Regal ab. Eine neue Stelle wäre wunderbar, aber aus meiner Kindheit kenne ich die Verstrickungen und Erwartungen noch zu genau, die einige Menschen stets an derartige Freundschaftsdienste geknüpft haben.

In meiner Hosentasche tummeln sich seit drei Tagen einsame fünf Mark, die bis übernächsten Montag reichen müssen. Innerlich sträubt sich alles gegen die Annahme dieses verlockenden Vorschlags. Garantiert erwartet er eine Gegenleistung, obwohl er es als Angebot tarnt.

»Fick dich in dein hochherrschaftliches Knie«, spucke ich aufgebracht in das gefällige, ovale Gesicht, aus dem er mich bestürzt anschaut.

»Wo liegt dein Problem?«

»Dein Preis ist mein Problem, von Borstel. Darum kannst du dich selbst aufs Kreuz legen und mich mit deinem lausigen Angebot in Frieden lassen!«

»Dir steht es nicht, wenn du in den Gossenjargon verfällst. Ich mache dir folgenden Vorschlag: Du nimmst das Angebot an und ich verlange nichts dafür.«

»Deine psychologische Dialektik funktioniert bei mir nicht.«

»Eines Tages wirst du mir das Gegenteil erzählen. Dann betrachtest du es als das, was es ist. Ein Geschenk ohne jegliche Gefälligkeiten.«

»Ohne jegliche Gefälligkeiten sagst du. Dennoch knüpfst du diese eine Verbindlichkeit daran.«

Er überlegt eine Weile. Genau genommen spreche ich einen riesigen Haken an, der ihm in seiner Argumentation anscheinend entgangen ist. Sorgfältig wägt er seine nächsten Worte ab.

»Glaube mir. Die tatsächlichen Gegebenheiten erkennst du eines Tages. Dann lügst du mir auch nicht mehr eiskalt ins Gesicht.«

Wiederum bringt er geschickte Argumente vor, versenkt mich mit nur einem Treffer und kassiert den Punkt. Darüber verstört und bestürzt, trete ich den Rückzug an. Unsanft dränge ich mich durch die plaudernde Menge und flüchte in die äußerste Ecke des Raumes.

Noch nie hat jemand in wenigen Sätzen mein geheimnisumwobenes Handicap enttarnt und zeitgleich eine Lösung angeboten, die noch entsetzlicher schmerzt. Vertrauen gleicht für mich einem heimtückischen Wesen mit langen Fangarmen, scharfen Zähnen und sechs gefräßigen Mäulern. Es kommt einem Kraken gleich, was im Mittelalter nicht grundlos zu den gefürchtetsten Seeungeheuern gezählt hat. Und ich fürchte mich auch im zwanzigsten Jahrhundert davor wie vor nichts anderem auf der Welt.

Erst nach einer halben Stunde beruhige ich mich halbwegs und schlurfe zu meinem abgestellten Bier. Das steht im Regal. Stimmt ja, es ist leer. Mist.

Neben der leeren Flasche steht ein einsames Schnapsglas. Es ist eines, aus denen wir billigen Wodka trinken. Der klare Inhalt sieht verlockend aus und spült mein Elend garantiert hinab.

Argwöhnisch hebe ich das Glas an meine Nase. Vorsichtshalber schnuppere ich daran, ob es sich tatsächlich um ein alkoholisches Getränk handelt. Obendrein probiere ich mit der Zungenspitze, ob es Wodka ist.

Ist es, daher kippe ich den Inhalt in einem Zug hinunter. Mit einem neuen Bier spüle ich nach und schniefe die letzte Kullerträne in der Nase hinauf. ›Wird schon‹, heitere ich den kleinen, schwermütigen Teil in mir auf, der seit jeher, aber in solchen Situationen zwecklos, bitterliche Kullertränen weint.

Ein Weilchen schaue ich meinen Mitbewohnern zu, die sich angeregt mit Reino über seine virtuose Rede unterhalten. Urplötzlich erscheint mir der Raum, als würde ich mich in einer überhitzten Sauna befinden. Wohin ich auch immer sehe, steht von Borstel, dessen Anblick mir den puren Angstschweiß aus den Poren treibt.

Nicht nur das.

Unaufhaltsam senkt sich die Zimmerdecke des umgestalteten Kellers nieder und zerquetscht mich mit meinen Gefühlseindrücken, die nicht für ein erwachsenes Gespräch taugen. Mein Magen krempelt sich unerträglich auf links, bis ich an irgendeiner Stelle Halt suchen muss.

Mir nichts, dir nichts steht Reino vor mir. Das plötzliche Auftauchen erschreckt mich entsetzlich und lässt mich zusammenfahren.

»Was ist los, Tamara?«

Väterlich tatscht er an meinem Unterarm herum, was mich an den monströsen, übelriechenden Mann von einst erinnert. Vor lauter Panik über diesen Flashback, schreie ich ungebremst los. Meistens läuft es nach demselben Schema ab. Nach einigen geheuchelten Liebenswürdigkeiten zertrampeln sie gefühllos mein Herz.

»Ich sagte: Fick dich, von Borstel«, fauche ich heiser. »Philosophiere weiter über ... Du hast keine Ahnung, wie ...«

Weil ich inzwischen hysterisch schreie, drehen sich einige Kommilitonen alarmiert zu uns um. Um mich zu besänftigen, legt von Borstel seine Hand auf meinen Unterarm. Angewidert schleudere ich sie fort, indem ich meine Arme blitzschnell hochfahre.

Schnellstens hebt Reino die Hände in die Höhe und hält Abstand. »Alles gut. Es galt als unverbindliches Angebot. Ich erwarte echt nichts von dir. Du kommst zu mir, wenn du soweit bist.« Während er beruhigend auf mich einredet, verändert sich der Blick. »Wie viel hast du getrunken?«

»Ich sagte: Fick dich«, wiederhole ich leicht nach vorn gebeugt und auf kraftlosen Beinen.

Mein Magen begehrt auf, obwohl er nur zwei Bier und drei Wodka bekommen hat. Abendbrot habe ich mir gespart, weil ich niemanden anpumpen mag. Mein Stolz ist mindestens genauso grenzenlos wie die gähnende Leere in meinem Portemonnaie.

Ungelenk fuhrwerke ich mit den Händen in der Luft herum, damit es niemand wagt, mich zu berühren. Hektisch suche ich die Türklinke hinter mir, bis meine fahrigen Finger sie endlich zu fassen bekommen.

Ich halte es in dem engen Raum nicht mehr aus und brauche dringend frische Luft. Schwankend stolpere ich hinaus.

Im düsteren Kellergang atme ich durch, doch es wird nicht besser. Mit eisernem Willen taste ich mich im dunklen Gang zur Treppe vor, wo meine Knie erschöpft einsacken und den Dienst verweigern.

Habe ich mir etwa eine Grippe eingefangen?

Das fehlt für einen rundherum beschissenen Abend. Ich versuche, mich aufzuraffen, doch Tonnen an Gewichten ziehen mich unerbittlich zurück in die bodenlose Tiefe. Ein dicker Speichelfaden rinnt aus meinem Mund, was gewiss unästhetisch aussieht.

Untypisch für eine Grippe.

Ich fühle mich hundsmiserabel. Meine Zunge fühlt sich an, als wäre sie aus Blei gegossen. Mich wundert es nicht, wenn sie heraushängt wie bei dem hechelnden Köter, von dem Herr von Borstel in aller Ausführlichkeit referiert hat. Dieses Stück Blei lässt sich nicht mehr mit Willenskraft bewegen und ist gänzlich ungeeignet, um nach der dringend benötigten Hilfe zu rufen.

