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Adelina Zwaan

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Beschreibung

Was löst die Erinnerung an deine erste Liebe in dir aus?

Carlotta ist erfolgreiche Redakteurin bei einem Fernsehsender. Sie erhält den Auftrag, eine Sendung über Ruben Holl zu gestalten, einem trocken gelegten Weiberheld. Eine einmalige Chance für ihre Karriere. Doch sie ist alles andere als begeistert. Er ist im Nachbarhaus aufgewachsen, war ihr bester Freund, bis er süchtig nach Sex wurde.
Den Grund für seine Sucht ahnt niemand, bis die Sendung läuft. Live …

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der mitreißende, romantische Romantik-Thriller »First Love« von Adelina Zwaan by AZ Books

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Inhalt

First Love

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Bibliografie AZ Books

Über die Autorin

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

First Love

Adelina Zwaan

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Widmung

Jeder Fluch kann mit etwas Hilfe und Unterstützung zu einem echten Geschenk werden.

 

Adelina Zwaan

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Kapitel 1

 

Statt auf dem Balkon das frühsommerliche Wetter zu genießen, sitze ich vor meinen Bücherregalen, umringt von aufeinander gestapelten Türmen, die aus lauter Schätzen bestehen. In den Ecken des Wohnzimmers wachsen Büchertürme aus dem nichts in den Himmel empor. Allesamt Monumente meiner Leseleidenschaft, die nun wie eine überflüssige Last erscheint. Eine Last, vergleichbar mit einer ansteckenden Krankheit, die einen gnadenlos gefangen hält. Oder vielleicht wie eine nicht übertragbare, aber dennoch tödliche Krankheit. Ähnlich jener, die meinen Mann vor einem Jahr aus meinem Leben gerissen hat.

Krebs ist ein hinterhältiger Dieb, der sich in Windeseile durch seinen Körper gefressen hat. Beharrlich und schnell. Um nicht zu sagen viel zu schnell.

In wenigen Wochen jährt sich sein Todestag. Dieser Tag ist ein schmerzhafter Meilenstein, der mich veranlasst, mich mit den skurrilsten Dingen zu beschäftigen. Alles nur, um nicht von belastenden Erinnerungen heimgesucht zu werden und um erschöpft einzuschlafen, ohne mich den schmerzhaften Bildern stellen zu müssen.

Na los, noch eines. Nur eines, versprochen, flüstert eine innere Stimme mir zu, während ich ein vergilbtes Buch aus dem Regal ziehe. Die Worte auf den Seiten erscheinen mir wie verblichene Erinnerungen, die zwischen den Zeilen aufbewahrt wurden. Ich blättere umher, als könnte ich in der Vergangenheit Antworten finden.

Zu oft sehe ich in Gedanken, wie Alessio in meinen Armen liegt und für immer die Augen schließt. Das raue Röcheln seines letzten Atemzugs hallt in meinen Gedanken wider, als wäre seine Seele erst vor wenigen Minuten davongeglitten.

Erbarmungslos hat der Tod auf seiner Brust gesessen und Freudentänze aufgeführt, weil er wieder jemanden erfolgreich das Leben ausgehaucht hat. Gott, wie ich ihn dafür gehasst habe, diesen unbarmherzigen Schatten, der leidenschaftlich jeden noch so winzigen Lebensfunken aus diesem herzensguten Mann herausgesogen hat.

Genau erinnere ich mich an Alessios entrückten Blick. Unter zermürbender Anstrengung hat er einen letzten Satz gehaucht. Ganz leise nur. Eine Bitte, ein Wunsch.

Innerlich erstarrt habe ich auf ihn herabgestarrt. Mir ist es vorgekommen, als würde ein fremder Mann in meinen Armen liegen. Nicht nur, weil er eine Sekunde später verstorben ist oder wegen der grotesken Situation, sondern weil ich nicht begreifen konnte, warum er mich in seinen letzten Augenblicken darum bittet.

Warum sagt er mir nicht, dass er mich liebt, ich alles für ihn bedeute oder wie sehr er sich fürchtet? Seit diesem schicksalhaften Tag verfolgt mich die Frage: Warum diese Bitte, die mich in den tiefsten Abgrund meiner Gefühle stürzt?

In den Nächten, in denen der Schmerz übermächtig wird, schaue ich hinauf zu den Sternen, als könnte ich seine Anwesenheit in den funkelnden Lichtern finden. Doch die Sterne schweigen, und ich bleibe allein mit etlichen Fragen zurück.

Leise beschleicht sich die These, ob er vielleicht nicht mehr klar realisiert hat, was für rätselhafte Worte er von sich gegeben hat. Mir kommt es jedenfalls so vor, als hätte er wirres Zeug von sich gegeben. Davon berichten auch andere Betroffene. Ich bin damit also wohl nicht allein.

Ich wollte ihn an meiner Seite haben, und das ohne Kompromisse. Durch das dunkle Tal der Krebserkrankung sind wir folglich gemeinsam gegangen. Doch bis heute erscheint mir seine seltsame Bitte geradezu abwegig, fast zu absurd, um sie als letzte Worte ernst zu nehmen. Immer wieder versuche ich mir einzureden, dass ich sie getrost ignorieren kann.

Ehrlich gesagt, möchte ich sie nicht erfüllen. Es ist doch so: Wenn Züge einmal abgefahren sind, ergibt es wenig Sinn, ihnen hinterherzulaufen. Jeder weiß es und wie sinnlos sich ein derartiges Unterfangen gestaltet. Die Geschichte ist längst geschrieben, alle Fakten sind zusammengetragen, und die Hauptfiguren haben ihre Plätze eingenommen. Zwar bin ich Journalistin, aber wer bin ich, mir anzumaßen, einmal erzählte Geschichten umzuschreiben?

Wem soll das überhaupt nützen?

Niemand erzählt das Märchen von Rotkäppchen plötzlich anders. Jedes Kind würde es durchschauen, dir einen Vogel zeigen und dir das Märchenbuch um die knallroten Ohren hauen. Sie sind wahre Meister darin, Lügen und Betrug aufzudecken.

Um die tückischen Klippen seiner ungewöhnlichen Bitte zu umschiffen, durchkämme ich heute also meine alten Bücher. Ich spende sie einer gemeinnützigen Organisation. Irgendeine Leseratte freut sich gewiss über neuen Lesestoff.

Aber noch einmal zurück zu Alessios Bitte. Hand aufs Herz, wie kann ich ernsthaft einen Gedanken an seine Bitte verschwenden? Mein Leben gleicht einem endlosen Strom von Arbeit und Überstunden. Unter der Woche wohne ich praktisch in meinem Büro. Wenn ich doch nach Hause komme, ist es bereits dunkel. Auch im Sommer. Mich überwältig die Trauer und ich schaffe nichts anderes als in die trostlose Leere zu starren.

Ich kämpfe mit meinen eigenen Dämonen und habe damit alle Hände voll zu tun. Es sind viele. Da bleibt kein Platz für etwas anderes. Und ich bin auch nicht bereit, diesen Platz zu schaffen, denn ich habe Alessio abgöttisch geliebt.

Die Einsamkeit spüre ich meistens genau dann, wenn ich nicht arbeite. Darum bin ich meist die Letzte im Büro. Arbeit ist mein Allheilmittel gegen den Kummer des Verlustes. Und mein Verderben gleichermaßen.

Im vergangenen Jahr habe ich auf eine eindringliche, wenn auch tragische Weise gelernt, mich von all den liebgewonnenen Dingen und Gewohnheiten zu lösen. Zwangsläufig, denn der Tod kennt keine Rücksicht, fragt nicht, sondern schlägt zu.

Ungebeten, gnadenlos und mit roher Gewalt.

Das ganze Drumherum hat sich keineswegs unkompliziert gestaltet. Es war hart, unbarmherzig, scheinbar aussichtslos, geprägt von Einsamkeit und Zukunftsängsten und durchzogen von einer düsteren Schwermut.

Erst seit Kurzem klingt diese Phase ab. Zumindest etwas. Ich hoffe, das Aussortieren der Bücher lenkt mich von den endlosen, nichts bewirkenden Grübeleien ab. Obwohl die meisten Erinnerungen ihren einstigen Glanz längst verloren haben und Alessios Gesicht in meinem Herzen anfängt, zu verblassen, lasse ich ungern Dinge los.

Aber das mit dem Loslassen und dem Herzen ist eine knifflige Sache. Wer von uns lässt schon mühelos Dinge oder Menschen los, an die er sich jahrelang gewöhnt hat und die einen festen Platz in unserem Herzen gefunden haben? Seien wir ehrlich: Wir sind alle Gewohnheitstiere, vertrauen darauf, dass das Leben ewig so weitergeht, wie es uns der Moment einflüstert.

Diese Denkweise erweist sich mitunter als tückisch. Alles ändert sich. Ständig. Jede Sekunde. Ja, sogar jede Millisekunde. Aber so ist das, und mir fällt es gleichermaßen schwer wie anderen, loszulassen.

Schweren Herzens befreie ich mich nun nach und nach von meinen heißgeliebten Büchern. Ich bin regelrecht stolz darauf. Vor Jahren hätte ich mir lieber bei lebendigem Leib einen Arm abgebissen, als eines von meinen Schätzen herzugeben. Schließlich begleiten mich die meisten seit meiner Kindheit. An jedem kleben unzählige Erinnerungen und Emotionen, wie ein kunstvoll gewobenes Netz aus längst vergangenen Zeiten.

Der Bildband über den fünften Kontinent, der da oben auf dem Stapel liegt, erinnert mich an etwas. Vor Jahren wollte ich unbedingt für einen Monat nach Australien reisen. Meine Mutter hat mir diesen Bildband zu Weihnachten geschenkt. Ihr strahlendes Lächeln vor dem festlich geschmückten Tannenbaum ist mir gut in Erinnerung, als sie mir das Geschenk auf die Knie gelegt hat. Damals habe ich naiverweise gedacht, dass Reisen um die Welt mich vor dem bewahren könnten, wovor ich am liebsten davonlaufen wollte.

