Only you - Sieben Tage Insel - Adelina Zwaan - E-Book
SONDERANGEBOT

Only you - Sieben Tage Insel E-Book

Adelina Zwaan

0,0
5,99 €
2,49 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Desillusioniert und wütend auf die ganze Welt kehrt Inken nach über einem Jahr auf die kleine Insel ihrer Eltern zurück. Noch immer verarbeitet sie den Tod ihres Verlobten und sucht festen Boden unter ihren Füssen. Zumindest so lange, bis Peter und Anna für eine Woche auf die Insel ziehen.
Blöd nur, dass er dem verstorbenen Verlobten ähnelt und mit Anna zusammen ist. Inken entdeckt in den sieben Tagen noch mehr.
Sich.


Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der spannende und romantische Debüt-Roman »Only you – Sieben Tage Insel« von Adelina Zwaan. Wer diesen Roman liest, hat mehr vom Sommerurlaub: AZ Books.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Widmung

Prolog

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

12 Monate später

Weitere Erscheinungen von AZ Books / Leseproben

Kiss me tender

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Bibliografie AZ Books

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2023 AZ Books

Vertreten durch AZ Books – Leipzig

c/o K. Förster Rosenweg 52 04209 Leipzig

[email protected] Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zu dieser Veröffentlichung vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung.

 

 

www.az-books.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vita

 

Adelina Zwaan (Pseudonym) lebt nach unzähligen Stationen im In- und Ausland heute in Leipzig. Seit Kindertagen von Büchern und dem Theater fasziniert, hat sie ihr Herz für Liebesromane entdeckt. In ihren bildgewaltigen Romanen gewährt sie einen tiefen Blick in die innere Zerrissenheit ihrer meist bindungsunfähigen, aber starken Protagonisten. Schreibt sie nicht, bringt sie beruflich Kunden in Belieferung. In ihrer Freizeit zeichnet sie Aquarelle, fotografiert, als Feng-Shui Beraterin oder gestaltet Grußkarten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ADELINA ZWAAN

 

 

Only you

SIEBEN TAGE INSEL

 

ROMAN

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Widmung

»Wer liebt, macht Fehler. Wir alle … und niemand wird dir etwas anderes sagen können. Aber, wer wahrhaft liebt, redet darüber und löst die Fehler auf, damit wieder Platz für neue Liebe entsteht.«

 

Adelina Zwaan

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Mein Großvater starb als ich neun Jahre war. An Krebs. Einer von der fiesen Sorte und einer, der einem nicht einmal genug Zeit lässt, diese Nachricht zu verdauen. Geschweige denn, nach der schrecklichen Diagnose tief durchzuatmen.

Nach einem halben Jahr folgte ihm meine kerngesunde Großmutter. Auf ihrer Beerdigung hörte ich, wie ein Nachbar meiner Mutter zuraunte: »Vermutlich erlosch ihr Licht mit seinem letzten Atemzug.«

Damals erfasste ich die Worte und ihr Gewicht, doch die Metapher blieb mir ein Rätsel, verborgen in den segensreichen Schatten der Unkenntnis. Jetzt strahlt sie mir ungefragt in voller Klarheit entgegen, wie ein Leuchtfeuer mitten in einer finsteren Nacht.

Heute erkenne ich das gesamte Ausmaß der geflüsterten Worte. Klar und deutlich liegt das Drama vor mir, das meine Großmutter ereilte. Ich kann es verstehen, weil es mich ebenfalls ereilt hat.

Keine Sekunde vergeht, ohne dass dieser unsagbare Schmerz meine Seele verschlingt. Mein Herz krampft bei jedem Atemzug, als ob ein unsichtbarer Holzpflock es durchbohrt. Ich verzehre mich buchstäblich nach neuer Lebenskraft. Wie ein Wesen der ewigen Finsternis durchstreife ich die Nacht, auf der Suche nach dem berauschenden Elixier des Lebens. Meine Gier nach einem Schluck Blut kennt keine Grenzen, obwohl ich weiß, dass ich niemals satt werde.

Beinahe zwei Jahre sind vergangen, seit mein Verlobter verstorben ist. Er hieß Torben. Noch immer fühle ich mich gelähmt. Ich begreife es nicht. Alte Menschen, kranke Menschen sterben, aber nicht er. Er war jung, gesund und hatte den Rucksack vollgestopft mit etlichen Zukunftsplänen.

Nachdem der Sarg in die Erde glitt, stieg der Groll auf. Unbändig und unzähmbar. Besonders als die Gäste an mir vorbeischritten. Sie blickten niedergeschlagen drein, schüttelten meine Hände und murmelten ehrlich gemeinte Beileidsbekundungen. Erst begriff ich die unwiderrufliche Tatsache seines Todes.

Mein Vater führt ein stadtbekanntes Hotel. Mein Gesicht ist stadtbekannt, der Autounfall war in aller Munde. Sämtliche regionale Tageszeitungen prügelten sich darum, das tragische Ereignis als Top-Thema zu vermarkten. Dank des niemals schlummernden Internets verbreitete sich die Nachricht von Torbens Tod in Windeseile. Ich erhielt unzählige Interview-Anfragen. War ich in der Stadt unterwegs, spürte ich mitleidvolle Blicke. Nicht nur dort. Auf der Arbeit, in der Freizeit …

Ich hatte nicht schlecht Lust, allen meine ungefilterte Wut ins Gesicht zu schreien, damit sie damit aufhören, mich andauernd zu beobachten und endlich in aller Stille heulen ließen. Aber statt es zu tun, verbarg ich diese grausigen Emotionen unter einer tapfer lächelnden Maske.

Nächtelang hockte ich zusammengekauert im Wohnzimmersessel, kaute an meinen Nägeln. Im Dunklen. Stundenlang starrte ich die Haustür an und hoffte, er würde heimkommen, damit sich alles als böser Traum entpuppt. Bedauerlicherweise wartete ich vergeblich.

Ich hatte ihn ja selbst zu Grabe getragen und unter Tränen Erde auf den Sarg fallen lassen. Damals hingen meine Gedanken zwischen den Welten und ich möchte sie auch heute nicht aussprechen. Nicht einmal denken.

Mit seinem letzten Atemzug erlosch das Licht in mir. Was übrig blieb, gleicht einem riesengroßen, emotionslosen ›Nichts‹, umgeben von einer dünnen Hülle aus hauchdünner, durchscheinender Haut. Es verzehrt mich seitdem, füllt mich dennoch mit Vakuum aus und beeinträchtigt das logische Denken.

Torben hatte den Wunsch, die Welt zu erkunden. Er plante, diesen Traum zu verwirklichen. Zuerst in Süditalien, wo er unter der südlichen Sonne das Dolce Vita erleben wollte. Doch bevor er es realisieren konnte, geriet er ins Schwärmen über weitere Sehnsuchtsorte, wie die Fjorde in Schweden oder das Frühlingserwachen in Paris. Leider verlor er sich dabei in der Aufzählung unzähliger Orte, ohne seine Pläne tatsächlich in die Tat umzusetzen.

Ich habe es übernommen. Anfangs hielt ich es für eine gute Idee gehalten. Wie gesagt: anfangs.

Seit diesem Frühjahr bin ich in Paris unterwegs. Jetzt neigt sich der August dem Ende zu. Was auch immer er hier gesucht hatte, offensichtlich bin ich blind dafür. Paris ist eine Großstadt. Turbulent, laut, eng.

Ich fühle mich wie ein gestrandeter Wal. Menschen eilen herbei, um mir zu helfen. Andere stehen abseits und rätseln über mein merkwürdiges Verhalten. Ebenso wie ich. Die schiere Masse meines Körpers erdrückt mich. Und ich kann nichts dagegen tun.

