Der Selbstmord des Deutschen Reichs - Sebastian Haffner - E-Book

Der Selbstmord des Deutschen Reichs E-Book

Sebastian Haffner

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Beschreibung

Dieses Werk von Sebastian Haffner ist ein packend geschriebener Bericht über das Ende einer Epoche der deutschen Geschichte. Der Untergang des Deutschen Reiches, 1939 eingeleitet, 1949 vollzogen, ist ein erstaunliches Stück Weltgeschichte: denn es war ein Selbstmord. Es gibt keinen anderen Staat, der auf seine Liquidierung mit solcher Konsequenz und Besessenheit hinsteuerte – und sie schließlich erreicht hat. Das Ereignis, das die Existenz des Deutschen Reiches auslöschte, war nicht der Zusammenbruch des Naziregimes, nicht die Übernahme der Regierungsgewalt durch die vier Besatzungsmächte, sondern die Gründung zweier deutscher Staaten, der Bundesrepublik und der DDR. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Sebastian Haffner

Der Selbstmord des Deutschen Reichs

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Inhalt

Vorwort1 Die außenpolitische Konzeption Adolf Hitlers2 England: Der »falsche« Krieg3 Rußland: Der »richtige« Krieg4 Amerika: Kriegserklärung als Hilferuf5 Die Mittelphase des Krieges6 Endspiel7 Das Reich der vier Mächte8 Die Teilung9 Die verschmähte Wiedervereinigung10 Die außenpolitische Konzeption des Franz Josef StraußPersonenverzeichnis

Hundert Jahre nach seiner Gründung ist das Deutsche Reich auf der politischen Landkarte nicht mehr zu finden. Es ist untergegangen. Merkwürdigerweise aber ist es gar nicht leicht, seinen Untergang zu datieren.

Die Niederlage von 1945 nahm dem Deutschen Reich zwar die Souveränität, aber noch nicht die Existenz. Mindestens vier Jahre lang existierte es unter der gemeinsamen Regierung der vier Siegermächte noch schattenhaft weiter. Selbst nach der Gründung seiner zwei Nachfolgestaaten im Jahre 1949 blieb deren »Wiedervereinigung« noch jahrelang ein Thema der internationalen und nationalen Politik. Sie ist es nicht mehr; aber es ist unmöglich, den Zeitpunkt genau anzugeben, zu dem sie aufhörte, es zu sein.

Noch merkwürdiger ist etwas anderes: nämlich, daß in diesem katastrophalen historischen Vorgang die Initiative in allen entscheidenden Phasen bei Deutschland lag. Um das Deutsche Reich auseinanderzureißen, mußten die beiden größten Mächte des Erdballs wie Riesenmagneten von Ost und West auf seinen Staatskörper angesetzt werden. Aber weder Amerika noch Rußland hatten je geplant, sich gegen Deutschland zu verbünden; noch weniger hatten sie daran gedacht, sich mit jeweils einem Teil Deutschlands gegen den andern zu verbünden – was sich beides als nötig erwies, um das Deutsche Reich von der Landkarte zu tilgen. Es war Deutschland, das ihnen keine Wahl ließ. Der Untergang des Deutschen Reiches war ein Selbstmord.

Natürlich war es nicht die Absicht der Deutschen, Staatsselbstmord zu begehen, als sie nach und nach fast die ganze Welt gegen sich mobilisierten, als sie bei der Niederlage dafür sorgten, daß die Sieger in der Mitte ihres Landes aufeinanderprallten, und als sie schließlich den Zerfall der Siegerkoalition dazu benutzten, sich, getrennt, mit je einem Sieger gegen den andern zu verbünden. Sie hatten jedesmal ganz andere Ziele. Und doch taten sie alles, um den Untergang ihres Reiches unvermeidlich zu machen und noch nachher jeden Weg zu seiner Wiederherstellung zu verbauen.