Hinter mir vernehme ich Schritte. Sie nähern sich rasch.

Ah, gut.

Irgendwer grapscht in meinen Schritt. Bei dem unbeholfenen Versuch, die ungehobelte Flosse wegzuschlagen, kippe ich zur Seite und kann mich plötzlich nicht mehr bewegen.

»Sieh an, sieh an. Du lieferst den Beweis. Hochmut kommt stets vor dem Fall. Na, komm nur, ich bringe dich ins Bett.«

Die Stimme kenne ich nicht. Sie klingt verzerrt und blechern.

Mit jedem Herzschlag breitet sich ein unbeschreibliches Angstgefühl in meinem Körper aus, sobald sich ein dunkler, konturloser Schatten zu mir hinabbeugt. Absurderweise erinnere ich mich an damals. An jedes Detail. Da hat mein ganzer Körper ebenfalls eiskalte Gänsehaut überzogen. Auch da konnte ich das kommende Unheil förmlich riechen, mich nicht bewegen oder wehren.

Mit einem mühelosen Handgriff werde ich rücksichtslos aufgerichtet. Ich werde über die Schulter gelegt und die vielen Treppenstufen zur Wohngemeinschaft hinaufgetragen. Mit jedem Schritt fliehe ich in eine kalte, tiefe Gletscherspalte, in der niemand meine Seele berühren kann.

Grausige Schwärze breitet sich über mich aus, die keinen Seelenfrieden bringt. Eher raubt sie alle Lebenskraft und peinigt entsetzlicher als die heißesten Tränen, die ein Mensch weinen kann.

 

 

 

Kapitel 1

 

 

Murmelnd erheben sich die Jugendlichen von ihren Stühlen, weil die Schulklingel zur Hofpause läutet. Einer wogenden Welle gleich schwappen sie zeitgleich zur Tür des Klassenzimmers. Jeder möchte auf den Hof, in den nahe gelegenen Supermarkt oder zu den Steintreppen am nahe gelegenen Karl-Heine-Kanal.

»Die Hausaufgaben erledigen Sie bis nächsten Montag«, rufe ich den Schülern der Klasse 10b hinterher.

Mit einem Buch unter dem Arm eilt Lisa Barthold auf mich zu. Sie stellt sich neben den Lehrertisch, an dem ich die Klausuren stapele.

»Frau Weigert? Kann ich Sie bitte kurz sprechen?«

»Was gibt es, Lisa?«

»Hat es bei der gestrigen Lehrerkonferenz ein Ergebnis gegeben?«

Verblüfft betrachte ich das blonde, langhaarige Mädchen. Das jugendliche Gesicht mit der glatten Haut wirkt, als würde es aus kostbarem Porzellan bestehen.

»Ich bin nicht befugt, dir das Ergebnis mitzuteilen. Die Vorschriften, wie du weißt. Du erfährst es morgen«, antworte ich ausweichend und wende mich zum Gehen.

Mit ihren schlanken Fingern umklammert sie meinen Unterarm und hält mich vom Gehen ab. »Das ist alles? Von meiner Klassenleiterin habe ich deutlich mehr erwartet. Zumindest einen Hinweis.«

Bei anderen Gelegenheiten ist mir ihr Mut bereits aufgefallen. Lisas starkes Herz beeindruckt. In der Klasse nimmt sie keine Führungsposition ein, weil ihr das Gesamtgefüge selten gefällt. Doch das bedeutet nicht etwa, dass sie dieser Rolle nicht gewachsen wäre. Im Gegenteil. Instinktiv weiß sie genau, für welche Themen sich der Einsatz ihrer Energie lohnt. Unabhängig davon steht sie jederzeit bereit, wenn die Situation es erfordert und die Ordnung in eine unschöne Richtung zu kippen droht.

Darum nenne ich sie liebevoll ›Atlas‹. In gewissen Situationen schultert sie das Gefüge in der Klasse bereitwillig, ohne dabei Überlegungen bezüglich des eigenen Vorteils anzustellen oder etwas Profitables im Gegenzug dafür einzufordern.

Umso verfahrener gestaltet sich ihre Situation aktuell.

»Bitte Frau Weigert. Ich möchte die Schule nicht verlassen und muss endlich wissen, woran ich bin.«

Rasch geben ihre Finger meinen Arm frei, nachdem ich angesäuert dorthin schaue. Inständig bittend beobachten himmelblaue Augen jede meiner Gesten. Trotz des klaren Blicks liegt in ihnen eine Intensität, die mich zuweilen tief erschüttert. Mit ihren sechzehn Jahren haben diese Augen Dinge gesehen, die selbst eine Dreißigjährige vom richtigen Weg abbringen könnten.

Lisa nicht.

Sie legt sich dann erst so richtig ins Zeug. Ihre hervorragenden Noten hat sie sich trotz widriger Lebensumstände hart erarbeitet. Damit straft sie sämtliche Theorien, dass das Elternhaus für die schulischen Erfolgsaussichten entscheidend ist. Soweit ich informiert bin, möchte das Jugendamt sie dauerhaft aus dem prekären häuslichen Umfeld holen. Fraglos wäre das wünschenswert für ihre weitere Entwicklung.

»Das weiß ich, Lisa. Allerdings darf ich im Vorfeld nicht mit dir darüber sprechen. Du erfährst morgen das Ergebnis, also habe noch einen Tag Geduld. Auch, wenn es schwerfällt.«

Tränen rollen über die Kieferknochen des ovalen Gesichts. Ihre Mundwinkel ziehen sich betrübt nach unten. Liebend gerne würde ich sie in meine Arme schließen und ihr zuflüstern, dass alles gut wird, doch dazu fehlt mir der Schneid.

»Lisa, es sind vierundzwanzig Stunden. Die musst du dich leider gedulden«, höre ich mich klanglos daherreden. Statt taktvolle Worte zu finden, berühre sie vorsichtig am Unterarm.

Verdrossen nickt sie, während mehrere dunkle Flecken auf ihrer weißen Leinenbluse von ihrem inneren Aufruhr erzählen. Ihr schmächtiger Leib wendet sich ab. »Schon verstanden. Sie sind genau wie alle anderen Lehrer.«

Mit hängendem Kopf trottet sie aus dem Klassenraum. Ich schaue hinterher und fühle mich hundsmiserabel.

Gestern habe ich mich ergebnislos für sie eingesetzt. Obendrein habe ich mich mit dem halben Kollegium angelegt, um für Lisa alles zum Guten zu wenden. Wie eine Tigerin für ihr Junges habe ich gekämpft, doch alles hat nichts geholfen. Der Rotzlöffel, der sie gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr genötigt und dabei geschwängert hat, ist der Sohn des Schulamtsleiters und darf an der Schule bleiben. Sie muss gehen. Meine Kollegen kuschen lieber als Klartext zu reden und damit den verhassten Broterwerb zu riskieren.

Der Einfachheit halber glaubt die Schulleiterin Lisa nicht, dass es gegen ihren Willen geschehen ist. Um die Sache auf die Spitze zu treiben, fordert sie vom Opfer Beweise. Sie bedrängt Lisa sogar dahingehend, die gestellte Anzeige wegen Vergewaltigung zurückzuziehen. Dabei ist es Aufgabe der Schule, darauf zu achten, was sich in den Mauern des Gebäudes abspielt, statt das Offensichtliche zu vertuschen.