Eine Bewegung lässt mich aufhorchen. Ich spähe durch einen schmalen Türspalt zu einem großen Doppelbett. Ein Mann liegt darin. Er dreht sich, zieht sich die graue Bettwäsche über die schmale Hüfte und schläft friedlich weiter.

Das Schlafzimmer ist abgedunkelt. Seit zwei Tagen schlafen und essen wir darin. Mehrere benutzte Kondome, die auf dem Boden vor dem Bett verstreut liegen, deuten anschaulich darauf hin, womit wir uns die Zeit vertreiben. Ich korrigiere: Womit wir sie vertrieben haben, bis mich das Bild des gestrandeten Wals eingeholt hat.

Dann kribbelt für gewöhnlich alles in mir. Ich werde unruhig und will am liebsten laufen. Laufen, laufen, laufen …

Seine Frau kommt heute Abend mit den Kindern zurück. Sie besuchen ihre Eltern. Wenn er täglich mit ihr telefoniert hat, schlüpfte ich auf Zehenspitzen ins Bad, damit er pünktlich um acht Uhr abends ungestört mit ihr sprechen konnte. Danach holte er sich von mir die Dinge, um die er sie nicht bittet, weil sie sein ›Engel‹ ist. Nein, er hat keine befremdlichen oder anormalen Fantasien.

Im Gegenteil. Die hat sie.

Er liebt es zärtlich, ganz sinnlich und fast ohne Berührungen auf Französisch ›unterhalten‹ zu werden, bis er heiser in das Kopfkissen wimmert. Gut, er hält es sich auf den Mund gepresst, damit die Nachbarn nichts von der spontan geschlossenen deutsch-französischen Freundschaft mitbekommen. Aber egal, denn anschließend bringt er mir eine französische Redewendung bei, bis wir es beide mehrmals wiederholen und immer heiserer hauchen.

Dafür, dass ich schnell wieder hungrig werde, kann er nichts. Er nicht. Nahezu selten funktioniert die Rettung von gestrandeten Walen. Liegt das riesige Tier erst einmal am Strand, ist es aus. Bringen die hilfsbereiten Menschen ihn ins Wasser zurück, robbt er sich unermüdlich zurück an Land. Wohl wissend, dass er sich damit vernichtet.

Er kann aber nicht anders.

Langsam streife ich mein geblümtes, löchriges Shirt über und schlüpfe in meine Schuhe, die im Flur stehen. Ich muss los. Wohin ist egal. Hauptsache, ich spüre Strandsand unter meinen Füßen.

Laufen, laufen, laufen …

Leise verlasse ich die Wohnung, die bis unter die Zimmerdecke randvoll mit schlauen Büchern gestopft ist und mich an ein Museum für Literaturgeschichte erinnert.

Mit einer Tasche in der Hand, die mein ganzes Hab und Gut enthält, streife ich ziellos durch die Pariser Straßen. Auf einer steinernen Brücke bleibe ich das erste Mal stehen. Ich sehe zum ›Pont Changes‹, was exakt die Fließrichtung der Seine entspricht, die im Ärmelkanal endet.

Meine Hand gleitet über den warmen, kunstvoll behauenen Sandstein und fühlt sich dabei selbst wie ein Teil davon an. In der Ferne kündigt der östliche Morgenhimmel einen neuen Tag an und koloriert den Horizont zartviolett. Für Anfang August ist es kühl, was mich allerdings wenig interessiert.

Ich ignoriere die wunderschönen Farben, mit denen der Himmel die meisten Menschenherzen erfreut. Meins erwärmt sich nicht einmal mehr an dem erhabenen Anblick der aufgehenden Sonne. Genauso wenig, wie an dem Anblick des umgänglichen Mannes, der vorhin zufrieden neben mir im Bett schlief.

Ein absurder Gedanke lässt sich nicht mehr vertreiben.

Mehrmals wende ich meinen Kopf in alle Richtungen und entdecke niemanden. Ich schreite auf eine Einbuchtung zu, lasse die Reisetasche fallen und streife die Schuhe ab, die einst bessere Tage gesehen haben. So wie ich einst auch.

Das kommt mir heute Ewigkeiten vor.

Barfuß klettere ich auf die Brüstung und richte mich zittrig auf. Erleichtert atme ich aus, weil das erstaunlich einfach geht. Furchtlos blicke zum fließenden Gewässer hinab. Ich breite die Arme aus und mache mich bereit, weil ich aufhören möchte, zu leben.

Genau jetzt.

Mir ist es verhasst, den Lebenden beim Lächeln zuzusehen, während ich mich innerlich mausetot fühle. Ich möchte da sein, wo er ist. Wo auch immer er ist, wie auch immer es dort ist. Ohne ihn fühle ich mich schrecklich einsam und bringe die Kraft nicht mehr auf, um so zu tun, als würde ich leben.

Eine Träne tropft in die Tiefe. Sie mischt sich mit dem dunklen Wasser, das einen weiten Weg aus dem Westen zurückgelegt hat, um hier die Hauptstadt Frankreichs zu durchqueren. Langsam schließe ich meine Augen und bereite mich innerlich darauf vor, mich diesem Strom zu überlassen.

Jemand ruft.

Ich schrecke zusammen und schaue mich nervös um, entdecke jedoch niemanden. Keiner ist da, der dieses heisere ›Nein‹ hätte schreien können. Schleunigst schließe ich meine Lider, um zu Ende zu bringen, was ich unverzagt angefangen wollte.

Doch halt …

Ein Gesicht erscheint vor meinem inneren Auge. Ich kenne das gefällige Antlitz. Das, welches mich seit einem tragischen Autounfall vor Monaten nicht mehr betrachten kann und mich dadurch in einen Strom reißt, der mir zu schnell fließt. Willenlos treibe ich darin umher und pralle gegen allerlei Felsbrocken und Baumstämme. Einfach an alles, was darin mitgerissen wird. Da kann ich mich auch gleich in die Seine werfen und sehen, ob sie mich zu ihm trägt.

»Nein«, höre ich wieder ganz deutlich.

Geschockt und mit weit geöffnetem Mund stehe ich auf der Brüstung. Abermals ist niemand zu sehen. Bilde ich mir das ein?

Verwirrt schaue ich an mir hinab. Meine Hände zittern. Eine Windbö hebt meine blonden Haare an, obwohl es absolut windstill ist.

»Aber ich möchte so gerne zu dir«, krächze ich mit belegter Stimme.

Wieso ich mit ihm spreche, kann ich nicht erklären. Da ist dieses flüchtige Bauchgefühl und das Bild vor Augen. Mehr Wunsch als Tatsache und zu meinem Bedauern schneller wieder zu Staub zerbröselt, als mir lieb ist.

Mir kommt es vor, als würde der Wind abermals zärtlich über meine rechte Wange streifen. Ich glaube, ich werde irre. Hastig hopse ich von der Brüstung, schlüpfe in die Schuhe und schnappe geschwind meine Tasche. Keine Ahnung, was hier vor sich geht, aber mir stehen urplötzlich sämtliche Härchen ab.

Kopflos renne ich durch die Straßen, rempele versehentlich Menschen an, die auf dem Weg zur Arbeit nicht schnell genug beiseite springen. In letzter Minute weiche ich einem hupenden Taxi aus.

Atemlos komme ich am Park Bois de Vincennes an, ein wunderschöner Park und eine von zwei grünen Lungen der Stadt. Hier gibt es hohe Bäume, drei künstliche Seen, ein Schloss und endlose Wanderwege.

