Der Schatzjäger - Gesamtausgabe - Ladina Bordoli - E-Book
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Der Schatzjäger - Gesamtausgabe E-Book

Ladina Bordoli

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Beschreibung

Die Gesamtausgabe der beliebten Schatzjäger-Reihe! Was passiert, wenn das Mädchen von neben an mit dem Professor flirtet, welcher sich zufällig als Schatzjäger herausstellt? In dieser Gesamtausgabe erleben Hannah und die Schatzjäger aufreibende Einsätze und Abenteuer. Von Hannah und ihrem Schatzjäger Valerio werden starke Kräfte und Tribute gefordert. So müssen sie sich und ihre Beziehung in den Einsätzen auf der ganzen Welt beweisen...

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Kurzbeschreibung:

Das ist die Gesamtausgabe der beliebten Schätzjäger-Reihe!

Ladina Bordoli

Der Schatzjäger Gesamtausgabe

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2020 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2020 by Ladina Bordoli

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-369-4

www.instagram.com

www.facebook.com

www.edelelements.de

Inhalt

The Hunter 1: In Love With A Hunter

Kurzbeschreibung

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

The Hunter 2: The Hunters Girl

Kurzbeschreibung

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

The Hunter 3: Crazy About The Hunter

Kurzbeschreibung

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

The Hunter 4: The Hunters Fiancée

Kurzbeschreibung

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

The Hunter 5: All You Need Is A Hunter

Kurzbeschreibung

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

The Hunter 6: The Hunters Bride

Kurzbeschreibung

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kurzbeschreibung:

Teil 1 der Reihe "Der Schatzjäger"

Hanna Krüger ist Studienabbrecherin, Lebenskünstlerin und Jobjongleurin. Sie mag dunkle Schokolade, Filmmusik und ... den von einer verwegenen Attraktivität gesegneten Sonderling, der eines Tages das Café betritt, in dem sie arbeitet. Valerio Noberasco ist Gastreferent für Völkerkunde an der nahe gelegenen Universität Zürich. Bevor aus dem kurzen Flirt mit dem Fremden jedoch mehr werden kann, verlässt dieser ohne einen Abschiedsgruß das Lokal. Hanna ist schon enttäuscht, als sie auf der Serviette seines Croissants eine Nachricht entdeckt. Das kryptische Gekritzel weckt ihre Neugierde. Der verschlüsselte Hinweis für ein Date? Aufgeregt folgt sie der von Valerio gelegten Spur. Zu diesem Zeitpunkt ahnt sie allerdings noch nicht, dass dies bereits der Anfang eines völlig unberechenbaren Abenteuers ist. Erst als sie sich mitten in einem Strudel aus Leidenschaft und längst vergessenen Geheimnissen befindet, erkennt sie die Wahrheit: Sie liebt einen Schatzjäger ... einen der besonderen Sorte.

Ladina Bordoli

 Der Schatzjäger:In Love With A Hunter

Teil 1

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2019 by Ladina Bordoli

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart Design

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-294-9

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Kapitel 1

Zürich, Schweiz

Juli 2016

»Guten Tag, was darf es für Sie sein?« Hanna blieb vor dem Fremden an Tisch Sieben stehen und wartete geduldig auf Antwort. Normalerweise schweifte ihr Blick, abgelenkt durch das bunte Treiben auf dem Vorplatz der Universität, in die Ferne ab. Erst wenn der Kunde die Bestellung aufgab, wandte sich ihm Hanna wieder zu und lächelte höflich. Nicht so heute.

Vielleicht war es die Art, wie er sie begrüßte. Der Klang seiner melodiösen Stimme.

Oder dass seine schwarzen, halblangen Haare im Licht der Julisonne beinahe bläulich schimmerten.

Vermutlich aber lag es an der Art, wie er gleich bei ihrer Ankunft an seinem Tisch den Blick hob. Ein warmes Glitzern in zwei geheimnisvollen, dunklen Tümpeln, umrahmt von einem Kranz dichter Wimpern.

Er strich sich unentschlossen über die Stoppeln seines Dreitagebarts. Ein feines Lächeln umspielte die Mundwinkel.

»Was würden Sie denn empfehlen?«

»Nun, das ist einfach. Ich liebe den Café au Lait mit ordentlich Zucker und dazu ein Croissant mit dunkler Schokoladen-Glasur.« Sie fuchtelte mit der Hand durch die Luft, als müsse das Schokoladen-Topping erst noch auf dem Gebäck verteilt werden. Als sich Hanna dessen bewusst wurde, war es leider zu spät. Ihre Mutter hatte sie weiß Gott oft genug auf ihre Marotte hingewiesen. Offenbar ohne Erfolg. Sie strich sich eine imaginäre Haarsträhne hinters Ohr und schwieg.

Der Fremde musterte sie amüsiert, sagte aber kein Wort. Das löste in Hanna unweigerlich einen Plapperimpuls aus. »Man kann sich jetzt selbstverständlich darüber streiten, ob Milch eher für Kälber oder für uns Menschen ist. Ein Croissant ist auch nicht gerade die figurbewusste Variante einer Zwischenmahlzeit ... wenn ich Sie so ansehe, na ja, Sie sind sehr sportlich. Beneidenswert sportlich. Wir haben natürlich auch Karotten-Rote-Beete-Saft und vegetarische Vollkorn-Bagel. Ist sogar unser Monatshit, finden Sie auf Seite ...«, sie beugte sich über den Tisch, blätterte in der Menükarte und tippte mit dem Finger auf besagte Stelle, »Drei. Voilà.«

Er stieß ein belustigtes Lachen aus. »Herzlichen Dank, aber wissen Sie was? Ich verlasse mich auf Ihr Urteil. Ich nehme den gezuckerten Milchkaffee und die figurschädigende Snack-Variante.« Er schmunzelte, wandte den Blick jedoch keine Sekunde von ihr ab.

Hanna grinste und kritzelte die Bestellung geschäftig auf ihren Notizblock. Nicht weil sie sich diese beiden Dinge nicht hätte merken können, sondern weil sie Zeit gewinnen wollte. Der Fremde hatte eine magische Anziehungskraft auf sie. Sie fand keine passenderen Worte. Irgendetwas an ihm war anders. Die meisten gut aussehenden Männer, die Hanna traf, hätten nach dem Kompliment für ihre sportliche Figur mit ihrem regelmäßigen Fitnesscenter-Besuch geprahlt und daraufhin irgendwelche zweideutigen Bemerkungen gemacht. Sie hätten sich vermutlich tapfer den schrecklichen Gemüsesaft zu Gemüte geführt und sie spätestens beim Bezahlen nach ihrer Telefonnummer gefragt. Nicht dass Hanna sie ihnen gegeben hätte. Sie war wählerisch. Sie flirtete gern, aber am Ende bevorzugte sie doch ihre Freiheit. Kokettieren gehörte einfach zu ihrem aktuellen Job. Meistens dachte sie sich dabei nicht besonders viel.

»Sie scheinen unentschlossen. Gefällt Ihnen meine Wahl nicht?«

Der Fremde riss sie jäh aus ihren abschweifenden Gedanken. »Selbstverständlich!«, beeilte sie sich zu sagen, steckte den Notizblock ein und eilte ins Innere des Cafés. Dabei hätte sie beinahe einen Stuhl umgestoßen. Es gelang ihr gerade noch, das Gleichgewicht wiederzufinden und ihre Kellnerschürze würdevoll glatt zu streichen. Die Terrasse war um diese Tageszeit, es war neun Uhr morgens, rappelvoll. Natürlich ruhten jetzt alle Blicke auf ihr.

»Geht schon wieder!« Hanna kicherte verlegen und strich sich – bereits zum zweiten Mal – eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht. Was war heute mit ihr los? Sie war zweifellos chaotisch, gelegentlich sogar unkonzentriert, aber definitiv nicht tollpatschig. Das war nicht ihre Art.

Möglicherweise war es dieses hypnotische Augenpaar an Tisch Sieben. Jedenfalls war Hanna nicht entgangen, dass eine Gruppe junger Frauen, vermutlich Studentinnen, am Nebentisch angeregt tuschelten. Dabei schweiften ihre Blicke immer wieder zu dem Mann in dunklen Jeans und dem steinfarbenen T-Shirt. Ihre leicht geröteten Wangen und das zweideutige Grinsen offenbarten ihre Gedanken, ohne dass sie sie laut auszusprechen brauchten.

»Gott, der sieht aber gut aus!« Das war Elsa, die füllige Buffet-Mitarbeiterin, die den Milchkaffee zubereitete und sich den Hals verrenkte, um auf die Terrasse sehen zu können. Sie zwinkerte Hanna verschwörerisch zu. »Wenn ich noch etwas jünger wäre, wäre das meiner, das verspreche ich dir! Ich mag diese südländischen Casanovas. Man sagt, die seien ...«

Der Café au Lait und das Croissant waren fertig. »Danke Elsa, der Kunde wartet.« Hanna wandte sich ab, bevor sie noch anfing, sich Elsas Ausführungen bildlich vorzustellen. Sie besaß eine sehr lebhafte Fantasie. Ihr Alltag vermochte es meistens nicht, dieser zügellosen Imagination gerecht zu werden, weshalb sie sich oft in Tagträumereien verlor. Da sie heute schon verwirrt genug war, musste das nicht auch noch sein. Schließlich bezahlte man sie für das Bedienen der Kundschaft, nicht für das Wolkenlesen. Obwohl sie Letzteres sehr gut beherrschte.