Absolut lächerlich. Es ist eine Farce.

Betrübt schaue ich zu Boden, denn in gewisser Weise habe ich versagt. Das ist der Punkt, der mir ein ungemeines Druckgefühl im Kopf verursacht.

Auf dem Flur vor der Klassenzimmertür hetzen Schüler und Kollegen in die Pause. Zerstreut nehme ich es wahr und frage mich, wer von ihnen Anteil an diesem Schicksal nimmt. Von Lehrern und Schülern geschnitten, als Lügnerin und billiges Mädchen hingestellt, ohne Unterstützung aus dem Elternhaus bleibt mein Atlas dieses Mal auf sich allein gestellt.

Ich hake die Sache nicht ab, ignoriere oder vergesse sie, denn viel von meiner eigenen Vergangenheit mischt sich in diesem Fall und meldet sich vehement zu Wort. Daneben hasse ich Ungerechtigkeit wie die Pest.

Meine Hand holt aus und pfeffert den Berg Zettel zu Boden, den ich vorhin gewissenhaft gestapelt habe. Die Klausuren flattern eine Weile in der stickigen Klassenzimmerluft herum, bevor sie verdreht und ungeordnet auf dem polierten Parkettfußboden landen.

»Mara. Was ist los?«

In der Tür steht Reino. Er ist der einzige Mensch, der mich Mara nennt, nicht Tamara.

Nachdem er vor einigen Jahren an dieses Gymnasium gewechselt ist, habe ich das unsinnige Kriegsbeil aus unserer Studienzeit begraben. Damals hat er mich nach Feierabend ein Stück auf dem Nachhauseweg begleitet. Vor einem vierstöckigen, verfallenen Gebäude bin ich stehen geblieben.

Die Ruinen der einstigen Globus Werke Leipzig stehen einsam und verlassen in der Abendsonne. Der Eingang wurde notdürftig mit Spanplatten vernagelt, die inzwischen verwittert und stellenweise brüchig sind. Das gelbrote Backstein wurde mit etlichen Graffitis beschmiert. Bäume erobern sich ihren Lebensraum zurück. Die hohen Fenster sind mutwillig zerschlagen. Nichts an diesem Ort erinnert daran, dass hier einst ›Elsterglanz‹ und das Autopflegemittel ›Karipol‹ hergestellt wurden.

Neben dem Eingang kniet Atlas, der Titan aus der nordischen Mythologie. Er hat dem Werk seinen Namen gegeben. Die Idee des Firmengründers, die Welt mit seinen Produkten zu erobern, ist kläglich gescheitert.

Atlas scheint davon unberührt. Gleichmütig stemmt er die riesige Weltkugel.

Lange habe ich Reino angesehen, bevor ich in das verfallene Gebäude geschlüpft bin. Schweigend ist er mir über verrottete Bretter, Glasscherben und der steinernen Treppe gefolgt. Staunend haben wir die Jugendstil-Ornamente bewundert.

Aus einem der zerschlagenen Fenster im vierten Obergeschoss habe ich über die Dächer von Plagwitz gesehen. Ich habe ihm gestanden, dass ich meinen Vornamen furchtbar finde.

Und noch mehr.

Zum Beispiel, dass er zu Studienzeiten für mich Sinnbild eines erfolgsverwöhnten Jungen, der aus einem vermögenden Elternhaus stammt. Für mich ist er jemand gewesen, der sich aus Jux und Dallerei gegen seine Eltern auflehnt und sich unter das Volk mischt.

Aber der Erfolg hat trotzdem an ihm geklebt wie eine stinkende Tube Uhu Alleskleber. Ihm ist alles zugeflogen, während sich andere für viel weniger wesentlich mehr abgestrampelt haben. Herr von Borstel hat im Vorbeigehen gute Noten bekommen und musste sich nicht großartig dafür anstrengen. Die besten Jobs, die er nicht zum Überleben gebraucht hat, sind ihm zugeflogen. Und jede Frau, die er begehrt. Vor allem die gutaussehenden Dinger, die gerne an Uhu Alleskleber schnüffeln.

Stell dir vor, du strampelst dich ab, bis deine Kräfte schwinden. Ungeachtet aller Anstrengung bleibt dein Einsatz ergebnislos. Plötzlich taucht eine Hand aus dem Nichts neben dir auf. Sie bittet dich auf ein luxuriöses Motorboot zu steigen. Freundlich wirst du eingeladen, auf elegante, bequeme Art ein Stück mitzufahren.

Damals hat mich die liebenswürdige Geste zutiefst beschämt. Es hat mich in meinem Strampeln absolut armselig aussehen lassen. Ich habe alles gegeben, mich rundweg verausgabt und genau gewusst, dass ich damit der Mehrheit angehöre. Vor Wut auf dieses kräftezehrende Gesellschaftssystem habe ich Reinos Hand und Hilfe ungehalten abgelehnt, als er sie mir mit einem bezaubernden Lächeln an jenen Abend angeboten hat.

Kurz darauf hat sich mein Bild von ihm jedoch radikal geändert. Da habe ich mich in einer Notsituation befunden. Ich meine, mir nichts, dir nichts habe ich so richtig tief in der Sch… gesessen. Bis zur Oberkante der Unterlippe.

Am Morgen nach der Party ist er in mein Zimmer gerannt gekommen, weil ich wie am Spieß geschrien habe. Zitternd habe ich im Bett gehockt und meine blutüberströmten Hände in die Höhe gehalten. Vor Schmerz habe ich mich gewunden und wusste nicht mehr, was passiert ist.

Er hat einen Notarzt gerufen, beruhigend auf mich eingeredet und nicht von meiner Seite gewichen, bis die Ärzte eingetroffen sind. Im Krankenhaus wurde ich notoperiert.

Nachdem ich entlassen wurde, hat er Tee oder Essen für mich gekocht. Nächtelang hat er auf dem abgewetzten Sessel meiner verstorbenen Großmutter gesessen und sogar meine schmutzige Wäsche gewaschen, weil ich weder in der Lage gewesen bin oder mich aufraffen konnte.

Tagelang habe ich an die Zimmerdecke gestarrt und Gott und die Welt verflucht. Ist mir jemand zu nah gekommen, habe ich panisch aufgeschrien. Es ist eine Frage der Zeit gewesen, bis sich alle verkrümelt haben. Zudem wollten sie nicht in die Sache hineingezogen werden.

Reino ist als einziger geblieben.

Habe ich geweint, hat er mir ein Taschentuch gereicht. Eines Abends, als ich … Er hat mich in die Arme genommen, was ich anfänglich mit extremen Wutausbrüchen quittiert habe. Reino von Borstel war der Prellbock, der meine Flüche, Anfälle von Schreikrämpfen und spitzen Fingernägel stoisch abgefangen hat.

Mit der Zeit habe ich mich beruhigt, weil er nicht von meiner Seite gewichen ist. Egal, was ich ihm an den Kopf geworfen oder wie tief ich meine Fingernägel in seine Handflächen gegraben habe, er hat in dem Sessel gesessen und auf mich aufgepasst. Auf diese Weise wurde er peu à peu mein Rettungsanker.

In dem verfallenen Haus mit dem Atlas am Eingang habe ich ihm gestanden, dass ich ihn ab da als meinen Freund betrachtet habe. Reino hat mich angelächelt und schweigend aus dem Fenster geschaut. Verblüfft habe ich zugesehen, wie er seine Hand ausgestreckt hat.