Wenn ich heute also dieses Buch aussortiere, fühlt es sich an, als würde ich mich von dem Lächeln meiner Mutter verabschieden. Natürlich ist dem nicht so, denn seit diesem Weihnachtsfest wohnt diese Erinnerung tief in meinem Herzen und wird dort erbittert von furchteinflößenden Wächtern mit gelben Zähnen und langen, krallenartigen Fingern behütet.

Aber so ticken Erinnerungen nun einmal. Mein ganzes Leben lang klammere ich mich an materielle Dinge wie diese Bücher. Vielleicht, weil ich glaube, dass ich durch sie schöne Gefühle oder Erinnerungen für immer konservieren kann. Behutsam lege ich diese Dinge auf einen imaginären Schrein. Mit den Jahren erhalten die Erinnerungsstücke einen fast heiligen Status, obwohl sie diesem Anspruch nie ganz gerecht werden können.

Ja, Gefühle erweisen sich oft als trügerisch. Oder gar heimtückisch. Aber das ist ein anderes Thema. Ich fühle mich müde und habe heute schon so viel Themen angeschnitten. Lasse ich es und fange heute besser kein neues Thema an.

Stattdessen unterziehe ich jedes Buch einer kleinen Prozedur, die beruhigend wirkt. Sie besteht darin, es grob durchzublättern oder kräftig durchzuschütteln. Ansichtskarten, handschriftliche Notizzettel oder Ahornblätter, die längst den saftigen Grünton verloren haben, purzeln heraus.

Alles, was ich damals als Lesezeichen benutzt habe, kommt ans Tageslicht. Es ist zu persönlich, um es den neuen Besitzern zu überlassen. Nach Jahren im Schlummer füllen diese kleinen, heiligen und vergessenen Fundstücke spontan mein Herz mit Freude und Belustigung. Manchmal auch mit Schwermut.

Letzteres überkommt mich, als ich auf ein Buch von Goethe stoße, Vaters Lieblingswerk. Das Gewebe des einst azurblauen Einbandes ist im Laufe der Jahre verblasst, vom vielen Lesen abgegriffen. Ich halte es an meine Nase und sauge den staubig-trockenen Geruch ein, unvermittelt von der emotionsgeladenen Erinnerung überwältigt, die diesem alten Exemplar anhaftet. Es fühlt sich an, als würde Vaters Geist durch die Seiten des Buches blättern und mich liebevoll mit ungesagten Worten umarmen.

Zärtlich gleiten meine Finger über den Bucheinband aus Stoff, während ich den Buchrücken näher betrachte. Alles erinnert überraschend intensiv an meinen Vater. Manchmal überdauert eben ein kleiner Wermutstropfen an den schönsten Erinnerungen. Egal, wie süß sie mir im Nachhinein erscheinen.

Ein Foto purzelt aus den vergilbten Seiten und landet auf meinem Oberschenkel. An den Ecken und Kanten ist es abgegriffen, die Vorderseite zeigt nach oben. Für Minuten bin ich unfähig, es in die Hand zu nehmen.

Urplötzlich katapultiert es mich in eine Zeit zurück, von der ich geglaubt habe, sie gewaltsam aus meinem Bewusstsein verbannt zu haben. Ich korrigiere mich: Ich habe angenommen, sie erfolgreich aus meinem Bewusstsein verbannt zu haben. Aber dem ist nicht so, wie ich verblüfft feststelle.

Damals habe ich es für undenkbar gehalten, dass der erste Liebeskummer vergänglich, wie das Leben wäre. Klingt vielleicht kitschig, aber so hat es sich nun einmal angefühlt.

Zwei, zu lustigen Grimassen verzogene Gesichter erzählen ein altes Lied jener unbeschwerten Tage, die jäh einer nie da gewesenen Melancholie gewichen sind. Auf dem Foto bin ich vierzehn und auch das kommt mir heute wie eine knallharte Lüge vor. Unerfahren, gutgläubig und mit unzähligen Erwartungen an das Leben, das sich vor mir auszubreiten schien wie ein roter Teppich.

Eigens für mich.

Nur ein Heranwachsender vermag so unbeschwert in die Zukunft zu blicken. Diese Unbefangenheit erscheint mir heute beinahe verwerflich und unmoralisch, auch wenn ich mich sicherlich nicht von anderen Jugendlichen unterschieden habe. Mit ziemlicher Gewissheit und meiner heutigen Lebenserfahrung weiß ich, dass auch andere Teenager Liebeskummer erleben.

Wir durchlaufen aufwühlende Erfahrungen, um zu reifen, hat Alessio stets gesagt. Nach seiner Auffassung werden wir alle dadurch ›abgerundet‹. Er hat die Menschen gerne mit Flusssteinen verglichen, die mit jeder Sekunde durch ihren individuellen Lebenspfad ihren Feinschliff erhalten.

Alessio konnte sich für diese Steine begeistern wie Kinder für süße Naschereien. Besonders für diejenigen hat er gelebt, die aus großer Höhe in die Tiefe gestürzt sind. Diese Steine hat er am meisten geliebt, alles anderen vorgezogen. Er fand sie grandios, beinahe göttlich und absolut inspirierend. Er hat gemeint, einzig der schmerzhafte Sturz würde den inneren Kern freilegen. Nichts anderes.

Mein lieber, poetischer Alessio. Er hat Gleichnisse geliebt und diesen Steinen in seiner Arbeit als freier Journalist viel Energie gewidmet. Erst mit seinem letzten Wunsch habe ich im Nachhinein begriffen, dass er offenbar auch in mir einen dieser Steine gesehen hat.

Und er selbst ist auch einer gewesen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.

Lange betrachte ich das Jungengesicht auf dem vergilbten Foto. Mein Blick bleibt am hübschen Kinngrübchen hängen. Es ist nicht zu ausgeprägt, dominiert das symmetrische Gesicht nicht und wirkt zuckersüß. Ich überlege, wann es mir zum ersten Mal aufgefallen ist.

Keine Ahnung, Kann mich nicht erinnern. Vielleicht habe ich sie mit fortschreitender Pubertät automatisch intensiver betrachtet und die kreativen Launen von Mutter Natur mehr zu schätzen gewusst als zuvor.

Das sanfte Schimmern in seinen Augen war weit mehr als nur ein reizendes Farbenspiel. Er hat die Welt nicht durch ein verwaschenes Hellblau betrachtet. Nein, er nicht. Das wäre viel zu gewöhnlich für jemanden wie ihn gewesen.

In meiner Erinnerung tanzen seine Augen im warmen Licht und wechseln je nach Nuance zwischen einem tiefen Braun und einem intensiven Blau. Aber die Wirklichkeit, ah, die Wirklichkeit ist eine Meisterin der Verführung. Seine Augen, wenn von den Strahlen der Sonne geküsst und aus der Nähe betrachtet, enthüllen ihre wahren Farben. Ein dunkles Blau, so tief wie das Ozeanblau in einer mondlosen Nacht. Selbst auf diesem Foto.

Kein Hauch von Gelb oder Grau liegt darin. Nur reines, tiefes Blau. Ein Blick in diese Augen, und man verliert sich unweigerlich in einem Abgrund aus komplizierten Rätseln. Sie spiegeln nicht nur die Welt wider wie er sie sieht, sondern offenbaren auch die verborgensten Schätze seiner Seele. Seine Iris gleicht einer dunklen Pforte zu einer Welt, die nur darauf wartet, entdeckt zu werden.

Ich mochte ihn, habe das Rätsel jedoch nie entschlüsselt. Lange Zeit war er mein bester Freund, einem Bruder gleich, den ich mir immer gewünscht habe.

Dieses Foto ist das Letzte, auf dem er und ich gemeinsam zu sehen sind. Viele andere, die uns in den Jahren zuvor im Sandkasten spielend oder auf Kindergeburtstagen zeigen, lagern in Fotoalben, sorgfältig verstaut in Fotokisten. Im Keller. Wo sonst?

Dort, wo psychologisch betrachtet all unsere ungeliebten Erinnerungen ihr fades Dasein zwischen langen, gruseligen Schatten fristen. Zweifellos auch meine, aber ich habe ihnen nie Namen gegeben oder mich um ihre Angelegenheiten gekümmert.

Wozu auch?

Zerreißen kann ich es auch heute nicht, obwohl der Anblick mein Herz entsetzlich anzwackt. Ich habe mich schlichtweg noch nicht entschieden, ob die schmerzlichen Erinnerungen im Vordergrund stehen oder diejenigen, die mein Herz auch heute noch in luftige Höhen gleiten lassen.

Nach wie vor fällt es mir schwer, lieb gewonnene Dinge loszulassen. Ich bin halt ein Gewohnheitstier. Wenn auch eines, das zwangsläufig gelernt hat, an seinen Grillen zu arbeiten.

Spätestens seit Alessios und Vaters Tod kenne ich den Erdenjammer. Erst recht die Unausweichlichkeit des Loslassens. Diesen hübschen Nachbarsjungen habe ich auf die eine oder andere Weise nie gänzlich losgelassen, obwohl ich ihn andererseits auch niemals festhalten konnte. Vielleicht flattert mir genau aus diesem Grund das letzte, gemeinsame Foto entgegen.

Heute ist aber auch was los. Obendrein entdecke ich mein altes Tagebuch hinter der nächsten Buchreihe. Ich staune nicht schlecht, nachdem ich es in der Hand halte.