»So, bitte schön!« Hanna stellte Kaffee und Gebäck vor den Fremden. Dabei nahm sie seinen Duft wahr. Oliven, ein Hauch Zitrone, eine herbe Würze. Sie hatte noch nie etwas Vergleichbares gerochen. Um sich nicht noch mal zu blamieren, wandte sie sich hastig ab und bediente weitere Kunden. Ihr Blick schweifte jedoch immer wieder zu dem Neuling mit dem geheimnisvollen Lächeln hinüber. Eine Sehnsucht machte sich in ihr breit, die sie nicht benennen konnte. Der Fremde kritzelte konzentriert etwas in ein Notizbuch und nippte an seinem Kaffee.

»Schmeckt das Croissant?« Hanna war über sich selbst erstaunt. Bevor er etwas sagen konnte, fragte sie: »Unterrichten Sie an der Uni? Quälen Sie die armen Studenten derzeit auch bei den Semesterprüfungen?« Sie zeigte mit der Hand über die Straße auf das massive Steingebäude gegenüber. Bestimmt war er einer dieser beneidenswert intelligenten Menschen, die sich im Gegensatz zu ihr ohne große Probleme für ein Studium entschieden und es auch zu Ende geführt hatten.

Hanna war keinesfalls dumm, auch wenn man sie aufgrund ihrer naturblonden Haare und ihrer azurblauen Augen oft in die Schublade der hirnzellenarmen Blondinen steckte. Sie war bestenfalls unbeständig. Sie hatte schon zahlreiche Studiengänge angefangen ... und wieder abgebrochen.

Sie war der Meinung, dass man einen Ort verlassen sollte, wenn man alles gelernt hatte, was man dort zu lernen beabsichtigte. Das galt für Ausbildungen, Berufe und natürlich auch Beziehungen.

»Ich bin Gastreferent für Völkerkunde und gebe gelegentlich Kurse an der Uni. Ich nutze die vorlesungsfreie Zeit, um mit den Professoren-Kollegen das kommende Herbstsemester und meine Einsätze zu planen. Und Sie? Sind Sie Studentin?«

Erneut diese wohlklingende Stimme. Eine Frequenz, die dafür sorgte, dass sich bei Hanna sämtliche Nackenhaare aufstellten. Ein wohliges Kribbeln breitete sich in ihr aus.

»Nein, das war einmal. Wird vielleicht wieder. Ich war schon überall. Hier, in Paris, London, sogar in den Vereinigten Staaten. Ich mag Universitäten, nur sind mir ihre Bildungsverordnungen zu kompliziert. Es gibt keine Kurzstudien, keine Sauerkraut-und-Pralinen-Studien ... verstehen Sie?« Erneut fuchtelte sie durch die Luft, als müsse sie ihren Worten Gestalt verleihen. Vermutlich ist das Ganze genetisch, also wozu sich die Mühe machen, es zu unterdrücken?, dachte Hanna.

»Kurzstudien? Sauerkraut-und-Pralinen?« Der Fremde grinste amüsiert, seine Augen funkelten. »Das müssen Sie mir genauer erklären.« Er lehnte sich entspannt auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war wirklich auffallend athletisch gebaut. Ein Eyecatcher ...

»Nun, das ist ganz einfach: Es gibt doch Power-Naps, nicht wahr? Kurze, intensive Schlafphasen, die wirkungsvoller sind, als wenn man mehrere Stunden Zeit zum Schlafen hätte. Genauso verhält es sich mit dem Wissen. Man sollte die Möglichkeit haben, komprimiert zu lernen. Dafür vermehrt mit Querverbindungen. Sauer mit Süß mischen, Philosophie mit Physik. So alchemistisch. Man braut scheinbar Unvereinbares zusammen und kreiert dadurch etwas vollkommen Neues. Etwas Mysteriöses.« Sie hielt verwirrt inne. »Entschuldigen Sie, ich rede dummes Zeug.« Das waren jedenfalls meistens die Kommentare, die Hanna auf ihre Ausführungen zu hören bekam. Begleitet von einem mitleidigen Stirnrunzeln und einem höflichen Lächeln.

»Ich bin Valerio und wer ...«

»Hanna! Ich bin Hanna.« Sie streckte ihm die Hand hin. Eine Spur zu euphorisch vielleicht.

»Du hast interessante Ansichten, Hanna.«

Ihr Name aus seinem Mund. In Hannas Ohren klang es wie eine exotische Melodie. Sinnlich und warm.

Seine Hand war so groß, dass ihre zierlichen Finger problemlos darin Platz fanden. Die Berührung war angenehm. Schon wieder das undefinierbare Kribbeln in ihrem Bauch.

»Hanna! Der Tee für Tisch Vier!« Das war Elsas dröhnende Stimme. Hanna wandte sich hastig ab und beeilte sich, ans Buffet zu gelangen.

»Ganz schön rote Wangen, meine Liebe.« Elsa verzog ihr Mondgesicht zu einem schalkhaften Grinsen. »Ich sagte ja, der Charme der Südländer ...«

Hanna lud die Bestellung für Tisch Vier auf ihr Tablett und servierte den Gästen ihre Getränke. Danach wagte sie erneut einen Seitenblick zu Tisch Sieben.

Er war leer!

Einen Moment lang war es, als ziehe ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen und suchte die Gegend ab. Wie in Zeitlupe sah sie einige aufgeregt gestikulierende Studentinnen zur Eingangstür laufen. Die Sonne stand am Himmel und spiegelte sich am Glas der Armbanduhr eines älteren Herrn ...

Valerio war weg. Einfach weg.

Enttäuschung machte sich in Hanna breit.

Möglicherweise kam er nach Beendigung seiner Gastreferate-Planung wieder? War sie ihm womöglich doch auf die Nerven gegangen, und er war froh gewesen, sich ohne ein Wort des Abschieds davonstehlen zu können?

Hanna spürte, wie ihr Lächeln an Echtheit verlor, als sie sich, um einen höflichen Gesichtsausdruck bemüht, an den überfüllten Tischen der Gäste vorbeizwängte. Sie stellte ihr Tablett auf Tisch Sieben ab und räumte die leere Kaffeetasse und den mit Krümeln bedeckten Croissant-Teller ab. Immerhin hatte ihm ihre Empfehlung geschmeckt. Hanna steckte die Münzen, die sogar noch für ein großzügiges Trinkgeld reichten, ein. Vielleicht war er einfach in Eile gewesen und hatte sich deshalb nicht von ihr verabschiedet?

Plötzlich fiel ihr Blick auf die zusammengeknüllte Papierserviette, auf der das Croissant serviert worden war. Langsam faltete sie das Papierknäuel auf und strich es glatt.

Eine wirre Anzahl von Punkten, dazu vier Zahlen.

Sie steckte die Serviette in ihre Hosentasche. Vermutlich Notizen. Valerio hatte ja die ganze Zeit konzentriert irgendetwas notiert.

Allerdings in ein eigens dafür vorgesehenes Notizheft. Wozu also hätte er die Serviette gebraucht?

Hanna blieb mitten auf der Terrasse stehen und lauschte dem Rattern ihrer neurologischen Zahnräder. Schließlich machte sich ein zufriedenes Grinsen auf ihrem Gesicht breit.

Sie kramte nach der Papierserviette in ihrer Hosentasche und knallte sie Elsa triumphierend auf die Theke.

»Na, was denkst du? Was ist das?«

Irgendwo hinten links verlangte jemand nach der Bedienung. Hanna ignorierte den Gast und blickte Elsa, die sich neugierig über das Gekritzel beugte, gespannt an.

»Eine Telefonnummer?«, schlug sie vor.

»Zu banal«, antwortete Hanna, ohne nachzudenken.

Elsa zuckte nur ratlos mit den Schultern und druckte die Rechnung für den hektisch mit der Hand fuchtelnden Kunden an Tisch Drei aus.

»Hier Schätzchen, beeil dich, sonst rastet der Anzugträger noch aus.«

Hanna grinste und tat es.

Gegen vierzehn Uhr war Hannas Schicht beendet. Sie bevorzugte die Frühschicht. So blieb ihr nachmittags noch genug Zeit, sich mit einem Buch und einem kühlen Getränk ans Ufer des Zürichsees zu setzen und die Sonne zu genießen. Genau das tat sie jetzt. Allerdings fehlte ihr die Konzentration, um in ihrem Roman weiterzulesen. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Valerio. Zwischen ihnen war etwas, sie konnte es aber nicht richtig in Worte fassen. Verbundenheit? Eine stumme Übereinstimmung? Sie hatte den Eindruck, als wäre sie Valerio schon einmal begegnet, als wären sie bereits Freunde gewesen. Verwandt im Geiste, vereint im Herzen. So etwas in der Art. Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass Hanna allmählich einsam war. Ihre letzte Beziehung lag immerhin zwei Jahre zurück. Die einzige Form von Romantik, die sie in ihrem momentanen Leben genoss, war hin und wieder ein Trivialroman. Heroische Männer, problemlose Liebeleien, zügellose Leidenschaft. Möglicherweise war sie mittlerweile schon so realitätsfremd, dass sie einen gewöhnlichen Flirt für ein schicksalhaftes Aufeinandertreffen oder für Bestimmung hielt.

Eine blinde Frau setzte sich mit ihrem Hund auf dieselbe Bank wie Hanna. Sie kramte in ihrem Rucksack nach einem Buch und schlug die erste Seite auf.

Punkte, lauter Punkte.

Plötzlich durchfuhr es Hanna siedend heiß, und sie wühlte hastig in ihrer Hosentasche nach der zerknüllten Croissant-Serviette.

Aber natürlich! Braille-Schrift! Warum war sie nicht eher darauf gekommen? Aufgeregt durchsuchte sie ihre Handtasche. Mit zittrigen Fingern entsperrte sie ihr Handy und googelte das Braille-Alphabet.

Schiff Bürkliplatz. Neun Uhr dreißig.