Flugs verstecke ich mich mit angezogenen Beinen unter dem erstbesten Baum, den genug Buschwerk umgibt. Selbst nach einer ganzen Weile kann ich mich nur schwerlich entspannen. Mein Herz klopft. Ich spüre es bis unter der Schädeldecke pochen.

Tränenüberströmt und von mir angewidert, wiege ich mich unentwegt vor und zurück. Will er ernsthaft, dass ich dieses sinnlose, beschissene Leben weiterlebe, welches mein Herz momentan schneller entleert, als ich es auffüllen kann?

»Was soll ich tun?«, schreie ich weit vornübergebeugt und mit dem Mut einer Verzweifelten in den morgendlich verlassenen Park. Allein das Blattwerk raschelt, was die einzige Antwort bleibt.

Mit Händen vor meinem Gesicht weine ich mich in den Schlaf, der seit Jahren nicht wirklich einer ist.

 

ppp

 

In meiner Nähe raschelt das Unterholz. Staubtrockene Laubblätter zerfallen unter einem Gewicht zu Staub. wie meine damaligen Träume an das Leben. Zu müde, um die Augenlider zu heben, ignoriere ich selbst die typisch penetrante Duftnote von Kernseife.

Jemand stupst mich an. »Hey, du! Mach die Augen auf.«

Die Welt kann mich echt gernhaben. Ich reagiere nicht auf das anhaltende Rufen, drehe mich stattdessen auf die andere Seite. Aufdringlich tippt jemand an meinen Oberarm.

»Hey, du. Mach schon die Augen auf!«

Übermüdet von der kurzen Nacht öffne ich meine Augen, die sich nach dem Weinen aufgequollen anfühlen. Schwerfällig richte ich mich auf und schaue in ein faltiges, aber lächelndes Gesicht.

Ich erblicke einen Mann, der sich zu mir hinab beugt. Ich schätze ihn auf fünfzig Jahre. Nachdem er lange mein Gesicht mustert, setzt er sich neben mich und zieht seinen blauen, abgewetzten Rucksack näher. Er kramt darin und fragt zeitgleich: »Nimmst du Drogen?«

»Nein«, antworte ich wahrheitsgemäß und nehme den Duft von Käse und Salami wahr.

»Da, iss das. Du siehst hungrig aus. Ich habe es aus der Küche im Wohnheim gemopst.«

Unweigerlich frage ich mich, wie es aussieht, wenn ich hungrig bin. Ich meine, mein Magen knurrt, aber woran erkennt es der fremde Mann? An den Augen, an einer fettigen Haarsträhne?

Argwöhnisch betrachte ich ihn, während er in seine Hälfte des geteilten Sandwiches beißt und in den Park schaut, in dem um diese Uhrzeit nur vereinzelt Jogger mit gigantischen Kopfhörern ihre Runden drehen.

»Na mach schon, Kind«, raunt er mir aufmunternd zu.

Hartnäckig wedelt er mit dem üppig belegten Brot unmittelbar vor meiner Nase herum, damit ich endlich zugreife. Dankend nehme ich das angebotene Brot entgegen und beiße ausgehungert hinein.

»Wo kommst du her?«, erkundigt er sich.

»Deutschland.«

»Aber echt. Das höre ich am Dialekt. Von wo genau kommst du?«

»Ich bin in der Nähe von Plön aufgewachsen.«

»Plön, Plön … ne, kenne ich nicht. Nie davon gehört. Liegt das in der ehemaligen Ostzone? Kein Wunder, dass du so spindeldürr bist. Monsieur Adolf hat wohl nichts als verbrannte Erde hinterlassen und ihr armen Leute müsst nun den Kitt aus den Fenstern futtern. Ich sehe es in den Berichten, die mittwochs auf ›Kanal 5‹ laufen. Rund um die Uhr«, murmelt er.

Zeige- und Mittelfinger hält er sich unter die Nase, um den Schnurrbart zu imitieren. Danach widmet er sich dümmlich kichernd seinem appetitlich duftenden Sandwich.

»Ja, ja, hinterher ist man immer schlauer. Und du, Madame Boche, weißt nun bestimmt, zu welcher Gelegenheit deine Großeltern den rechten Arm besser unten gelassen hätten, nicht wahr?«

»Alle Welt schmiert mir ständig die deutsche Vergangenheit aufs Brot. Und zu deiner Frage, ob meine Großeltern die rechte Hand gehoben haben: Sie sind tot. Wie die Klischees, die ich ermüdend finde. Alle Welt glaubt ja auch, dass ihr Franzosen rund um die Uhr Froschschenkel und Schnecken esst, sofern ihr keine Liebe macht. Lass mich also mit blöden Klischees in Ruhe.«

»Lassen wir die Liebe besser außen vor. Davon habe ich keine Ahnung. Plön, sagst du? Aber echt, nie davon gehört.«

Er lacht, knabbert einen riesigen Happen ab und kaut ihn sorgsam durch. Nebenbei scheint er genauestens zu überlegen, wo dieses Plön liegt, welches er nicht kennt.

»Das liegt in Norddeutschland. Im Westen«, erkläre ich die grobe Region, bevor er weiter nachhakt.

»Ist es schön dort in Norddeutschlands Westen?«

Ich halte inne und sehe kurz an diesen komischen Kauz herab. Viele Menschen interessiert es nicht die Bohne, wo ich herkomme. Die meisten fragen, wo ich hinwill. Was das betrifft, kann ich prima lügen und säusele dann immer süßlich, wie eine, die es absolut nötig hat: Mal sehen, vielleicht zu dir?

Erwartungsvoll schaut mich der an den Schläfen stark ergraute Mann an. Seine Augen sind von einem eigenartigen Braun und wirken befremdlich vertraut.

»Ja«, antworte ich leise, »sehr märchenhaft.«

»Aber echt. Warum sitzt du dann mutterseelenallein hier im Dreck herum?«

»Vielleicht, weil damit ich dir begegne?«, entgegne ich mit einer Gegenfrage.

Er legt seinen Kopf weit nach hinten und lacht ausgelassen. »Na, dann kannst du ja jetzt heimfahren. Nach Plön. Ich würde gerne mitkommen, aber die Heimleitung lässt mich nicht aus den Augen. Aber echt, die sind furchtbar anstrengend. Und erst das Fernsehprogramm dort. Oh, là là.«

»Jean-Paul, warum sitzen Sie hier im Unterholz und nicht bei den anderen?«

Eine untersetzte Frau, die das sagt, hat uns im Unterholz entdeckt. Über ihre Schulter wirft sie rasch einen Blick zu einer Gruppe Menschen, die es sich auf zwei Bänken am anderen Ende des Parkes gemütlich machen und angeregt miteinander plaudern. Sie lachen ausgelassen und gestikulieren wild mit Händen und Füßen. Offenbar ist sie wenig davon angetan, dass sich der Mann hier bei mir aufhält.

»Aber echt, Madame Christine. Die sind doch alle zurückgeblieben. Besonders Claudine, die ständig meine Hand halten will. Eine furchtbar aufdringliche Person. Und sie stinkt. Da sitze ich lieber bei der kleinen, hübschen Mademoiselle Boche. Sie ist extra meinetwegen aus Deutschland hergekommen. Stellen Sie sich das einmal vor. Sie kommt extra aus Plön, um mich heute zu treffen. Sagen Sie mir also, warum ich nicht hier im Unterholz sitzen soll, sondern bei den Schwachmaten aus dem Bekloppten-Wohnheim?«

›Boche‹ nutzen die Franzosen abwertend für Deutsche.

