Geschichte eines Deutschen - Sebastian Haffner - E-Book

Geschichte eines Deutschen E-Book

Sebastian Haffner

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Beschreibung

Ein einzigartiges Zeitzeugnis

Als Kind und junger Mann erlebte Sebastian Haffner den Ersten Weltkrieg, die galoppierende Inflation 1923, die Radikalisierung der politischen Parteien, den unaufhaltsamen Aufstieg der Nationalsozialisten. Ohne politisch oder rassisch verfolgt zu sein, emigrierte er 1938. Aus dem Nachlass wurden diese Erinnerungen seiner ersten drei Lebensjahrzehnte veröffentlicht, die Haffner 1939 in England zu Papier gebracht hatte. Um zwei neu aufgefundene Manuskriptteile erweiterte Ausgabe.

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Seitenzahl: 371

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Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © 2000 by Sarah Haffner und Oliver Pretzel Copyright © 2000 by Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart / München Covergestaltung: Jorge Schmidt, München
ISBN 978-3-641-15553-7 V002
www.pantheon-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

VORBEMERKUNGPROLOG
123456789101112131415
DIE REVOLUTION
16171819202122232425
ABSCHIED
262728293031323334353637383940
NACHWORTCopyright

VORBEMERKUNG

Im März 2002 erfuhren meine Schwester Sarah Haffner und ich vom Bundesarchiv, daß ein dort seit 2000 die Papiere unseres Vaters ordnender junger Historiker, Jürgen Peter Schmied, zwei Manuskripte gefunden hatte, die zur »Geschichte eines Deutschen« gehören.

Es handelt sich beim ersten um die fehlende getippte Fassung von Kapitel 25. Durch Einfügen dieser Fassung ist es nunmehr möglich, den ursprünglichen Übergang von Kapitel 24 und den Urzustand der seinerzeit vom stern gekürzten Passagen wiederherzustellen.

Beim zweiten Fund handelt es sich um 38 handgeschriebene Seiten, die die Erzählung bis zum Dezember 1933 fortsetzen und in sechs zusätzlichen Kapiteln das Referendarlager in Jüterbog beschreiben. Diese Seiten bringen das Gesamtmanuskript auf die Länge, die mein Vater in seinem im Nachwort zitierten Brief vom 6. Oktober 1939 angegeben hat. Obwohl sie nur in Form eines ersten Entwurfs vorliegen, sind sie hier unverändert abgedruckt.

Mit diesen beiden Ergänzungen entspricht nun das Buch, bis auf das zurückübersetzte Kapitel 10, in vollem Umfang dem Zustand, den das Manuskript im Herbst 1939 hatte, als es beiseite gelegt wurde.

Oliver PretzelApril 2002

Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel.

(GOETHE, 1808)

Zunächst das Wichtigste: »was tun und treiben Sie eigentlich in dieser großen Zeit? Ich sage: groß: denn alle Zeiten scheinen mir Groß, wo sich der Einzelne zuletzt, auf gar nichts stehend als auf seinen Beinen, dazu vom Zeitengeist halbtotgehetzt, Besinnen muß, ob nolens oder volens, auf nichts geringeres als eben SICH! Die Pause eines bloßen Atemholens genügt bisweilen – Sie verstehen mich.«

(PETER GAN, 1935)

PROLOG

1

Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, hat zum Gegenstand eine Art von Duell.

Es ist ein Duell zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern: einem überaus mächtigen, starken und rücksichtslosen Staat, und einem kleinen, anonymen, unbekannten Privatmann. Dies Duell spielt sich nicht auf dem Felde ab, das man gemeinhin als das Feld der Politik betrachtet; der Privatmann ist keineswegs ein Politiker, noch weniger ein Verschwörer, ein »Staatsfeind«. Er befindet sich die ganze Zeit über durchaus in der Defensive. Er will nichts weiter, als das bewahren, was er, schlecht und recht, als seine eigene Persönlichkeit, sein eigenes Leben und seine private Ehre betrachtet. Dies alles wird von dem Staat, in dem er lebt und mit dem er es zu tun hat, ständig angegriffen, mit äußerst brutalen, wenn auch etwas plumpen Mitteln.

Unter furchtbaren Drohungen verlangt dieser Staat von diesem Privatmann, daß er seine Freunde aufgibt, seine Freundinnen verläßt, seine Gesinnungen ablegt, vorgeschriebene Gesinnungen annimmt, anders grüßt als er es gewohnt ist, anders ißt und trinkt als er es liebt, seine Freizeit für Beschäftigungen verwendet, die er verabscheut, seine Person für Abenteuer zur Verfügung stellt, die er ablehnt, seine Vergangenheit und sein Ich verleugnet, und vor allem für alles dies ständig äußerste Begeisterung und Dankbarkeit an den Tag legt.