 

Der Mann, der für die Todesfahrt des Deutschen Reiches die Weichen gestellt hat, ist Adolf Hitler gewesen, und wenn man verstehen will, warum alles so kam, wie es gekommen ist, muß man sich zunächst Hitlers außenpolitische Konzeption klarmachen. Dabei aber wird man mit Überraschung feststellen, daß diese Konzeption nicht mit Hitler gestorben ist. Ihr Grundgedanke hat zwanzig Jahre lang weiter die Außenpolitik der Bundesrepublik beherrscht und ist noch heute für die außenpolitischen Vorstellungen und Zielsetzungen weiter Kreise Westdeutschlands maßgebend. Solange er nicht als Selbstmordformel erkannt ist, bleibt die Bundesrepublik kaum weniger gefährdet als das Deutsche Reich. Man könnte, Shakespeares Brutus paraphrasierend, sagen:

»O Adolf Hitler! Du bist mächtig noch.

Dein Geist geht um: Er ist’s, der unsere Schwerter

In unser eigenes Eingeweide kehrt.«

1 Die außenpolitische Konzeption Adolf Hitlers

Hitlers Reichsidee, eine verblüffende Synthese von Nationalismus und Imperialismus, ist auf der ersten Seite von Mein Kampf unübertrefflich formuliert: »Erst wenn des Reiches Grenze auch den letzten Deutschen umschließt, ohne mehr die Sicherheit seiner Ernährung bieten zu können, ersteht aus der Not des eigenen Volkes das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens. Der Pflug ist dann das Schwert, und aus den Tränen des Krieges erwächst für die Nachwelt das tägliche Brot.«

Das klingt einigermaßen atemraubend, aber als Wunschziel dürften die meisten Deutschen der zwanziger Jahre wenig daran auszusetzen gehabt haben. Die Verknüpfung von Nationalismus und Imperialismus entsprach dem populären politischen Weltbild der Epoche des Ersten Weltkrieges – nicht nur in Deutschland. Das Zusammenfallen von Staats- und Volksgrenzen wurde allgemein als eine Art Naturrecht empfunden; und als ebenso selbstverständlich sah man den Wettkampf der nationalen Großmächte um territoriale Ausdehnung und Weltreichbildung an, ohne sich viel daran zu stoßen, daß damit den kleineren und schwächeren Nationen das Recht zu eigener Nationalstaatlichkeit inkonsequenterweise wieder abgesprochen wurde.

 

Die Deutschen, die spät ihren Nationalstaat gegründet hatten, noch später in die »Weltpolitik« eingetreten waren und sich durch den Ausgang des Ersten Weltkriegs in ihren nationalen ebenso wie in ihren imperialen Bestrebungen frustriert und diskriminiert fanden, hatten nichts gegen ein Großdeutsches Reich einzuwenden, dessen Grenze »auch den letzten Deutschen umschließt«, und auch nichts dagegen, daß dieses Reich dann sozusagen wieder in der imperialistischen Weltliga mitspielte. Nur waren ihre Pläne nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg recht bescheiden geworden; zu diesem Traumziel sahen sie keinen erfolgversprechenden Weg. Aber Hitler sah ihn – und als sich dieser Weg dann als gangbar zu erweisen schien, gab es kaum mehr jemanden in Deutschland, der nicht bereit war, ihn mitzugehen.

Auf die kürzeste Formel gebracht, hieß Hitlers außenpolitische Konzeption: Festes Dauerbündnis mit England und Italien; Isolierung und, wenn nötig, kriegerische Ausschaltung Frankreichs; und dann – mit fester Rückendeckung durch England und Italien und unter partnerschaftlicher Beteiligung Polens, Ungarns und Rumäniens – Eroberung, Unterwerfung und Kolonisierung Rußlands.

Diese Konzeption hatte er in den Jahren 1920 bis 1924 nach und nach erarbeitet. In den folgenden fünfzehn Jahren erfuhr sie kaum eine Veränderung. Von 1933 bis 1938 bildete sie das feste Gedankengerüst seiner anfangs höchst erfolgreichen Außenpolitik, wobei nur der Gedanke des »vorbereitenden« Krieges gegen Frankreich mehr und mehr in den Hintergrund trat. Erst 1939 zeigte sich, daß diese Konzeption in einem ihrer Kernpunkte – England – eine verhängnisvolle Fehlkalkulation enthielt.