»Jean-Paul, ich freue mich darüber, wenn Sie neue Freundschaften schließen. Besonders mit den Deutschen. Aber echt, gewöhnen Sie sich bitte bloß schnell das ekelhafte ›Boche‹ ab und kommen Sie sofort mit zu den anderen. Wir warten auf Sie. Der Frühsport ist vorbei und Sie haben sich wie immer gekonnt davor gedrückt. Wir wollen frühstücken gehen. Na los, hopp, hopp!«

Schwerfällig rappelt sich Jean-Paul auf, protestiert und murrt, wie ein übel gelaunter Künstler, dem seine Muse nicht still genug sitzt. In Manier der alten Schule verbeugt er sich manierlich und nimmt eigens dafür seine Baskenmütze ab. »Hat mich sehr gefreut. Adieu, Mademoiselle Boche und Ihnen eine angenehme Heimfahrt.«

»Adieu, Monseigneur Jean-Paul und vielen Dank, für das köstliche Sandwich.«

Ungestüm winkt er ab und klopft sich auf dem Kiesweg stehend seine Hosenbeine ab. »Ach, schon gut. Und richten Sie Monsieur Adolf aus, er soll sich aus Europa verpissen.«

Schwerfällig stapft er davon und wirft sich lässig den altmodischen Rucksack über die Schulter. Unverständlich brabbelt er in seinen nicht vorhandenen Bart, wie sehr ihn die Idioten aus dem Wohnheim anstinken.

»Entschuldigen Sie bitte seine Wortwahl. Wie Sie sicherlich bemerkt haben, ist er kognitiv massiv … nun ja, eingeschränkt.«

»Alles gut. Wir haben uns wunderbar verstanden. Er war sehr lieb.«

»Das ist er. Na, dann … Ihnen eine gute Heimreise.«

Ich möchte ihr widersprechen und setze dazu an, doch sie huscht bereits zu Jean-Paul und hilft beim korrekten Anlegen des Rucksacks. Auf die Betreuerin gestützt, stapft er davon. Immerfort möchte er wissen, ob sie Plön kennt, ob es die Kleinstadt überhaupt gibt, oder ich ihm einen riesengroßen Bären aufgebunden habe und lüge, weil ich mit Herrn Adolf unter einer Decke stecke.

Was Jean-Paul mir gesagt hat, klingt simpel. Dennoch ziehe ich es seit Ewigkeiten nicht in Betracht. Nun hinterfrage ich, warum ich nicht einfach nach Hause fahre. Auf die märchenhafte Insel, die mir unvermittelt unsagbar fehlt.

Aufgeregt greife ich zu meiner Tasche, in der ich mein Prepaidhandy für Notfälle aufbewahre. Es ist die einzige Kontaktmöglichkeit nach Hause. Ich nutze sie ausschließlich, um mich bei meinen Eltern zu melden. Meistens bleibt es ausgeschaltet.

Lange liegt es in meinen Händen, bis ein Windhauch mein Gesicht streift. Weit und breit ist niemand zu sehen, dennoch erkundige ich mich flüsternd: »Du möchtest, dass ich zu Hause anrufe?«

Einige Tränen quellen über die Unterlider, weil eine Antwort ausbleibt. Schon klar. Es bleibt allein meine Entscheidung, ob ich anrufe. Aus dem Jenseits kann niemand Antworten erwarten.

Erneut schaue ich auf meine Hände hinab und stelle überrascht fest, dass ich die grüne Taste längst betätigt habe. Die Verbindung ist hergestellt.

»Inken, Kleines?«, höre ich meinen Vater, der sich am anderen Ende der Leitung meldet. »Bist du es? Gott sei Dank. Endlich ein Lebenszeichen von dir.«

Ich wische meine Wangen trocken, nachdem ich das Telefon zum Ohr hebe und die unterdrücke, die nachkullern wollen. Mir tut es unglaublich gut, seine vertraute Stimme zu hören.

»Enrik? Ja, Hallo, ähm, ich habe eben Jean-Paul getroffen und nett mit ihm geplaudert. Jetzt komme ich heim. Bin aber komplett abgebrannt und wollte fragen, ob du mir für die Fahrkarte bitte leihweise Geld per Western Union überweisen kannst.«

»Wann?«

»Jetzt?«

»Geht in Ordnung. Spätestens in fünfzehn Minuten hast du genug, damit du nach Hause kommen kannst.«

»Herzlichen Dank. Ich meine, natürlich nur, wenn es euch nichts ausmacht.«

»Was für eine Frage. Wir freuen uns. Du kommst wirklich?«Eine Spur Hoffnung schwingt in seiner Stimme mit.

»Ja, ich komme heim.«

»Madeline«, säuselt er tief bewegt meiner Mutter zu, die sicherlich neben ihm steht, »stell dir vor, unsere Inken kommt endlich wieder nach Hause.«

 

 

 

Montag

 

Langsam rollt der kurze Zug in den Kopfbahnhof ein. Quietschend bremst er ab, bevor er endlich zum Stillstand kommt. Rasch öffnen sich die Türen der Wagons, nachdem das pfeifende Geräusch den eiligen Passagieren signalisiert, dass dies jetzt möglich ist.

In Windeseile steigen die Ersten von ihnen aus und wälzen sich über den Bahnsteig. Jeder ringt um den besten Platz.

Von dieser mitreißenden Welle erfasst, gleite ich ungewollt zwischen hunderten von Menschen eilig zum Stationsgebäude. Unweigerlich erinnere ich mich an die Lottokugeln aus dem Fernsehen, jede von ihnen auf der Suche nach seiner individuellen Bestimmung im Gewirr des riesigen Ziehungstrommel mit nur einem Fangarm.

Niemand möchte auf dem zugigen Bahnhof länger verweilen als unbedingt nötig. Ich erst recht nicht. Auf die eine oder andere Weise allerdings schon.

Kräftig atme ich ein, bleibe stehen und versteife mich innerlich. Für einen Moment verweile ich, weil sich urplötzlich etwas in mir weigert, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Obendrein steigt der vertraute Geruch der Heimat in meine Nase. Was mache ich hier bloß?

Das liegt an dem großen Plöner See, an dessen Nordufer der Bahnhof angrenzt. Idyllisch und vermutlich Deutschlands schönst gelegener Bahnhof. Kein Wunder, dass er oft als Filmkulisse genutzt wird.

Für gefühlsduselige Momente auf einem Bahnsteig mit ankommendem Zug bleibt jedoch wenig Zeit. Das fühlt ähnlich an, als würde ich auf einer Rolltreppe, die nach unten rollt nach oben laufen.

Geht, fragt sich aber wie. Die Menschen, denen ich dabei in die Quere komme, finden das alles andere als intelligent. Oder lustig.

Sie schubsen, stoßen und rempeln, um mich in ihrer Strömung mitzureißen. Alles rings um mich drängt sich unaufhaltsam in die Richtung, in der ihre Liebsten ungeduldig warten. Das ist das weiß gestrichene Stationsgebäude am Ende des langen Bahnsteigs, auf dem die Lottokugeln um die besten Plätze drängeln.

Sie machen die Ziehung der Lottozahlen aufregend, denn ab einer gewissen Stelle, recken alle wie wild ihre Köpfe, um ihre Liebsten zu erspähen. Der Strom der Lottobälle drängt mich notgedrungen mit sich fort.

Für einen flüchtigen Moment schließen sich meine Augen, während ich mich widerwillig der menschlichen Strömung überlasse. Unablässig rede ich mir ein, dass sich hier noch nie alles fürchterlich, winzig und beengt angefühlt hat. Nur eine kleine Zeit vor zwei Jahren.