Das alles will der Privatmann nicht. Er ist wenig vorbereitet auf den Angriff, dessen Opfer er ist, er ist kein geborener Held, noch weniger ein geborener Märtyrer. Er ist einfach ein Durchschnittsmensch mit vielen Schwächen, noch dazu das Produkt einer gefährlichen Epoche: Dies aber will er nicht. Und so läßt er sich auf das Duell ein – ohne Begeisterung, eher mit Achselzucken; aber mit einer stillen Entschlossenheit, nicht nachzugeben. Er ist selbstverständlich viel schwächer als sein Gegner, dafür freilich etwas geschmeidiger. Man wird sehen, wie er Ablenkungsmanöver macht, ausweicht, plötzlich wieder ausfällt, wie er balanciert und schwere Stöße um Haaresbreite pariert. Man wird zugeben, daß er sich im Ganzen für einen Durchschnittsmenschen ohne besonders heldische oder märtyrerhafte Züge ganz wacker hält. Dennoch wird man sehen, wie er zum Schluß den Kampf abbrechen – oder, wenn man will, auf eine andere Ebene übertragen muß.

Der Staat ist das Deutsche Reich, der Privatmann bin ich. Das Kampfspiel zwischen uns mag interessant zu betrachten sein, wie jedes Kampfspiel. (Ich hoffe, es wird interessant sein!) Aber ich erzähle es nicht allein um der Unterhaltung willen. Ich habe noch eine andere Absicht dabei, die mir noch mehr am Herzen liegt.

Mein privates Duell mit dem Dritten Reich ist kein vereinzelter Vorgang. Solche Duelle, in denen ein Privatmann sein privates Ich und seine private Ehre gegen einen übermächtigen feindlichen Staat zu verteidigen sucht, werden seit sechs Jahren in Deutschland zu Tausenden und Hunderttausenden ausgefochten – jedes in absoluter Isolierung und alle unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Manche von den Duellanten, heldischere oder märtyrerhaftere Naturen, haben es weiter gebracht als ich: bis zum Konzentrationslager, bis zum Block, und bis zu einer Anwartschaft auf künftige Denkmäler. Andere sind schon viel früher erlegen und sind heute schon längst still murrende S.A.-Reservisten oder N.S.V.-Blockwalter. Mein Fall mag gerade ein Durchschnittsfall sein. Man kann recht gut an ihm ablesen, wie heute die Chancen in Deutschland für den Menschen stehen.

Man wird sehen, daß sie ziemlich hoffnungslos stehen. Sie brauchten nicht ganz so hoffnungslos zu stehen, wenn die Außenwelt wollte. Ich glaube, daß die Außenwelt ein Interesse daran hat, zu wollen, daß sie weniger hoffnungslos stehen. Sie könnte – zwar nicht mehr den Krieg; dazu ist es zu spät – aber ein paar Kriegsjahre dadurch sparen. Denn die Deutschen guten Willens, die ihren privaten Frieden und ihre private Freiheit zu verteidigen suchen, verteidigen, ohne es zu wissen, noch etwas anderes mit: den Frieden und die Freiheit der Welt.

Es scheint mir deswegen immer noch der Mühe wert, die Aufmerksamkeit der Welt auf diese Vorgänge im unbekannten Deutschland zu lenken.

Ich will in diesem Buch nur erzählen, keine Moral predigen. Aber das Buch hat eine Moral, welche, wie das »andere und größere Thema« in Elgars Enigma-Variationen »durch und über das Ganze geht« – stumm. Ich habe nichts dagegen, daß man nach der Lektüre alle die Abenteuer und Wechselfälle wieder vergißt, die ich erzähle. Aber ich wäre sehr befriedigt, wenn man die Moral, die ich verschweige, nicht vergäße.

2

Ehe der totale Staat fordernd und drohend auf mich zutrat und mich lehrte, was es heißt, Geschichte am eigenen Leibe zu erleben, hatte ich schon eine ganz hübsche Menge von dem miterlebt, was man »historische Ereignisse« nennt. Alle Europäer der jetzt lebenden Generation können das von sich sagen; und gewiß niemand mehr als die Deutschen.

Alle diese historischen Ereignisse haben selbstverständlich ihre Spuren hinterlassen: in mir so gut wie in allen meinen Landsleuten; und man versteht nicht, was später geschehen konnte, wenn man dies nicht versteht.

