Der Napoleon der Wirte - Richard Süßmeier - E-Book

Der Napoleon der Wirte E-Book

Richard Süßmeier

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Beschreibung

Richard Süßmeier, eine der markantesten Persönlichkeiten Münchens, ist als der Napoleon der Wirte bekannt, In seiner Biographie erzählt er mit deftig bayerischem Humor und schlitzohrigem Witz, wie er aufstieg vom "Wirtsbua" zum gefeierten Wiesnwirt, auf dem Höhepunkt abstürzte und seine Wiesn-Konzession verlor. Dieses Tief hat er längst überwunden und ist heute vielseitig engagiert, beispielsweise als gefragter Festredner. Er berichtet von heiteren wie auch tragischen Ereignissen und lässt die Kleinen und die Großen Bayerns Revue passieren, vom schwerhörigen Schneider bis Franz Josef Strauß. Sein Humor macht dieses Buch zu einem außerordentlichen Buch der Lebensfreude.

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Seitenzahl: 311

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Richard Süßmeier

Der Napoleonder Wirte

Im Andenken an meine Mama.

Meinen Kindern Barbi und Michiund meiner Frau gewidmet.

Richard Süßmeier

Der Napoleonder Wirte

Geschichten aus dem Lebeneines Münchner Originals

Aufgezeichnet von Bernd Dost

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Nachdruck 2013

© 2007 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Astrid Becker

Umschlaggestaltung: Vierthaler &Braun, München

Umschlagabbildung: photodisc, Guido Krzikowski

Satz: M. Zech, Redline GmbH

Druck: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86882-456-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-490-4ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-879-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unterwww.muenchner-verlagsgruppe.de

eBook by ePubMATIC.com

Inhalt

Erstes Kapitel:Das Licht der Welt

Zweites Kapitel:Heul Hitler

Drittes Kapitel:Der Hochbunker

Viertes Kapitel:Auf den Hund gekommen

Fünftes Kapitel:Der Wirtsbua

Sechstes Kapitel:Die Ambulanten

Siebtes Kapitel:Trauern, feiern

Achtes Kapitel:Närrisches Treiben

Neuntes Kapitel:Der Schnallenball

Zehntes Kapitel:Der Traum von der Wiesn

Elftes Kapitel:Die Wiesn-Baracke

Zwölftes Kapitel:Eine Gans für ein Hendl

Dreizehntes Kapitel:Die Abfuhr

Vierzehntes Kapitel:Das Du

Fünfzehntes Kapitel:Der Schankbaron

Sechzehntes Kapitel:Die Bewerbung beim Herrn Kommerzienrat

Siebzehntes Kapitel:Der Wirtsregent und der Vergnügungswart

Achtzehntes Kapitel:Ein Bier hat ein Gesicht

Neunzehntes Kapitel:Der Abschied von der Mama

Zwanzigstes Kapitel:Den Vogel abgeschossen

Einundzwanzigstes Kapitel:Mein ruhiger Tag

Zweiundzwanzigstes Kapitel:Die Weißwurst in der Großmarkthalle

Dreiundzwanzigstes Kapitel:König Ludwig und Richard Wagner

Vierundzwanzigstes Kapitel:Bierfrei

Fünfundzwanzigstes Kapitel:Eine Frage der Ehre

Sechsundzwanzigstes Kapitel:Die entführte Braut

Siebenundzwanzigstes Kapitel:Vogeljakob und Knödelgesicht

Achtundzwanzigstes Kapitel:Gauweiler sieht dich

Neunundzwanzigstes Kapitel:Das Bierwunder von München

Dreißigstes Kapitel:Razzia und Aus

Einunddreißigstes Kapitel:Verbannt in alle Ewigkeit

Zweiunddreißigstes Kapitel:Keine Krapfen mehr

Dreiunddreißigstes Kapitel:Wörnbrunn brennt

Vierunddreißigstes Kapitel:Was bleibt

Erstes Kapitel:

Das Licht der Welt

Beim besten Willen kann ich nicht behaupten, dass ich am 22. August 1930 das Licht der Welt erblickte, denn es war Nacht, als es soweit war. Ich könnte höchstens behaupten, dass ich ein elektrisches Licht erblickte, und dass ich froh war, dass ich da war. Meine erste Umgebung war sehr freundlich, und alles war sehr sauber. Anwesend bei meiner Geburt war meine Mama, außerdem noch geschultes Personal der Klinik an der Maistraße.

Ich bin also, um es zusammenzufassen, im August in der Maiklinik in München auf die Welt gekommen. Ich hätte natürlich auch nichts dagegen einwenden können, wenn ich im Mai in der Augustenstraße auf die Welt gekommen wäre. Es gibt Dinge im Leben, die muss man einfach hinnehmen. Obwohl es auch manchmal Dinge gibt, die man nicht hinnehmen kann.

Nach ein paar Tagen Klinikaufenthalt wollte meine Mama wieder nach Hause. Ich hatte nichts dagegen, war sehr gespannt, mein Zuhause kennenzulernen. Das Taxi brachte uns in das Kapuzinereck, einem kleinen Wirtshaus am Baldeplatz. Diese erste Fahrt in meinem Leben, die in ein Wirtshaus führte, sollte richtungsweisend für meine spätere Berufslaufbahn sein.

Zuerst schaute ich, dass ich auf die Beine kam, was mir im Lauf der Zeit auch gut gelang, obwohl mich später so mancher Großkopferte von den Beinen holen wollte. Für meine alsbald fällige Taufe lag die Maximilianskirche günstig, sie war von der Pfarrei her zuständig. Die Maximilianskirche liegt unmittelbar an der Isar, sodass ich mich Zeit meines Lebens rühmen kann, mit echtem Isarwasser getauft worden zu sein.

Ohne mein Einverständnis einzuholen, war für mich der Vorname Josef vorgesehen, da als Taufpate ein Onkel gleichen Vornamens ins Auge gefasst war. Er schied nach längerer Beratung für das Amt des Taufpaten aus, weil die Familie sich erinnerte, dass er schon einmal, nämlich bei der Taufe meines älteren Bruders Ernst den hierfür festgelegten Termin versäumt hatte. Er war kurz nach seiner Ankunft im Münchner Hauptbahnhof beim nahe gelegenen Großwirtshaus Mathäser gestrandet, wo er nach dem Weg zur Kirche fragen wollte.