Und die Zahlen? Vermutlich Koordinaten, denn sie hatte ja keine Ahnung, welcher Schiffskurs gemeint war. Normalerweise begann man bei Norden, oder nicht? Also musste die erste Ziffer für Nord stehen, gefolgt von den Graden, Ost, Süd und West.

Kurze Zeit später besaß Hanna die Lösung.

Die Insel Ufenau.

Ihr Puls raste. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Valerio hatte ihr doch tatsächlich ein Rätsel dagelassen, um sie zu einem gemeinsamen Treffen zu locken! Was für eine außergewöhnlich kreative Art, eine Frau zu einem Date einzuladen!

Sie musste also am Bürkliplatz ein Kursschiff nehmen, das um halb zehn in Richtung der Seeinsel Ufenau losfuhr.

Hanna überlegte. Eine solche Rundfahrt auf dem Zürichsee entsprach einem Tagesausflug. Es war Freitag, und ihre freien Tage waren dieses Mal Montag und Dienstag. Ihr Abenteuer musste also noch zwei volle Arbeitstage warten. Sie seufzte. Und Valerio? Woher wusste er, an welchem Tag sie das Kursschiff besteigen würde? Ob er wohl überhaupt zu besagtem Treffen auftauchte?

Kapitel 2

Am Montagmorgen wartete Hanna gespannt auf das sich nähernde Schiff. Ein frischer Wind schlug ihr entgegen und bauschte den leichten Stoff ihrer bunten Bluse auf. Sie hatte die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug die opulenten orientalischen Ohrringe ihrer Großmutter. Ein Erbstück, welches das intensive Blau ihrer Augen aufgreifen und hervorheben sollte.

Immer wieder kontrollierte sie die Zeit auf ihrer Armbanduhr und drehte sich um die eigene Achse. Sie hätte ihn unter Hunderten Menschen wiedererkannt. Sein Haar, das wie das Gefieder eines Raben glänzte, war in diesen Breitengraden eher selten. Außerdem trug er es entgegen der aktuellen Mode halblang. Seine Erscheinung besaß daher etwas Rebellisches, das Hanna über alle Massen faszinierte. Das passte so gar nicht zu seinem beschaulichen, gutbürgerlichen Beruf. Gastreferent für Völkerkunde. Klang wie Frühstücksflocken ohne Milch – staubtrocken.

Das Schiff legte an. Von Valerio noch immer keine Spur. Langsam machte sich in Hannas Magengegend leichte Nervosität breit. Sie nagte an ihrer Unterlippe und ließ den Blick erneut suchend über die Köpfe der Tagestouristen gleiten. Vielleicht war er schon an Bord? Und wenn nicht? Dann wäre das bestimmt das letzte Mal gewesen, dass sie sich von einer zerknüllten Papierserviette mit Punkten und Nummern dermaßen aus der Fassung bringen ließ.

Das Schiff fuhr los, und Hanna suchte sich einen Platz an der Reling. Das Wasser des Sees reflektierte das Licht der Sonne, als wäre es mit Strasssteinen gesprenkelt worden. Sie schloss die Augen und ließ den Wind sanft wie eine Feder über ihr Gesicht streichen. Plötzlich spürte sie jemanden im Rücken. Sie schlug die Augenlider auf. Eine Hand hatte sich neben ihre auf das Geländer gelegt. Sie wandte sich um und blickte direkt in zwei belustigt glitzernde, unergründliche Tümpel.

»Valerio.« Ihre Stimme klang heiser vor Nervosität.

Er stand kaum einen halben Meter von ihr entfernt, die Haare vom Wind zerzaust. Er schmunzelte verwegen. »Hanna.« Er deutete eine kurze Verbeugung an. »Ich hätte nicht gedacht, dass du das Rätsel so schnell lösen kannst. Ich gebe zu, ich bin beeindruckt.«

Hanna lachte belustigt. »Woher wusstest du, dass ich heute auf dem Schiff sein würde? Du kanntest meine Freitage nicht, zumal sie jede Woche wechseln. Vielleicht wäre es mir aber generell nicht gelungen, die kryptische Botschaft so rasch zu entziffern.«

Er legte den Kopf schief und zuckte die Schultern. »Ich habe geplant, jeden Morgen um neun Uhr an der Anlegestelle zu warten. Die letzte Sitzung mit meinen Berufskollegen fand am Freitag statt. Ich hatte also Zeit.«

»Es war ein Glücksfall, dass ich den Hinweis so schnell deuten konnte. Möglicherweise hättest du zwei Wochen jeden Tag vergebens hier ausgeharrt ...«

»Es gibt keine Zufälle.« Valerios kantiges Gesicht nahm einen ernsten Zug an. »Falls du heute allerdings nicht aufgetaucht wärst, hätte ich dir weitere Hinweise gesendet.« Seine Augen blitzten belustigt auf. Vermutlich stellte er sich gerade vor, welchen Spaß er dabei gehabt hätte, Hanna quer durch Zürich zu lotsen.

»So wie bei einer Schnitzeljagd?«

»Genau.«

Sie musterte ihn. Abgesehen davon, dass er die Blicke aller Frauen auf Deck magnetisch anzog, war er der sonderbarste Mann, der ihr je begegnet war. Er vermittelte ihr den Eindruck, ein Mysterium zu sein, das es zu ergründen galt. Hanna gab zu, dass er ihre Neugier weckte. Sie hatte bisher noch nie einen Mann getroffen, der sich benahm, als wäre er eine hebräische Bibel, die man zuerst übersetzen musste, um in den Genuss ihrer Weisheit zu kommen.

Er lehnte sich lässig neben Hanna an die Reling und hielt den Blick in die Ferne gerichtet. Dabei berührte sein Arm ihren gelegentlich. Es war nicht aufdringlich und wirkte auch nicht geplant. Eher vermittelte es eine Form natürlicher Vertrautheit. Einige Minuten schwiegen sie beide. Es war seltsam, sich einem Menschen so verbunden zu fühlen und ihn gleichzeitig nicht zu kennen. Hanna wollte Valerio keinesfalls verhören, dennoch verspürte sie den Drang, ihn mit Tausenden Fragen zu bombardieren.

»Warum Völkerkunde? Warum nicht Musik, beispielsweise? Oder Kunst? Oder Veterinärmedizin?«

Valerio musterte sie von der Seite. Wenn er grinste, bildeten sich kleine Furchen in den Augenwinkeln, und die Spitzen seiner langen, vollen Wimpern berührten sich beinahe.

»Weil Völkerkunde alles zusammen ist. Musik, Kunst, Medizin, Kultur und Religion. Wie nanntest du es noch? Sauerkraut und Pralinen gewissermaßen.« Er entblößte eine Reihe weißer Zähne, während er schallend lachte.

»Du machst dich lustig über mich!« Hanna stieß ihn scherzhaft in die Seite.

Sofort wurde er ernst. »Das würde ich nie wagen. Du faszinierst mich. Das ist alles.«

Die Antwort war so unverblümt und ehrlich, dass Hanna spürte, wie sie errötete. Betreten senkte sie den Blick und fand keine Worte. Das war sonst gar nicht ihre Art. Sie gehörte zu der schlagfertigen Sorte Mensch. In Valerios Gegenwart fühlte sie sich jedoch seltsam entwaffnet. Ein Gefühl, dass sowohl betörend als auch beängstigend war.

Nach knapp zwei Stunden Fahrt tauchte vor ihnen endlich die Insel Ufenau auf. Das Boot legte an, und sie gingen von Bord.

Valerios Blick schweifte durch die Gegend und tastete die Gesichter der Besucher, die das Kursschiff verließen, ab. Ein bisschen zu kritisch, um arglos zu wirken, fand Hanna, schob den Gedanken jedoch beiseite.

»Warst du schon einmal hier?« Valerio betrachtete sie aufmerksam.

Sie nickte. »Als kleines Mädchen bei einem Tagesausflug der Grundschule. Ich kann mich aber kaum noch daran erinnern.«

»Am besten folgen wir dem Weg entlang der Westflanke der Insel bis zur Bootsanlegestelle im Süden. Danach könnten wir uns auf dem Bootssteg ein Picknick gönnen, aber auch zur Inselmitte gehen und uns die Kirche St. Peter und Paul ansehen. Wie du möchtest«, schlug er vor und berührte Hanna leicht an der Schulter, während er in die beschriebene Richtung zeigte. Sie spürte dort, wo Valerios Finger sie gestreift hatten, ein wohliges Kribbeln. Sie wünschte sich, seine Hand möge bis ans Ende ihrer Tage dort ruhen. Natürlich hielt er sich bei solchen Gesten noch höflich zurück, was Hannas Sehnen umso mehr schürte.

Sie folgten dem Naturpfad, schwiegen und lauschten dem Knirschen ihrer Schritte auf dem Kies. Es hatte etwas Vertrautes und Entspanntes, wenn man sich in gegenseitiger Stille wohlfühlte. Hannas Blick schweifte durch die Gegend. Entlang des Ufers wogte das sandfarbene Schilf friedlich im Rhythmus des Winds hin und her. Satte grüne Weiden und ein Weinberg säumten ihren Weg. Schlussendlich durchquerten sie noch den kleinen Uferwald. Feuchtigkeit und der feine Geruch nach vermoderten Blättern lagen in der Luft. Die Sonne gelangte wohl nur selten zwischen dem Blätterdach der Laubbäume bis an den Boden. Farne wucherten rund um die Baumstämme. Immer wieder flatterte ein aufgescheuchter Vogel davon. Die vorsichtigeren Kollegen hatten es sich in den Baumkronen bequem gemacht und trällerten dort ihre fröhlichen Arien.