Es ist jenes, welches ich damals unter glühend heißen Tränen verschlossen habe. Den Schlüssel habe ich anschließend in den See geworfen, in dem ich als Kind jeden Sommer baden gegangen bin. Seinerzeit wollte ich nie wieder lesen, was ich einst aufgeschrieben habe. Und der in den See geworfene Schlüssel würde das Geheimnis erst zu einem machen.

Mir kommt es heute vor, als würden mich jedes einzelne Detail mit aller Macht an den stinkenden Kadaver im Keller erinnern wollen. Den, den ich einst im Schweiße meines Angesichts mit tränenüberströmtem Gesicht und einem gewaltigen Stechen in der Brust an jenen dunklen, tristen Ort begraben habe. In der hintersten, dunkelsten Ecke, die der Keller hergibt. Die Ecke, in die man nicht einmal schaut, wenn man ein neues Glas selbstgekochte Marmelade aus dem staubigen Regal entnimmt und eilig wieder nach oben in die Küche huscht.

Nachdem der See damals den Tagebuchschlüssel verschluckt hat, habe ich mit heiserer Stimme geschworen, mich nie wieder und nur unter Androhung der Todesstrafe an ihn oder sein ebenmäßiges Gesicht zu erinnern. Danach bin ich heulend nach Hause gelaufen und habe symbolisch zwei Körper in den Keller geschleift. Dort sollten die jungen Körper meinetwegen verrotten oder von Ratten und Würmern gefressen werden. Es war mir egal.

Selbst heute wage ich nicht einmal daran zu denken, die Hand auf die Klinke der Kellertür zu legen. Ich will diese ekelhaften Leichen nie wieder ansehen müssen. Das tat damals zu weh. Alles, was jemals liebreizend anzusehen gewesen ist, stinkt heute gewiss bestialisch.

Obwohl ich nicht in den Keller gehen mag, das vergilbte Tagebuch ebenfalls dort verscharren, aber ebenso wenig lesen kann, lege ich es zu dem Stapel mit den Büchern, die ich vorerst behalte. Sachte berühre ich es, schüttele mich einmal kräftig durch und widme mich der Arbeit, die auf mich wartet.

Zumindest so lange, bis das Telefon klingelt, weil meine Mutter anruft. Ich telefoniere mit ihr und schmiere mir ein Weizenbrot mit selbst eingekochtem Pflaumenmus.

Wie praktisch, dass ich eine Vorratskammer habe und nicht in den Keller muss.

 

 

 

Kapitel 2

 

Gerädert und erschöpft von einer schlaflosen Nacht sitze ich am nächsten Morgen in der Redaktion. Heute ist ein regnerischer, nasskalter Montagmorgen, an dem sich die Chefredakteure zur monatlichen Konferenz versammeln.

Ein ganz gewöhnlicher Wochenanfang.

In den meisten Gesichtern steht eine schlaflose Nacht geschrieben. Einige haben sie sinnfreudig um die Ohren geschlagen und prahlen lautstark damit. Andere haben dem Schlaf mit Arzneimitteln nachgeholfen, sehen aber trotzdem wie Zombies aus.

In die dritte Kategorie falle ich.

Es ist jene Rubrik, in die all jene geraten, die von nächtlichen Albträumen geplagt werden und dadurch keinen Schlaf finden. Schlaftabletten bringen in diesem Fall nichts. Nicht mehr. Es sei denn, sie werden mit Alkohol und Antidepressiva kombiniert. Dann wirken sie für eine gewisse Zeit. Danach bewirkt die Kombination, dass sie ebenfalls wie Zombies aussehen.

Einige Kollegen schrecken offenbar nicht davor zurück. Ich schon und lehne jede Form von Drogenkonsum ab. Allerdings ist es, wie es ist. Seit Jahrzehnten reißt mich entsetzliche Atemnot aus dem Schlaf.

Warum weiß ich nicht genau. Das ist das Grauenerregende an der ganzen Sache. Wüsste ich es, könnte ich mir wenigstens ein taktisch kluges Manöver überlegen und es mit allerlei Tricks verhindern. Derzeit fühle ich mich hilflos ausgeliefert und um etwas Wichtiges beraubt.

Um den dringend benötigten Schlaf.

Klingt eigentümlich, ich weiß, aber leider wurden diese Attacken von etlichen Fachärzten als ›unwahr‹ und als ›untypische Symptome‹ abgetan. Selbst ein Schlaflabor hat keine nennenswerten Ergebnisse gebracht. Alle wichtigen Kurven haben wunderbar ausgesehen. Ich wurde mit einem merkwürdigen Blick bedacht, gegen den mein Magen gewaltig rebelliert hat. Folglich habe ich keine weiteren Ärzte zu diesem Leiden befragt, denn in eine bestimmte Ecke lasse ich mich auch nicht drängen.

Die ist normalerweise Menschen mit speziellen Ängsten vorbehalten und zu denen zähle ich mich garantiert nicht. Ich stehe mit beiden Beinen fest im Leben, zeige keine hypochondrischen Symptome und würde keinen Arzt aus Langeweile damit belästigen. Den lapidaren Rat, ich sollte zu einem Psychologen gehen, um meine Seelennot aufzuarbeiten, habe ich obendrein ziemlich geschmacklos gefunden.

Nun gut, die Ärzte wollen oder können nicht helfen und Drogen scheiden aus. Mit der Zeit gewöhnt sich der Mensch an alles.

Selbst an das Unwägbare.

Nach Alessios Tod hat der Boden unter meinen Füßen anständig geschwankt. Damit haben sie meine Beschwerden gesteigert. Völlig normal in Anbetracht der Umstände, finde ich.

Diese schlimme Zeit habe ich ohne großartige Blessuren oder Depressionen überstanden. Zuweilen erlebe ich leichte Nachbeben, die mich heute zumindest nicht mehr erschrecken, sicher aber als ganz gewöhnlicher Prozess der Trauer gelten.

Damit nicht der Eindruck entsteht, ich wäre gegenüber psychisch anfälligen Menschen voreingenommen, sage ich deutlich: Das bin ich gewiss nicht. Als Journalistin ist mir hinlänglich bekannt, welche Wunderlichkeit die eine oder andere Persönlichkeit mit sich herumschleppt. Obendrein weiß ich genau, dass es oft genug triftige Gründe für allerlei Marotten gibt, die mir nicht zwangsläufig einleuchten müssen.

Nehmen wir beispielsweise meine Vorgesetzte. Geräuschvoll schnieft sie, wenn sie sich von Mitarbeitern nicht ernst genommen fühlt. Hinter ihrer Angewohnheit vermute ich einen kleinen, seelischen Knacks, den sie in derartigen Situationen unbewusst nach Außen trägt und der sie mehr oder weniger sympathischer wirken lässt.

Gelegentlich malträtiert meine Sekretärin ihren Lieblingskugelschreiber. An dem dabei abwesend erscheinenden Blick erkenne ich ihren inneren Aufruhr. Ich dringe nie in sie und lasse sie stattdessen früher in den Feierabend gehen.

Tja, und ich schrecke beinahe jede zweite Nacht mit entsetzlicher Atemnot auf und kann es auf den Tod nicht ausstehen, etwas Liebgewonnenes zu verlieren. Entsprechend gewaltig ist der Kummer gewesen, als mein Vater gestorben ist. Kurz darauf Alessio. Da ist es doch für jeden leicht nachvollziehbar, wenn ich nicht noch einmal etwas Wichtiges oder Geliebtes verlieren möchte.

Oder nachts beinahe durchdrehe, weil mir nichts, dir nichts, die Atemluft wegbleibt. Absonderliche Symptome, die massenhaft Ärzte für nichts weiter, als eingebildet halten.

Trotzdem. Diese Marotte tanzt mitunter gefährlich nah an der Grenze meiner Leistungsfähigkeit, was ungeheuer anstrengt. Ich bin nicht der einzige Mensch auf der Welt, dem etwas Derartiges passiert und muss die Suppe nicht zwangsläufig jeden Tag aufwärmen oder jemandem deswegen ständig die Ohren abkauen.

Ich komme schon klar, wenn auch hundemüde und größtenteils erholungsbedürftig wirke.

Zugeben muss ich jedoch schon, dass die Betrübnis über diese herben Verluste mich monatelang aufgefressen hat. Manchmal überlege ich ernsthaft, ob ich nicht auch einmal schniefe oder geistesabwesend mit einem Kugelschreiber herumspiele. Nur so, um einmal kurz den angestauten Dampf abzulassen und mich zu fragen, ob mich ein seelischer Knacks befallen hat.

Aber ich rede neunmalklug daher, dabei sind bei anderen Leuten die Knackse meistens leichter zu durchschauen als bei einem selbst. Und außerdem …

Die Glastür des geräumigen Konferenzraumes öffnet sich just in diesem Moment meiner tollkühnen Gedankenspiralen und schiebt die leidige Suche nach den Ursachen meiner Schlafprobleme weit in den Hintergrund.

Der Konferenzraum liegt im zehnten Stock eines hypermodernen Bürogebäudes und bietet einen atemberaubenden Ausblick über die Dächer von Berlin. Zumindest wenn es nicht so ein trüber Tag wie der heutige ist. Keiner der Anwesenden genießt das phänomenale Panorama und nimmt anderseits kaum Notiz von der grauhaarigen Programmdirektorin, die aus Tradition mürrisch dreinblickend den stickigen Raum betritt.

»Guten Morgen, die Damen und Herren. Sind alle gut eingetroffen? Na, wunderbar. Ich hoffe, hinter Ihnen liegt ein erholsames Wochenende, denn die kommenden Tage werden uns einiges an Energie und Entschlossenheit abfordern.«

»Energievampir«, murmelt Iris, die neben mir sitzt.

Seit mehreren Jahren leitet sie Sendungen mit Fokus auf Gesellschaftsklatsch. Nebenbei hat sie ein eigenes, erfolgreiches Format entwickelt, welches vor den Abendnachrichten ausgestrahlt wird. Iris ist blond, sportlich und erfolgshungrig. Ihrem legendären Lächeln sind mehrere berüchtigte Medienpräsenzen erlegen.