So fiel das Los auf seine Frau, also auf meine Tante, die sich für diese Aufgabe bereitwillig und gerne zur Verfügung stellte. Allerdings hieß meine Tante Centa und mit diesem Vornamen hätte ich es wahrscheinlich nicht leicht gehabt in meinem späteren Leben. Selbiges ging auch meiner Tante und meiner Mama auf, und sie beschlossen, mich auf den Namen Richard taufen zu lassen. Wenngleich die beiden Schwestern auch sonst nicht immer einer Meinung waren, in diesem einen Falle waren sie ein Herz und eine Seele: Sie schwärmten beide für den soeben in München gastierenden weltberühmten Tenor Richard Tauber.

Da hatte ich zum ersten Mal richtiges Glück in meinem Leben. Denn gleichzeitig sang für die Münchner der nicht minder berühmte Beniamino Gigli. Obwohl: Beniamino Süßmeier wäre auch nicht von schlechten Eltern gewesen.

Nach der Taufe ging es wieder zurück in das Kapuzinereck, dem kleinen Gasthaus, das meine Eltern als Wirtsleute betrieben. Mein Vater war ein ausgezeichneter Metzger und Wirt, meine Mama eine exzellente Köchin, besser hätte ich es nicht treffen können. Als Bodyguard diente mir eine gutmütige Dogge, die Alma, die nur einen Nachteil hatte, nämlich den, dass sie mir hin und wieder die Wiener Würstl wegfraß, die man mir in die Hand gedrückt hatte.

Ein Jahr nach meiner Geburt bekam ich Gesellschaft in Gestalt meines jüngeren Bruders Walter. Nun wurde das Kapuzinereck für uns alle zu eng, und meine Eltern bewarben sich für den geräumigeren Straubinger Hof in der Blumenstraße.

Auf diese Weise bekam ich im Juli 1932 eine neue Adresse. Ich war knapp zwei Jahre alt. Unsere Wohnung lag im Rückgebäude des Wirtshauses, und ich wuchs in den ersten Jahren mit bayerischem Bier und bayerischen „Schmankerln“ auf. Sie müssen schon lang suchen, bis Sie sich zum Ursprung des Wortes „Schmankerl“ durchgelesen haben. In den g’scheiten Büchern wird der Begriff als „Leckerbissen“ erklärt. Doch das Wort „Leckerbissen“ kommt einem Bayern schwer über die Lippen. Das liegt weniger am „Bissen“, denn so wie wir sagen:

„I hob heit no koan Tropfa trunka“,

sagen wir auch:

„I hob heit no koan Biss’n obibracht“,

weil man am Vortag möglicherweise zu viele „Leckerbissen“ obidruckt, auf Hochdeutsch: „vertilgt“ hat. „Lecker“, so was sagt ein Bayer nicht – nicht ums Sterben.

Er sagt, wenn er schon loben will, vielleicht

„Guat schmeckt’s“,

aber „lecker“, nein, lieber beißt er sich die Zunge ab. „Lecker“ gibt’s für einen Bayern nur in dem einzig möglichen Zusammenhang: „der kann mi am A… lecka.“

Woher der Leckerbissen kommt, das wissen wir. Aus dem Norden und dem Westen Deutschlands. Im Rheinland gibt es sogar – Sie werden es nicht für möglich halten – lecker Jungs.

Als Kind war ich immer davon überzeugt, kein anderer würde seinen Beruf so gut ausüben wie mein Vater oder meine Mutter. Die Würste, die mein Vater gemacht hat, waren die besten überhaupt. Meine Mutter hat am besten gekocht, keine Frage: Die Mutter war die beste Köchin, und der Vater war der beste Metzger. Es gab damals kaum eine Wirtschaft in München, wo der Wirt nicht selber seine eigenen Wurstwaren hergestellt hätte. Der Vater ist von seinen Gästen sehr honorig behandelt worden. Er war lustig, fröhlich, hat die Leut’ immer unterhalten. Er war für sie nur „der Michl“. Viele Geschichten hat er erzählen können, und auch selber einige erfunden, deftige G’schichterl. Die Mama wollte nicht, dass wir ins Lokal hinausgehen und die Sprüche der Gäste oder gar die meines Vaters hören. Die waren mehr für ausgewachsene Mannsbilder gedacht: Herrenwitze würde man wohl sagen.

Meine Mutter war sehr abhängig von meinem Vater. Er war derjenige, der, wenn man es hochtrabend formulieren würde, die Politik bestimmt hat. Was der Vater gesagt hat, das ist dann auch gemacht worden. Es wurde zwar vieles untereinander besprochen – aber die „Richtlinien“ der Politik hat der Vater festgelegt. Er war auch Vorstand beim Verein der Gastwirtsmetzger sowie Obmann der Wirtschaftsgruppe Gaststätten, so hieß das im Dritten Reich. Da habe ich dann mit ihm und meinem älteren Bruder Ernst Informationsblätter und Benachrichtigungen verteilt, im Dritten Reich ist ja alle Augenblicke irgendeine Information rausgegangen. Und so habe ich dann diese ganzen Wirtshäuser in dem Bezirk, in dem mein Vater Obmann war, kennengelernt. Und habe sie heute noch im Kopf. Die Wirtshäuser, die gar nicht mehr existieren.

Der Vater hat es zu etwas gebracht. Er ist aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen, war verwundet, hatte zu dieser Zeit noch keinen Beruf. Später hat er sich dann emporgearbeitet. Er wollte mehr, wollte immer weiter aufsteigen. Wir waren überzeugt, dass wir eines Tages eine größere oder eine große Wirtschaft bekommen. Das hat er in mich hineingelegt.