Als sie die Anlegestelle im Süden erreichten, bedeutete Valerio Hanna, sich zu setzen. Er nahm seinen Wanderrucksack von der Schulter, kniete sich hin und packte aus.

»Meine Güte, du hast ja wirklich an alles gedacht!«, entfuhr es ihr, als er eine Thermoskanne mit Kaffee, Brot, Käse, Schnittfleisch, Tomaten und Melonen auspackte.

»Milch und ordentlich Zucker für deinen Kaffee«, meinte er zwinkernd und stellte die letzten Zutaten ihres Mittagessens auf den Holzsteg. Danach setzte auch er sich und forderte Hanna auf, sich zu bedienen. Sie war tatsächlich hungrig und bediente sich an den Köstlichkeiten. Valerio beobachtete sie dabei mit einem zufriedenen, jedoch unergründlichen Lächeln.

»Wo hat es dir besser gefallen, in Paris oder London?«, wollte er unvermittelt wissen.

»Das hast du dir gemerkt?« Hanna war erstaunt. Sie hatten eine unverfängliche Konversation unter Fremden geführt, und er hatte jedes Wort behalten. »Das kann man nicht vergleichen. Diese zwei Städte und ihre Bewohner haben komplett unterschiedliche Formen von Charme, aber beide sind auf ihre Weise faszinierend. Frankreich ist das Land der Haute Cuisine und der Mode. Paris hat etwas Edles und Kunstvolles an sich. Nur schon aufgrund seiner imposanten Bauwerke. Quasimodo und seine Esmeralda ... nicht umsonst wird Paris die Stadt der Liebe genannt. Die Franzosen sind impulsiver als ihre nördlichen Nachbarn. So jedenfalls habe ich es wahrgenommen.« Hanna wusste, dass sie bei ihren Schwärmereien oft einen verträumten Gesichtsausdruck annahm. Valerio unterbrach sie nicht.

»London hingegen ist auf seine eigene Art bunt. Große Verbrechen und dunkle Machenschaften auf der einen Seite, wenn ich an Jack The Ripper oder all die geköpften Damen Heinrich des VIII denke. Im Gegensatz dazu hatten sie den wildromantischen Shakespeare. Die Briten sind außerdem sehr höfliche und geduldige Menschen mit einem faszinierenden Sinn für schwarzen Humor. Liegt vielleicht daran, dass sie den schwarzen Tee vergöttern.« Hanna lachte und zuckte dann mit den Schultern, ehe sie fortfuhr. »Keine Ahnung. Beide Orte sind voller Lebendigkeit, Kultur und ... Geheimnisse. Ich liebe Mysterien, musst du wissen.«

»Ist das so?« Valerio musterte sie mit einem Schmunzeln.

»Absolut! Was wäre das Leben ohne verborgene Rätsel, ohne Fragezeichen?« Hanna hatte komplett vergessen, etwas zu essen. Sie biss in das mitgebrachte Baguette und nahm einen Schluck des in der Zwischenzeit beinahe kalt gewordenen Kaffees.

»Und du, wo warst du schon auf dieser Welt?«

Valerio räusperte sich und blickte sie geradewegs an. Seine Augen waren hypnotisierend, aber unergründlich.

»Ich war bereits überall auf dem Globus, auch an internationalen Universitäten. Die Lehrtätigkeit ist jedoch nur ein Teil meines Berufes. Mein Vater besitzt eine eigene Firma, für die auch ich tätig bin. Er ist Kunsthändler, spezialisiert auf archäologische und antike Artefakte. Ebenfalls weltweit.« Valerio schob sich ein Stück Käse in den Mund. »Vorzugsweise bin ich an Orten, die nicht auf Karten verzeichnet sind. Die indigenen Völker, die ich berufsbedingt näher erforsche, sind oft nicht mit einer gängigen Sightseeing-Tour buchbar. Entweder man findet sie allein und bittet um Gastfreundschaft, oder man bekommt sie gar nie zu Gesicht.«

Hanna war fasziniert.

»Willst du damit sagen, dass du zu dieser Sorte Globetrotter gehörst, die mit einer Plastiktüte voller Habseligkeiten auf Reisen gehen und schauen, wo sie unterkommen?«

Valerio lachte. Ein raues, heiseres Lachen, das durch seinen Klang an die Beschaffenheit von Sandpapier erinnerte.

»In früheren Zeiten habe ich das tatsächlich gemacht. Heute, mit dreiunddreißig Jahren, versuche ich, meine Exkursionen etwas sorgfältiger zu planen, was mir allerdings meistens nicht gelingt.«

»Warum nicht?« Hanna war neugierig.

Er wich ihrem Blick aus. Das verunsicherte sie. Was hatte er zu verbergen? Eine Frau? Womöglich Kinder? Sie schaute automatisch auf seine Hände und suchte nach einem Ring. Er musste es bemerkt haben, denn er grinste belustigt.

»Nicht, was du denkst. Keine Verpflichtungen ... bloß ... mir fehlt oft die Disziplin für eine solide und frühzeitige Planung. Gerade, weil ich keine Verpflichtungen habe.«

Das klang logisch. Hanna glaubte ihm trotzdem nicht. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass da noch mehr war. Er log sie nicht direkt an, aber er verschwieg galant einen Teil der Wahrheit.

Langsam neigte sich der Nachmittag dem Ende zu, und sie packten ihre Sachen zusammen. Während sie so in Gedanken versunken nebeneinander standen, wandte sich Valerio ihr plötzlich zu und nahm ihre Hand.

»Ich mag dich, Hanna«, war alles, was er sagte. Sein Ausdruck war intensiv und bewegt. Sie mochte das Gefühl seiner rauen, warmen Handfläche. Sein Atem strich über ihr Gesicht, und erneut wehte dieser exotische Duft nach Oliven, Zitrone und Kräutern zu ihr herüber. Dezent, aber unheimlich verlockend. Sie hielt seinem Blick stand und schwieg.

Mit der freien Hand löste er das Haargummi, sodass ihre Haare wie ein seidiger Vorhang über die Schultern fielen. Mit einem faszinierten Glitzern in den Augen ließ er die Strähnen durch die Fingerspitzen gleiten. Schließlich zog er sie näher zu sich heran und küsste sie.

Hanna genoss die zurückhaltende Berührung seiner Lippen und das sanfte Kratzen der Bartstoppeln auf ihrer Wange. Er streichelte ihren Rücken, während er sie an sich drückte. Einige Sekunden lang verharrten sie schweigend in dieser Position und lauschten dem Pochen ihrer Herzen.

»Ich mag dich auch, Valerio«, hauchte Hanna und schob ihm eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. Er senkte den Kopf und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Seine Lippen strichen zaghaft über die Stelle hinter ihrem Ohr und endeten dann in einem zarten Kuss auf ihren Hals. Sie erschauerte bei dem Gefühl und schloss kurz die Augen. »Lass uns zur nördlichen Anlegestelle zurückgehen, sonst verpassen wir noch das letzte Kursschiff«, meinte Valerio mit heiserer Stimme und lächelte. Er schulterte seinen Rucksack und nahm wie selbstverständlich Hannas Hand. Sie erreichten den Steg, und das Schiff wartete schon. Sie gingen an Bord und wählten dieses Mal einen Sitzplatz. Da es bereits gegen achtzehn Uhr war, waren sie beinahe allein an Deck. Die meisten Tagestouristen bevorzugten den Nachmittag, um zum Abendessen wieder zurück zu sein.

Zurück am Festland blieben Hanna und Valerio einige Augenblicke unschlüssig voreinander stehen. Er umarmte sie wortlos und küsste sie auf die Stirn. Dann suchte sein Mund den ihren. Sie schloss die Augen und gab sich dem süßen Gefühl dieses Moments hin.

Plötzlich klingelte Valerios Telefon. Erschrocken löste er sich von Hanna und wühlte in der Tasche seiner Jeans. »Ah Sch..., da muss ich rangehen.« Er sah sie entschuldigend an und sie erkannte das Bedauern in seinen Augen. Blödes Timing. Er nahm den Anruf entgegen.

»Ja? Okay. Wann? Geht klar!« Er steckte das Handy wieder ein und wirkte auf einmal gestresst. Sein Blick zuckte kurz in die Ferne, als suche er dort irgendwas. Dann prüfte er die Uhrzeit auf seiner Armbanduhr.

»Hanna, ich muss gehen. Jetzt sofort.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und eilte davon.

Entgeistert starrte sie ihm nach, bis seine Gestalt hinter einem Häuserblock verschwand. Erneut machte sich ein Gefühl von Taubheit in ihr breit.

Valerio war weg. Schon wieder.

Und auch dieses Mal kannte sie weder seinen Nachnamen noch eine Telefonnummer.

Kapitel 3

Es folgte der längste Dienstag, den Hanna je erlebt hatte. Dicht gefolgt vom langweiligsten Mittwoch ihrer bisherigen dreißig Lebensjahre. Sie wusste, dass ihre Gefühle maßlos übertrieben waren. Früher hätte sie über Frauen, die tagelang über Männer grübelten, nur mitleidig den Kopf geschüttelt. Sie konnte sich auch an keinen Kandidaten in ihrem Leben erinnern, der ihr schlaflose Nächte oder gar zähflüssige, inhaltslose Tage beschert hätte. Umso beängstigender war es für Hanna, dass es dieses Mal so war.

Vielleicht ertrug sie es einfach nicht, dass er sie bereits zweimal hatte stehen lassen. Normalweise war es immer umgekehrt gewesen. Die Männer hatten plötzlich einen auf Mistel gemacht, und sie fand sich in der Position des Baums wieder. Wie auch immer, Hanna verstand sich selbst nicht mehr.