Der Kern der Hitlerschen Konzeption war die Eroberung Rußlands, aber der neue Dreibund Deutschland-England-Italien war ein ebenso origineller und ebenso wichtiger Baustein seines außenpolitischen Gedankengebäudes. Er bildete die unerläßliche Voraussetzung und Absicherung des Ostzuges, und umgekehrt sollte die ausschließliche Stoßrichtung Deutschlands nach dem Osten und der Verzicht auf jeden anderen territorialen Ehrgeiz auch wieder als Bindemittel für den Dreibund dienen.

Man täte Hitler Unrecht, wenn man diese neuartige Bündnispolitik nur auf ideologische Sympathien mit dem faschistischen Italien und auf Rassenvorurteile zugunsten des »nordischen« England zurückführen wollte. In seinem Konzept steckte durchaus kalt-rationales außenpolitisches Kalkül, freilich auf der Grundlage rein imperialistischen Denkens. »Völkerschicksale werden fest aneinandergeschmiedet«, schrieb er, »nur durch die Aussicht eines gemeinsamen Erfolges im Sinne gemeinsamer Erwerbungen, Eroberungen, kurz einer beiderseitigen Machterweiterung.«[1]

Bündnisse waren für Hitler immer Bündnisse zwischen Räubern – aber zwischen Räubern, die einander nicht ins Gehege kamen und sich bei ihren Raubzügen gegenseitig Rückendeckung geben konnten. So betrachtet, schienen ihm England, Italien und Deutschland als imperialistische Mächte naturgegebene Partner, weil ihre Expansionsbestrebungen in verschiedene Richtungen zielten: England wollte nach Übersee, Italien nach Süden in den Mittelmeerraum, Deutschland aber (in Hitlers Vorstellung) ausschließlich nach Osten, nach Rußland. Man kann nicht sagen, daß das eine ganz unrealistische Vorstellung war.

Hitler war auch – darin zeigte er sich durchaus als Staatsmann – bereit, um der erstrebten deutsch-englisch-italienischen Interessengemeinschaft willen Opfer in Kauf zu nehmen und störende Konfliktmöglichkeiten durch großzügigen Verzicht auszuräumen. »Mit Italien, das seine nationale Wiedergeburt erlebt und eine große Zukunft hat«, schrieb er, »muß Deutschland zusammengehen. Dazu ist nötig ein klarer und bündiger Verzicht Deutschlands auf die Deutschen in Südtirol. Das Geschwätz über Südtirol, die leeren Proteste gegen die Faschisten schaden uns nur, da sie uns Italien entfremden. In der Politik gibt es keine Sentiments, sondern nur Kaltschnäuzigkeit.«

Gegenüber England war sogar noch weit mehr Umdenken und Zurückstecken nötig. »Für eine solche Politik [›Bodenpolitik‹ auf Kosten Rußlands] gab es in Europa nur einen einzigen Bundesgenossen: England. Englands Geneigtheit zu gewinnen durfte dann aber kein Opfer zu groß sein. Es war auf Kolonien und Seegeltung zu verzichten, der britischen Industrie aber die Konkurrenz zu ersparen.« Hitler kleidete seine Argumente hier in die Form einer Kritik an der »Weltpolitik« des kaiserlichen Deutschland und schrieb in der Vergangenheitsform; aber er sprach von der Zukunft, und er hielt sich in den Jahren nach 1933 an sein Rezept: Er blieb immer uninteressiert an Überseekolonien, er beschränkte die deutsche Flotte durch Vertrag mit England auf ein Drittel der britischen, und sogar die industrielle Konkurrenz mit England drosselte er, indem er den deutschen Außenhandel nach Südosteuropa lenkte.

 

England und Italien waren also für Hitler die Partner und Freunde, die das Deutsche Reich auf seinem Wege zu neuer imperialer Größe brauchte. Frankreich und Rußland waren in seiner Konzeption die unvermeidlichen, vorbestimmten Feinde, die es kriegerisch zu unterwerfen und zu vernichten galt. Dabei bestand aber doch zwischen beiden in Hitlers Gedankengängen ein erheblicher Unterschied.