Mein erster Vorsatz in meinem Leben war, die größtmögliche Unabhängigkeit zu erreichen. Ganz unabhängig ist man nie auf der Welt, man ist immer von allem Möglichen abhängig. Ich habe das nach dem Tod meines Vaters spüren müssen, dass man meistens der Dumme ist, wenn man abhängig ist. Derjenige, der möglichst unabhängig aufrecht steht, führt ein ganz anderes Leben – als g’standenes Mannsbild. Die größtmögliche Unabhängigkeit, das war es, was ich erreichen wollte. Unabhängig sein, selbstständig sein.

Ich will Ihnen zwei Beispiele geben: Meine Frau Gitta, unsere zwei Kinder, Michael und Barbara, und ich wohnten Anfang der sechziger Jahre in der Schleißheimer Straße. Eines Tages wollten die Kinder hinaus zum Spielplatz hinter dem Haus. Doch die rückwärtige Türe war zugesperrt, weil die Hausmeisterin der Meinung war, die Kinder würden zu viel Dreck hereintragen. Sie hatte die Tür einfach abgesperrt. Jetzt mussten die Kinder immer vorne die Ausfahrt der Tiefgarage überqueren, und das war sehr gefährlich, weil die Autos mit hoher Geschwindigkeit herauf fuhren. Da habe ich mir gesagt: Nein, ich werde dafür sorgen, dass wir nie mehr von einer Hausmeisterin abhängig sind.

Jetzt ein zweites Beispiel: Unser Wirtshaus, der Straubinger Hof, war zur Hälfte zerbombt, die rückwärtige Seite mit dem Stiegenhaus lag in Trümmern, notdürftig war einiges wieder aufgebaut worden, und wir hatten eine Wohnung im ersten Stock, mit einem Ofen im Bad, den man mit Briketts geschürt hat. Meine Mutter verlangte daher von der Brauerei einen Durchlauferhitzer. Da sagte der von der Brauerei Zuständige zu meiner Mama:

„Ja, meine liebe Frau Süßmeier, dann müssen S’ z’erst a bissl mehra Bier verkaufen, bevor wir Ihnen einen solchen Durchlauferhitzer hereinstellen können.“

Von einem solchen Menschen oder von der Zahl der Hektoliter möchte ich wirklich nicht mehr abhängig sein. Die Unabhängigkeit, die Freiheit! Das ist das Entscheidende. Dass ich entscheide, was gemacht wird, und wo etwas investiert wird, und wo ich es einfacher haben will, und wo ich es besser haben will. Dass ich das entscheide und nicht ein Gremium, das dann sagt:

„Ja, des geht nicht, Herr Süßmeier.“

So betrachtet war der jährliche Aufbau meines Zeltes auf der Wiesn immer ein Erlebnis, wenn man etwas selber in die Hand nehmen kann und selber bestimmen kann.

Aber woher kommt das „Schmankerl“? Der Germanist und Mundartforscher Prof. Andreas Schmeller erklärt das so: Das Schmankerl, oder wie er es nennt „Schmänkelein“ ist das, was vom „Brey oder Mus“ übrig beziehungsweise am Geschirr angebraten geblieben ist.

Oder wie Franz Ringseis (eigentlich: Prof. Dr. Anton Neuhäusler) in seinem „Neuen Bayerischen Wörterbuch“ aufführt: Das „Ramerl“, der Rest oder Rückstand, kommt vom Braten oder auch von der Dampfnudel, in der Pfanne oder im Tiegelrand zurückgelassen. Im Volksmund heißt es:

„Das Graserl vom Stein und das Fleischerl vom Bein sollen das Beste sein.“

Das Graserl überlassen wir dabei gerne den Ziegen oder Gemsen, aber das Fleischerl vom Bein schmeckt uns allen, sofern unsere Zähne nichts dagegen haben.

Man sieht’s und manchmal hört man’s sogar, wenn die Biergartenbesucher an ihren „Spareribs“ herumfieseln.

Das Schmankerl, das haben wir jetzt mitbekommen, ist was „Extrig’s“, scheinbar was Rares. Und: es ist nichts Extravagantes, sündhaft Teures, es ist einfach was Guats.

Was Guats. Was einem besonders schmeckt und besonders uns Bayern. Wir sagen:

„Dieses Schmankerl ess’ ich für mein Leben gern.“

Zweites Kapitel:

Heul Hitler

Bei uns sind die Bäume nicht in den Himmel gewachsen, aber wir haben ein Kindermädchen gehabt, die Toni. Die war allerdings sehr streng, hat sehr auf Disziplin geschaut, besonders darauf, dass unsere Fingernägel sauber sind. Fingernägel-Appell nannte sie das. Denn so schön und scheinbar sorgenlos es sich in einer Wirtsfamilie leben lässt, ein großer Nachteil ist fast immer dabei: Die Eltern haben zu wenig Zeit für ihre Kinder. Bei uns war es nicht anders. Mit einem Kindermädchen wurde versucht, dieses Manko auszugleichen.

Die Toni war in erster Linie nicht für meinen älteren Bruder Ernst, sondern vor allem für uns jüngere Geschwister, also für meinen Bruder Walter und mich, eingestellt worden. Sie war keine besonders auffallende Erscheinung, sie trug eine schwarz gefasste Brille mit runden Gläsern, die ihr ein gouvernantenhaftes Aussehen verliehen. Die Haare hatte sie glatt nach hinten gekämmt, mit einem Dutt als Abschluss. Sie blickte immer streng durch ihre Gläser, sogar wenn sie lachte. Sie ließ uns beiden nichts „nausgehen“, wie man so sagt, wählte für uns die Spielkameraden aus, wobei sie hierbei sehr kritisch vorging. Die Spielkameraden, ob Bub oder Mädel, waren alle miteinander so brav und harmlos, dass ich mich an niemanden mehr erinnern kann.

Toni sorgte dafür, dass wir viel an der frischen Luft waren, was sie dadurch erreichte, dass wir uns meistens an der Isar aufhielten oder zum Englischen Garten wanderten. Lange Wege machten ihr nichts aus. Sie war schlank, rank und sehr gehfreudig. Als Wegzehrung gab es gewöhnlich leichten Tee mit Zitronensaft, Puffreis und gezuckerte Tomaten. Süßigkeiten wie Schokolade oder Bonbons standen bei ihr, und damit auch für uns, auf der schwarzen Liste.