Fast schon besessen häufig wanderte ihr Blick auch an diesem Morgen zu Tisch Sieben und dann weiter zu den anderen Tischen auf der Terrasse des französischen Cafés gegenüber der Universität. Seit sie am Mittwochmorgen wieder zur Arbeit erschienen war, scannten ihre Augen die Vorderansicht des Gebäudes. Bis zum Abend ihres zweiten Arbeitstages kannte sie jeden Stein, der optisch aus der Reihe tanzte. Einzig der Röntgenblick, um direkt in die Hörsäle sehen zu können, fehlte ihr noch. Mittlerweile war es Donnerstag, und Hanna drehte langsam durch.

Hatte er nicht gesagt, seine Besprechung an der Uni sei fertig? Die Vorlesungen begannen erst im September. Irgendwie hatte sie diesen Umstand verdrängt und sich vorgestellt, er müsse vielleicht einige Studenten bei der Planung ihrer Arbeiten unterstützen oder sie auf das kommende Semester vorbereiten ...

Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass er irgendwo Kunstschätze verkaufte und seine freien Stunden mit einer kaffeebraunen Schönheit an einem einsamen Strand verbrachte. Er hatte ja erwähnt, dass er überall auf der Welt tätig war.

Trotzdem zuckten Hannas Augen suchend durch die Gegend. Als wollte ihr Hirn einfach nicht wahrhaben, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Valerio nochmals in ihrer Nähe auftauchte, etwa so groß war wie der Bestand an Polarbären am Kap der Guten Hoffnung.

Ein Lieferwagen parkte auf dem Bürgersteig neben dem Café und versperrte den Gästen den begehrten Blick auf die flanierenden Studenten.

Mit Schirm, Charme und Blumen, stand in eleganten Goldlettern auf der Seite des weißen Busses. Das sollte wohl irgendwie witzig sein.

Hanna schüttelte genervt den Kopf. Nicht schon wieder. Mit in die Hüften gestemmten Händen baute sie sich vor dem in einer grünen Uniform gekleideten Blumenlieferanten auf.

»Hören Sie, wie oft muss ich Ihnen noch erklären, dass das hier kein öffentlicher Parkplatz ist?« Bevor der Angesprochene etwas sagen konnte, hob Hanna abwehrend die Hände. Sie kannte sie bereits alle. Die Ausreden und Märchen.

»Ich weiß ich weiß, Sie brauchen nur zwei Minuten, wie der Sanitärinstallateur von letzter Woche. Sie haben keine Ahnung, wo Sie ihre Kutsche sonst hinstellen sollen, und vermutlich kommt jetzt noch mein Favorit: Ich mache hier jemandem eine Freude, seien Sie doch bitte nicht so herzlos.« Hanna konnte sich selbst nicht erklären, warum sie zu dem nett wirkenden Mann dermaßen garstig war. Schließlich tat er nur sein Tagwerk, und an dem üppigen Blumenbouquet in seiner Hand konnte sie klar erkennen, dass er nicht vorhatte, den Bürgersteig in stundenlanger Arbeit in eine Versailles-ähnliche Gartenanlage zu verwandeln.

»Hanna, die hier arbeitet? Die ... Moment ...« Er kniff die Augen angestrengt zusammen, während er die Saukralle auf seinem Lieferschein zu entziffern versuchte. »Hanna, die hier arbeitet und am liebsten Café au Lait trinkt?«

Sie starrte ihn einige Sekunden schweigend und perplex an, dann fühlte sie, wie die Hitze ihren Hals hinaufkroch.

»Ääähm, ich kenne sie, ja ... sie ist gerade drinnen, soll ich ihr die Blumen geben?«

Der Blumenlieferant in Grün grinste wie ein Frosch. Oder wie einer dieser schadenfreudigen Halloween-Kürbisse.

»Ich wünsche einen angenehmen Tag, Hanna!« Er reichte ihr das Blumenbouquet, tippte an seine Baseballmütze und stieg wieder ein. Sein Kürbis-Grinsen blieb jedoch an ihm haften, bis er außer Sichtweite war. Bestimmt erzählte er heute Abend seinen Kumpels beim Feierabendbier noch davon.

Erst jetzt fand Hanna Zeit, den Blumenstrauß, der in einer regenbogenfarbig schimmernden Folie verpackt war, näher zu begutachten.

Orange Lilien, dottergelbe Sonnenblumen, rote Rosen und Grünzeug. Hanna gefiel die fröhliche Note des Arrangements.

Eine kleine Karte war an die Verpackung getackert. Sie klappte sie mit vor Aufregung zittrigen Fingern auf.

Statte Kaiser Augustus einen Besuch ab.

Das war alles? Keine Punkte, keine Hieroglyphen?

Erst jetzt drang das genervte Winken und Rufen der Gäste wieder zu ihr durch. Es war, als habe sie den Fernseher auf lautlos gestellt und ihre Katze kurz darauf versehentlich die Mute-Taste deaktiviert. Wie eine Lärmlawine donnerten die Eindrücke plötzlich auf Hanna ein, und ihr wurde klar, dass sie sich schleunigst an die Arbeit machen musste. Die Blumen und die seltsame Botschaft konnten warten.

Sie beeilte sich, das Geschenk in eine Vase zu stellen, und wieder an die Arbeit zu gehen.

Ihre schlechte Laune war jedoch verpufft wie eine Kumuluswolke beim Anblick der Sonne. Hanna konnte es trotzdem kaum erwarten, bis ihre Schicht am Nachmittag endlich fertig war. Ihre Gedanken rasten.

Statte Kaiser Augustus einen Besuch ab. Was meinte er damit? Wo sollte sie anfangen zu suchen?

Bis zum Anbruch der Dämmerung wusste Hanna alles über Kaiser Augustus, den Großneffen und Haupterben von Gaius Julius Cäsar. Da sich das Augustus-Mausoleum jedoch in Rom befand, verwandelte sich Hannas anfängliche Euphorie schnell in Frust. Hatte er dieses Mal absichtlich ein schwierigeres Rätsel gewählt, oder wollte Valerio tatsächlich, dass sie einen Flieger nach Rom bestieg? Jetzt? Er wusste doch, dass sie arbeiten musste.

Kurz vor Mitternacht fand Hanna einen brauchbareren Hinweis. Die AuGusto AG, einen Feinkostladen in der Nähe des Bahnhofes. Zumindest wäre dieser Ort in einer realistischen Reichweite. Sie beschloss, gleich morgen nach ihrer Schicht dort vorbeizuschauen.

Am Freitagnachmittag nahm sie die Tram und fuhr zum Bahnhof. Von dort aus ließ sie sich mit ihrem Handy zum Feinkostladen AuGusto AG lotsen.

Hannas Herz pochte, und sie spürte, wie sich das Adrenalin langsam in ihrem Körper ausbreitete. Ihr Blick schweifte durch das Ladenlokal, das an einen indischen Bazar erinnerte. Aufgrund der engen Platzverhältnisse hatte der Inhaber alle möglichen Köstlichkeiten in die Regale gestopft. Ohne entsprechende Anleitung fand man in diesem Chaos vermutlich nichts ...

»Kann ich Ihnen helfen, suchen Sie etwas Bestimmtes?«, fragte der Besitzer, der durch das Klingeln der Glocke an der Tür angelockt im Verkaufsraum erschien.

Hanna wandte sich ihm zu und suchte nach Worten. Sollte sie einfach mit der Tür ins Haus fallen?

»Ich bin hier, um Kaiser August einen Besuch abzustatten ...«, antwortete sie und beobachtete die Mimik ihres Gegenübers genau.

Die Fassungslosigkeit, die sich im Gesicht des Shop-Inhabers spiegelte, machte deutlich, dass er keine Ahnung hatte, wovon Hanna sprach.

»Scherz ...«, winkte sie ab, um ihren Hals aus der Schlinge der Peinlichkeit zu retten. »Haben Sie Kräuterlikör?« Etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.

Er schüttelte den Kopf.

Hanna schlenderte ratlos durch den Verkaufsraum und ließ ihre Finger scheinbar interessiert über einige Etiketten streifen.

Der Besitzer räusperte sich hörbar.

»Haben Sie vielleicht Kekse, die irgendwie ... mit einem Kaiser oder Augustus zu tun haben?« Gegen Ende des Satzes wurde Hanna immer leiser, weil sie die zunehmende Verärgerung in den Augen des Inhabers aufblitzen sah. Vermutlich hielt er sie für verrückt oder für eine Diebin, die versuchte, ihn abzulenken.

»Machen Sie sich über den Namen meines Feinkostladens lustig, junge Dame?« Er verschränkte die Hände vor seinem voluminösen Bauch.

»Auf keinen Fall!«

»Dann lassen Sie die dummen Augustus-Scherze, die höre ich nämlich jeden Tag. Der Name des Ladens ist ein Wortspiel aus meinem Geburtsmonat August und dem italienischen Begriff Gusto, Geschmack. Ich habe weder blaublütige Kekse noch andere royale Leckerbissen.«

Gut ... vielleicht sollte sie doch besser ein Ticket nach Rom buchen ... »Ich nehme gern diese Konfitüre und die Karamell-Bonbons. Vergessen Sie, was ich sonst noch gesagt habe.« Hanna bezahlte ihre Einkäufe artig und verließ das Geschäft, wobei ihr das Klingeln der Ladenglocke wie ein höhnisches Echo vorkam.

Resigniert saß sie auf einer Bank in der Nähe des Feinkostladens und wartete auf die Tram. Sie nagte an ihren Fingernägeln.