Einmal hat es sogar den Feierabendverkehr zum Erliegen gebracht. Um ein Haar hat es eine Massenkarambolage gegeben, weil ein aufreizendes Plakat die Autofahrer abgelenkt hat. Kurz davor hat sie ihre Karriere riskiert, weil eine ihrer pikanten und leidenschaftlichen Affären in all den billigen Presseblättern gelandet ist, die sie abgrundtief verabscheut.

Wie diese ablehnende Haltung zu ihrer Fernsehsendung passt, leuchtet mir nicht wirklich ein. Eines steht aber fest: Sie ist genauso Schickimicki wie die halbseidene Prominenz, die, dank ihrer kleinen Machenschaften und Manipulationen, gerne medienwirksam vor der Kamera auspackt.

Der Klatsch-Journalismus liegt ihr im Blut. Sie entstammt einer adligen Dynastie, die mit einem Stammbaum versehen ist, der bis in das dreizehnte Jahrhundert reicht. Damit recherchiert es sich eben komplett anders in der gehobenen Gesellschaftsschicht.

Eben kinderleicht.

Iris trinkt einen Schluck ihres Kaffees und beobachtet mich aus den Augenwinkeln. Das elegant geschnittene Kleid lässt ihren üppig geformten Busen beinahe aus dem Ausschnitt purzeln. Dieser Kleiderstil ist ihr Markenzeichen, wirkt nicht billig, aber dennoch gnadenlos aufreizend, wenn sie sitzt oder sich vorbeugt.

Diplomatisch dreinblickend, schmunzele ich sie an. Blitzschnell scheint ihre Welt wieder in Ordnung zu sein. Aufmerksam wendet sie sich unserer Programmdirektorin zu, setzt ein bezauberndes Lächeln auf und ignoriert die begehrlichen Blicke des Chefredakteurs unserer Wirtschaftsabteilung.

»Es kursieren Gerüchte«, flüstert sie hinter ihrem Kaffeebecher, den sie geschickt vor dem Mund hält, damit die Programmdirektorin nichts davon bemerkt.

»Wer könnte die Gerüchteküche besser anheizen als du?«

»Selbstverständlich niemand sonst, Süße.«

Sie zupft ihr Designerkleid zurecht und lächelt in die Runde, die sich träge zu ihren Sitzplätzen bemüht, um der Programmdirektorin für eine Stunde ihr Ohr zu leihen.

»Zugegebenermaßen liegt in jedem Gerücht meistens ein Körnchen Wahrheit. Dafür habe ich das entsprechende Sensorium, wie du weißt.«

Mit Sensorium meint Iris ihr Gespür, ihre feine Nase oder den sechsten Sinn, den ich ihr nicht im Entferntesten abspreche. Auf ihrem Fachgebiet ist sie kompetent, wie eintausend Klatschblätter es nicht einmal zusammen wären. Seriöser als diese arbeitet sie in jedem Fall, obwohl ich ihren Arbeits- und Führungsstil nicht unbedingt befürworte.

»Brennst du darauf, davon zu erzählen, oder soll ich raten? Was ist dir lieber?«

Genüsslich trinkt sie einen weiteren Schluck und beobachtet abwesend unsere geschmackvoll gekleidete Chefin, die ihre Unterlagen auf dem Tisch sortiert. Die knallrot lackierten Fingernägel heben sich deutlich von dem Weiß des Papiers ab.

»Ich fürchte, es bleibt nicht mehr lange ein Geheimnis. Du musst also nicht raten, Carlotta. Komm nachher auf einen Kaffee in mein Büro, dann halten wir einen kleinen Schwatz. Sagen wir um zehn?«

»Keine Zeit. Da habe ich eine Besprechung.«

Ich schwenke meinen Blick kurz zur Programmleiterin. Diese schaut nun erwartungsvoll in die Gesichter der Runde, um zu prüfen, ob ihr die uneingeschränkte Aufmerksamkeit gehört. Für einen Moment bleiben ihre hellbraunen Augen an mir kleben. Dem gewissenhaften Blick halte ich stand, registriere aber freilich das blaugraue Augenpaar, welches sich neben mir vor Erstaunen weitet.

Dieser Tage kann ich für alles Mögliche gehalten werden, aber nicht für einfältig. Für eine Besprechung, die unter vier Augen und außerhalb von Personalgesprächen stattfindet, gibt es nur zwei mögliche Gründe. Eine Beförderung oder einen Rausschmiss.

Sobald mich die vornehm gekleidete Frau beäugt, tippe ich auf die erste Möglichkeit und hoffe inständig, mein bescheidener, aber immer erfolgreicher Podcast ist die Ursache dafür.

»Dann komme danach unbedingt bei mir vorbei«, schlägt Iris leise vor.

»Ich möchte aus sensationellen und aktuellen Begebenheiten und ohne Umschweife zum ersten Tagespunkt kommen«, beginnt Frau Lambrecht. Sie sitzt im Chefsessel, der sich an der Stirnseite des Tisches befindet. »Der Sender bekommt die einmalige Gelegenheit, ein exklusives Interview mit Ruben Holl zu führen.«

Gemurmel erhebt sich.

Vorsichtshalber stelle ich die dunkelgrün lasierte Kaffeetasse auf den Besprechungstisch, damit sie mir nicht versehentlich aus den Fingern gleitet und den Rock mit Flecken ruiniert, die ich nie wieder herausbekomme. Hüstelnd befördere ich schleunigst den Schluck Kaffee den Hals hinauf, der vor Bestürzung den falschen Weg in die Luftröhre nimmt.

Jeder hier im Raum versucht, die Nachricht auf seine Weise zu verdauen. Neben mir reckt sich die Fachfrau für Gesellschaftsklatsch vor lauter Vorfreude, den Zuschlag für das karriereförderliche Interview zu erhalten.

Wenn der deutschlandweit bekannte Weiberheld bei einer Debatte thematisiert wird, fallen Worte wie: Ganz meine Kragenweite und Frauentyp, bei dem ich unmöglich standhaft bleiben kann. Jedes Mal tropft dann weithin sichtbar Speichel aus ihrem Mundwinkel.

Zumindest gefühlt.

Sogleich sieht sie sich in einem neuen, aufregenden Projekt. Dementsprechend zuversichtlich legt sie ihre schmale Hand auf die glänzende Tischplatte.

»Der Ruben Holl?«, fragt sie.

Ihre Stimme klingt hellwach. Sie ist die Erste, die ihre Fassung wiedererlangt.

»Sie hören richtig. Genau der Ruben Holl«, bestätigt Frau Lambrecht.

Meine Vorgesetzte kann nicht willentlich ihren Stolz unterdrücken, den dieser Schachzug für ihre weitere Karriere in der Fernsehlandschaft bedeutet. Entsprechend selbstsicher blickt sie in die versammelten Gesichter, die sich ihr nun hochachtungsvoll zuwenden. Jedem am Tisch schießt die Frage durch den Kopf, wie zum Teufel sie diesen genialen Handstreich bewerkstelligt hat.

Zur Erklärung: Ruben Holl gibt seit Jahren kein Interview mehr. Dabei möchte jeder Journalist als Erstes erfahren, ob der einstige Casanova heute tatsächlich seriös lebt, wie er neuerdings behauptet.

Kaum ein Journalist räumt ihm diese Möglichkeit ein. Eher vermuten alle einen klug durchdachten Plan, um den Absatz seines Erotikmagazins weiter zu steigern. Oder eins seiner vielen anderen Projekte.

Die Mimik von Iris lässt mich erahnen, was ihr momentan an Schlüpfrigkeiten durch den Kopf schleicht. Für diesen Teil der menschlichen Psyche habe ich eine feine Spürnase. Obendrein wirkt sie ungewöhnlich hibbelig und rutscht ungeduldig auf ihrem Stuhl herum. Keine Frage, Ruben Holl wäre ein riesiger Fisch an ihrer beruflichen Angel.

Ein richtig dicker Fisch.

»Dem Sender, und insbesondere ihm, schwebt eine einstündige Berichterstattung vor. Die soll wesentliche Blickwinkel seines neuen Lebens und seiner Persönlichkeit beleuchten. Ich muss nicht sonderlich betonen, wie fantastisch das Angebot klingt, frei und ungeschminkt über ihn berichten zu dürfen. Zumal er sich lange mit derartigen Aktivitäten zurückgehalten hat und nun unserem Sender den Zuschlag erteilt. Sie wissen schon … es soll eine außergewöhnliche Reportage werden. Eine, von der alle noch in dreihundert Jahren sprechen. Nach den ersten Sondierungsgesprächen zeichnet sich eine kleine Gesprächsrunde mit exklusiven Einblicken in sein Leben ab. Das Übliche eben, obwohl es nicht üblich rüberkommen soll. Sie wissen schon …«

Verhaltene Lacher erfüllen die Luft. Anzügliche Gesten zeichnen sich auf den Gesichtern der anwesenden Herren ab. Ruben Holl macht aus seiner Begeisterung für das weibliche Geschlecht ein einträgliches Geschäft. Er hat einen modernen, innovativen Sex-Toy-Onlineshop gegründet, verschiedene Flirtratgeber veröffentlicht und verlegt eine gefragte Hochglanzzeitschrift, die meiner Meinung nach den Marktführern durchaus das Wasser reichen kann.

Sein zweifelhafter Ruf als Homme à Femmes liegt in etlichen Amouren begründet, die allesamt durch die Klatschpresse gewandert sind. Kein Wunder, denn die sind nicht nur mit frivolen Details gespickt gewesen, sondern ebenso halsbrecherisch. Im wahrsten Sinne des Wortes. Zusätzlich erwirtschaftet er ein kleines Vermögen, denn jeder will ›exklusiv‹ über ihn berichten.