Ja, sie führte ein strenges Regiment, oft zum Leidwesen der Mama, die unter dem harten, aber immer gerechten Drill mehr litt als wir selber. Jedoch, wenn die Faschingszeit kam, war die Toni wie ausgewechselt. Mit Feuereifer machte sie sich daran, uns Kinder zu verkleiden, schneiderte die Kostüme nach ihren Vorstellungen mit eigener Hand und verwandelte uns abwechselnd in stolze Maharadschas, elegante Biedermeiergestalten, farbenprächtige Clowns und kleine Teufelchen. Unsere Mama wiederum war von diesem Klamauk nicht besonders begeistert, für sie grenzte derlei Maschkera an Ausschweifung, zumindest aber an Spinnerei.

Hin und wieder durften wir Brüder zusammen mit der Toni den Onkel und die Tante in der Holledau besuchen. Hier hatten wir das Paradies auf Erden, denn Onkel und Tante waren ständig bemüht, das Erziehungssystem der Toni aufzuweichen. Toni hatte nach der Rückkehr immer alle Hände voll zu tun, den alten Regeln wieder zur Wirksamkeit zu verhelfen.

Eines Tages ging die Toni-Ära zu Ende. Unser Kindermädchen hatte einen soliden Witwer kennengelernt, der die erzieherische Tätigkeit seiner Braut in allem unterstützte. Er korrigierte ebenfalls unsere Ausdruckweise und kontrollierte unsere Fingernägel. Er hatte etwas Militärisches an sich, obwohl er beim Roten Kreuz arbeitete – was der Toni offensichtlich imponierte. Sie landete im Hafen der Ehe, und wir, mein jüngerer Bruder Walter und ich im Kindergarten bei den Armen Schulschwestern im Angerkloster.

Dort waren wir wirklich gut aufgehoben und haben sehr viel gelernt – ob schreiben, rechnen, malen oder an Weihnachten Plätzchen backen. Wir haben uns viel bewegt, im Klosterhof hatten wir Roller und den vierrädrigen „Holländer“, auf dem man sitzend einen Hebel hin- und herschieben musste, damit der dann losfuhr.

Die Schwestern im Kloster waren die Güte in Person; ich kann mich an kein einziges lautes oder gar böses Wort erinnern, das über ihre Lippen gekommen wäre. Mit Engelsgeduld wurde uns beigebracht, dass man nicht mit offenen Schuhbandeln umeinander läuft, dass man sich alle Augenblicke die Hände wäscht, dass man einem anderen Kind nichts wegnimmt und schon gar nicht auf die Nase haut. Und dass man seine nassen Hände über der Schüssel so lange ausschüttelt, bis sie trocken sind. Damit ja kein Tropfen Wasser verloren geht.

Gerne erinnere ich mich an die Schwester Oktavia, die die Ausstrahlung einer über alle Maßen gutmütigen Großmutter hatte, und besonders gern denke ich an die wesentlich jüngere Schwester Stanislava zurück, deren Schönheit, trotz der fast alles verdeckenden Schwesterntracht, sogar einem kleinen Kindergartenzögling wie mir ins Auge fiel und mein Herz höher schlagen ließ.

Als die Kindergartenzeit vorbei war, waren wir traurig. Hätte es Zeugnisse gegeben, wäre bei jedem von uns unter „Betragen“ gestanden: Ein braves Kind. Das sollte sich bald ändern. Die Schulzeit nahte – und der Krieg.

Meine Eltern, die beide den Ersten Weltkrieg miterlebt haben, hatten einen Horror vor diesem Krieg. Meine Mutter wollte von Politik nichts wissen. Sie hatte ja ihre Arbeit, und das war ihr genug. Wenn man sich vorstellt, was die Frauen damals leisten mussten! Es gab ja keine Waschmaschine. Die Wäsche wurde im Keller gewaschen, dann auf den Speicher in den fünften Stock getragen, dort getrocknet und wieder hinuntergeschleppt in die Wohnung. Der Vater hatte mehr Interesse für die Politik, hat aber nie versucht, mich und meine zwei Brüder in irgendeine Richtung zu beeinflussen.

Ich kann mich an die Reichskristallnacht erinnern, wie man es nannte, weil in dieser Nacht das Kaufhaus Uhlfelderverwüstet worden ist. Die Schaufenster waren eingeschlagen worden, SA-Leute „sicherten“ das Geschäft und einer von ihnen verkaufte heimlich die Ware. Entsinnen kann ich mich auch noch, wie sich die Eltern über den Brand in der Synagoge unterhalten haben. Sie waren sehr betroffen. Nicht zuletzt deswegen, weil wir auch jüdische Gäste hatten, Besitzer von Wollgeschäften im Rosental. Auch unser Kinderarzt Dr. Julius Spanier war Jude. Er überlebte das KZ, kam nach dem Krieg zurück und wurde Präsident der israelitischen Kultusgemeinde. Auch Dr. Julius Hamburger, der hoch geschätzte Hausarzt meiner Tante Anni in Wolnzach, war Jude, und die Tante hat immer gesagt:

„Wenn der Dr. Hamburger nicht gewesen wäre, dann hätten wir dich bei deiner Lungenentzündung nicht durchgebracht.“

Also, wir haben von den Juden eine ganz andere Vorstellung gehabt – sie waren honorige Leute, sie waren unsere Gäste. Und plötzlich durften sie nicht mehr in unser Lokal. Sie mussten sich ihr Essen an der Gassenschänke abholen und haben den Judenstern getragen.

Naziparolen wurden uns nur beim Jungvolk eingetrichtert – und das nicht ohne Erfolg. Wir haben uns anstecken lassen. Sie nannten es politischen Unterricht. In der Schule, besonders in der höheren, unterrichteten viele ältere Lehrkräfte – die jüngeren waren alle eingezogen. Diese älteren Lehrer hatten eine reservierte Haltung zu den neuen Machthabern. Die Unterrichtsstunde begann mit dem Hitlergruß „Heil Hitler“. Der Lehrer kam herein, wir sprangen auf, der Lehrer rief „Heil Hitler“, und wir grüßten mit angewinkeltem Ellbogen zackig zurück. Nicht so Professor Braun. Er betrat die Klasse, murmelte undeutlich: „Heul Hitler“. Das konnte kein Schüler verstehen, und so blieb uns der Gruß oft im Halse stecken.