Die Eroberung, Unterwerfung und deutsche Besiedlung Rußlands war für Hitler das eigentliche, »unverrückbare« Ziel seiner Politik, dem alles andere diente. »Diese Aktion ist die einzige, die vor Gott und unserer deutschen Nachwelt einen Bluteinsatz gerechtfertigt erscheinen läßt.« Um sie drehte sich alles, auf sie war alles abgestellt. Für Hitler lag die deutsche Zukunft in Rußland, so wie sie für Kaiser Wilhelm II. auf dem Wasser gelegen hatte.

Trotz der soviel größeren russischen Bevölkerungszahl, trotz des bekannten russischen Patriotismus und der oft bewährten russischen Kriegstüchtigkeit zweifelte Hitler nicht am Gelingen dieses ungeheuerlichen Eroberungsplanes. »Das Schicksal selbst scheint uns hier einen Fingerzeig geben zu wollen. Indem es Rußland dem Bolschewismus überantwortete, raubte es dem russischen Volke jene Intelligenz, die bisher dessen staatlichen Bestand herbeiführte und garantierte … Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch.«

Gerechterweise muß man feststellen, daß die Unterschätzung des bolschewistischen Rußland keine Privatmarotte Hitlers war, sondern damals in der ganzen Welt geteilt wurde. Schließlich war die Erinnerung an das Jahr 1918, als das Riesenreich schon einmal zusammengebrochen und zur wehrlosen Beute Deutschlands geworden war, noch frisch.

Nur die deutsche Niederlage im Westen hatte 1918 die Existenz Rußlands gerettet – und die Wiederholung einer solchen Westniederlage wollte Hitler ja eben durch das Bündnis mit England und Italien von vornherein ausschließen.

Wie auch immer: Rußland war Hitlers eigentliches Objekt, das exklusive Ziel, das er dem erneuerten deutschen Imperialismus setzte. Es war für Hitlers Deutschland und für Hitler selbst ein Feind, nicht weil es ihn bedrohte oder auch nur störte, sondern weil er es haben wollte.

Anders Frankreich. Frankreich war in Hitlers Augen kein künftiger deutscher »Lebensraum«, er wollte es nicht haben, und selbst wenn er von der »Vernichtung« Frankreichs sprach, blieb immer ein wenig unklar, was er sich darunter genau vorstellte. Frankreich war für Hitler ein Feind, weil es einen so riesenhaften Machtzuwachs Deutschlands, wie ihn Hitler plante, aus seiner eigenen Interessenlage heraus nicht dulden konnte und weil es daher für Deutschland bei dem beabsichtigten Ostzug eine Gefahr im Rücken darstellte. Anders als im Falle Englands und Italiens glaubte Hitler nicht, Frankreich seine natürliche Gegnerschaft abkaufen und einen Partner und Raubkumpan aus ihm machen zu können. Daher hielt er einen Krieg gegen Frankreich für unumgänglich; aber eigentliche Kriegsziele verband er damit nicht. Für Hitler war »das ewige und an sich so unfruchtbare Ringen zwischen uns und Frankreich« sinnvoll nur »unter der Voraussetzung, daß Deutschland in der Vernichtung Frankreichs wirklich nur ein Mittel sieht, um danach unserem Volke endlich an anderer Stelle die mögliche Ausdehnung geben zu können«. So seltsam es klingt, für Hitler war ein Krieg gegen Frankreich, selbst ein »Vernichtungskrieg«, im Grunde eine Defensiv- und Vorsichtsmaßnahme. Wenn Frankreich unerwarteterweise aufhören sollte, Deutschlands Ostpläne zu behindern, wurde dieser Plan überflüssig. Und tatsächlich ist zweifelhaft, ob Hitler den Krieg gegen Frankreich, der dem Krieg gegen Rußland nur als unvermeidliche Absicherung vorgeschaltet war, am Ende noch wirklich wollte. Als nach 1933 der befürchtete Präventivkrieg Frankreichs gegen die deutsche Aufrüstung ausblieb, als Frankreich 1936 die Rheinlandbesetzung passiv hinnahm und 1938 sogar an der Zerstückelung seines Verbündeten, der Tschechoslowakei, aktiv mitwirkte, begann Hitler sich mit dem Gedanken zu befreunden, daß es vielleicht auch ohne Krieg gegen Frankreich gehe. Immerhin hörte er nie auf, ihn für alle Fälle militärisch vorzubereiten. »So oder so« mußte dafür gesorgt sein, daß Frankreich in der Entscheidungsphase der Hitlerschen Ostpolitik keine störende Rolle spielte. Aber wenn das keinen Krieg mehr erforderte, weil Frankreich von selbst resignierte – um so besser.