Hanna war ratlos, die Freude am Rätselraten irgendwie abgeflaut. Vielleicht sollte sie der Uni nächste Woche einen Besuch abstatten und einen Fachmann zu dem Satz befragen. Möglicherweise fiel der Groschen bei Valerios Berufskollegen sofort. Dieses Vorhaben gestaltete sich nun, nachdem die meisten Prüfungen des Frühjahrssemesters abgeschlossen waren, eher schwierig. Vermutlich war das Treffen mit Valerio die letzte Amtshandlung der Völkerkundler vor den wohlverdienten Ferien gewesen. Sie seufzte resigniert. Was, wenn sie sich beim Sekretariat die Nummer eines Völkerkundeprofessors geben ließ? Möglicherweise war er noch nicht im Urlaub ... und sie könnte ihn anrufen. Vielleicht, so sinnierte sie weiter, wollte Valerio sie aber auch bloß in das Universitätsgebäude locken, und dort warteten neue Hinweise auf sie? Jedenfalls war das wahrscheinlicher als das Augustus-Mausoleum in Rom. Sollten jedoch alle Stricke reißen, dann würde sie einige Tage frei nehmen und sich auf dem »Campus Martius«, dem Standort von Augustus' letzter Ruhestätte, umsehen. Hatte sie eine Wahl? Dieser Mann faszinierte sie auf eine bisher nicht gekannte Art. Bereits jetzt brachte er ihr Leben ordentlich durcheinander. Und das, obwohl sie noch nicht einmal seinen vollständigen Namen kannte!

Am Samstagmorgen gegen neun Uhr parkte erneut ein auffällig angeschriebener Firmenwagen auf dem Bürgersteig vor dem Café. Hannas Blutdruck stieg. Dieses Mal beschloss sie jedoch, den Mund nicht so voll zu nehmen. Sie hielt ihre aufsteigende Wut in Schach, während sie ungeduldig darauf wartete, dass der Fahrer irgendwas aus dem Lieferwagen holte.

Sie hätte es ahnen müssen, dennoch blieben ihr die Worte im Hals stecken, als sie der Herr in schwarzen Hosen und dem weißen Kurzarmhemd ansprach.

»Ich suche Hanna, die hier arbeitet und gern Café au Lait trinkt.«

Als sie wie vom Donner gerührt dastand und schwieg, setzte er dazu an, seinen Reim zu weiderholen. »Ich suche ...«

»Schon gut!«, schnitt sie ihm das Wort mit einer herrischen Bewegung ab. »Nur zu Ihrer Information, ich trinke auch andere Sachen.« Natürlich war dieser Kommentar vollkommen überflüssig. Das passierte ihr allerdings oft, wenn sie aufgekratzt war.

Der Bote strich sich verunsichert durch die mit Gel an den Kopf gepflasterten Haare. »Aber Sie mögen Café au Lait?«, fragte er und ging seine Notizen nochmals durch. »Und Sie heißen Hanna?«

»Ja, schon, aber nicht nur, verstehen Sie?« Hanna gestikulierte.

Der verwirrte Lieferant folgte ihren Bewegungen und versuchte wohl gerade, der Konversation einen Sinn abzuringen.

»Wie nicht nur? Wie heißen Sie denn außer Hanna noch?«

Sie schüttelte den Kopf. Was für wirres Zeug gab sie denn nun schon wieder von sich? »Ähm. Nur Hanna. Was haben Sie denn für mich?« Neugierig starrte sie auf das Paket in seinen Händen.

Der Lieferant grinste. Nicht wie sein Kürbis-Kollege von gestern, sondern eher wie eine Maus. Offenbar hatte sie endlich das Richtige gesagt.

»Alles klar. Ich habe ein Gebäck zu Ihrem Milchkaffee.« Er reichte ihr die Schachtel und bat um eine Empfangsbestätigung. Hanna kritzelte ihren Namen auf den Lieferschein und nahm das Paket an sich.

»Ah, fast hätte ich es vergessen: und dieses Tütchen Zucker – für den Kaffee. So war die Anweisung. Bitte sehr.« Er reichte ihr ein karamellbraunes Zuckerpäckchen.

Sie runzelte die Stirn, verabschiedete sich und riss die Geschenkverpackung auf. Sie starrte auf den Behälter, der in Wahrheit eine Blechbüchse war.

Basler Läckerli.

Das bekannteste Lebkuchengebäck der Schweiz, das nach seinem Ursprungsort, der Stadt Basel, benannt war.

Fakt war, dass sie besagte Kekse nicht besonders mochte, auch wenn sie nebst den knallbunten Luxemburgerli von Lindt und Sprüngli eines der beliebtesten Geschenke anstelle von Blumen waren.

Zu ihrem Erstaunen war keine Karte dabei. Weder auf noch in der Büchse, wie sie enttäuscht feststellte, nachdem sie jeden Keks in der Box umgedreht hatte. Ihr Blick blieb an dem braunen Zuckertütchen hängen. Ein Zitat war darauf abgedruckt.

Wie oft sind es erst die Ruinen, die den Blick freigeben auf den Himmel.

(Viktor Frankl, österreichischer Neurologe und Psychiater)

Hanna fragte sich, ob sie wohl auch bald die Dienste eines Psychiaters brauchte. Sie befand sich hier offenbar mitten in einer Schnitzeljagd für Erwachsene, als wäre es das Normalste der Welt. Gerade, weil es das nicht war, löste es in ihr ein elektrisierendes Kribbeln in der Magengegend aus. Wer war Valerio, dessen Augen so intelligent wie die eines Raben aufblitzten und dessen Haar ebenso geheimnisvoll schimmerte wie das Gefieder dieses Vogels in der Sonne?

Wie schon die Tage zuvor verabschiedete sie sich nach ihrer Arbeit ziemlich hastig von ihren Kollegen. Keine Zeit für einen gemeinsamen Drink oder einen kurzen Schwatz mit Elsa.

Zu Hause angekommen, leerte sie als Erstes ihr Postfach. Neugierig durchwühlte sie den Briefstapel nach einer Ansichtskarte ihrer Eltern. Freudig entdeckte sie einen farbenfrohen Postkartengruß aus Japan. Ihre Senioren starteten die Frühpension mit einer einjährigen Weltreise.

In der Wohnung legte sie alle Hinweise, die Valerio ihr bisher zukommen ließ, auf den Küchentisch und braute sich einen Kaffee.

Hanna gehörte zu jener Sorte Mensch, die Kaffee-Konserven jeglicher Farbe oder Ausführung verabscheute, auch wenn die Maschinen dazu aussahen, als wären sie die Küchenversion eines Porsches. Sie bevorzugte ihre »Bialetti«. Nicht zuletzt wegen des drolligen Männchens im schwarzen Frack, das darauf abgebildet war. Sie hatte den sanduhrförmigen Kaffeekocher vor rund zehn Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen, als sie ihr erstes Studium begonnen und in einer Studentenbude gewohnt hatte. Die Sache mit der Ausbildung hatte zwar nicht hingehauen, aber die »Bialetti« war immer noch täglich in Gebrauch.

Hanna wählte die Lieblingswiedergabeliste auf ihrem iPod und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Küchentisch. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter, die sie in unnatürlich hohem Ton darauf hinwies, dass sie Stühle besaß. Wenn es jedoch etwas gab, das Hanna an ihrer Junggesellinnen-Bude liebte, war es das Fehlen von Regeln. Man konnte sich auf den Tisch setzen, vor dem Fernseher Chips reinwerfen und dabei den Boden mit salzigen Schneeflocken übersäen, oder tagelang die Kleider wie bunte Teppiche im Raum verteilt liegen lassen.

Sie nippte an ihrer dampfenden Tasse und naschte von einer Tafel dunkler Schokolade.

Blumen, Kaiser Augustus, Basler Läckerli, Ruinen.

Sie notierte sich die Stichworte, etwas, das sie in einem ihrer zahlreichen Studien gelernt hatte. Vielmehr war es in einem Kurs, der »Wie lerne ich lernen?« hieß und als obligate Vorbereitung auf das gewählte Studium galt.

»Schreiben Sie alle Dinge auf, damit sie physisch sichtbar werden. Sie werden über Ihre eigenen Gedanken erstaunt sein«, hatte der Kursleiter behauptet.

Hanna hatte ihm damals nicht geglaubt, sie tat es jedoch jetzt.

Des Rätsels Lösung offenbarte sich vor ihren Augen wie die Papierseerosen, die sie als Kinder gebastelt hatten und die sich entfalteten, wenn man sie ins Wasser stellte.

Der Forest-Gump-Soundtrack schwoll passenderweise zu einem dramatischen Crescendo an.

Augusta Raurica, die Römersiedlung am Südufer des Rheins bei Augst/Kaiseraugst, nahe Basel.

Sie erinnerte sich an die Ruinenstadt, weil praktisch jedes Schweizer Kind einmal in seiner Grundschulzeit einen Ausflug dorthin machte.

Hanna kippte den letzten Rest ihres Kaffees, löste übers Internet eine Bahnkarte nach Basel, von wo aus sie die S-Bahn nach Kaiseraugst nehmen würde, und fütterte Nelly, ihre Katzendame. Dienstag und Mittwoch waren ihre beiden freien Tage in der kommenden Woche. Sie würde gleich am Dienstagmorgen losfahren.

Das zufriedene Schnurren der Katze auf ihrem Schoß, als sie später an diesem Abend vor dem Fernseher saßen, entsprach dem aufgeregten Summen in Hannas Kopf.

Nicht auszudenken, dass sie in ihrer Ungeduld beinahe einen Flug nach Rom gebucht hätte!

Kapitel 4

Augst/Kaiseraugst, nahe Basel, Schweiz

Juli 2016

»Wie heißen Sie?« Die Dame am Empfang musterte Hanna über ihre rote Lesebrille hinweg. Sie warf einen Blick auf einen Notizzettel, betrachtete Hanna erneut eingehend und hob fragend eine Augenbraue.