Der Rubel rollt aus sämtlichen Ecken. Es mangelt ihm nicht an finanziell lohnenden Nachfragen. Selbst wenn er sich in der Öffentlichkeit rarmacht, belagern ihn massenhaft Reporter.

»Braucht er Geld oder nur wieder eine Portion Aufmerksamkeit?«, fragt Boris mit einem Seitenblick auf mich. Er ist Chefredakteur für die Sportabteilung, adrett gekleidet und vornehm in seinem Vokabular.

Meistens.

Seit ich keine Trauerfarben mehr trage, wirft er mir gelegentlich glühende Blicke zu und stellt vage Anfragen in den Raum, mich bei Gelegenheit zum Abendessen auszuführen. Bislang lasse ich jede seiner Avancen unbeachtet und weiche geschickt auf oberflächliche Themen aus. So wie er mich jetzt anschaut, fragt er bald nach einem gemeinsamen Abendessen und erinnert mich zwangsläufig an Alessios letzten Wunsch.

Aber Boris?

Ich weiß nicht. Er ist nett und umgänglich. Aber das ist eine Kaffeemaschine ebenfalls.

Meistens.

Ich möchte nicht unfair wirken, aber eine Kaffeemaschine sehe ich mir stundenlang an und warte vergeblich auf Emotionen. Außer blitzartig einen Mordsdurst zu verspüren, passiert da nicht das Geringste. Und das Hungergefühl bringt mich derweil trotzdem um.

Nein, ein Typ Mann wie Boris macht mich, geistig gesehen, nicht im Entferntesten satt. Eher noch hungriger auf allerlei vielschichtige Emotionen. Es ist die verzweifelte Suche nach etwas Anderem, Tiefergehendem, die mich antreibt.

Angestrengt suche ich ein passendes Wort, bis mir auffällt, dass Iris mich unverhohlen beobachtet.

»Spricht da etwa der Neid der Besitzlosen aus dir, Boris?«, kichert sie und rammt ihren Ellbogen unsanft in meine Rippen.

Einige Kollegen stimmen dem entstehenden Gelächter ein, werden aber von dem nervösen Schniefen unserer Vorgesetzten schnellstens zur Ordnung gerufen. »Wie wir erst kürzlich aus der Dorgmann-Pleite erfahren durften, ist es gefährlicher, seine Mitmenschen zu unterschätzen als sie zu überschätzen, Herr von Vornstädt. Kommen wir also zur Umsetzung des Projektes. Gibt es dazu Vorschläge aus der Runde?«

»Existiert bereits ein grobes Konzept oder kann mein Team behilflich sein?«, erkundigt sich Iris erwartungsgemäß emsig.

»Nur bedingt. Wie Sie wissen, hat er seinen Lebenswandel radikal geändert. Ebendarum wird genau jener Prozess in aller Ausführlichkeit beleuchtet. Für weitere Vorschläge ist er offen.«

»Ungemein förderlich. Ein geläuterter Weiberheld kommt immer gut bei Frauen zwischen achtzehn bis neunundneunzig Jahren an«, amüsiert sich Boris, der erneut zu mir guckt.

»Dein ›geläutert‹ klingt abgeschmackt, wie ein jämmerlicher Versuch, plötzlich einen auf ehrbar zu machen«, merkt meine Tischnachbarin an. »Verrucht ist er mir eindeutig lieber. Ich pfeife auf seinen angeblichen Sinneswandel. Durchleuchten wir ihn auf Herz und Nieren und überprüfen diskret, ob alles nur eine gerissene Show für mehr Absatz seiner Firmen ist. Wenn ja, zerreißen wir ihn lebendig in der Luft, können beim Zuschauer damit punkten und dann … Ade, neuer Lebenswandel.«

Bei ›Lebenswandel‹ hebt Iris beide Hände und knickt symbolisch für ein Semikolon Zeigefinger und Mittelfinger ein, was mancherlei Kicherei in der Runde heraufbeschwört. Ihn lebendig in der Luft zu zerreißen, womöglich in einer Livesendung, scheint ganz nach dem Geschmack der anwesenden Herren zu sein, die ihm seinen Erfolg bei gefragten und einflussreichen Frauen neiden.

»Diesen Teil halte ich für einen zentralen Punkt, den es behutsam zu beleuchten gilt, wenn Sie verstehen, was ich meine«, fährt Iris fort und lehnt sich zurück.

»Verstehe ich, ja.«

»Wunderbar. Dann sind wir uns einig. Mein Team und ich freuen uns auf das Projekt. Verlassen Sie sich auf uns und die Sendung wird ein Straßenfeger.«

»Sie stolpern über Ihren Ehrgeiz, liebe Kollegin. Aber ich darf Ihnen vorab schon einmal verraten, dass Ihr Team Frau Blum-Tietze in der Ausarbeitung der Sendezeit unterstützt.«

Zum Glück befindet sich kein Kaffeebecher mehr in meinen Händen, sonst würde ich den Inhalt an dieser Stelle quer über den hochglänzenden Tisch kippen. Fassungslos richten sich sämtliche Augen auf mich. Krampfhaft versucht jeder, das seltsame Vorgehen von Frau Lambrecht nachzuvollziehen.

Ich eingeschlossen.

In dem Fernsehsender bin ich für das Nachmittagsprogramm zuständig, was wegen des einschläfernd wirkenden Unterhaltungswerts hinter vorgehaltener Hand gerne ›Die Apothekenzeit‹ genannt wird. Wenn man sich die Einschaltquoten, Werbungen und das Durchschnittsalter der Zuschauer genau ansieht, versteht jeder Laie nach zwei Sekunden warum.

Regungslos sitze ich auf dem gepolsterten Lederstuhl und kann nicht die Spur einer gewissen und notwendigen Ordnung in meine Gedanken bringen.

»Ich?«, stottere ich ungläubig und noch immer hüstelnd.

»Sie?«, platzt es schrill aus Iris heraus.

Meiner Meinung nach logisch. Schließlich ist sie die Fachfrau für derartige Berichterstattungen und verfügt über eine Menge Kontakte in gewissen Kreisen. Damit hat sie das Know-how, um eine interessante, abwechslungsreiche Sendung zu gestalten. Daneben ist sie eine erstklassige Moderatorin, beim Publikum beliebt und Sympathieträger.

»Geläutert wird gemeinhin auch als Prozess einer innerlich vollzogenen Reinigung angesehen. Warum also nicht neue Wege beschreiten, dem schwächelnden Familienprogramm ein wenig auf die Sprünge helfen und das heikle Thema vorsichtig in die Köpfe der Zuschauer bringen?«

»Sie wollen mit Ruben Holl dem Familienprogramm auf die Sprünge helfen? Wie soll es gelingen, Sexsucht am Nachmittag zu thematisieren, ohne dass die Zensur an die Tür klopft?«, vergewissert sich Iris sicherheitshalber.

Ihre Stimme klingt entsetzt. Die Adern am hageren Hals treten deutlich hervor. Keine Frage, sie wirkt ehrlich bestürzt, was in diesem Moment selbst ein Volltrottel erkennen kann.

Aus zwei Gründen schlucke ich. Das Wort ›Familienprogramm‹ spricht Iris gedehnt aus und mit ›auf die Sprünge helfen‹ klingt es einen Tick abschätzig. Zudem sehe ich diese Art Reportage dem falschen Genre zugeordnet. Über allen steht ein ungutes Gefühl. Ich wage nicht einmal ansatzweise, alles bis in die letzten Einzelheiten zu durchdenken, daher lasse ich die dazugehörigen Details gekonnt unter den Tisch fallen.

»Ausgeschlossen«, presse ich entsprechend keuchend hervor und bringe damit für eine Millisekunde Chaos in die strebsamen Gesichtsausdrücke meiner hochgeschätzten Kollegen.

Besonders der blonde Haarschopf von Iris wendet sich blitzschnell in meine Richtung. Mit weit aufgerissenen Augen glotzt sie mich ungläubig an und versteht die Welt nicht mehr.

Niemand, der bei Verstand ist, würde es in aller Öffentlichkeit wagen, sich gegen ein Geheiß von Frau Lambrecht zu positionieren. Und Iris erst recht nicht. Schon gar nicht mit einer Meinung, die den deutschen Frauenhelden und Publikumsliebling des Jahrhunderts zum Inhalt hat.

»Wie darf ich dieses ›ausgeschlossen‹ verstehen, Frau Blum-Tietze?«

»Wie ein ausgeschlossen eben zu verstehen ist. Setzen Sie an dessen Stelle ein undenkbar, undurchführbar oder utopisch. Ganz einfach ausgeschlossen«, antworte ich, komme in Fahrt und habe nun eintausend plausible Gegenargumente parat, die ihr begreiflich machen sollen, dass ich … Ich kann es nicht.

Das muss vorerst genügen.

Schlagartig halten meine Kollegen den Atem an. Die Luft in diesem Raum wird abrupt dünn, als würden wir allesamt auf dem zugigen Gipfel der Zugspitze stehen. Hektisch fliegen irritierte Blicke in alle möglichen Himmelsrichtungen. Meine Kollegen suchen Deckung oder probieren die Regungslosigkeit als probates Mittel, dem drohenden Unwetter zu entkommen, welches meine beharrliche Weigerung heraufbeschwört.

»Sehen Sie bitte einmal nach rechts und beschreiben Sie, was Sie sehen?«

Meinen Kopf in besagte Richtung drehend, schaue ich beinahe minutenlang in das runde Gesicht von Iris und zucke letztlich mit den Achseln. »Also ich sehe ein kompetentes Antlitz, welches die Berichterstattung im Sinne des Senders umsetzen wird«, antworte ich wahrheitsgemäß, aber dennoch ausweichend.