Umgekehrt Polen. Ursprünglich war Polen in Hitlers Konzeption durchaus nicht als Feind vorgesehen, vielmehr war ihm, ebenso wie Ungarn und Rumänien, die Rolle eines Hilfsvolks im großen Rußlandzug zugedacht, das dabei auch in bescheidenem Maße mitprofitieren sollte. Alle drei Länder sollten sich als Entgelt für Gewährung von Aufmarschraum und Waffenhilfe auf Kosten Rußlands nach Osten ausdehnen dürfen. Am Ende würden sie dann zwar, eingebettet in das riesige großdeutsche Ostreich, ziemlich hilflose deutsche Satellitenstaaten werden, aber immerhin – bei entsprechendem Wohlverhalten – mit höflich respektierter Scheinsouveränität und privilegiertem Verbündetenstatus.

Im Falle Polens, des bedeutendsten dieser Länder, war Hitler sogar bereit, die Partnerschaft mit echten Zugeständnissen zu erkaufen; zunächst behandelte er Polen kaum anders als Italien. Der Nichtangriffspakt, den Hitler 1934 mit dem östlichen Nachbarn abschloß, war neben dem Verzicht auf Südtirol der einzige Bestandteil der Hitlerschen Außenpolitik, der in Deutschland mit hörbarem Murren quittiert wurde. Noch im Winter 1938/39, als es Ernst wurde, verlangte Hitler, sozusagen als Anerkennungsgebühr für ein nunmehr auf fünfundzwanzig Jahre vorgeschlagenes Bündnis, lediglich Danzig und eine exterritoriale Verbindung, durch den »Korridor«, das polnisch gewordene Westpreußen, nach Ostpreußen. Es gibt gar keinen Zweifel darüber, daß er auch damals noch Polen lieber zum Verbündeten als zum Feind gehabt hätte.

Was ihn umschalten und den Krieg gegen Polen als Vorübung des Krieges gegen Rußland wählen ließ – und zwar nun auch gleich als Vorübung der ursprünglich nur in Rußland beabsichtigten Kolonisierung –, das war nicht das polnische Nein in der Danzig-Frage, es war das polnische Nein zum Bündnis überhaupt. In Hitlers außenpolitischer Konzeption hing der Platz jedes Landes davon ab, wie es sich zu seinen Rußlandplänen stellte. Wer sie förderte, war Freund und Partner. Wer sie hinderte, wurde zum Feind – auch wenn ursprünglich eine Partnerrolle für ihn vorgesehen war.

Alles in allem eine Konzeption, der man Schlüssigkeit und innere Folgerichtigkeit nicht absprechen kann. Von dem mystischen Unsinn, mit dem Hitler sie garnierte (»höhere Rasse«, »Blut und Boden«, »Lebensraum«) kann man absehen. Selbstverständlich war diese Konzeption vollkommen amoralisch, aber das war jeder Imperialismus, und Imperialismus gab es ja nicht nur in Deutschland. Neu war allenfalls, daß Hitler einem europäischen Land das furchtbare Schicksal zudachte, das bisher nur außereuropäischen Völkern zugemutet worden war – grob gesprochen, daß er einen der bisherigen Gäste an der imperialistischen Tafel dazu bestimmte, selber verspeist zu werden. Aber vom moralischen Standpunkt war die Kolonisierung uralter Kulturländer wie etwa Indiens durch England oder Indochinas durch Frankreich natürlich nichts Besseres als Hitlers beabsichtigte Kolonisierung Rußlands. Aller Imperialismus hat einen kannibalischen Zug, und das hat ja lange Zeit seine Nutznießer nicht ernstlich gestört.