Der berühmte Karl Valentin war ja kein besonders politischer Mensch – na, ganz so genau weiß ich das nicht – aber er hat kaum politische Sketche gemacht. Doch es gibt einen, der geht so:

Karl Valentin betritt das Amtsbüro einer Behörde und grüßt: „Heil …“, er zögert, blickt sich suchend um und fragt: „Wia hoaßt a jetzt wieder?“

Wir lachen heute, doch es gab nichts zu lachen, der Führer und der Krieg waren allgegenwärtig. Bei meiner Aufnahmeprüfung zur „Oberschule für Jungen an der Müllerstraße in München“ 1941 sah die im Fach Rechnen zu lösende Aufgabe – im Hinblick auf die „großartigen Erfolge“ des späteren Generalfeldmarschalls Rommel auf dem nordafrikanischen Kriegsschauplatz – so aus:

»General Rommel, der Befehlshaber des Dt. Afrikacorps, verfügt über 500 Panzer, davon 280 schwere und 220 leichte, bzw. Panzerspähwagen. Auf 100 km verbraucht ein schwerer Panzer 180 Liter Kraftstoff, ein leichter 60 Liter. Die Entfernung von Tobruk nach Kairo beträgt 720 km. Rechne die Kraftstoffmenge aus, die General Rommel benötigt, um mit seinen Panzern die Strecke Tobruk – Kairo zu bewältigen.“

Mit einem wahren Feuereifer stürzte ich mich auf die Lösung dieser Rechenaufgabe – an mir sollte es wirklich nicht liegen – und bekam dafür auch eine gute Note. Während ich damit die Aufnahmeprüfung zur Oberschule bestand, kam Rommel allerdings nicht nach Kairo.

Das Benzin war ihm ausgegangen. Das war natürlich ärgerlich, wo ich doch alles so schön ausgerechnet hatte.

Drittes Kapitel:

Der Hochbunker

Der Krieg hat den ganzen Alltag über den Haufen geworfen; ich habe bis Ende ’44 und auch im Februar ’45 die Bombennächte in München miterlebt. Die Angriffe folgten immer derselben Dramaturgie. Zuerst ist der Kuckuck im Radio gekommen. Wenn es während einer Sendung „Kuckuck, Kuckuck“ rief, dann mussten wir den Sender Laibach einstellen. Der Sender Laibach war in der Befehlsstelle des Gauleiters im Bierkeller am Nockherberg untergebracht. Von dort kam in kurzen Abständen der Lagebericht. Also: feindlicher Anflug über der Steiermark – meistens sind sie ja zum Schluss vom Süden gekommen –, da wussten wir noch nicht, welche Stadt es treffen würde. Dann kam die Vorwarnung. Dann wussten wir, es trifft uns. Die Alarmsirenen brüllten, ein auf- und abschwellender Heulton – der ist durch Mark und Bein gegangen.

Wir haben das Glück gehabt, dass einer der wenigen Hochbunker Münchens direkt gegenüber dem Straubinger Hof stand. Wer weiß, ob wir überhaupt noch am Leben wären ohne diesen Bunker – oder ob wir im eigenen Keller überlebt hätten. Im Bunker konnte uns, der Meinung waren wir Kinder und mein Vater, nichts passieren. Diejenige, die am meisten darunter zu leiden hatte, war meine Mutter. Sie hatte entsetzliche Angst. Meine Mutter ist immer samt Gewand im Bett gelegen. Ihr ständiger Ausspruch war:

„Wenn das nur endlich vorbei wäre!Diese Angriffe! Lieber jeden Tag nur eineBrotsuppe als diese Bombennächte!“

Man war ja machtlos, man hat ja gar nichts machen können. Der Vater hatte weniger Angst, er hat auf sein Nachthemd nicht verzichtet. Und so ist er halt tatsächlich einmal, weil es schon höchste Zeit war, im Nachthemd in den Bunker hinüber und hat sich dann von einem Polizisten, den er gekannt hat, dessen Mantel ausgeliehen. So ist er dann mit Nachthemd und Polizeimantel im Bunker gesessen.

Im Bunker haben wir uns sicher gefühlt. Ganz in der Nähe des Bunkers ist einmal eine Bombe runter. Dann ging zwar das Licht aus, aber wir hatten noch eine Notbeleuchtung. Die kräftigen Männer mussten dafür in das oberste Stockwerk des Bunkers steigen und dort mit der Kraft ihrer Arme einen Dynamo betreiben. Am schlimmsten trafen uns gegen Ende des Krieges die Doppelangriffe mit Sprengbomben und Brandbomben. Die Amerikaner kamen beim ersten Mal und warfen Sprengbomben, nach zwei Stunden kamen sie ein zweites Mal und warfen Brandbomben, oder umgekehrt: zuerst Brandbomben und dann Sprengbomben. Das war wirklich schlimm, aber als Bub habe ich merkwürdig wenig Angst gehabt.

Unser Wirtshaus, der Straubinger Hof, lag nahe dem Viktualienmarkt, dort wo es heute auch noch liegt. Wir wohnten im Rückgebäude. In unserer Nähe ist viel kaputt gegangen, die Häuser brannten, der Kustermann am Markt, das ganze Rosental, das Kaufhaus Kepa, Luftminen zerstörten die halbe Reichenbachstraße. Der Vater wollte, dass wir die Wohnung aufgeben, wollte uns in Sicherheit bringen, die Mama wollte nicht, wollte nichts evakuieren. Sie hat gesagt: „Naa, naa – niemals“. Nein, sie sorgte sich um unsere Sachen, es musste alles da bleiben. So ist auch alles da geblieben und auch wirklich alles kaputt gegangen. 1943 zerstörten Sprengbomben unsere Wohnung. Wir waren im wahrsten Sinne des Wortes ausgebombt. Auch das Gartenhaus fiel in Trümmer, RUMMMS. Wir hatten dann wirklich nichts mehr. Damals gab es ja so gut wie keine Möbelgeschäfte mehr, so sind wir halt zum Tandler gegangen und haben alte Möbel zusammengekauft.