Versöhnungsbereit habe ich meine hineingelegt. Daraufhin hat er mich in seine Armbeuge gezogen. Ewigkeiten haben wir nebeneinander gestanden und aus dem Fenster mit den mutwillig zerschlagenen Glasscheiben geschaut.

An den Wänden haben vergilbte Tapetenreste herabgehangen. Es hat modrig gerochen und ist zugig gewesen, aber wir haben die Aussicht auf die orangerote Sonne genossen, die unaufhaltsam den Tag verabschiedet hat.

Auf dem Heimweg hat er mir vorgeschlagen, am nächsten Tag in seinen Squashverein mitzukommen und mit ihm zu trainieren. Für einen klitzekleinen Moment habe ich gedacht, er wüsste alles über mich. Ehrlich gesagt ist mir diese Tatsache beflügelnd vorgekommen, da ich es bei niemandem sonst erlebe. Immer muss ich mich irgendwie erklären.

Bei ihm nicht.

Seit jenem Tag pflegen wir eine wunderbare Freundschaft. Unter den männlichen Kollegen ist er derzeit der Einzige, der versteht, welche Hilfe und Zuwendung Lisa benötigt. Gestern hat er vehement für ihr Verbleiben an der Schule plädiert und sich damit auf eine recht unbequeme Seite neben mir geschlagen.

»Ist doch alles Scheiße, wenn ich es genau nehme«, antworte ich verdrossen und schaue zu den durcheinandergeratenen Klausuren, die auf dem Boden liegen.

»Kommt ihr heute Abend zum Essen?«

In seinen Händen liegt der Stapel, den ich ihm nun abnehme. Er hat meinen Freund Daniel und mich zum Abendessen eingeladen. Bei sich zuhause. Nach anfänglich skeptischen Blicken haben sich unsere Partner an unsere geschlechterübergreifende Freundschaft gewöhnt, die komischerweise länger hält als jede meiner intimen Beziehungen.

Bevor Reino Lidia kennengelernt hat, ist er fünf Jahre mit Alex verheiratet gewesen. Gefühlstechnisch gleicht die neue Beziehung einer aufreibenden Achterbahnfahrt, wobei keiner der beiden sich zu einem Ende durchringen kann. Dem Aussehen nach fährt er momentan durch ein finsteres Tal.

Anfänglich hat auch Lidia unsere Freundschaft verwundert. Es hat etliche, unschöne Missverständnisse gegeben, die wir in hitzig geführten Gesprächen ausgeräumt haben. Heute sieht sie mich kritisch an, wenn Reino einen Arm um meine Schulter legt oder mich in die Arme schließt. Inzwischen lässt sie aber wenigstens ihre polnisch, temperamentvollen Krallen eingefahren.

»Ja, sofern Daniel sich nicht verspätet. Heute Morgen ist er frühzeitig los, weil viele Termine anstehen. Habe ihn daher nicht gesehen und erinnern können. Ich werde in jedem Fall pünktlich erscheinen und freue mich schon irrsinnig darauf.«

Reino schiebt meine Hände beiseite, um die letzten durcheinander geratenen Klausuren aufzuheben. »Lass mich das machen.«

»Lisa hat eben nach dem Beschluss des Kollegiums gefragt.«

»Und?«

»Nichts und. Ich musste sie fortschicken, obwohl sie für mich am Boden zerstört gewirkt hat. Am liebsten könnte ich laut aufschreien, so ungerecht finde ich, was hier vor sich geht.«

»Heute Abend verwöhne ich euch. Wir essen etwas Leckeres, sitzen zwanglos bei einem Glas Rotwein zusammen und langweilen Daniel mit unseren haarsträubendsten Kabbeleien aus unserer Studienzeit.«

Ich schmunzele, weil Daniel diese alten Kamellen sterbenslangweilig findet. Jetzt straffe ich mich und verlasse besser gelaunt das stickige Klassenzimmer, während Reino unterdrückt lacht und mir auf den Flur folgt. An der Tür zum Lehrerzimmer angekommen, hält er sie höflich auf.

Von den durchgehenden Fensterfronten, an denen mehrere Computerarbeitsplätze stehen, strömt Tageslicht in den großen Raum. An der Wand der Eingangstür erstreckt sich über die gesamte Breite ein Regal mit abschließbaren Lehrerfächern. Ein halbhoher Tresen trennt Raum optisch vom Eingangsbereich ab. Um den riesigen Tisch stehen unzählige Stühle.

Das überfüllte Lehrerzimmer wirkt in den großen Pausen unruhig. Auch jetzt. Eine Traube männlicher Kollegen steht an der Kaffeemaschine. Mit Händen und Füßen debattieren sie. Über was bleibt fraglich. Andere Kollegen sitzen am langen Tisch und kauen lustlos ihre Mittagsmahlzeit, während sie fieberhaft in Ordnern und Zetteln blättern.

»Ich muss jetzt in die 10a«, erkläre ich und lege die Klausuren in mein Schließfach.

Sorgfältig verriegle ich es und widme mich den jüngst verteilten Informationsblättern, die sich in meinem Ablagefach im halbhohen Tresen zu einem gewaltigen Haufen auftürmen. Die Schulleiterin brummt mir gleich drei neue Vertretungsstunden auf. Vermutlich tut sie dies, um sich für meinen gestrigen Auftritt zu rächen.

»Blöde Kuh«, murmele ich verschnupft in meinen nicht vorhandenen Bart und stopfe die teilweise knittrigen Dokumente in das Ablagefach zurück.

Reino steht am Fenster. Er kaut einen Apfel und sieht dabei in den Innenhof. In Gedanken vertieft, schaut er kurz auf. Das auffällige Mienenspiel gibt mir zu verstehen, dass ich zu ihm kommen und aus dem Fenster sehen soll.

Eine Traube pickeliger, schwitzender Jungs steht um Eugen Graft versammelt. Aufmerksam lauschen sie seinen Geschichten und lachen verdruckst über jeden seiner schlechten Gedankenblitze, die sich ganz sicher um Lisa drehen. Meine Nackenhaare stellen sich auf, ohne zu hören, was er von sich gibt.

Hinter vorgehaltener Hand tuscheln die Kollegen, er wäre nicht grundlos an dieser Schule und genau in meiner Klasse gelandet. Er gestikuliert mit Händen und Füßen. Wie sein Vater. Diese großspurige Körpersprache kopierend steht er breitbeinig vor den versammelten Jugendlichen, grinst von sich selbst überzeugt mit schiefem Mund und fühlt sich unantastbar.

»Du meine Güte, sieh dir das an. Er feiert sich. Und seine Untertanen himmeln ihn an, als wäre er das Maß aller Dinge.«

Zustimmend brummt Reino und beißt in seinen Apfel. Zur Ablenkung stelle ich mich an die Stundentafel, die wir salopp ›Sklaventafel‹ getauft haben. Natürlich nur unter der Hand.

Reino unterrichtet in der nächsten Stunde die 8b in Geschichte. Das ist eine schwierige Klasse, aber er gilt als beliebter Lehrer und kommt mit ihnen klar.

Ein Poltern lässt mich aufblicken.

Es kommt von der Tür. Ein Junge mit geröteten Wangen stolpert atemlos in das Lehrerzimmer. »Wir brauchen schnell einen Notarzt. Lisa schneidet sich auf der Toilette die Pulsadern auf«, stammelt der blasse Schüler mit großen, vor Panik geweiteten Augen.