»Wieso wollen Sie das wissen?« Sie sah die Mitarbeiterin an, als habe sie gerade eine fremde Sprache gesprochen.

»Sie passen auf die Beschreibung. Wenn Sie Hanna sind, dann sind Sie zwar eher spät dran, aber wenn Sie sich beeilen, sollten Sie es noch schaffen.«

Hanna starrte die Frau an, als habe sie grüne Haut und sei mit einem Ufo eingeflogen worden. Es war zehn Uhr, das Museum öffnete gerade erst. Wie konnte man denn da bereits spät dran sein?

Sie drehte sich um und schaute in die ungeduldigen Gesichter einer vierköpfigen Familie, die offenbar der Meinung war, Hanna sollte sich an der Kasse etwas beeilen.

»Ich ... bin Hanna«, stammelte sie schließlich und war froh, dass der Milchkaffee dieses Mal nicht auch noch erwähnt wurde.

»Roland?« Die Frau am Empfang drehte sich auf ihrem Bürostuhl um und wartete auf den Mitarbeiter, der gleich darauf erschien. »Würdest du Hanna bitte zu ihrer Gruppe bringen, bevor sie mit ihrem Rundgang im Museum fertig ist?« Der schnippische Unterton und das abfällig gemurmelte Wort Studenten, begleitet von einem verärgerten Kopfschütteln, ließen Hanna ahnen, worum es hier ging.

»Ich bin nicht zu spät«, versuchte sie, sich bei dem Mitarbeiter, der sie führte, zu verteidigen.

»Natürlich nicht.« Sein höfliches Lächeln, das in ein Grinsen überging, strafte diese Aussage Lügen. Hanna beschloss beleidigt zu schweigen.

Augusta Raurica war eine zweitausend Jahre alte Siedlung, benannt nach dem Keltenstamm der Rauriker und dem römischen Kaiser Augustus, entnahm Hanna der Broschüre, die man ihr zusammen mit dem Eintrittsticket für das Museum übergeben hatte. Mit dabei war auch ein Lageplan, der alle Monumente und Sehenswürdigkeiten der Außenanlage aufzeigte.

Zur Blütezeit soll die Stadt bis zu zwanzigtausend Einwohner beherbergt haben. Werkstätten, Handelshäuser, Tavernen, Tempel und öffentliche Bäder reihten sich damals dicht aneinander.

Heute befanden sich die Denkmale auf zwei Gemeinden verteilt, die nicht einmal demselben Kanton angehörten – Augst und Kaiseraugst.

Das Museum, das Teil der Besucherstätte war, soll mit zahlreichen Fundstücken und dem größten Silberschatz aus der Spätantike beeindrucken, so der Prospekt. Der römische Haustierpark mit alten Tierrassen und die Stadtüberreste boten dem Besucher überdies einen Einblick in das alltägliche Leben der Menschen zur Zeit um Christi Geburt.

Hanna war gespannt.

Die Studentengruppe hatte ihren Rundgang gerade erst begonnen, weshalb es nur zwei Minuten dauerte, Valerio und seine Schützlinge zu erreichen. Das meiste waren, wohlgemerkt, Studentinnen ...

Die Gruppe befand sich bei Nummer eins auf dem Lageplan, der sich passenderweise Salve-Tourismusplan nannte. Hanna beeilte sich, das Museum und das nachgebaute Römerhaus zu betreten. Der Mitarbeiter mit dem Namen Roland grüßte stumm zum Abschied, indem er sie anlächelte, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand.

Hanna vergaß einen kurzen Augenblick zu atmen, als sie ihren Touristenführer erblickte. In verwaschene Jeans und ein schlichtes, dunkelblaues T-Shirt gekleidet, wirkte Valerio wie einer der römischen Götterstatuen am Eingang der Anlage. Überflüssig zu erwähnen, dass sich seine Arm- und Rumpfmuskeln bei jeder Bewegung unter seiner Baumwollkleidung abzeichneten.

»Was auf uns befremdlich wirken mag, war damals normal. Die Toilette befand sich in der Küche.« Valerio ging über das Getuschel und die gerümpften Nasen seiner zimperlichen Studentinnen hinweg. »Das lag wohl daran, dass dies der wärmste Raum im Haus war.«

Sein Blick blieb an Hanna hängen, obwohl sie sich bemühte, möglichst unauffällig in einer der hintersten Ecken zu stehen. Seine dunklen, unergründlichen Augen hielten sie einen Atemzug lang gefangen.

Valerio verlor kurz den Faden, lächelte geheimnisvoll, als wisse nur er, woran das liege und strich sich die Haare aus dem Gesicht.

Die Studentengruppe blieb nicht lange im Römerhaus, da Valerios Aufgabe vorwiegend darin bestand, ihnen Dinge zu erzählen, die sie nicht im Reiseführer oder der Broschüre der Ruinenstadt nachlesen konnten.

Ihr Rundgang führte sie zu einer Taverne, einer Badeanlage und einem Tempel der ehemaligen Stadt.

Bei der Basilika, die sich im Nordosten des Forumplatzes befand, verweilte Valerios Gruppe etwas länger. Die Mauerreste des repräsentativen dreischiffigen Hallenbaus des Verwaltungs- und Gerichtsgebäudes von Augusta Raurica, ließen die einstige Größe des imposanten Baus erahnen. Die Basilika soll, einem Palast ähnlich, reich ausgestattet und verziert gewesen sein, so Valerio.

»Benutzt die App Unsichtbares sichtbar machen, die wir beim Eingang heruntergeladen haben. Dann erfahrt ihr, wie es hier zu Zeiten der Römer tatsächlich ausgesehen hat«, erklärte Valerio und griff in die Gesäßtasche seiner Jeans, um sein eigenes Handy hervorzuholen. Während seine Schützlinge sich Notizen machend, die Augen auf ihre Smartphone-Displays fixiert, um die alten Gemäuer scharten, verschwand er hinter einer der Mauern der Basilika.

Hanna starrte ihm verdutzt nach. Zuerst glaubte sie, er müsse sich erleichtern. Dann sah sie in unmittelbarer Nähe der Basilika das Toiletten-Symbol auf einem Pfeil. Was genau tat Valerio also hinter den römischen Mauerresten?

Sie versicherte sich, dass die Studenten alle auf ihre Handys starrten, und beeilte sich, ihm zu folgen. Sie schlich um die Mauer herum. Mit klopfendem Herzen spähte sie um eine Ecke. Ob er wohl ein geheimes Telefonat führte? Sie sog erschrocken die Luft ein und wich zurück, als er sie beinahe entdeckt hätte.

Er war nicht am Telefon.

Mit zu konzentrierten Schlitzen verengten Augen tastete er die Mauer der Basilika ab, kniete auf den mit Kiesel bedeckten Boden und förderte ein Taschenmesser zu Tage. Dann kratzte er über die Mauersteine und betrachtete sein Messer angestrengt, als würden ihm die vermoderten Steinkrümel irgendeine Geschichte erzählen. Daraufhin schirmte er die Augen ab und starrte die Sonne an. Sein ernster Gesichtsausdruck und die sich stumm bewegenden Lippen sahen aus, als stelle er irgendwelche Berechnungen an. Nachdem er einige Schritte weitergegangen war, wiederholte er das Prozedere.

Hanna beschloss, zurück zu den Studenten zu gehen. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass dies nicht der Moment war, Valerio zu überraschen oder mit Fragen zu bombardieren. Bei der Gruppe angelangt, zückte auch sie brav ihr Smartphone und tat, als interessiere sie der antike Bau der Basilika über alle Massen. In Tat und Wahrheit interessierte sie Valerios seltsames Verhalten weit mehr.

Nach zehn Minuten kam er, die Hände in den Hosentaschen, einen arglosen Ausdruck im Gesicht, zurück zu der Gruppe.

»Die Natur hat ihren Tribut gefordert!«, erklärte er sein Fortbleiben mit einem Augenzwinkern, dem sofort alle seine weiblichen Studentinnen erlagen.

Nicht so Hanna. Sie warf einen Blick auf das Toiletten-Schild neben der Basilika, dann musterte sie Valerio.

Er sagte nicht die Wahrheit, aber sie ließ sich nichts anmerken.

Sie quittierte seinen Scherz mit einem höflichen Lächeln.

Die Liste ihrer Fragen wurde immer länger ...

Ihr nächster Halt war, nach ungefähr fünfundzwanzig Minuten Fußmarsch quer durch das Dorf und über angrenzende Felder die Nummer zwölf auf dem Salve-Plan, das Amphitheater. Es war mittlerweile, passend zur Ziffer, Mittag, und Hanna hatte nicht daran gedacht, etwas mitzunehmen. Allerdings war sie in bester Gesellschaft, wenn es darum ging, nichts zu essen. Einige der Studentinnen knabberten an einer Karotte, als wären sie Teil des Tierparks der römischen Anlage. Andere wiederum begnügten sich mit Cola Zero. Die Sonne stand wie ein böses Feuerauge am Himmel und brannte erbarmungslos auf die Besucher nieder. Hanna war durch die Wanderung über den Feldweg schweißgebadet und froh, dass die Ruine des Amphitheaters von dichtem Wald umsäumt war.

Ihr Magen grummelte, sie war erschöpft. Nachdem sie die Infotafel des antiken Baus gelesen hatte, war sie allerdings nicht mehr überzeugt, ob sie wirklich noch hungrig war.

Das Amphitheater von Augusta Raurica soll zur Römerzeit ein Ort des Grauens gewesen sein. Bis zu dreizehntausend Zuschauer sollen sich an blutigen Spielen ergötzt haben, bei denen Tiere gejagt wurden, Gladiatoren gegeneinander antraten und Hinrichtungen stattfanden.