Die meisten Fliegerangriffe kamen am Abend oder in der Nacht. Erst gegen Ende des Krieges, als die deutsche Luftabwehr praktisch nicht mehr existierte, flogen die Bomber München am helllichten Tag an. Wir haben mittags drei Gerichte angeboten. Da gab es das sogenannte

– Stammgericht,

– das Hausgericht

– und das Fleischgericht.

Das Stammgericht war besonders beliebt, weil man dazu keine Lebensmittelmarken brauchte. Das Hausgericht war fleischlos und bestand aus sogenannten Nährmitteln wie Nudeln und Gemüse. Zum Fleischgericht gab es meistens ein Rindfleisch, für das 100-Gramm oder 50-Gramm-Fleischmarken hingelegt werden mussten. Ich schrieb die Speisenkarte, und unten setzte ich, der Not gehorchend, hinzu: Die verehrten Gäste werden gebeten, das Besteck selber mitzubringen.

Wie der geneigte Leser unschwer erkennt, war das keine Schmankerlküche, die wir zu bieten hatten. Heute haben die bayerischen Wirte das Schmankerl schon längst für ihre Speisenkarten in Besitz genommen. Die einen offerieren eine eigene Schmankerlkarte, die anderen präsentieren ihren Schmankerlkoch oder sie schreiben einfach auf die Karte: „Unser heutiges Schmankerl“.

Grundvoraussetzung ist freilich, dass das Schmankerl nicht aus der Tüte, Dose oder sonst wo herkommt, sondern nach althergebrachtem Rezept eigens hergestellt worden ist. Also, alles andere als ein „Fastfood“! Ein „Fastfood“ ist kein Schmankerl, wenn’s auch schmeckt. Was zählt nun zu den Schmankerln, den oberbayerischen?

Vergessen wir ein wenig die Zeiten der Not und stellen uns ein Menü zusammen. Wir beginnen – klassisch – mit einer Vorspeise. Eine Vorspeise, oder, hochtrabend ein „Hors-d’œuvre“, hat es früher in Bayern, vom Königshaus und anderen noblen Häusern einmal abgesehen, nicht gegeben. Das einzige was der Einheimische vor dem Essen zu sich nahm, war a Semmel oder a Brez’n.

Die Ausnahme stellte das Hochzeitsmahl dar, vor allem auf dem Land.

Dort gab es sozusagen als Voressen a saures Lüngerl oder das Kalbsgekröse, fein geschnitten und wie ein Lüngerl zubereitet. Das war natürlich nicht als ein Amuse-Gueule gedacht, als Gaumenschmeichler, wie die Übersetzung lautet, sondern das Voressen hatte den schlichten Auftrag, den ersten großen Hunger zu stillen, bevor die Suppe und der Braten serviert wurde.

Das Bürgertum, das gute wohlgemerkt, kannte noch eine eigene Art der Vorspeise, nämlich den Frühschoppen. Ein Ladenbesitzer oder ein begüterter Privatier ging zum Frühschoppen, das gehörte sich so und war begründet:

Zum einen galt es, die Zeit vom Frühstück zum Mittagessen zu verkürzen, und zum anderen war es notwendig, sich für den Mittagstisch den notwendigen Appetit zu holen. Das gelang nur mit einer Auswahl von ziemlich ausgewachsenen Magentratzern: Ein kleines Gulasch, ein Beuscherl, ein Tellerfleisch, ein saures Bries oder Kalbfleisch, Kalbsbratwürstl in der Nudelsuppe, eine Milzwurst in der Brotsuppe, zwei bis drei Weißwürst’.

Wie Sie feststellen, war es fast nur Gekochtes, meistens a bissl sauer angerichtet, damit die Mägen nicht sonderlich belastet und die Geschmacksnerven trotzdem erfreut wurden. So gewappnet konnte man gelassen der Mittagstafel entgegen sehen.

Ich will die Nouvelle Cuisine nicht herabsetzen. Aber wenn der Gast zum Ober sagt:

„Was soll denn der feuchte Teller hier?“

und der Ober pikiert antwortet:

„Mein Herr, das ist die Suppe“,

dann ist das – spaßhaft gesagt – Nouvelle Cuisine.

Bayerische Landsleute, die nicht gerade als besonders gottesfürchtig gelten, antworten, wenn man sie nach ihrem Glauben befragt:

„Des oanzige, wos i glaab is, dass a paarPfund Fleisch a guate Supp’n geb’n.“

Man könnte auch sag’n: „a g’scheite Supp’n.“ Weil alles, was gut is, bei uns auch „g’scheit“ is.

Also, a g’scheite Supp’n muss es sein, keine „Wasserschnalz’n“, und keine „Einäugige“, in der uns nur ein trauriges Fettauge entgegenblickt.

In der kargen Nachkriegszeit nach ’5 habe ich weiter die tägliche Speisenkarte auf eine Tafel geschrieben und wie gewohnt den Satz dazugesetzt: Die verehrten Gäste werden gebeten, das Besteck selber mitzubringen.

Damit war mein Deutschprofessor überhaupt nicht einverstanden. „Das ist falsch!“ sagte er. „Das muss heißen selbst mitbringen. Selber mitbringen ist österreichisch.“ Darum habe ich fortan geschrieben: Die verehrten Gäste müssen das Besteck selbst mitbringen.