Iris schluckt schwer, weiß aber nicht recht, wie sie meine Äußerung deuten soll. Ihr fragender Blick gleitet zu Frau Lambrecht, die schnellstens das Wort ergreift. »Ich habe Sie bislang für scharfsinnig gehalten, Frau Blum-Tietze.«

Auf die außergewöhnlich ruhige Aussage meiner Vorgesetzten gebe ich nichts zurück, schaue sie stattdessen trotzig an und blende alles in meinem näheren Umfeld aus. Alles nur, um ja nicht meine Hand auf diese verdammte Türklinke legen zu müssen. Freiwillig bekommen mich jedenfalls keine zehn Pferde dazu, sie zu öffnen.

»Was sehen Sie also?«, werde ich unerbittlich gefragt.

»Ich sehe ein intelligentes, hübsches Gesicht. Eine gewitzte Journalistin, die den Plot und die Marketingstrategie bereits in allen Einzelheiten ausgearbeitet hat. Kein Zweifel: Sie ist die richtige Frau für dieses Projekt.«

Meine Vorgesetzte seufzt. »In dem Fall sollten Sie auf diese Talente zurückgreifen, denn Sie leiten das Projekt. Noch Fragen?«

Schweigen.

Eiskaltes, erbarmungsloses Schweigen legt sich in einer unsichtbaren, aber fühlbaren Nebelwolke über den lichtdurchfluteten Konferenzraum. Scheu irren die Blicke meiner Kollegen und Kolleginnen umher.

»Meine Stärken liegen in anderen Themenbereichen«, ergänze ich vorsichtshalber meine Kernkompetenzen und fürchte, die Anwesenden bekommen meinetwegen Schnappatmung.

Ein laut vernehmliches Geräusch deutet darauf hin, wie dramatisch schnell Frau Lambrecht sich den Grenzen ihrer Geduld nähert. Ausgelöst habe ich diesen Gemütszustand und ernte mitleidige Blicke der Anwesenden, die nun nicht mehr in meiner Haut stecken möchten.

Sie wissen aus Erfahrung: Wenn ich jetzt nicht den Bogen hinbekomme und einlenke, wird es gleich akustisch laut.

»Unterstellen Sie mir, nicht die Talente meiner Mitarbeiter durchschaut zu haben?«, fragt sie donnernd und knallt die flache Hand auf den Tisch. Zudem zeichnen sich deutliche Zornesfalten auf der Stirn der grauhaarigen Frau ab.

»Nein, auf gar keinen Fall. Dennoch bin ich die falsche Person für diese Aufgabe und muss demzufolge das schmeichelhafte Angebot entschieden ablehnen«, entgegne ich mit bemüht fester Stimme.

»Aus welchem Grund sagen Sie mir das, wo sich jeder andere in diesem Raum sämtliche Finger danach leckt, die Sendung für sein Ressort zu erhalten?«

»Aus persönlichen Gründen, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen möchte«, erkläre ich und schaue regungslos zu, wie mein mühsam errichteter Schutzschild zerbröselt.

Aus dem Keller kommen komische Geräusche, die mich gruseln und erschaudern lassen. Und ich möchte noch nicht einmal daran denken, was sich da unten noch alles regt.

Huhh!

»Eigenartig«, meint Frau Lambrecht, beispiellos gelassen.

Erstaunlicherweise setzt sie sich aufrecht, statt mich schreiend und tobend an den widerspenstigen Haaren aus dem Besprechungszimmer zu zerren. Sie spreizt lediglich ihre Finger und betrachtet die rot lackierten Fingernägel. Ihr Mund wird spitz, was mir zu verstehen gibt, dass die Sache Ihrerseits noch lange nicht zu den Akten gelegt ist.

Deshalb ergreife ich schnell das Wort: »Nun, ich finde, eigenartig wäre es in der Tat, wenn das Familienprogramm die Sendung ausgestaltet. Daher ist es ein Grund mehr, um zu erwähnen …«

»Haben Sie etwas an den Ohren?«, schreit sie schrill und ist in der Lage, damit meine fein säuberlich abgedichtete und dreifach vernagelte Kellertür aus den Angeln zu heben.

Schöner Mist und nun habe ich den Salat. Sperrangelweit steht die Tür offen. Die gruseligen Geräusche, die im Kellergewölbe ertönen, lassen urplötzlich alle meine Nackenhaare aufrecht stehen.

»Sehen Sie denn etwas an meinen Ohren?«, frage ich gegen alle Vernunft und reibe abwesend über meinen linken Unterarm, um dem lähmenden Gefühl der Hilflosigkeit wenigstens etwas entgegenzusetzen.

»Nur eine gewisse Röte, auf die wir in unserer Besprechung näher eingehen. Sie übernehmen diesen Auftrag. Punkt und Ende. Ich lasse es nicht zu, dass Ruben Holl mit seiner Geschichte zu einem anderen Sender rennt. Weiter pfeife ich auf Ihre persönliche Befangenheit, welcher Natur sie auch immer sein mag. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

»Dazu möchte ich mir erst eingehend Gedanken machen«, wage ich erneut, zu widersprechen.

Logischerweise möchte ich mir den Gang in den Keller ersparen. Besser wäre es, die Tür zehnfach zu verriegeln und zu verrammeln, sich einen Rotwein aus Südfrankreich aufzumachen und ihn direkt aus der Flasche zu trinken.

In einem Zug.

»Überlegen Sie sich meinetwegen, was Sie wollen. Sie sind ein helles Köpfchen mit ausreichend Scharfsinn, um alle Konsequenzen zu erfassen«, faucht sie gereizt und weit über den Tisch gebeugt. Anschließend strafft sie ihr zweifarbiges Kostüm und blickt in die Runde. »Jetzt, wo die Sache besprochen ist, würde ich gerne von Ihnen die Vorschläge hören, um die ich letzte Woche per Mail gebeten habe.«

 

 

 

Kapitel 3

 

Clara, die blutjunge Assistentin von Frau Lambrecht, führt mich mit ausdrucksloser Miene in den kleinen Besprechungsraum. Mit einer anmutigen Geste deutet sie auf einen bequemen Ledersessel. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Carlotta?«

»Nein, danke. Keine Umstände, Clara.«

Für einen Sekundenbruchteil zieht sich ihre linke Augenbraue in die Höhe. Auf der letzten Weihnachtsfeier habe ich das Vergnügen gehabt, eine längere, überaus interessante und amüsante Unterhaltung mit ihr zu führen, kann ihre Mimik daher problemlos einschätzen und zwinkere verschwörerisch.

»Frau Lambrecht stößt in wenigen Augenblicken zu Ihnen«, erklärt sie und bewegt sich anmutig wie eine Raubkatze zur Tür. Ich frage mich, wie Assistentinnen es immer hinbekommen, umwerfend und mühelos zeitgleich zu wirken. Wurde ihnen diese Eleganz in die Wiege gelegt oder ist es Teil des Berufes und gewissermaßen antrainiert?

An der Tür angekommen, bleibt sie stehen, als würde sie meine Gedanken hören können. Sie nickt einmal kurz, was aufmunternd wirkt. Dann erinnere ich mich daran, dass sie während der Besprechung das Protokoll geführt hat.

Wenigstens tratscht die liebe Clara nicht, was mich an dieser Stelle ungemein beruhigt. Es käme einer Giftspritze gleich, wenn meine Nervosität vor diesem Treffen die Runde im Sender macht. Dieses Stigma, das faktisch gesehen keines ist, könnte mich in dieser Schlangengrube von Journalisten und Haifischen Jahrzehnte in meiner Laufbahn zurückwerfen.

Leise schließt Clara die Tür und lässt mich mit meinen Hirngespinsten zurück, die sich ausnahmslos um die turbulenten Ereignisse der heutigen Versammlung drehen. Ich schaue mich um. Die meisterhaften Fotografien an der Wand erscheinen mir ebenso fade, wie der metallische Geschmack im Mund. Nichts lenkt mich ab, denn mit Sicherheit hole ich mir in wenigen Augenblicken einen gewaltigen Rüffel ab.

Bestenfalls einen hochkantigen Rausschmiss.

Sei es drum. Jedenfalls werde ich die Ruben-Holl-Sendung nicht moderieren. Da kann ich gleich in den Keller zu den stinkenden Leichen gehen und einen Nachmittagstee mit ihnen trinken.

Apropos, dem Kaffeeklatsch mit Iris konnte ich zum Glück entgehen, weil sich der Termin für die Unterredung mit Frau Lambrecht mehrmals nach hinten verschoben hat. Garantiert möchte Iris nach dieser Besprechung alles aus erster Hand erfahren. Selbst wenn sie dafür bis Mitternacht warten muss, bevor ich dieses Zimmer verlasse. Sie ist äußerst fantasievoll und gewitzt, wenn es darum geht, als Erste die Nase in die neuesten Neuigkeiten zu stecken.

Ungeduldig warte ich mit dem seltsam bedrückenden Gefühl, es würde jemand auf dem großen Zeiger der Uhr sitzen. Ich schaue aus dem bodentiefen Fenster. Draußen zeichnet sich die Großstadt mit den ersten Abendlichtern ab. Die flackernden Lichter zerfließen mittlerweile ineinander. Ähnlich wie die Menschen, die sich täglich Kleinkriegen hingeben, ohne Widerstand zu leisten.

Angeekelt von diesem Unvermögen, lieber das Gegenüber für die eigene Misere verantwortlich zu machen, wende ich mich ab. Ich denke an Alessio, der mir in diesen Dingen ein leuchtendes Beispiel gewesen ist. Geduldig und nachsichtig mit mir, hat er mich mit seiner grenzenlosen Liebe gelehrt, die Welt aus anderen Augen zu betrachten. Diese, mit den Jahren erworbene Sichtweise hilft mir gewiss bei dem Gespräch. Ungern möchte ich mich in irgendwelche Fallstricke verheddern.