Diese Gedanken entspannen mich trotz alledem nicht wirklich, weil mein ruhiges, behagliches Leben genau ab dem Moment anfing, in eine abwärts driftende Spirale zu geraten. Unaufhaltsam entgleitet mir seitdem mein Leben. Der dadurch entstandene Sog fühlt sich derart dynamisch an, dass ich mich ohnmächtig fühle. Weil ich keine Kraft habe, mich dem entgegenzustellen, ergebe ich mich.

Ehrlich, dagegen anzukämpfen, erscheint mir auch heute wie die Quadratur des Kreises.

Die Auswirkungen dieses Soges wirken nach. Fortrennen wird zur einzigen Option, weil der Kummer sich andernfalls gnadenlos von innen durch den Körper frisst. Dann sitzt mir die Zeit im Nacken, verfolgt und piesackt mich bis zur völligen Erschöpfung.

Ruppig rempeln mich gestresste Reisende an. Sie betrachten mich als Hindernis, weil ich mein Tempo drossele und ihnen ungelegen kommt. Unsanft stoßen mehrere Ellenbogen in meinen Rücken und die Seite. Taschen prallen gegen meine Beine, böse Blicke treffen mich. Wenn ich mich nicht sofort anpasse und pariere, trampelt mich die Menge nieder.

Dabei liege ich moralisch längst am Boden und möchte mich am liebsten in die erstbeste Ecke verkriechen, die ich finde. Mich kann niemand mehr niedertrampeln. Das habe ich schon selbst getan.

Und zwar ausgiebig.

Nachdem ich das überwiesene Geld in den Händen gehalten habe, habe ich meinen Vater angerufen. Enrik hat einen Freudenschrei unterdrückt.

Wir haben uns seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Vorwürfe mache ich mir deswegen schon genug, denn ich fühle mich als hundsmiserable Tochter.

Allzu gerne würde ich das erste Treffen nach so langer Zeit hinauszögern und drehe mich für einen Moment um, werde aber gnadenlos mitgerissen. Sobald ich wieder in die vorgesehene Richtung laufe, lassen die empörten Blicke der Ankommenden nach.

Das Gedrängel auf dem Bahnsteig lichtet sich allmählich. Sofern ich nicht hier übernachten möchte, sollte ich mich einen Tick zügiger bewegen. Schritt für Schritt arbeiten sich meine Beine daher über den Bahnsteig, der sich sicher genauso kalt und hart anfühlt wie mein Herz.

Genauso starr und mausetot.

Mit jedem Schritt fühle ich mich unwohler und überlege ernsthaft, ob ich fortlaufe. Bis zur Mitte des Bahnsteiges zu gehen, erscheint mir weiter und mühevoller als die Strecke von Paris nach Plön.

Eines ist somit klar: Es gibt Wege, die für um ein Vielfaches schwerer zu gehen sind als andere. Es sind die, die ich mir unnötigerweise selbst schwer mache. Das hier ist ein zäher und mühsamer Weg für mich, denn ich gehe ihn beschämt und mit klammen Herzen.

Diese Emotionen begleiten mich, seit ich weggerannt bin. Trotz des räumlichen Abstands haben sie sich nicht problemlos abschütteln lassen.

Am Anfang habe ich nichts als die unerklärbare Angst gefühlt. Danach Beschämung. Am Ende sind beide zu einem riesigen, undefinierbaren Klumpen zusammengewachsen. Je weiter ich gereist bin, desto größer ist der Brocken geworden. Am Ende habe ich mich nicht imstande gefühlt, ihn klein zu bekommen. Zumindest nicht mit Flucht oder Betäubung.

Inzwischen kann ich mich nur noch vage an die Zeit erinnern, in der ich ohne diesen Klumpen gelebt habe. Dieser Brocken fühlt sich an, als ob ich zehn Tonnen Angst hinter mir herschleife.

Das ist der Grund, warum ich jetzt trödele und mir mehr Zeit lasse als nötig. Ich kann meinen Eltern nicht überglücklich entgegenlaufen, denn ich schäme mich abgrundtief.

Durch die gelichteten Reihen der Lottobälle, die nun etwas schwächer umherhüpfen, entdecke ich sie. Arm in Arm stehen sie unweit der Eingangstür, wobei mich das Gefühl beschleicht, dass mein Vater meine Mutter stützt.

Sie wirkt auffallend angespannt. Nervös huschen ihre Augen umher und suchen nach einem Anzeichen von mir. Davon abgesehen, erkenne ich schon von Weitem ihr aschblondes Haar. Inzwischen ist es mit grauen Strähnen durchzogen. Die stehen ihr ohne Frage, was ich aber garantiert nicht erwähnen werde.

Seitdem ich weg bin, habe ich kaum mehr als fünf Wörter mit ihr gewechselt. Wenn überhaupt. Und dann auch nur über banale Dinge.

Immer hinterlassen die Gespräche einen schalen Nachgeschmack. Das liegt an der Kluft, die ich mit meinen gemeinen Worten in ihrem Herzen aufgerissen habe. Sie ist zu breit für mich, um sie problemlos zu überwinden.

Schon gar nicht am Telefon.

Zusammen bildeten Kluft und Schamgefühl ein unschlagbares Team, das sich allzu gerne zur Angst gesellen. Da habe ich keinerlei Mitspracherecht. Dagegen komme ich nur kläglich an. Ich habe mir angewöhnt, es beharrlich zu ignorieren. Dieses Dilemma steuert mich unausweichlich in immer weitere und tiefere Komplikationen, die mir mehr schaden als nützen. Sie machen mir mein Leben zur Hölle, aus der ich jeden Morgen wie aus einem Albtraum vergeblich versuche, zu erwachen.

Doch es bleibt zwecklos.

Enrik erspäht mich und winkt mir zu, während er überschwänglich lächelt. Genau in dieser Sekunde bahnt er sich einen Weg durch die Menschen, weil ich immer noch bummele und er offenbar schneller bei mir sein möchte. Zurückhaltend hebe ich meine Hand zum Gruß.

Jetzt ist es soweit.

In mir wird es eigentümlich still und beklemmend eng. Unerwarteterweise kann ich keinen Schritt weiterlaufen. Ich stoppe und bleibe wie angewurzelt stehen, obwohl ich auch hier den Menschen mit meinem Halt auf den Wecker falle. Erneut stehe ich im Weg und blockiere ihre Hetzerei.

Entschuldigung bitte, dass ich existiere!

Mir gehen die Lebenshektiker so was von auf den Senkel. Die stressen, weil sie nicht bereit sind, um mich herumzugehen, rempeln und stoßen eher, wie sie es sicher auch mit ihren Liebsten tun.

Na ja, was rege ich mich darüber auf. Diesbezüglich trage ich keinen Heiligenschein. Ich weiß.

Behutsam umarmt mich Enrik. Unsicher beantworte ich seine väterliche Umarmung, in der innige Küsschen meine Wangen bedecken. Er ist bewegt und liebenswürdig. Wie gewohnt.

Als wären meine gefühllosen Worte nicht gefallen.

Für eine Sekunde stelle ich es mir genauso vor. Ich bin auf Besuch. Wie mein großer Bruder Hauke arbeite ich in einer anderen Stadt. Meine Eltern holen mich ab. Wir genießen es unglaublich, uns endlich wiederzusehen, umarmen uns herzlich und mich plagt kein schlechtes Gewissen.

Ich bin mir sicher, nach diesem Schema läuft es bei den meisten Reisenden ab, die hier heute abgeholt werden. Nur bei mir nicht.