Viertes Kapitel:

Auf den Hund gekommen

Unser Gymnasium lag in Trümmern, vom 1. Januar 1945 an fiel der Unterricht in München aus. Also bin ich nach Garmisch, um dort zur Schule zu gehen. Ich hätte sonst ein ganzes Jahr verloren. Allerdings war ich dort nur zwei Monate. Am 28. Februar wurden wir in München ausgebombt. Die ganze Familie zog daher in die Nähe von Wolnzach, nach Starzhausen zu unseren Verwandten, zu Onkel Josef und Tante Anni. Dort ging ich in die Rupprecht-Oberrealschule in Pörnbach zusammen mit dem Maier Poldi, dem jetzigen Ehemann von Caroline Reiber. Da feierten wir am 20. April 1945 – man muss sich das einmal vorstellen, ein paar Tage darauf war der Krieg ja aus – Führers Geburtstag. Es gab Rindfleisch mit gemischtem Kartoffel-Löwenzahnsalat, wobei wir den Löwenzahn am Tag vorher suchen mussten, und so sangen wir unerschrocken am 20. April noch das Deutschlandlied: Von der Maas bis an die Memel, wobei es da ja gescheiter gewesen wäre, wir hätten gesungen: von der Isar bis zum Lech.

Wir haben das Kriegsende in Starzhausen bei Wolnzach erlebt. Wir waren froh, dass es vorbei war, und dass die Amerikaner gekommen sind. Eine SS-Formation hatte noch an der Donau Widerstand geleistet, die amerikanischen Truppen hatten beim Übergang über die Donau Verluste. In Wolnzach hat schließlich eine einfache Bürgerin, Frau Mechtild Vieracker, auf dem Kirchturm die weiße Fahne gehisst: Im gleichen Moment wurde das Feuer eingestellt. So wie in München nicht der Oberbürgermeister, sondern sein Stellvertreter, Oberrechtsrat Dr. Meister, auf dem Marienplatz einem amerikanischen Major das Rathaus übergab. Ohne Formalitäten ging das ab. Wenn das Ende kommt, gibt’s keine Formalitäten mehr.

Das war ungefähr so wie es König Ludwig III. ergangen ist. Da kam ein einfacher Mann und sagte:

„Majestät, Revolution ist. Schau’n S’,dass hoam kumma.“

Majestät ist dann heimgegangen.

In dem Dorf Starzhausen nahe Wolnzach, in dem wir bei Onkel und Tante untergekommen waren, war weit und breit niemand da, der eine weiße Fahne gehisst hätte. Es hat ja auch kein höheres Haus gegeben, also keine Kirche, aus der man eine Fahne hätte heraushängen können. Die Amerikaner schossen in das Dorf hinein, dabei gingen zwei oder drei Häuser in Flammen auf, aber das war eigentlich nur eine Drohgebärde. Wir versteckten uns im Keller, und am Vormittag kam dann die kämpfende Truppe herein – mit dem Gewehr im Anschlag:

„Who is SS?“

Sie nahmen meinen jüngeren Bruder Walter als Kugelfang. Er musste sie durch das Haus führen und ihnen die Zimmer öffnen, weil die Soldaten SS-Männer suchten. Doch die SS war längst Richtung Alpen abgezogen. Meine Mutter hat gezittert und gemeint, dass sie den Walter umbringen werden.

Die G.I.s waren furchtbar laut. Sie haben mit den Gewehrkolben an die Türe geschlagen und sind dann in den Keller hinuntergestürmt. Wir sind sofort aus dem Keller herausgelaufen. Aber sie wollten von meiner Tante nur Eier und die größte Pfanne. Und dann haben sie sich die Eier gebraten.

Im Herbst kehrten wir wieder zurück nach München. Der Straubinger Hof war nach dem Angriff im Februar 1945 stark beschädigt. Das Stiegenhaus deckten wir notdürftig ab und hausten im ersten Stock. Es ging eine Maurertreppe hinauf, eingeschalt mit Brettern und Querlatten, und über der Wohnung gab es ein notdürftiges Blechdach, da hat es immer hereingeregnet, und wir haben den Regen in Töpfen und Schüsseln aufgefangen. Erst im nächsten Jahr, 1946 wurde das Dach wieder eingedeckt, wir hatten das Glück, dass uns ein Goldschmied half, der im Hause wohnte: der Josef Füß. Er hat das goldene Parteiabzeichen entworfen, und Hitler hatte ihn vor 1933 öfters besucht.

Mein Vater konnte in einem Spruchkammerverfahren „auf Grund des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ – so hieß das damals – „glaubhaft“ bestätigen, dass er – obwohl Parteimitglied – nach außen hin nie als Nationalsozialist aufgetreten ist. Er wurde als „Mitläufer“ eingestuft. Meine Mama war eher eine Gegnerin der Partei gewesen. Sie hatte bei einem Streit mit einem Beamten dem Vater zur Seite gestanden und von einer anderen Zeit gesprochen, die für sie, die Nazis, schon noch kommen werde. Sie wurde angezeigt, von der Gestapo verhört und entkam nur knapp einer Verhaftung.

Ich war bei Kriegsende 14 Jahre alt. Im Herbst haben wir den Straubinger Hof wieder aufgesperrt, doch nur mittags. Es gab ja so gut wie nichts. Meine Schule im Dritten Reich, die Oberschule an der Müllerstraße, wurde nach dem Krieg umgetauft in Neues Realgymnasium, so hatte sie früher auch schon mal geheißen. Doch das altehrwürdige Gebäude war nach dem Krieg ein Trümmerhaufen – und so ist die Schule umgezogen in die umliegenden Wirtshäuser, sofern sie noch existierten. Wir haben zwei Räume zur Verfügung gestellt, mit den erforderlichen Tischen, Stühlen und Bänken ausgestattet, sowie den Schülern und dem Lehrpersonal die Mitbenützung der Toiletten ermöglicht. Und ich hatte die Freude, im eigenen Wirtshaus zur Schule zu gehen, in Hausschuhen – und mit meiner Boxerhündin.

Der Hund hat bei uns Tradition. Ein Wirt kommt gern auf’n Hund. Will sagen: zu einem Hund oder manchmal auch bloß zu einem Hunderl. Im Kapuzinereck am Baldeplatz hatte mein Vater eine Dogge namens Alma als Wirtshund. Die Alma war so gewaltig groß, dass sie ohne Anstrengung die Semmeln in den Brotkörberln auf den Wirtshaustischen hätte nachzählen können. Die Gäste im Kapuzinereck regten sich über den Hund nicht sonderlich auf, und wir Kinder haben uns von Anfang an daran gewöhnt, dass die Alma uns die Würstl aus der Hand wegfraß. Später sind die Hunde bei uns dann kleiner geworden, wenngleich ein Boxerhund auch nicht gerade zu den Schoßhunderln zählt.