Prompt laufe ich in das Durchgangszimmer, welches sich zwischen Lehrerzimmer und Büro der Schulleitung befindet. Frau Hull, die Sekretärin, ist zu Tisch, daher schnappe ich mir den Telefonhörer. Fahrig wähle ich die Notrufnummer und winke den blassen Jungen heran.

Ein hysterisch kreischendes Mädchen taucht in Tränen aufgelöst neben dem desorientierten Jungen auf. »Wir brauchen Hilfe. Lisa. Sie schneidet sich die Pulsadern auf. Toilette. Dritter Stock. Überall ist Blut.«

Mit angsterfüllten Augen sieht sie zu, wie ich angespannt in den Telefonhörer lausche und ihr zunicke. Endlich meldet sich eine Frauenstimme am anderen Ende der Telefonleitung.

»Bitte schicken Sie einen Krankenwagen. Eine Schülerin fügt sich Verletzungen zu und blutet massiv«, melde ich.

Ich nenne die Adresse der Schule und deute dem hysterischen Mädchen an, hierzubleiben, damit sie mir weitere Auskünfte für die Dame an der Notruf-Hotline gibt. Nachdem alles an Fakten durchgegeben ist, reiche ich den Telefonhörer an einen Kollegen weiter, um nach Lisa zu schauen.

Getuschel erschallt im Flur, während ich mich durch die ungeniert gaffende Menschentraube drängele, die sich vor der Mädchentoilette in der zweiten Etage sammelt. Neugierig recken sie ihre Hälse, um einen kurzen Blick auf die brüllende Lisa zu erhaschen.

Mühsam arbeite ich mich durch das sensationshungrige Publikum und stehe kurz darauf in der Mädchentoilette. Mir bietet sich ein grauenhaftes Bild.

Das weinende Mädchen liegt auf dem Boden. Überall ist Blut. Lisa krümmt sich und stammelt unentwegt mit heiserer Stimme, dass ihr sowieso niemand glaubt und alle sie mal kreuzweise können. Sie will in Ruhe gelassen werden, entwickelt Mordskräfte und stößt jeden fort, der ihr zu nahekommt.

Ich knie mich neben sie, hebe ihr verweintes und gerötetes Gesicht an und ignoriere das weithin verteilte Blut. »Ich glaube dir, Lisa«, hole ich sie mit leisen Worten zu mir. Sachte und vorsichtig streife ich die blonden, klebrigen Strähnen aus dem verweinten Gesicht.

Verstört schaut sie mich an. Ihr Mund zittert. Ebenso ihre Hand, aus deren Handgelenk Blut tröpfelt. Zum Glück hat sie den Schnitt nicht längs angesetzt, sondern quer. Und auch nicht tief genug.

Das sagt mir: Sie will nicht wirklich sterben, sondern sucht verzweifelt, aber mit den falschen Mitteln nach Hilfe. Unsanft reiße ich ihre Hände in die Höhe, was sie für einen Moment wachrüttelt. Wimmernd versteckt sie ihr blutverschmiertes Gesicht in meiner Kleidung, um dort Schutz zu finden.

»Ich will es nicht haben. Es ruiniert mein Leben.«

»Komm her, Josi«, rufe ich einem Mädchen zu. Energisch arbeitet sie sich durch die Menge.

»Halte ihre Hände hoch, bis die Sanitäter dir was anderes sagen.«

Unerschrocken greift das angesprochene Mädchen die blutigen Finger und reckt tapfer die Arme von Lisa in die Höhe.

»Gut so«, lobe ich Lisas Klassenkameradin und beuge mich hinab. Unentwegt wimmert Lisa, dass sie das Kind nicht haben will.

»Schhh! Ganz ruhig. Ich bin hier. Alles wird gut. Gleich kommen die Sanitäter.«

Meine Finger fahren durch ihre langen Haare, bis ich ihren Nacken erreiche. Vorsichtig packe ich ihn, zwinge ihr Gesicht in meine Richtung und verlange auf diese Weise, mich für meine nächsten Worte anzuschauen.

»Ich nähe dir persönlich die Schnittwunden mit einer stumpfen Stopfnadel zu. Ich rufe keinen Notarzt, der dich dafür sediert, solltest du noch einmal diesen Scheiß versuchen. Mache das nie wieder, verstanden? Und das rate ich dir nicht als deine Klassenlehrerin, sondern als Frau.«

Für einen kurzen Moment senkt sie die Lider. Durch diese Geste beruhigt, drücke ich das entkräftete, aber weinende Mädchen an meinen Brustkorb, wo sie in Tränen zerfließt und sich hilflos gehen lässt.

»Halte sie höher«, rate ich Josi, die ihre Hände zu weit absinken lässt, weil sie sich auf mich konzentriert.

Endlich kommen die Sanitäter. Die glotzende Menge macht zögerlich Platz. Unsanft schieben sie mich beiseite, um der blutenden Lisa zu helfen. Josi und ich sorgen für ausreichend Sichtschutz, weil sich die schaulustige Menge noch immer an der Toilettentür versammelt und gafft.

Bevor Lisa auf der Trage in den Rettungswagen gebracht wird, nehme ich eine ihrer blutverschmierten Hände. Ich drücke sie fest und beuge mich über sie. »Es kommt nicht darauf an, wie viele Menschen dir glauben, sondern wer.«

Ohne zu antworten, gleitet ihr entrückter Blick an die hohe Raumdecke. Der Griff um meine Hand löst sich. Beharrlich blendet sie die spöttischen Gesichter und bissigen Sprüche der Mitschüler aus, die einander schubsen und sich zur Trage hinab beugen. Nur wenige von ihnen wünschen gute Besserung.

»Das haben Sie wunderbar gesagt«, raunt Josi mir zu, die den Sanitätern mit nachdenklichen Gesichtszügen hinterherschaut.

Haselnussbraune Augen ruhen danach auf mir. Ich weiß nicht, wer von uns im Moment mehr Halt benötigt. Kurzerhand ziehe ich sie zu mir, drücke sie fest an mich und umarme das rothaarige Mädchen, während ich unentwegt ihre Schläfe herze.

»Danke für deine Unterstützung«, murmele ich an ihrem Ohr und spüre, wie ihre Arme mich zaghaft umschlingen. Für einen winzigen Atemzug schmiegt sie sich an mich und genießt die Vertrautheit.

»Was Sie gesagt haben, war echt spitze und ich hoffe, sie macht so einen Quatsch nicht noch einmal. Bringt doch nichts.«

»Komm, wasch dich und geh nach Hause. Für eine neue Hose gebe ich dir Geld. Ich möchte nicht, dass du daheim Ärger bekommst.«

»Sie müssen das nicht tun. Ist echt nicht nötig«, beteuert sie und öffnet den Wasserhahn. »Ich weiche es kurz in kaltes Wasser ein und keiner merkt etwas.«

»Wie nie einer etwas mitbekommt?«

Josi reagiert nicht, beugt sich stattdessen über das Waschbecken und reinigt die blutverklebten Hände.

»Melde dich, wenn du Hilfe brauchst«, ergänze ich mehrdeutig, lege meine flache Hand auf ihren gebeugten Rücken und fahre vorsichtig darüber. »Gleichgültig welche.«

Nach und nach löst sich die gaffende Menge vor der Toilettentür auf. Hier gibt es nichts mehr zu sehen. Den Schülern scheint Lisas Schicksal einerlei. Die meisten glauben ohnehin Eugen. Dem Lieblingsschüler, dem Schönling, dem Lackaffen ohne jegliches Selbstbewusstsein. Derzeit erzählt er allen ungefragt seine erlogene Variante, die Lisa als käufliches Mädchen darstellt und sich angeblich mit allerlei Lügengeschichten an ihm rächt.