In diesem Mantra öffnet sich die Tür. Frau Lambrecht betritt ihr ganz persönliches Besprechungszimmer. In den Händen trägt sie ihr Handy. Das legt sie auf den Tisch ab und bedenkt mich mit einem ungewohnt mütterlichen Blick.

Nun, ehrlich gestanden, habe ich alles andere als etwas Derartiges erwartet. Sie wirkt entspannt.

Bin ich doch nicht gefeuert?

Nur degradiert?

»Danke, dass Sie gekommen sind, Carlotta. Wie Sie wissen, sind mir ausschweifende Einleitungen zuwider, somit werde ich direkt auf die Angelegenheit zu sprechen kommen, für die wir uns zu so später Stunde versammelt haben. Der Sender bekommt das Exklusivangebot unter Bedingungen, die ich keineswegs vor dem Kollegium ausbreiten wollte. Daher habe ich um dieses Vieraugengespräch gebeten.«

Sie hat mich gebeten?

Habe ich etwas missverstanden?

Nachdem ich trotz ihrer bedeutungsvollen Pause keine Anstalten mache, nachzuhaken, setzt sie ihre Rede fort: »Er knüpft gewisse Bedingungen an das fantastische Angebot. «

Aha. Das passt zu ihm. Ich straffe mein Kreuz und sitze kerzengerade, als hätte ich einen Besenstiel verschluckt.

»Zweifelsfrei liegt es nicht in meinem Aufgabenbereich, seine Vorgehensweise zu kritisieren, aber ich an Ihrer Stelle würde hellhörig werden und es als Erpressung einstufen. Ein Haken kann sich für den Sender als kritisch erweisen.« Frau Lambrecht reagiert nicht auf meine Warnung. Gut, dann muss ich deutlicher werden. »Zumindest aber als miese Manipula… ähm, Masche. Ich frage mich, ob der Sender zulass…«

»Herr Holl möchte, dass Sie die Federführung bei diesem Projekt übernehmen.«

Beschwichtigend hebt sie ihre Hand, die zwei kostbare Diamantringe zieren. Kurzerhand unterbricht sie all meine weiteren Einwände und Ausführungen über das hinterfotzige Angebot.

Für eine Sekunde muss ich meine Einzelteile vom Fußboden auflesen. Habe ich mich etwa verhört?

»Soll das ein Scherz sein?«

»Kennen Sie mich denn als Stand-up-Comedian? Mir leuchtet sehr wohl ein, wie viel Ihnen der Sender damit abverlangt. Würde ich Ihrer fachlichen und sozialen Kompetenz nicht vertrauen, wären Sie nicht in meiner Mannschaft und wir würden dieses Vieraugengespräch nicht führen. Egal, wie vehement er diese eine Bedingung daran knüpfen würde. Ich möchte es in aller Deutlichkeit und für das Protokoll betonen.«

»Vehement diese eine Bedingung daran knüpfen?«, frage ich nach.

Ihre Wortwahl lässt mich alarmiert aufhorchen. Erneut legt sie eine bedeutungsschwangere Pause ein und betrachtet ihr Handy, statt zu antworten. Plötzlich begreife ich, dass sie sich mit ihrer privaten Meinung nicht aus dem Fenster lehnen wird und mir mit ihrem Schweigen zu verstehen gibt, dass ich besser nicht weiter nachhaken soll.

Diese Frau hat das seltene Talent, sich selbst zu widersprechen. Ihr Vorwort versteckt sie gekonnt in ihren Reden und ohne etwas zu sagen, spricht sie Bände.

»Ich bitte Mitarbeiter aus meinem Team nur widerwillig darum, eine Aufgabe zu übernehmen, die gänzlich unwillkommen zu sein scheint.«

»In der Tat, Frau Lambrecht, diese Aufgabe ist gänzlich unwillkommen. Sogar außerordentlich unwillkommen. Ich kann nicht mit Ruben Holl … Das geht nicht. Auf keinen Fall. Fragen Sie ihn, ob er mit Iris zusammenarbeitet. Sie leckt sich sämtliche Finger, redet andauernd über ihn und hat eine offenkundige Schwäche für ihn, aus der sie obendrein noch nie einen Hehl gemacht hat. Nein, Schwäche wäre untertrieben, es wäre die Krönung ihrer Karriere. Nein, ihres ganzen Lebens. Ja, und sogar ihrer ganzen Existenz. Iris wäre die Richtige. Die perfekte Frau …«

»Frau Blum-Tietze, bitte«, unterbricht sie meine sich überschlagende Rede und hebt abwehrend ihre Hände.

Ich hüte besser meine Zunge, obwohl meine Vorgesetzte ein wenig zugänglich erscheint. Schuldbewusst über meinen ungestümen Redeschwall senke ich mein Haupt und gewinne damit ein wenig kostbare Zeit, um mir eine neue Strategie zu überlegen. In meinen Worten erkenne ich zu genau die eigenen Lügen, die ich mir seit Jahrzehnten einflüstere, um der Wahrheit nicht ins Angesicht blicken zu müssen.

Aber es gibt einen Haken.

Ich weiß haargenau, welche Lebensläufe Iris bereits in der Vergangenheit in der Luft zerrissen hat. Ruben Holl wäre nach einer kurzen Affäre Kanonenfutter, was sie den restlichen Medien vor die gierigen Mäuler wirft. Männer wie ihn verspeist sie zum Frühstück und scheut sich mitunter nicht einmal davor, auf einem ganz üblen Niveau zu agieren.

Echt abartig, diese Vorgehensweise, wenn ich es mir genau überlege. Was das betrifft, erinnert mich Iris an eine Gottesanbeterin.

Zwischen den Stühlen sitzt es sich unbequem. Dennoch muss ich das verlockende Angebot entschieden ablehnen.

»Ich kann auf gar keinen Fall und möchte aus persönlichen Gründen von dieser Aufgabe entbunden werden. Nehmen Sie meine Antwort als Widerruf. Erfinden Sie einfach eine plausibel klingende Lüge und preisen Sie Iris als Nummer eins an. Er merkt doch nichts und ist bestimmt mit sich und seiner Vermarktung beschäftigt«, entgegne ich gedämpft.

»Eine Frage. Mich macht Ihre renitent wirkende Ablehnung neugierig. Gibt es etwas, was ich wissen sollte?«

»Ich möchte halt nicht. Aus persönlichen Gründen. Ich werfe das Handtuch noch bevor ich in den Ring steige. Mehr gibt es zu diesem Thema nicht zu sagen.«

»Niemand aus meinem Team hat je das Handtuch geworfen, weil es einmal persönlich und brisant wurde. Dann ist es nicht nur eine persönliche, brisante Angelegenheit für Sie, sondern auch eine gute Schule, um alles von dem einst erworbenen Wissen der Journalistik anzuwenden«, entgegnet sie beinahe eisig und schiebt mir das Handy entgegen. »Sie bekommen eine Stunde Sendezeit und gestalten diese aus. Der Sender mischt sich nicht in die kreative Umsetzung Ihrer Berichterstattung ein, was im Übrigen eine zweite Bedingung von Herrn Holl gewesen ist. Fehlen Mittel, stellt er diese bereit. Was das bedeutet, muss ich ihnen nicht erklären, oder? Er bietet Ihnen an, den Fernseholymp zu besteigen. Ich gebe Ihnen fünfzehn Minuten, um in aller Stille über das Angebot nachzudenken.«

Erstaunt reiße ich meinen Mund auf. Ich glotze meine Vorgesetzte regelrecht an, was mir selbst überaus unangenehm ist, ich jedoch nicht willentlich verhindern kann. Erst, nachdem sie das Handy vollends auf meine Seite des Tisches schiebt, erhebt sie sich und schreitet langsam zur Tür.

»Denken Sie gut nach. Unter uns gesagt, werde ich nach der vereinbarten Bedenkzeit Ihre Entscheidung akzeptieren. Jede Entscheidung«, meint sie mit einem bedeutungsvollen Blick.

Sie klingt völlig anders als im Meeting der Chefredakteure. Auch ihre Stimme tönt weicher. Beinahe mütterlich besorgt, was ich von ihr so überhaupt nicht gewohnt bin. Dennoch verstehe ich die Botschaft, alle Chancen genauestens mit meinen Ängsten abzuwägen.

Abermals schließt sich die Tür. Damit lässt sie mich mit meinen Gedanken und dem Handy zurück, auf das ich jetzt hinabsehe.

Du lieber Himmel, bin ich in der Hölle gelandet?

Oder nur in einem bösen Traum?

»Vermaledeiter Scheißdreck«, fluche ich, beuge mich über den Rand des Tisches und stütze entmutigt meinen Kopf ab.

Denke nach, Carlotta! Finde einen Ausweg aus diesem Schlamassel.

Minutenlang massiere ich die Schläfen und überlege fieberhaft, mit welcher Argumentation ich aus dieser verzwickten Nummer herauskomme. Plötzlich straffe ich mich und lege die ineinander gefalteten Finger zwischen meine Knie.

Stocksteif betrachte ich das Handy, aus dem kein Geräusch zu hören ist und ganz sicher nicht ohne Grund dort liegt.

Entweder …

Oder …

»Guten Tag.«

Verhalten, zaghaft und unsicher klingt meine Begrüßung, weil ich wahrhaft Haarsträubendes vermute. Inbrünstig hoffe ich, dass meine Spürnase mein Großhirn verascht.

»Guten Tag, mein Herzblatt«, grüßt eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher.

Verdammt, meine Spürnase kann ich mir vergolden lassen. Ich liege richtig. Auf der Stelle sacke ich innerlich zusammen. Variante zwei habe ich als eher unwahrscheinlich eingestuft, trifft aber letztlich zu.