Enrik freut sich unglaublich, mich zu sehen. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter, um seinen väterlich vertrauten Geruch in mir aufzunehmen. Ich habe ihn schrecklich vermisst. Seine Umarmungen und das unangestrengte, unkomplizierte, norddeutsche Wesen.

Mehr als ich mir eingestehe. Das merke ich deutlich und muss arg mit meinen Tränen kämpfen, damit sie nicht die Oberhand gewinnen.

»Inken. Meine liebe, liebe Inken«, flüstert er und wiegt mich sanft.

Garantiert begreift er nicht, dass ich endlich vor ihm stehe, weswegen er mich mehrmals innig umarmt, als wäre ich ein Trugbild. In unseren kurzen Telefonaten hat er mich nie gebeten, zurückzukommen. Zwischen seinen Worten habe ich diesen Wunsch trotz alledem deutlich herausgehört.

Langsam lockert er die wohltuende Umarmung und ich kann ihm in das Gesicht schauen. Neben den Augen verlaufen kleine Falten. Graue Haare an der Schläfe berichten von den vielen schlaflosen Nächten, die ich gewiss durch meine Abwesenheit verursacht habe. Seine wässrigen Augen, die hektisch über mein Gesicht huschen, betrachten mich gefühlvoll. Das Blau erscheint mir plötzlich um etliche Nuancen blasser als ich es in Erinnerung habe.

Er ist alt geworden. Von Kummer gezeichnet.

Der von Tränen verhangene Blick gleitet noch immer über meine Gesichtszüge, nachdem ich flüchtig zu meiner Mutter schaue. Sie steht neben uns, betrachtet mich ebenfalls und wartet angespannt darauf, dass ich sie begrüße.

In ihrer rechten Hand hält sie einen kleinen Strauß mit blauen Kornblumen. Es sind meine Lieblingsblumen. Sie haben eine tiefe Bedeutung für mich. Ich kenne die Stelle, an der sie wachsen. In der Erinnerung daran atme ich schwer. Für einen Moment schlucke ich, denn ich weiß genau, was sie damit zu verstehen geben möchte.

Meine Iris leuchtet bei hellem Licht beinahe in derselben Farbe, wie ihre. Es ist ein leuchtendes Blau, ähnlich wie ein strahlend blauer Sommerhimmel. Nervös sieht sie zu dem Strauß in ihren Händen hinab, denn sie bemerkt meinen vorwurfsvollen Blick.

Hastig reicht sie mir die Blumen. »Herzlich willkommen, Inken.«

Für einen zaghaften Wangenkuss nähere ich mich, nehme die Blumen entgegen und bedanke mich brav. Sie lächelt nach innen gekehrt und zurückhaltend, erwidert aber meinen Kuss.

Seit ich denken kann spielt sie für mich von beiden Elternteilen die zweite Geige. Mit meiner ungerechten Art habe ich es sie in den letzten Jahren deutlich spüren lassen. Sie hat als mein Prellbock gedient, der mein Unglück bringende Geschwindigkeit nicht stoppen konnte. Und Schlimmeres.

Sie ist das Ventil für all meinen Frust, weil sie …

Ich bin meiner Mutter ähnlicher, als ich es wahrhaben möchte. Nicht nur was die Äußerlichkeiten betrifft, denn meine blonde Haarfarbe und das leuchtende Blau habe ich von ihr geerbt. Je älter ich werde, desto mehr bekomme ich sogar ihre Handschrift. Streckenweise finde ich das unheimlich.

Madeline merkt haargenau, wie sehr mir diese Gemeinsamkeiten gegen den Strich gehen und ich mich eher Enrik zuwende. Obwohl ich sie nicht weniger fürsorglich und liebevoller als ihn erlebe. Auf die eine oder andere Weise komme ich mit Enrik besser klar. Keine Ahnung, wie ich es beschreiben soll. Vermutlich liegt es daran, weil wir in einigen Dingen so unterschiedlich denken.

In die schönen Augen von Madeline zu sehen, wage ich trotz der überreichten Blumen nicht. Ich verliere auch kein einziges Wort darüber, wie unglaublich ihr die silbernen Streifen in ihrem Haar stehen und wie unsagbar interessant sie dadurch wirkt.

Verschämt drehe ich unentwegt die Kornblumen in meiner Hand und denke an die scharfe Kurve, die kurz vor der Ortseinfahrt liegt. Heute Morgen haben sich die Blüten noch sanft im Wind gewiegt, der an dieser Stelle über das Feld weht. Der idyllisch anmutende Ort hat das Unglück in mein Leben gebracht.

Zuvor strotzte es vor allerlei Plänen und frommen Wünschen an die Zukunft.

»Ihr hättet euch um meinetwillen keine Umstände machen müssen. Ich wäre schon angekommen«, murmele ich.

Enrik legt einen Arm um meine Schulter und nimmt mir die kleine Reisetasche ab, in der all meine Habseligkeiten stecken. Auf diese Weise schlägt er mit mir den Weg zum Haupteingang ein, in dessen Nähe der Wagen parkt.

»Wer Kinder hat, der macht sich automatisch Umstände, Kleines. Das beginnt schon im Mutterleib, muss dich aber nicht bekümmern. Wir sind froh darüber, dass du endlich wieder hier bist, darum wollten wir dich unbedingt abholen«, überspielt er lachend meine Unsicherheit.

Mit seinem sonnigen Gemüt heitert er selbst den schlecht gelauntesten Miesepeter auf. Darum mag ich ihn unsagbar gern. Zurzeit bin ich der Partykiller in der Familie.

Angestrengt durchwühlt Madeline ihre Handtasche. Sie tut beschäftigt und sucht etwas Wichtiges darin. Geistesabwesend schaue ich zu. Ihre angespannte Mimik wirkt, als würde sie nicht registrieren, was Enrik sagt. Und wenn doch, lässt sie es sich mit keiner Gemütsregung anmerken.

Nein, Madeline habe ich keineswegs vermisst. Allerdings erlebe sie in meinen Gedanken präsenter als Enrik, den ich geradezu vergöttere. Denke ich an meine Mutter, fühlt es sich nicht unbedingt angenehm an. Eher quälend. Und darauf verzichten sicher alle Menschen gern freiwillig, wenn sie es sich aussuchen können.

Sie ist für mich der Spiegel meiner Fehler. Der, in den ich nicht sehen möchte. Am liebsten hätte ich ihn blind oder zerschlagen, damit ich so weitermachen kann, wie bisher.

Meine Mutter holt mich überall ein. Einerlei, an welches Ende der Welt ich fliehe. Gnadenlos zeigt sie mir meine offene Wunde und quetscht permanent ihren Finger hinein, bis ich vor Ohnmacht laut aufschreien möchte.

Dabei will ich mein Unglück nicht sehen und schon gar nicht daran erinnert werden. Will vergessen, kann aber nicht, wenn ich sie dauernd um mich habe.

Darum bin ich fort.

Jedoch nicht, ohne zuvor meinen glühend heißen Zeigefinger ebenfalls ganz tief in ihre offenklaffende Wunde zu stecken. Genüsslich habe ich ihn darin hin und her gedreht und mir dabei haargenau ihr Gesicht angesehen.

Oh, ja. Ich muss ehrlich zugeben: Damals habe ich ihren Anblick genossen, der schmerzgeplagt gewirkt hat.

Seitdem fühle ich mich furchtbar gemein. Wie eine hundsgemeine, egoistische Tochter.

In einer Ecke meiner Seele spüre ich immer drängender, dass ich nicht mehr lange kann. Ich fühle mich ausgelaugt. Regelrecht am Ende. Ausgebrannt und ausgemergelt.