Vor Zorn über die derzeitige Situation bebend finde ich mich an der geöffneten Tür des Lehrerzimmers wieder. Entsetzt sehen mich die anwesenden Pädagogen an. Die Mehrheit hat gestern in der Sitzung dafür plädiert, dass dieses ›liederliche Mädchen‹ besser die Schule verlässt, damit endlich wieder Ruhe einkehrt. So schnell es geht.

Stinkwut arbeitet sich empor. Unaufhaltsam windet sie sich mehrmals kreisend durch meinen Körper. Kurz darauf brennt es dämonisch in meiner Kehle.

»Sie ist sechzehn!«

Entgeistert werde ich angestarrt, weil ich schreie. Unvermittelt entladen sich alle unterdrückten Emotionen, sobald ich an mir hinabsehe. Alles an mir ist voller Blut.

Wie damals.

Völlig außer mir kreische ich immer. Ich schreie so laut ich kann, dass Lisa verdammt noch eins erst sechzehn Jahre alt ist. Uns Lehrer trifft eine Mitschuld, aus der wir uns nicht einfach winden können.

Schemenhaft und von meinen Tränen verschleiert, taucht Reino vor mir auf. Er drängt mich aus dem Lehrerzimmer. »Alles gut, Mara. Alles gut. Bitte atme einmal tief durch. Wir beide gehen jetzt das Blut abwaschen, das überall an dir klebt, in Ordnung?«

Mechanisch folge ich und blende die verständnislos dreinblickende Lehrerschaft aus. In der Damentoilette lehnt Reino mich gegen ein Waschbecken und reinigt meine blutroten Hände unter dem Wasserhahn.

Das Wasser, das in den Abfluss rinnt, färbt sich dunkelrot. Noch immer bebe ich entrüstet über die Feigheit der Kollegen und bekomme meinen Körper nicht unter Kontrolle.

»Du stehst unter Schock. Atme ruhig ein und aus. Genau so. Gut. Beuge dich bitte einmal kurz vor.«

In seiner Hand sammelt er Wasser, womit er behutsam mein Gesicht reinigt. Alles führt er zärtlich besorgt aus und besänftigt mich augenblicklich. Er stellt sich vor mich und entnimmt dem Spender mehrere Papierhandtücher.

Aus weiter Ferne beobachte ich ihn. Ich fühle mich innerlich taub und wehr mich nicht gegen seine Zuwendung. Dafür fehlt mir die Zeit. Flashbacks plagen mich. In Trance durchlebe ich noch einmal, wie mich der unwirkliche Schatten aufhebt, die Treppe hinaufträgt und ich blutüberströmt erwache. Mich vor entsetzlichen Schmerzen windend und nicht erfassen könnend, was mit mir geschehen ist.

Ich sehe an Reino vorbei an die Wand der Mädchentoilette. Das muss ich, um mich vor meinen eigenen Geistern zu retten. Wenngleich er genau vor mir steht, höre ich nicht genau, was er sagt, spüre lediglich, wie fürsorglich er mich umhegt.

»Manchmal schrecke ich nachts schreiend auf. Du sitzt nicht mehr im Sessel, um auf mich aufzupassen. Dann fällt mir ein, dass ich dir nie dafür … Manchmal überlege ich, ob ich nach all den Jahren meinen Dank überhaupt noch in Worte fassen kann. Ehrlich, ich überlege häufig, es dir einfach zu sagen. Nur, damit es endlich raus ist.«

Reino hält inne und mustert mich. Schweigend tupft er meine Wangen trocken. Sein Gesichtsausdruck verrät, wie sehr ihn meine Worte bewegen.

»Du musst nichts sagen. Ich lese alles in deinen Augen.«

»Du liest in meinen Augen?«

»Was glaubst du? Wie lange kennen wir uns inzwischen, Mara?«

»Über zwanzig Jahre. Davon sieben Jahre und neun Monate mit Unterbrechung …«

»Sieben Jahre und neun Monate? Du hast die Monate gezählt?«

»Ja, und auch die acht Tage. Die Minuten rechne ich gerne nach. Was siehst du mich so komisch an?«

»Du zählst sogar die Minuten?«

»Nein, ich bin doch kein Freak.«

»Nein, du bist alles, aber gewiss kein Freak. Jetzt erzähle mir, was dich wütend macht.«

»Ich habe Lisa vorhin fortgeschickt, obwohl sie … Ich kann es ihr nicht sagen, kann es nicht und das erinnert mich an …«, hauche ich nach einer Weile erstickt.

Ich suche Trost in seinen dunklen Augen, die mich mitfühlend betrachten. Reino macht das, was er immer macht, wenn es mir mies geht. Er ist zur Stelle und zieht mich behutsam in seine Arme. Ich lasse mich sinken und lande daunenweich an seiner Schulter.

Eine Wohltat.

Diese herrliche Stille …

»Du bist nicht diejenige, die ihr etwas Derartiges erklären muss. Das soll schön die Gerbauer übernehmen«, tröstet er mich, während er sanft meinen Rücken streichelt, um mich zur Ruhe zu bringen.

Tonlos widerspreche ich: »Aber sie hat mich gefragt, nicht die kaltherzige Gerbauer.«

In seiner freundschaftlichen Umarmung dürfen Tränen rollen. Zumindest, bis sich die Tür öffnet und die grauhaarige Schulleiterin im Türrahmen erscheint.

Frau Gerbauer.

Kraftlos löse ich mich von Reino und wische keine einzige Träne von den Wangen. Die Rektorin sieht flüchtig an mir herab, als wäre ich ein lästiges, widerwärtiges Insekt. Meine gelbe Bluse trieft blutrot von jenem Unglück, was sie mit einer hochgezogenen Augenbraue moniert. In ihrem Blick liegt eine Erbarmungslosigkeit, die ich noch nie ertragen konnte und vermutlich der Grund meiner Antipathie ist.

»Sie ist sechzehn«, wiederhole ich meinen Vorwurf, der diesmal nicht der Lehrerschaft, sondern ihr gilt.

»Das steht in ihrer Schülerakte. Diese Tatsache haben Sie ausgezeichnet recherchiert, Frau Weigert«, antwortet sie unterkühlt. »Nehmen Sie sich Urlaub oder gehen Sie zu einem Arzt. Ich möchte Sie ungern in diesem kopflosen Zustand im Gebäude antreffen. Zumal Sie unnötigen Tumult verursachen. Reißen Sie sich gefälligst zusammen, Mensch.«

Ich gehe einen Schritt auf sie zu, weil sich bei ihrem Anblick mein verborgener Groll erneut den Weg an die Oberfläche bahnt. »Lisa Barthold ist sechzehn Jahre alt«, schreie ich mit letzter Kraft, was selbst in meinen Ohren schmerzt. Der Schall in diesem kahlen Toilettenraum ist unfassbar laut.

»Und Sie? Wie alt waren Sie?«

Schnellstens stürme ich auf sie zu. Ich will ihr die abgestumpft dreinblickenden Augen auskratzen oder ihr das kalte Herz aus dem Brustkorb reißen. Gleichgültig, was. Hauptsache ist, ich erwische irgendetwas von dieser Eiskönigin. Den hochmütigen Blick, die beißende, höhnende Art und ihren erbarmungslosen Charakter kann ich keine Sekunde länger ertragen.