Augenblicklich verstehe ich den mütterlichen Blick von Frau Lambrecht und, warum sie mir fünfzehn Minuten Bedenkzeit einräumt. Obendrein hat er am anderen Ende der Leitung meine Ausflüchte gehört.

Ich bin sauer.

Sogar stinksauer.

Damit kennt er meine Hauptargumente, kann sie problemlos niedermachen und mir jedes Wort im Mund umdrehen.

»Nenn mich nicht so«, fauche ich matt und lehne mich zurück. Ich fühle mich sterbensmüde.

»Wie soll ich dich dann nennen?«

»Jedenfalls nicht so wie eine bestimmte Art von halbnackten Frauen, die du in deiner gleichnamigen Zeitschrift geilen, alten Männern als Wichsvorlage präsentierst«, fauche ich aufgebracht.

Das ist nicht wirklich meine Meinung, denn die Fotos sind zwar aufreizend, aber hervorragend umgesetzt und nicht sexistisch, wie in anderen Schmierblättern.

»Einige von meinen Modellen sind gänzlich nackt.«

»Grundgütiger«, murmele ich und verdrehe die Augen.

»Du darfst mich nennen, wie du möchtest. Ich protestiere nicht und ›Grundgütiger‹ klingt in meinen Ohren würdevoll«, kichert er.

»Was willst du von mir?«

»Sie hat doch genau ihre und meine Meinung auf den Punkt gebracht. Wie könnte ich es dir verständlicher erklären? Ich brauche die fähigsten Leute, die über die Kompetenz und das darin enthaltene Fingerspitzengefühl verfügen, ein Bild von mir zu zeichnen. Ergo brauche ich dich.«

»Bitte nicht«, flehe ich.

Auf Schlag fühle ich mich den Tränen nah, weil damit mein letztes Stündchen geschlagen hat. Da passe ich für einen Moment nicht auf und schon steht die Kellertür zum zweiten Mal an diesem Tag sperrangelweit offen.

Diese Tatsache jagt mir einen gewaltigen Schrecken ein. Unversehens finde ich mich vor der Tür wieder, die direkt in das furchteinflößende Kellergewölbe führt.

»Zeichne mit deinen Worten ein Bild von mir. Mit leuchtenden Augen und einem unfassbar euphorischen Lächeln auf den Lippen. Wie früher«, bittet er und klingt unglaublich nachsichtig.

»Mit einem kindlichen und unbezwingbaren Glauben an das Gute in den Menschen …«, ergänze ich der Vollständigkeit halber und erhebe mich schwerfällig.

Eine Zeit lang füllt Schweigen den Raum, bevor er leise entgegnet: »Wer kennt die menschlichen Abgründe besser als wir? Wer, wenn nicht wir?«

»Niemand«, hauche ich und schaue aus dem Fenster, wobei mir unwichtig erscheint, ob er meine Antwort hört.

Er kennt sie ohnehin.

Unaufhörlich schreitet die Dämmerung fort und erinnert mich an all die Silberstreifen am Horizont, die mit vierzehn Jahren jäh in mir erstorben sind. Ich wende mich von den vielen bunten Lichtern ab, die den beschaulichen Abend heraufbeschwören und die Stadt selbst in der Dunkelheit pulsieren lässt.

Ja, selbst in der Finsternis, ist ein Herz in der Lage, gleichmäßig zu schlagen. Wer weiß es besser als ich? Das Licht ist nicht die einzige Energiequelle für das Leben auf der Erde.

Entschlossen eile ich zum Tisch, setze mich und blicke, meinen Kopf auf die Hände abstützend, auf das Handy herab. Fieberhaft denke ich nach.

Ich könnte stundenlang hier sitzen, bis er einschläft. Dann verschwinde ich heimlich. Oder ich schlafe ein, da kann er meinetwegen in das Handy horchen, bis er schwarz wird und Gevatter Tod ihn eines Tages zu sich holt.

Und das wären nur zwei Möglichkeiten von tausend Millionen. Auf Knopfdruck geht meine Fantasie mit mir durch.

»Ich kann deinen Atem hören. Er geht schnell, wie damals nach der Beerdigung von Alessio«, flüstert er nach einer ganzen Weile.

Ruben Holl reißt mich aus den Gedanken, die sich urplötzlich allesamt überschlagen. Ich horche auf. Auf Schlag fühlt sich meine Kehle knochentrocken an. Fassungslos starre ich das Telefon an, als könnte ich dadurch seine Worte besser ausradieren.

Er hat doch wohl nicht etwa …?

In meinem Gesicht spüre ich eine glühend heiße Welle, die sich über die Wangen ausbreitet und derart heiß brennt, als würde ich lichterloh in Flammen stehen. Meine ausgetrocknete Kehle schnürt sich zu und ich hülle mich in ein scheinbar sicheres Schweigen, was an dieser Stelle angebracht zu sein scheint.

Ich werde jetzt gewiss keine Bestätigung abgeben, auf die er garantiert wartet und mich dann Ewigkeiten damit aufzieht. Zum Glück sieht er mein knallrotes Gesicht nicht.

»Mach gerne weiter. Gerade merke ich, wie unendlich tröstend ich finde, dich wieder zu hören. Wir haben lange nicht miteinander telefoniert. Ich habe oft an dich gedacht. Ziemlich oft.«

»Zwei Monate«, verbessere ich und schäme mich auffallend.

Es stimmt, wir haben nach Alessios Beerdigung jeden Abend miteinander telefoniert. Und ich komme mir abgrundtief schlecht vor, weil er mir in den schweren Stunden und in endlosen Telefonaten nach Alessios Tod beiseite stand.

Monatelang.

Ein Dankeswort indes habe ich nie über die Lippen gebracht, was mich jetzt in einem absolut schlechten Licht dastehen lässt. Vermutlich bin ich schon immer eine schlechte Freundin, Frau und Tochter gewesen. Ich habe genommen, ohne zu hinterfragen, und bin davon ausgegangen, es wäre normal oder würde mir zustehen wie ein verdammt verbrieftes Recht.

»Zwei Monate sind eine lange Zeit. Aber ich mache dir keine Vorwürfe, freue mich eher darüber, dass es dir inzwischen besser geht. Es tut gut, deine Stimme zu hören.«

»Was willst du von mir?«, hauche ich mit zittriger Stimme und unterbreche hastig seinen Monolog.

»Zeichne ein Porträt von mir. Mit deinen Wörtern.«

»Weil ich Wörter gut malen kann?«

»Genau«, haucht er und klingt nah an meinem Herzen. »Und weil du mutig bist, die Dinge beim Namen nennst und ich dir blind vertraue.«

Möglichst geräuschlos wische ich die herabrinnenden Tränen von den Wangen, denn die Worte treffen mein Innerstes. Genau genommen stehe ich in seiner Schuld.

Er würde mir diese Tatsache niemals auf das Butterbrot schmieren. Dennoch fühle ich mich verpflichtet, je länger ich mich mit ihm unterhalte.

Garantiert ist mein Augen-Make-up spätestens jetzt verschandelt. Ganz abgesehen von den geröteten Augen, mit denen ich nachher allen möglichen Leuten über den Weg laufen werde. Jeder wird etwas Anderes hineindeuten. Miese und falsche Gerüchte machen ab morgen die Runde und werden im Kontext der Besprechung gesetzt.

Na, prima.

»Unbekannte Wörter kann ich nicht für dich erfinden«, setze ich mich Stück für Stück zusammen und straffe mich, um mir meine Heidenangst ja nicht anmerken zu lassen.

»Ich weiß und ebenso, wie viel ich dir mit dieser Bitte abverlange. Aber ich vertraue dir. Ausschließlich dir. Na ja, und ein wenig meiner Mutter. Wieder.«

»Das freut mich für dich, wirklich.«

»Stell dir vor, sie backt jedes Wochenende meinen Lieblingskuchen und wartet mit leuchtenden Augen am hübsch eingedeckten Kaffeetisch auf mich.«

»Marmorkuchen mit ganz viel Schokolade?«

Ein zaghaftes Lächeln huscht über meine Lippen, denn es ist auch mein Lieblingskuchen. Ist er noch immer. Allerdings nur der von seiner Mutter.

»Du erinnerst dich daran?«

Ich wische über meinen Wangenknochen und trockne die Feuchtigkeit an meinem Hosenbein ab. »Logisch erinnere ich mich an ihren Kuchen. Du lockst mit netten Details und wickelst mich in dein Spinnengewebe ein. Wie immer.«

»Verstehe. Dann höre ich jetzt damit auf und wende mich lieber deinem Atem zu.«

Schweigend sitze ich über dem Telefon gebeugt. Völlig durch den Wind schüttele ich unentwegt den Kopf. Tausend Bilder ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Jedes enthält ein Gefühl, dem ich ausgiebig nachspüre, bis es leise an der Tür klopft.

Clara späht in den Raum.

Sie tritt näher, nachdem ich meinen viel zu schweren und dumpf pochenden Kopf langsam anhebe. Vorsichtig legt sie ihre flache, warme Hand auf mein Schulterblatt und nimmt das Handy auf. »Frau Lambrecht wünscht mit Herrn Holl zu sprechen. Kann ich ihr etwas Verbindliches bezüglich des Projektes ausrichten?«

»Liebe Clara. Bitte lassen Sie das Telefon noch für zwei Sekunden dort liegen, wo es ist. Ginge das?«, säuselt er aus dem Lautsprecher des Telefons.

Ich höre deutlich eine Veränderung in seiner Tonlage. Sie klingt noch immer gutmütig, aber in gewisser Weise direkt. Unverblümt und daneben absolut lieblich.

Auf der Stelle legt Clara das Telefon wieder auf den Tisch, als hätte er sie mit seinem typisch honigsüßen Lächeln bedacht.

---ENDE DER LESEPROBE---