Ich bin also im Straubinger Hof mit meiner Boxerhündin Anka in die Schule gegangen. Unser Mathematiklehrer, Professor Dr. Thürlings, rief vor Beginn des Unterrichts jedes Mal – wir hatten immer in der ersten Stunde Mathematik:

„Ist der Richard da? Ist der Hund auch da?Dann können wir anfangen.“

Der Hund musste freilich vor der Mittleren Reife die Schule quittieren: Er schlief während der Lektionen gerne tief und fest, aber einmal wurde der Deutschprofessor sehr laut und schrie einen Schüler zusammen. Da ist die Anka aufgewacht, auf den Professor losgegangen und hat ihn zusammengebellt. Daraufhin bat der Rektor des Gymnasiums meinen Vater, mir doch nahe zu legen, auf die Mitnahme des Hundes zu verzichten. Der Hund bekam daraufhin einen Verweis und flog zu meinem größten Bedauern von der Schule. Auch der Hund hat das lange nicht verwunden. Verstanden hat er es sowieso nicht.

Als Wirt war ich später nie ohne Hund. Mein letzter Vierbeiner war ein kleiner Mischling ohne jegliche Erziehung – die Nanni. Sie führte sich auf, als wäre sie in freier Wildbahn aufgewachsen – was wahrscheinlich auch der Fall war. Ohne Leine ging bei ihr gar nix – sie wäre sonst auf und davon. Einer Laufmaschine gleich zog sie davon und mich mit, wenn ich auf meinem Radl beim Forsthaus Wörnbrunndurch den Wald strampelte. Einmal hielten mich zwei ältere Damen auf:

„Sagen S’ amal, ham Sie koa schlecht’sG’wissen, Sie aufm Radl drob’n und der armeHund nebenher?“

„Naa, sag i, denn morgen is es wieder umgekehrt.Da derf er fahr’n, und i muaß renna.“

Vierzehn Jahre lang war diese Nanni mein Haus- und Hofhund. Nanni hatte ich sie deswegen getauft, weil, wenn ich gefragt wurde, ob der Hund auch folgt, ich sagen musste:

„Naa.“

Und auf die Zusatzfrage: Kann man dem Hund nix beibringen, musste ich wahrheitsgetreu antworten:

„Nie!“

Naa-nie! Vor ein paar Jahren blieb mir nichts anderes übrig, als Nanni einschläfern zu lassen. Alle tierärztliche Kunst hatte nichts mehr geholfen. Fragte mich im Wirtshaus Wörnbrunn kurz darauf eine Frau:

„Wia geht’s denn Eahnam Hunderl?“

Ich erzählte ihr, was passiert war.

„Tean S’ Eahna aba glei wieda oan her“,

meinte sie. Darauf ihr Mo mit einer abschlägigen Handbewegung:

„In sei’m Alter werd a si no an Hund her toa.“

Sag’ i drauf:

„Ich brauch doch dem Hund net sag’n, wia alt dass i bin.“

Mein Freund Willy Heide aus Planegg ist ebenfalls ein Hundenarr. Der letzte Hund, ein Schäferhund, den er sich ang’schafft hat, ist ein ehemaliger Polizeihund. Er ist bei der Inspektorenprüfung bei einem Eignungstest durchg’fallen: Er hat zwei Regensburger net von a Paar Wiener unterscheiden kenna.

Also, des braucha S’ jetzt net glaub’n.

Fünftes Kapitel:

Der Wirtsbua

Ich war in der siebten Klasse der Oberschule, als mein Vater starb, 1948, drei Tage vor der Währungsreform. Mir blieb nichts anderes übrig, als von der Schule abzugehen, die Mama konnte man ja nicht alleine lassen. Ich habe dann versucht, der Mutter in der Wirtschaft zur Seite zu stehen. Ich war 17. Der Straubinger Hof war unsere Existenz, unser Dach über dem Kopf. Ich habe mich schon in jungen Jahren gerne mit den Gästen abgegeben. Es machte mir Spaß; es war nicht so, dass ich gesagt hätte:

„Ah, und meine ganzen Pläne sind über denHaufen geworfen worden.“

Ich habe es gerne gemacht. Und habe halt dann versucht, mir nebenbei anzueignen, was man als Wirt braucht.

Der Tod meines Vaters kam für uns alle überraschend. Er hatte eine chronische Bronchitis, und wir glaubten immer, seine Krankheit sei nicht lebensbedrohlich. Dann kam er zur Beobachtung in die Klinik in der Ziemssenstraße. Er war nicht bettlägerig, als er ins Krankenhaus hineingefahren wurde. Er hatte sogar noch ein Taxi genommen – und dann lautete die Diagnose:

„Ihr Vater hat Lungenkrebs. Aber so wie esaussieht, geben wir ihm noch zwei Jahre.“

Das sollte uns wohl ein Trost sein. Denn es wurden keine zwei Jahre mehr, sondern nur noch zwei Wochen.

Die ersten Tage ist es aufwärts gegangen, er nahm sogar wieder zu, aber dann ging es rapide abwärts. Er verfiel – schlimmer hätte es gar nicht sein können. Ich war mit meinem älteren Bruder Ernst bei ihm, wir haben an seinem Bett gewacht. Plötzlich richtet sich der Patient, der in diesem Kammerl neben meinem Vater lag, in seinen Kissen auf und sagt:

„Rechnets damit, dass der Vater stirbt heut’ Nacht.“

Der Vater lag da und hat fantasiert. Vom Ersten Weltkrieg hat er fantasiert, unzusammenhängendes Zeug, er war ja damals verwundet worden, eine Knieverletzung. Dann rief er plötzlich:

„Bringts mich, bringts mich zum Verbandsplatz.“

Wir beugten uns über ihn und er sagte:

„Gehts zum Verbandsplatz, sagts denen, sie sollen mich holen.“

Das waren seine letzten Worte.