Energisch zieht Reino mich von ihr fort, während ich mich zu dieser Eiskönigin vorarbeite. Mit einem geschickten Griff befördert er mich in die nächstgelegene Ecke und verdeckt die Sicht auf meine Vorgesetzte.

»Um Gottes willen! Bringen Sie Frau Weigert nach Hause, Herr von Borstel. Bevor hier noch ein weiterer Rettungswagen kommen muss. Sie erscheint mir heute gänzlich nervenschwach. Ganz nebenbei bemerkt sieht Ihr Hemd ebenfalls desaströs aus. Nehmen Sie sich beide den Nachmittag frei.«

An seinem hellgrauen Baumwollhemd klebt Lisas Blut. Gewaltsam bringt er mich von ihr ab und beschmutzt sich zeitgleich an mir. Anstatt seine Bemühungen zu würdigen, verhöhnt sie ihn und ohrfeigt uns beide damit.

 

 

 

Kapitel 2

 

 

Reino telefoniert. Mit meinem Freund Daniel, der sich am anderen Ende der Telefonleitung sorgt, nachdem er erfährt, was in der Schule passiert ist. Ich sitze daneben, rege mich aber nicht. Dazu fühle ich mich zu ausgelaugt.

»Mara ist bei mir«, erklärt er meinem Freund. »Nein, ich lasse sie auf keinen Fall allein. Ja, sie hat einen Schock erlitten. Ja klar, sagt das der Arzt und hat sie krankgeschrieben. Bringst du frische Klamotten mit, wenn du zum Abendessen kommst? Lidia hat ihr ein Shirt geliehen, möchte es aber gerne zurück. Alles klar, bis nachher.«

Das schnurlose Telefon landet auf der Sitzfläche der rot gestrichenen Gartenbank, die sich deutlich vom Grün der Umgebung abhebt. Schwerfällig strafft sich Reino und schnieft verdrießlich. Er empfindet Daniels Charakter mitunter als strapaziös, was ihm jetzt überdeutlich ins Gesicht geschrieben steht.

Wir sitzen im Garten seines Reihenhauses auf der Holzbank, die er vor Jahren mit Andy zusammengebaut hat. Andy ist mein mittlerweile erwachsener Sohn. Wochenlang haben beide gesägt, geschraubt und gebohrt. Und das in der glühenden Sommerhitze. Eine Grillparty hat das Sommerferienprojekt eingeweiht. Seitdem sitzt er gerne hier und schaut entspannt zu dem, was Lidia im Garten pflanzt und aktuell in allerlei prächtigen Farben erblüht.

Vom Straßenlärm der Hauptstraße, die ganz in der Nähe verläuft, hören wir nichts. Bei Feierabendverkehr gelangen Menschen nur schwer über die quirlige Hauptstraße. Hier hingegen trällern Spatzen in den Baumkronen, die einen Teil des Gartens beschatten. Durch die geschwungen angelegten Blumenbeete fährt der warme Wind. Der ebenfalls geschwungene Weg lädt zum Flanieren ein, um im hinteren Teil mehr zu entdecken.

Die Sonne steht hoch. Kleine, fluffige Wolken ziehen schleppend über den Himmel und spenden gelegentlich Schatten. Für Ende April sind die Temperaturen ungewöhnlich drückend.

Mein Blick klebt an dem rot gestrichenen Gartenhaus, das am Ende des Grundstücks steht. »Erinnerst du dich daran, wie wir es gestrichen haben?«

Reinos Blick gleitet zum Ende des hübschen Gartens. »Hin und wieder.«

»Andy wollte dir unbedingt helfen und sich Taschengeld verdienen«, murmele ich mit vielen schönen Bildern vor dem geistigen Auge und lache unterdrückt.

Mein Sohn wollte unbedingt die unteren fünfzig Zentimeter streichen, doch der Sommer ist glutheiß gewesen, dass er nach zehn Minuten zerknirscht aufgegeben hat. Dennoch hat Reino ihm das vereinbarte Geld gegeben, obwohl er den ganzen Tag keinen einzigen Handschlag getan hat und klugerweise im erfrischenden Poolwasser hocken geblieben ist.

Mit Alex, der geschiedenen Frau von Reino.

Nach getaner Arbeit sind wir übermütig hineingesprungen, bis das Wasser in alle Richtungen geplatscht ist. Andy und Alex sind geflüchtet, weil wir gelärmt, gelacht und uns ausgelassen mit Wasser bespritzt haben.

»Der Sommer war paradiesisch. Von dem Geld wollte Andy sein erstes Mikrofon kaufen. Mit sieben Jahren stell dir vor«, sinniere ich im Flüsterton und denke an die fantastischen, gemeinsamen Stunden.

»Schon damals hatte er etwas sehr Besonderes in der Stimme. Ist er zu Besuch?«

»Ja, er kommt für ein verlängertes Wochenende, weil er hier in Leipzig ein paar Gigs klarmachen möchte.«

»Großartig, aber du redest schon wie er. Gigs! Gehen wir hin, wenn er sie bekommt?«

»Logisch. Das letzte Mal hatten wir einen Mordsspaß.«

Ich erinnere mich an den Konzertsaal mit der Galerie, den riesigen Discokugeln und der hohen Decke mit den Holzgebälk, die mich an eine Dorfkirche in Brandenburg erinnert. An den Lounge-Charakter mit den urigen Chesterfield-Ledersofas und der lila Karo-Tapete, die bei zu langem Betrachten Sinnestäuschungen hervorruft. An den wummernden Bass, der durch den Körper fährt, im Magen und Herz hämmert, bis ich mich ergebe und loslasse. Eins werde mit dem Song …

»Wir?«

»Ja, wir. Auch, wenn du beschwipst peinliche Sachen veranstaltet hast«, weise ich ihn schmunzelnd zurecht.

»Gib den Dingen bloß keine Spitznamen. Ich war sternhagelvoll.«

Versonnen und in dieser schönen Erinnerung gefangen, lächele ich und lege den Kopf zurück, um den Himmel eingehender zu betrachten. »Wir waren jung und brauchten das Geld.«

Reino hat auf dem Heimweg jeden Passanten wegen ein paar Euro angebettelt, der uns zufällig begegnet ist. Mir ist das entsetzlich unangenehm gewesen, weil wir das Geld gar nicht nötig gehabt haben, um nach Hause zu gelangen.

An jenem Abend habe ich das erste Mal seit Wochen gelacht, mich leicht und unbeschwert gefühlt. Seitdem unternehme ich in meiner Freizeit mehr mit Reino, als mit meinem Freund und ignoriere noch heute alle Streitigkeiten, die diese Tatsache links und rechts des Weges heraufbeschwört.

Neben mir bewegt sich die Sitzfläche der Bank, denn er lacht und wippt dabei vor und zurück. Vermutlich erinnert er sich an jenen Frühlingsabend, an dem er mich, aus einem tiefen Loch geholt hat, ohne es zu vermuten.

»Die Trennung von Alex hat dir damals schrecklich zugesetzt«, murmele ich, »und es ging dir miserabel. Mich hatte eine Depressionsphase nach unten gedrückt.«

»Zum Glück liegt es lange zurück.«

Bis heute weiß ich nicht konkret, was damals zwischen ihm und Alex vorgefallen ist. Da er über die schmerzliche Phase seiner Scheidung nicht gerne spricht, dringe ich auch heute nicht in ihn ein. Stattdessen hebe ich das Wasserglas an meinen Mund und schlürfe das erfrischende Getränk, welches Lidia mir vorhin gereicht hat. Sie hat Eiswürfel und ein dekoratives Blatt Pfefferminze in das Wasser getan und es mir mit einem sorgenvollen Gesichtsausdruck ausgehändigt.