Immerhin war eins klar: Was Hitler vorhatte, bedeutete eine vollkommene Revolutionierung der Weltkräfteverhältnisse und einen großen Krieg. Seine Pläne waren kein Geheimnis. Sie waren in Mein Kampf mit unüberbietbarer Deutlichkeit niedergelegt, und Hitlers Reden, besonders die vor 1933, strotzten von Anspielungen darauf. Was der Erklärung bedarf, ist die Frage, warum diese Pläne lange Zeit weder in Deutschland noch in Europa auf ernstlichen Widerspruch und Widerstand stießen. Denn es ist ja nicht zu leugnen, daß gerade Hitlers Außenpolitik in Deutschland von Anfang an Begeisterung weckte und daß sie auch in Europa sechs Jahre lang von Erfolg zu Erfolg schritt – was wiederum die Begeisterung in Deutschland bis zum Rausch steigerte. Wie war das möglich?

Was Deutschland betrifft, wird mancher Leser diese Frage vielleicht auch heute noch sonderbar finden. Hitler wollte ja Deutschland groß und mächtig machen wie noch nie, und er hatte durchdachte und einleuchtende Vorstellungen davon, wie das zu bewerkstelligen sei. War es also nicht selbstverständlich, daß die große Mehrheit der Deutschen ihm zujubelte?

Aber so selbstverständlich war es nicht. Hitlers ehrgeizige Konzeption enthielt, von aller Unmoral einmal abgesehen, auch große Risiken für Deutschland; ja, wenn Deutschland sich ihr anvertraute, setzte es für den Fall des Mißlingens zum erstenmal (voraussehbarerweise) seine nationale Existenz aufs Spiel. Denn indem Hitler den Gedanken imperialistischer Eroberung und Unterwerfung auf eine europäische Großmacht anwandte, brach er ein Tabu. Bisher hatten, in stillschweigender Übereinkunft, für Europa andere Maßstäbe gegolten als für die außereuropäische Welt; außereuropäische Völker konnten kolonisiert werden, europäische dagegen nicht. Innerhalb Europas galt das nationale Prinzip so, wie außerhalb das imperiale galt.

Gerade Deutschland hatte davon nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg profitiert: Was auch immer die Sieger getan hatten, um es zu demütigen und seine Macht zu beschneiden, an die Existenz des Deutschen Reiches hatten sie nicht gerührt. Der Gedanke, es aufzuteilen oder dauernd zu unterwerfen, war auf der Pariser Friedenskonferenz nicht einmal erwogen worden – so unerschütterlich war innerhalb Europas selbst nach einem furchtbaren vierjährigen Krieg die Macht der nationalstaatlichen Idee.

Wenn Hitler jetzt mit diesem Tabu brach, konnte das furchtbar auf Deutschland zurückschlagen. Wenn ihm sein Kolonialkrieg gegen Rußland mißlang, dann war es nur natürlich, daß Rußland mit Deutschland machte, was Deutschland mit Rußland hatte machen wollen. Hitlers Plan bedeutete eine Änderung der europäischen Spielregeln – denen das Deutsche Reich 1919 sein Überleben verdankt hatte. Einen verlorenen Krieg, den es nach den neuen, Hitlerschen Spielregeln führte, konnte es nicht zu überleben hoffen.

Es ist eine außerordentlich bedeutsame, ja geschichtsträchtige Tatsache, daß diese naheliegende Erwägung in der deutschen öffentlichen Diskussion der zwanziger und dreißiger Jahre nie eine Rolle gespielt hat – und daß sich noch heute niemand darüber wundert. Es erklärt manches sonst unerklärlich Scheinende in dieser Geschichte, daß die Deutschen, jedenfalls die deutsche Oberschicht und in ihrem Gefolge eine ewige Mehrheit des Volkes, nie eigentlich national, sondern immer imperial gedacht haben; daß ihnen am Deutschen Reich das »Reich« immer wichtiger war als das »Deutsche«, die Chance der imperialen Machtentfaltung wichtiger als die nationale Einheit.