Der Bau war so konzipiert, dass die dekadenten Gaffer schnell hinein- und hinausgelangen konnten. Durch den östlichen Zugang, das Tor des Todes, wurden getötete Gladiatoren hinausgetragen. Durch das Tor der Lebenden, an einem kleinen Heiligtum vorbei, verließen die Überlebenden das Oval. Dort befand sich auch eine Ansammlung von Picknicktischen.

Hanna ließ sich müde auf eine Bank fallen und starrte ins Leere. Sie wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.

Die Blätter der Laubbäume um sie herum raschelten, und einige Zweige knackten. Spatzen hüpften zeternd über den sandigen Boden in der ovalen Arena. Das muntere Geplapper zweier Kinder, die sich gerade eben mit ihren Eltern an einen der Picknicktische gesetzt hatten, erfüllte die Luft.

Plötzlich setzte sich Valerio neben Hanna. Er wühlte in seinem Rucksack und bot ihr ein Sandwich und eine Flasche Wasser an.

»Ich dachte, du bist bestimmt hungrig und durstig. Ich nahm an, dass du nichts dabei hast. Du wusstest ja nicht, was dich bei deinem Besuch von Kaiser August erwartet.« Er zwinkerte ihr schelmisch zu.

Wie auf Kommando drehten sich die Studentinnen zu ihnen herüber. Sie waren auf dem Radar.

»Danke, sehr gern.« Trotz der Tatsache, dass Hannas lebhafte Fantasie von Schlachtrufen und frenetischem Beifall erfüllt war, meldete sich ihr knurrender Magen zurück. Schließlich saß sie am Tor der Lebenden und nicht umgekehrt.

Valerios Bein berührte flüchtig ihren Oberschenkel, während sie die Brote aßen. Hanna genoss das Gefühl der Wärme, das sie daraufhin durchströmte.

»War es schwer?«, fragte er zwischen zwei Bissen und musterte sie mit wachen Augen. Die Tatsache, dass die Studentinnen ihr Tuscheln mit jeder Minute intensivierten, schien ihn nicht zu kümmern.

»Verdammt schwierig!«, gestand Hanna. »Ich hätte beinahe einen Flug nach Rom gebucht!« Sie lachte, als sie an ihre eigene Kopflosigkeit dachte.

»Echt jetzt?« Valerio legte den Kopf in den Nacken und gab ein amüsiertes Glucksen von sich.

»Nachdem ich in einem Feinkostladen mit dem Namen AuGusto AG war und beinahe einen deiner Professorenkollegen um Rat fragen wollte ... ja, dann wäre ich als Nächstes auf dem Campus Martius beim Mausoleum aufgetaucht. So abwegig ist das gar nicht. Du sagtest, du wärest schon überall auf dieser Welt gewesen, woher sollte ich wissen, dass dein aktueller Auftrag in der Schweiz ist? Kunst und Völkerkunde ist auf dem gesamten Planeten gefragt.«

Valerio schüttelte ungläubig den Kopf und lachte erneut. Heiser, samtig. Hanna hätte ihn gern berührt, wäre am liebsten allein mit ihm durch diese mystischen Ruinen gewandert. Hand in Hand, seinen Duft in der Nase.

Ein Blick zur Ziegenbrigade belehrte sie jedoch eines Besseren. Die Studentinnen warfen ihr böse Blicke zu. Die hektische Röte ihrer Wangen war, in Kombination mit den abfällig verzogenen Mündern, wohl weniger der Hitze geschuldet als dem aufkeimenden Ärger.

»Was steht nach der Mittagspause noch an?«, wechselte Hanna zu einem pragmatischen Thema.

»Wir werden uns eingehend mit der Mentalität und Denkweise der Römer in Bezug auf diese Stätte hier befassen. Das ist es im Grunde, worum es bei Völkerkunde geht. Man versucht, die Perspektive der fremden Kultur einzunehmen und sie zu verstehen. Warum baute man solche Schlachthöfe und nannte es Unterhaltung? Wie fühlten sich die Menschen damals, wenn sie an Veranstaltungen teilnahmen? Was hatte das Ganze mit ihrer religiösen Überzeugung und Weltsicht zu tun? Nicht alles, was uns modernen Westlern als blutrünstig und grausam erscheint, war oder ist es auch aus der Optik einer anderen Kultur. Dafür gibt es in der Gegenwart mehr als genug Beispiele.«

»Wie was denn?« Hanna konnte sich beim besten Willen keinen Grund vorstellen, der ein solches Blutbad oder etwas Ähnliches rechtfertigte. Es sei denn, man war ein gottloser Barbar ohne Gewissen und ohne jeden Funken Menschlichkeit. In der heutigen Zeit wäre man dann aber ein Psychopath.

»Fernöstliche Kulturen kochen Fische beispielsweise bei lebendigem Leib oder lassen Meerestiere wie Hummer stundenlang ohne Wasser in einer Auslage vor sich hinsiechen. In ihrer Weltvorstellung haben Lebewesen, die kein rotes Blut haben, kein Schmerzempfinden. Sie können sich nicht vorstellen, dass wir so etwas als Tierquälerei bezeichnen.«

»Speziell«, meinte Hanna trocken. »Die Völkerkunde, meine ich.«

Valerio lachte. »Ich finde sie faszinierend.«

Hanna ließ den Blick über seine Gesichtszüge gleiten. Ihr gefiel es, wenn er dieses durch Begeisterung ausgelöste Glitzern in den dunklen Augen hatte. Diese von Neugier getriebene Lebendigkeit.

In jenem Augenblick wurde ihr klar: Sie mochte Völkerkunde, weil er besagte Wissenschaft liebte.

Nach einigen Momenten des Schweigens klopfte sich Hanna die Hände an ihren Shorts ab.

»Ich schätze, ich werde mich langsam verabschieden. Es ist nicht so, dass ich bei deinen Völkerkunde-Freaks außerordentlich willkommen bin.«

Valerio folgte ihrem Blick und verbarg sein Grinsen hinter der Hand, mit der er zufällig über seinen Dreitagebart strich. »Sehe ich dich heute noch? Ich wohne in einem Gasthaus in der Nähe des Bahnhofs. Ich bin die ganze Woche hier und gebe Studentenführungen.«

Hanna versuchte, nachdenklich auszusehen. In Wahrheit hatte sie auf eine Einladung gehofft. »Ich habe morgen auch noch frei, ich könnte also ... wir könnten abends etwas zusammen essen gehen?«

»Eine wunderbare Idee! Lass mich dir die Adresse des Gasthofs geben, wir treffen uns um achtzehn Uhr, einverstanden?«

Hanna nickte und wartete, bis er Name und Anschrift seiner Unterkunft in ihr Handy eingetippt hatte. Dabei streifte er beiläufig ihre Hand. Ein warmer Schauer durchflutete ihren Körper. Sie würde versuchen, dort ein Zimmer für die kommende Nacht zu ergattern. Sie konnte sich unmöglich bei Valerio einladen, das war nicht ihr Stil. Sie hatte ihn erst einmal geküsst und wollte nicht rüberkommen wie eines seiner Groupies.

Valerios Telefon klingelte. Irgendwie rief das in Hanna eine unliebsame Erinnerung wach. Ihre Innereien zogen sich ängstlich zusammen. Flüchtete er gleich wieder vor ihr?

Er erhob sich, entfernte sich einige Schritte und ging ran. Der Wind wehte trotzdem Wortfetzen zu Hanna herüber.

»Was? Warum wusstet ihr das denn nicht früher? Verdammt! Nein, noch nicht ... ich bin dran ... ist mir klar ... ja, ich beeile mich!« Er steckte sein Handy ein. Seine Augenbrauen trafen sich beinahe in der Mitte der Stirn, und er presste den Mund zu einem schmalen Strich zusammen.

In der Zwischenzeit hatte sich Hanna von ihrem Sitzplatz erhoben. »Na dann ... bis später«, verabschiedete sie sich und hob zum Gruß die Hand.

Valerio legte den Kopf schief, sodass sich die Sonne in seinen Haaren spiegelte und lächelte. Der düstere Ausdruck war aus seinen Zügen gewichen. Er trat auf sie zu und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Olive, Zitrone und Kräuter umhüllten sie. Seine Bartstoppeln kratzen leicht über ihr Gesicht. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf, und sie fröstelte, auch wenn es alles andere als kalt war.

Hanna grinste. Es sollte verschwörerisch aussehen. Wie es in Wirklichkeit rüberkam, konnte sie nicht beurteilen. So oder so trafen sie die Blicke der Studentinnen wie Giftpfeile.

Kapitel 5

Während Hanna zurück zum Bahnhof lief, schossen tausend Gedanken durch ihren Kopf. Sie hatte so viele Fragen an Valerio. Angefangen bei seinem Nachnamen. Warum bekam er immer so seltsame Anrufe und wirkte danach dermaßen gestresst? Hatte er vielleicht doch irgendwo eine Exfrau oder eine nervige Freundin, derer er sich erst noch entledigen musste? War es der Job? Hatte er Ärger mit fremden Behörden, oder hatten sie ihm einfach kurzfristig noch Kurse am anderen Ende der Welt aufgebrummt? Was in Dreiteufelsnamen hatte er bei der Basilika gesucht?

Nach einer guten halben Stunde erreichte Hanna den Bahnhof.

Vor dem Gasthof rief sie kurz ihre Nachbarin Theresa an und bat sie, Nelly an diesem und dem folgenden Tag zu füttern. Theresa war eine Frau um die siebzig mit schlohweißem Haar, das sie stets zu einem sorgfältigen Knoten hochgesteckt hatte. Sie verließ ihre Wohnung nur, wenn sie einkaufen musste, und liebte Katzen.

Insbesondere Nelly.

Der Gasthof Romanus