Mir gegenüber verhält sich Lidia größtenteils reserviert, obwohl sie aus dem gastfreundlichen Polen stammt. Die unterkühlte Schönheit mit dem stählernen Blick verfolgt unsere Freundschaft misstrauischer als Reinos geschiedene Frau.

Der sinnliche Mund liegt schnippisch unter der schmalen Nase und passt perfekt zum spitzen Kinn. Ab und zu posiert sie für Modezeitschriften, ist damit erfolgreich und wird oft gebucht. Ich beneide ihr weiches, langes und blondes Haar. Gelegentlich bewundere ich es ungeniert und frage mich, woher sie die Zeit nimmt, um sich täglich aufwendig zu frisieren.

Ihre himmelblauen Augen erscheinen mir ablehnend und berechnend, was durch einen Blick verstärkt wird, der von unten nach oben geht. Heute wirkt er obendrein verdrossen. Vermutlich störe ich mit meiner verfrühten Anwesenheit ihren häuslichen Ablauf, obwohl sie bereits halb aus dem Haus ausgezogen ist. Mit einem Auge linse ich zur Terrassentür, wo sie geschäftig umherläuft und missmutig zu uns äugt.

»Hast du sie auch eingeladen?«

»Sie möchte unbedingt ein Reh zubereiten, weil sie gehört hat, dass ihr beide zum Essen kommt. Ich habe nicht wirklich ernsthaften Protest eingelegt. Fühle mich dafür zu müde.«

Entsetzt starre ich ihn an, denn ein süßes Reh mit riesigen, braunen Kulleraugen, esse ich definitiv nicht. Er weiß es und betont deshalb das ›Reh‹ absichtlich gedehnt.

»Dein Gesicht spricht jetzt Bände, Mara«, raunt er und legt aufmunternd seinen Arm um meine Schulter. »Wir überstehen den Abend, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, oder? Zur Belohnung sehen wir uns irgendwann den Trickfilm an und sehen Bambi dort quietschfidel über saftige Wiesen hopsen.«

»Hätte Daniel doch bloß nicht erwähnt, dass er gerne einmal Wild probieren würde. Ich gebe mir echt große Mühe, ihm gelegentlich ein Steak zu braten, obwohl es mich anekelt«, gebe ich zu denken. »Stell dir vor, er will tatsächlich ein süßes Bambi essen. Das geht gar nicht. Ich wünschte, du hättest Lidia nicht erzählt, dass wir heute Abend kommen. Entschuldige, ich … es ist dein Haus. Aber mal ehrlich, ein süßes, kleines Reh essen?«

»Sofern du nicht auf unsere Teller siehst, könnte es ein unterhaltsamer Abend werden.«

»Stell genug süffigen Wein auf den Tisch, damit wir ihn alle überleben«, entgegne ich spöttisch. »Dann betrinke ich mich heftig und brauche zudem keine Entscheidungen bezüglich meiner Beziehung zu treffen. Wie praktisch das wäre. Und wie kindisch. Seit einigen Wochen schläft er im Atelier, was sich mehr nach Single anfühlt als nach einer funktionierenden und soliden Beziehung.«

»Vor wenigen Wochen erst hast du betont, dass dich alles beklemmen, erdrücken und belasten würde. Da sollte dir der neue Status doch eigentlich gelegen kommen. Daniel reagiert, wie er dauernd reagiert. Frustriert. Wundert es dich ernsthaft?«

»Nein, aber offensichtlich liegt darin die Ironie des Schicksals. Ist er hier, wünsche ich ihn fort. Ist er dort, möchte ich ihn bei mir haben. Und dann die Sache mit dem Heiratsantrag … Du weißt doch, wie schnell ich da die Beine in die Hand nehme. Wie läuft es bei euch?«

Reino seufzt und betrachtet seine Hand, deren Finger sich aneinander reiben. »Ich verliere den Faden. Manchmal fühle ich mich erleichtert, wenn sie woanders übernachtet. Kurioserweise schlafe ich in diesen Nächten wesentlich besser.«

»Mich stimmt es traurig, wenn du so sprichst. Und zudem bedeutet es, dass uns ein richtig gemütlicher Abend bevorsteht.«

»Keine Sorge. Ich habe genug süffigen Wein gekauft«, tröstet er feixend und legt damit abermals seine entzückende Lachfalte frei.

»Lass uns unauffällig zur nächstgelegenen Parkbank durchbrennen. Da können sich beide allein mit dem gebrutzelten Bambi amüsieren.«

Reino neigt das Gesicht, um mich besser ansehen zu können. »Rede ruhig weiter, am Ende brenne ich noch mit dir durch.«

Ich lehne mich gegen seine Schulter und fühle mich sofort friedlicher, weil er den Vorschlag zumindest in Erwägung zieht. »Gut, im Notfall brennen wir zur nächstgelegenen Parkbank durch. Ich höre mir auch jede deiner schmalzigen Möchtegern-Reden an«, versichere ich.

Reino bekommt einen kolossalen Lachanfall, der ewig nicht endet. Hinter uns dringen Geräusche aus der Küche. Bestens gelaunt und beschwingt, bereitet Lidia das Abendessen vor. Irgendwann ruft sie ihn zu sich, weil es an der Zeit ist, den Tisch einzudecken.

Geschäftig klacken ihre Absätze auf den Bodenfliesen, wenn sie sich in der halb offenen Küche bewegt. Sie gibt ihm Anweisungen, wie er die Servietten falten soll, wo das Wasserglas zu stehen hat, wie er die Blumendekoration wirkungsvoll drapiert. Geduldig führt er alle Arbeiten aus und lächelt ihre Nervosität charmant fort.

Denkbar wäre auch, dass er bereits unseren Fluchtweg plant.

In der Zwischenzeit genieße ich die Stille des Gartens und das saftige Grün. Ich verdränge das Bild von der weinenden Lisa, die sich auf dem schmutzigen Boden der Toilette windet.

Der Türgong ertönt. Danach höre ich Absätze, die klackern, weil jemand zur Tür huscht.

»Hallo Daniel«, begrüßt die polnische Schönheit ihn überschwänglich und schmatzt drei laute Küsse auf seine Wange.

Daniel und Lidia verstehen sich phänomenal. Im Gegensatz zu mir wurde er überraschend schnell mit ihr warm.

»Lidia, Maus, du siehst heute Abend wieder einmal hinreißend aus. Schick, schick, schick. Hm, das riecht exzellent und mir läuft direkt das Wasser im Mund zusammen. Was kochst du denn für uns? Nein, warte! Lass dich vorher kurz drücken.«

Albern kichert sie und murmelt dankbare Wörter für das unverblümte Kompliment. Ich senke meinen Blick, bleibe aber sitzen, obwohl ich höre, dass mein Freund eintrifft. Geistesabwesend tauche ich meinen Zeigefinger in das Wasser und fahre pausenlos den Rand des Glases entlang.

Reino begrüßt er um einiges sachlicher, was mich nicht wirklich verwundert. Freundlich erkundigt sich Daniel nach dem Befinden und tauscht einige Nettigkeiten aus, bevor er sich lautlos der Gartenbank nähert.

»Hallo Maus«, flötet er lieblich, nachdem er sich gesetzt hat. Zärtlich berühren seine Lippen meine Wange. Ein scheues Lächeln umspielt seinen Mund, als wäre er in mich verliebt.