Wenn den Deutschen am Deutschen Reich das Wichtigste ihre nationale Einheit gewesen wäre, wenn es ihnen vor allem darum zu tun gewesen wäre, als »ein einzig Volk von Brüdern« gemeinsam unter einem staatlichen Dach zu leben – dann hätte 1919 nach dem Bekanntwerden der Versailler Friedensbedingungen eigentlich ein Aufatmen durch Deutschland gehen müssen. Denn was auch immer verloren war, die nationale Einheit, die Existenz des Reiches, um die man vier Jahre lang zu kämpfen behauptet hatte, war gerettet. Es gab aber kein Aufatmen, es gab einen Aufschrei. Und dieser Aufschrei ist nicht durch den Verlust von Randgebieten zu erklären, nicht durch die Rüstungsbeschränkungen, die auf die Dauer offensichtlich nicht zu erzwingen waren, nicht durch die Reparationen, die nur wenige Jahre lang bezahlt wurden, auch nicht durch die kleinlichen Kränkungen und Schikanen, an denen der Versailler Friedensvertrag allerdings reich war: Das sind schließlich alles normale Folgen eines verlorenen großen Krieges. Wenn Deutschland angesichts des Versailler Friedens aufbrüllte wie ein Stier, den man kastriert, dann deswegen, weil dieser Vertrag ihm zwar seine nationale Existenz belassen, aber seine imperiale Karriere abschneiden wollte. Deutschland hatte diese imperiale Karriere im Ersten Weltkrieg begonnen, es hatte sich vier Jahre lang als Sieger gefühlt, und es fühlte sich auch 1918 nicht wirklich besiegt. Wiederaufnahme des vorzeitig verloren gegebenen, im letzten Augenblick unerklärlicherweise mißlungenen großen Anlaufs zur Weltmacht: Das war die Parole des Deutschen Reiches, das 1920 aus Krieg, Niederlage, Revolution und Gegenrevolution intakt wiederaufgetaucht war. Die Gegenrichtung, die 1914 nur einen nationalen Verteidigungskrieg hatte führen wollen und die bei Kriegsende sagte: »Wir sind noch einmal davongekommen« und »Nie wieder Krieg«, hatte nach der Niederwerfung ihrer Revolution von 1918 in Deutschland nichts mehr zu bestellen. Der frustrierte imperiale Ehrgeiz regierte wieder die Geister. Das war die Grundstimmung, die Hitler nicht schuf, sondern vorfand. Er lieferte ihr nur die außenpolitische Konzeption – immerhin eine Konzeption, die den Zweifrontenkrieg, an dem man gescheitert war, beim nächstenmal zu vermeiden versprach.

Schwerer ist zu erklären, warum Hitlers Außenpolitik auch in Europa zwischen 1933 und 1939 kaum auf Widerstand, sondern überwiegend auf Verständnis und Entgegenkommen stieß. Auch außerhalb Deutschlands hatte man ja Mein Kampf lesen können, auch dort waren Hitlers Pläne nicht unbekannt, und wenn sie den Deutschen neben furchtbaren Risiken immerhin auch berauschende Aussichten boten – für Deutschlands europäische Nachbarn konnte die ungeheure Machtausweitung, auf die Hitler so offensichtlich hinzielte, ja wirklich nichts anderes bedeuten als ein Absinken in relative Machtlosigkeit, Unsicherheit und Abhängigkeit.

Aber hatte Hitler sich in seiner theoretischen Konzeption als ein ernst zu nehmender Stratege erwiesen, so bewährte er sich nun in der praktischen Durchführung seiner Außenpolitik als meisterhafter Taktiker. Fast noch umsichtiger als in Deutschland selbst verstand er sich darauf, vorhandene Geisteshaltungen und Seelenzustände des Auslands herauszuspüren und anzusprechen und seine Ideen seinem jeweiligen Publikum anzupassen. Vor allem drei damals in Europa herrschende Gesinnungen wußte er perfekt in seinen Dienst zu stellen: Nationalismus, Bolschewistenfurcht und Friedenssehnsucht.