Heute vor Sonnenaufgang hat es mich beinahe gepackt. Da hätte ich mich am liebsten von einer Brücke fallen lassen. Einzig der sanfte Windhauch, der unvergleichlich zärtlich meine Wange berührt hat, ist mir wie ein gutmütiger Mensch vorgekommen, der einem gestrandeten Wal unermüdlich Wasser über den Rücken gießt.

»Darf ich auf die Insel, bitte?«, frage ich und reiße mich aus meinen Gedanken, die ich auf diese Weise ausradieren möchte.

Ich halte mich bei dieser Frage am Shirt von Enrik fest, den ich mit meinem Arm umschlinge. Überrascht bleibt er stehen. Erstaunt schaut er zu Madeline, die hinter mir steht. Wortlos wechselt er Worte mit ihr.

Auf diese Weise funktionieren meine Eltern. Sie sehen sich an und wissen zu einhundert Prozent, was gerade im Partner vorgeht. Ob er einverstanden ist, ob es Zweifel gibt oder Freudenfeuer. Weder mein Bruder noch ich bekommen mit, was genau sie miteinander ›kommunizieren‹. Aber sie tun es, ich schwöre.

»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, will er wissen und sieht abwechselnd mich und Madeline besorgt an. Er weiß, wie sehr ich mich unter diesem Blick aufgespießt fühle. Aber wer wäre ich, wenn ich es ändern könnte?

»Ja«, antworte ich, wie aus der Pistole geschossen und hoffe, meine Unnachgiebigkeit siegt schnell über seine Skepsis.

»Lass sie doch«, wirft Madeline genauso hastig ein, wie ich mit Ja geantwortet habe. »Ich meine, wenn sie es so unbedingt möchte, warum nicht.«

Gewiss wäre es ihr genauso recht wie mir, wenn wir nicht zusammen unter einem Dach untergebracht sind. Fürs Erste wäre mir das zu heiß. Sicher geht sie davon aus, dass ich denke, sie wäre auf meiner Seite, wenn sie mich darin unterstützt.

Irrtum. Der Blick, den ich ihr zuwerfe, wirkt durchweg herzlos. Sofort senkt sie ihre Lider und sucht in ihrer Handtasche weiter nach etwas Fiktivem.

»Möchtest du denn gar nicht bei uns wohnen? Wir haben dir das Gästezimmer vorbereitet. Da wärst du völlig ungestört«, lockt Enrik und wagt einen behutsamen Vorstoß. Er versucht, mich zu überreden, obwohl er sich per Blick mit Madeline längst geeinigt hat.

Das kann nur in die Hose gehen.

Nein, mir ist nicht sonderlich daran gelegen, so Knall auf Fall mit meiner Mutter unter einem Dach zu wohnen. Mir geht das alles ehrlich gesagt viel zu flott. Bei dem Gedanken bekomme ich auf der Stelle komplett Atemnot.

»Lieber nicht«, beteuere ich.

»Na ja, auf der Insel zu wohnen, könnte problematisch werden. Das Hotel ist ausgebucht und morgen kommen Gäste, die wir dort unterbringen. Wäre es nicht so dringend, hätten wir es anders geplant. Aber so, bleibt uns …«

Ungläubig starre ich mehrere Male abwechselnd von Enrik zu Madeline. Ich kann nicht einmal ansatzweise begreifen, was meine armen Ohren anhören müssen.

Sie haben Gäste auf der Insel einquartiert? Sie haben …

»Bitte was?«

»Wir dachten, du wärst lieber bei uns«, schaltet sich Madeline entschuldigend ein und sieht zugleich auf ihre Hände hinab.

Warum um Himmels willen gehen sie davon aus, dass ich lieber bei ihnen wohne als auf der Insel? Vorerst habe ich mich auf Distanz eingestellt und schlagartig fühlt sich auf Schlag alles beengt, aufdringlich und belastend an.

Du lieber Himmel. Das geht fantastisch los.

Trotzig verschränke ich die Arme vor meiner Brust. »Ihr dachtet? Nun, da kann ich euch getrost sagen: falsch gedacht. Ich wohne auf der Insel oder ich steige in den nächsten Zug, der von Gleis eins abfährt. Egal wohin und überhaupt: Seit wann werden Gäste auf der Insel untergebracht? Das ist unser Zuhause und kein Hotel.«

Durch meine viel zu enge Kehle steigt ein unsagbar beißendes Etwas aus dem rebellierenden Magen auf. Es brennt wie das Höllenfeuer. Um mich, tontechnisch gesehen, nicht noch einmal bei meinen Eltern zu vergreifen und einen weiteren, tiefen Graben aufzureißen, beiße ich mir gewaltig auf die Zunge. Die aufsteigende Wut zu unterdrücken, erfordert allerdings all meine Selbstbeherrschung, daher atme ich tief ein, um nicht zu explodieren.

Hotelgäste auf unserer Insel, das geht absolut gar nicht und gab es noch nie. Die Insel ist für Gäste noch nie Thema gewesen, weil sie Privatbesitz der Familie ist.

Warum quartieren sie also ausgerechnet jetzt Gäste ein?

Zunehmend verzweifelt hebt Madeline ihre Achseln und antwortet: »Wie dein Vater bereits gesagt hat, ist es in diesem Fall extrem wichtig. Und noch ist es unsere Insel, Inken. Vergiss das nicht.«

»Das mache ich nicht mit. Es ist mir egal, ob ihr Gäste einquartiert habt oder nicht. Und klar ist es eure Insel. Klar habe ich kein Mitspracherecht und bin lediglich eure Mieterin. Aber ich wohne auf der Insel. Ich, hört ihr? Auch jetzt. Kapiert? Wenn nicht drehe ich augenblicklich um. Ich bin wegen der Insel hergekommen«, rufe ich lauter werdend, was zunehmend gepresst klingt, weil ich mich stark beherrschen muss.

Innerlich koche ich am Siedepunkt.

»Was machst du nicht?«

Enrik spricht leise und gedämpft, damit ich nicht noch mehr aufdrehe. Mittlerweile stehen wir vor der großen Eingangstür, die zum Parkplatz, Taxistand und zur Bushaltestelle führt.

Ungeachtet des enormen Gedränges hier, bleibe ich mitten im Weg stehen. Abwechselnd starre ich beide an und versprühe auf diese Weise meine treffsicheren Giftpfeile auf ihre elterlichen Herzen. Keiner der beiden reagiert jedoch darauf.

Mühelos prallen sie an ihnen ab, als wären sie Lotosblätter.

In Ordnung, in diesem Fall muss ich eben kurz einmal deutlicher werden. Ich trete näher zu Enrik und taxiere ihn. Dabei steigt mir sein Eau de Parfum in die Nase, sobald ich mich herunterbeuge, um meine Tasche zu greifen.

Ich liebe den Duft seines Parfüms. Schon immer. Wahrscheinlich lege ich mir einen Flakon davon zu. Höchstwahrscheinlich erweist er sich als nützlich, wenn ich in der Ferne Heimweh bekomme. Dann kann ich daran riechen und mich ihm nah fühlen. So tun, als wäre alles in bester Ordnung. So tun, als hätte ich keine Probleme, vor denen ich andauernd weglaufe, weil ich keine adäquate Lösung dafür finde.

Ich zerre und ziehe am Griff der Tasche, doch er lässt nicht los, sieht mich an und fragt ruhig: »Was willst du?«

»Hörst du mir nicht zu? Scheinbar nicht. Echt typisch«, schreie ich ärgerlich.

»Ich höre nichts. Und ja, niemals höre ich dir zu. Wie komme ich dazu, meiner starrköpfigen Tochter zuzuhören. Welcher Teufel würde mich da reiten?«, entgegnet er. Gerade so, als würde ich an dieser Stelle keine Szene aufführen.

Er bleibt hartnäckig und hält meinem Gegendruck stand. Das ist eine der wenigen Eigenschaften, die er mir vererbt hat. Keiner von uns gibt schnell auf oder kann verlieren, ohne einen entsetzlich zwickenden Verdruss in der Lendengegend zu verspüren.

»Gib mir sofort meine Tasche! Es war eine absolut bescheuerte Idee, herzukommen. Ich bin so blöd. Und ja, du hörst mir nicht zu. In letzter Zeit frage mich sowieso, warum du damals nicht einfach dein Zeugs in die Toilette geschossen hast. Da wäre ich euch erspart geblieben. Die Welt wäre ein friedlicher Ort und ihr hättet haufenweise Probleme weniger.«

Ich wende meinen Blick zu Madeline, die mutlos und erschrocken zu Enrik aufsieht. Gleich wird sie alles tun, damit ich hierbleibe. Sie wird einschreiten, was ich eindeutig an dem flehentlichen Blick erkenne, den sie meinem Vater zuwirft.

Eiskalt nutze ich an dieser Stelle ihre Schwachstelle aus, um an mein Ziel zu gelangen. Im Augenblick könnte allein sie Enriks Vaterherz erweichen.

Und ich weiß es.

»Enrik, lass sie doch um Himmels willen auf die Insel. Ist dir das wert, dass sie diese schrecklichen Dinge sagt? Es gibt doch ausreichend Platz für alle drei und solange es Inken nicht stört, wenn Gäste kommen …«

»Woher willst ausgerechnet du wissen, was mich stört?«, fahre ich herum, obwohl ich eben dank ihrer Hilfe das erreicht habe, was ich sehnlichst begehre.

Ich schaue direkt in ihre Augen, die entsetzt über meinen plötzlichen Angriff geweitet in meine blicken. Zwei klare, strahlend blaue Kornblumen starren mich an, als wäre ich der Leibhaftige. Ihrem Gesicht entweicht alle Farbe und in der Mimik steht deutlich die Angst geschrieben, ich könnte tatsächlich in den nächstbesten Zug steigen.

Ohne jeden Zweifel würde ich das machen. Meine Mutter, ahnt, dass meine Worte keine leeren Phrasen bleiben. Schließlich bin ich schon einmal bei Nacht und Nebel von der Familienbildfläche verschwunden.

Ich bin aus ihrem Holz geschnitzt. Und rasend vor Wut.

Enrik dreht mich ruppig an meinem Arm herum. Ich erkenne seine erbosten Gesichtszüge. »Sage mal. Wie redest du mit deiner Mutter?«

Er hält immer noch stand?

»Gib mir meine Tasche oder ich mache euch in zwei Sekunden eine gewaltige Szene«, drohe ich, obwohl ich bereits eine aufführe.

Einige Passanten mustern uns verstohlen, weil sie Wortfetzen unseres Gespräches aufschnappen. Meine Eltern kennen beinahe jeden der Passanten, die zu uns sehen. Ich merke, wie unangenehm es ihnen ist, derart aufzufallen.

»Was willst du?«, fragt Enrik noch einmal. Diesmal jedoch eindringlicher. Er kommt etwas dichter und fixiert meine Augen. »Uns sagen, wir hätten uns in jener Nacht beherrschen und uns nicht lieben sollen? Wer bist du, um das zu entscheiden? Warum bist du hergekommen, Inken?«

»Ich möchte auf die Insel. Darum bin ich hergekommen. Für jene Nacht im August tragt ihr die Konsequenzen. Ich wurde nur mit reingezogen. Tut mir leid, wenn ich nicht so geraten bin, wie ihr es euch damals rosarot ausgemalt habt«, antworte ich wahrheitsgemäß und richte mich auf Maximalgröße empor.

Ich stehe jetzt ungefähr so, wie ich heute beim Morgengrauen auf der Bogenbrücke gestanden habe. Meine Körpergröße misst einen Meter fünfundsiebzig und die wollten sich am liebsten in die Seine fallen lassen. Entschlossen schaue ich in die Augen meines Vaters, denn eine andere Option, als zu springen, hat sich erst mit der sanften Windbö aufgetan.

Die Insel ist mein Zuhause gewesen, bevor ich alles stehen und liegen gelassen habe, um wie ein feiger Hase davonzulaufen. Für den Augenblick möchte ich mich dort verstecken, wo alles den Anfang genommen hat. Ich kann mir keinen besseren Ort dafür vorstellen. Nur dort gibt es genug dunkle Ecken, in die ich mich verkriechen kann und die obendrein keine langen, angsteinflößenden Schatten werfen, wie die, die in der Ferne lauern.

Ich muss dort sein. Unbedingt. Jetzt gleich, sonst springe ich am Ende doch noch Hals über Kopf von irgendwo runter.

Er prüft die Ernsthaftigkeit meines Wunsches und wägt nebenbei Vor- und Nachteile miteinander ab. Mit seinen verblassten Augen sieht er durchdringend in meine. Das macht er immer, wenn er sich keinen Rat weiß und eine akzeptable Lösung für beide Parteien sucht.

Gleich gibt er nach. Das ist eindeutig das letzte Aufbäumen.

Ich bin beinahe am Ziel.

Im Endeffekt bin ich eine von den Töchtern, die ihren Willen mit der Faust durchsetzt. Erst habe ich es bei meinem Vater ausprobiert und die Technik später bei den Jungs verfeinert. In Paris wäre ich ohne diesen Kniff aufgeschmissen gewesen.

Ich bin nicht verwöhnt, weiß aber in gewisser Weise, wie ich bekomme, was ich begehre. Sicherheitshalber richte ich mich noch ein paar Zentimeter mehr auf, um meinem Wunsch Nachdruck zu verleihen.

In Zeitlupe wende ich mich zum Bahnsteig und gehe gemessenen Schrittes. Zu verlieren habe ich zunächst nichts, falls sein Herz sich dadurch nicht erweichen lässt.

Klar, benehme ich mich die ganze Zeit wie eine ungezogene Dreijährige. Eine, die bockig reagiert, weil sie den knallbunten Lolli an der Kasse nicht bekommt. Wäre es mir aber nicht derart wichtig, würde ich mich nicht auf die Hinterbeine stellen. Ich möchte auf die Insel oder wieder fort.

Genau das deute ich jetzt mit einer Gehbewegung an.

Um auf die Insel zu kommen, bin ich in aller Herrgottsfrühe in Paris in den Zug gestiegen, habe mich in überfüllte, stickige Abteile gequetscht und mir stundenlang den Hintern platt gesessen. Die wenigen Habseligkeiten, die in meiner Tasche verstaut sind, würde ich notfalls zurücklassen. Ohne zu zögern. Ich würde irgendwohin gehen. Auch, wenn es wieder eine Brücke wäre.

Schließlich bin ich ein Wal und muss dringend an Land.

Enrik hält mich an meinem Arm zurück, nachdem ich einen Fuß entschlossen vor den anderen setze. Über meine Schulter sehe ich ihn kurz an und senke den Blick zu seinen Fingern, die sich fest um mein Handgelenk schließen.

»Inken, bitte geh nicht wieder. Es tut mir schrecklich weh, dich so zu sehen«, flüstert er gramgebeugt.

Jedes Wort kaufe ich ihm ab.

---ENDE DER LESEPROBE---