Aber es ist ein wichtiger Unterschied zwischen allem, was vor 1933 geschah, und dem, was dann kam: Alles frühere zog an uns vorbei und über uns hin, es beschäftigte und es regte uns auf, und den einen oder andern tötete es oder ließ ihn verarmen; aber keinen stellte es vor letzte Gewissensentscheidungen. Ein innerster Lebensbezirk blieb unberührt. Man machte Erfahrungen, man bildete Überzeugungen: Aber man blieb, was man war. Keiner, der, willig oder widerstrebend, in die Maschine des Dritten Reichs geraten ist, kann das ehrlich von sich sagen.

Offenbar hat geschichtliches Geschehen einen verschiedenen Intensitätsgrad. Ein »historisches Ereignis« kann in der wirklichen Wirklichkeit, also im eigentlichsten, privatesten Leben der einzelnen Menschen, fast unregistriert bleiben – oder es kann dort Verheerungen anrichten, die keinen Stein auf dem andern lassen. In der normalen Geschichtsdarstellung sieht man ihm das nicht an. »1890: Wilhelm II. entläßt Bismarck.« Gewiß ein großes, fettgedrucktes Datum in der deutschen Geschichte. Aber schwerlich ein Datum in der Biographie irgendeines Deutschen, außerhalb des kleinen Kreises der Beteiligten. Jedes Leben ging weiter wie zuvor. Keine Familie wurde auseinandergerissen, keine Freundschaft ging in die Brüche, keiner verließ seine Heimat, nichts dergleichen. Nicht einmal ein Rendezvous oder eine Opernvorstellung wurde abgesagt. Wer unglücklich verliebt war, blieb es, wer glücklich verliebt war, blieb es, die Armen blieben arm, die Reichen reich ... Und nun vergleiche man damit das Datum »1933: Hindenburg betraut Hitler.« Ein Erdbeben beginnt in 66 Millionen Menschenleben!

Wie gesagt, die wissenschaftlich-pragmatische Geschichtsdarstellung sagt über diesen Intensitätsunterschied des Geschichtsgeschehens nichts. Wer etwas darüber erfahren will, muß Biographien lesen, und zwar nicht die Biographien von Staatsmännern, sondern die viel zu raren Biographien der unbekannten Privatleute. Dort wird er sehen: Das eine »historische Ereignis« zieht über das private  – d. h. wirkliche – Leben hin wie eine Wolke über einen See; nichts regt sich, nur ein flüchtiges Bild spiegelt sich. Das andere peitscht den See auf wie Sturm und Gewitter; man erkennt ihn kaum mehr wieder. Das dritte besteht vielleicht darin, daß alle Seen ausgetrocknet werden.

Ich glaube, Geschichte wird falsch verstanden, wenn man diese ihre Dimension vergißt (und sie wird fast immer vergessen). Man lasse mich daher einmal, zum Spaß, 20 Jahre deutsche Geschichte aus meiner Perspektive erzählen, ehe ich zum eigentlichen Thema komme: Geschichte Deutschlands als Teil meiner privaten Lebensgeschichte. Es wird ganz schnell gehen, und es wird das Verständnis für alles folgende erleichtern. Außerdem werden wir uns dabei ein wenig näher kennenlernen.

3

Der Ausbruch des vorigen Weltkrieges, mit dem mein bewußtes Leben wie mit einem Paukenschlag einsetzt, traf mich, wie er die meisten Europäer traf: in den Sommerferien. Um es gleich zu sagen: Die Zerstörung dieser Ferien war das Ärgste, was mir der ganze Krieg persönlich antat.

Mit welcher gnädigen Plötzlichkeit der vorige Krieg ausbrach, wenn man es mit dem marternd langsamen Näherrücken des jetzt kommenden vergleicht! Am 1. August 1914 hatten wir noch gerade beschlossen, das Ganze nicht ernstzunehmen und in unserer Sommerfrische zu bleiben. Wir saßen auf einem Gut in Hinterpommern, sehr weltverloren, zwischen Wäldern, die ich, ein kleiner Schuljunge, kannte und liebte wie nichts anderes auf der Welt. Die Rückkehr aus diesen Wäldern in die Stadt, alljährlich Mitte August, war das traurigste, unerträglichste Ereignis des Jahres für mich, vergleichbar nur noch etwa dem Plündern und Verbrennen des Weihnachtsbaums nach dem Neujahrsfest. Am 1. August lag es noch um zwei Wochen fern – eine Unendlichkeit.

In den Tagen zuvor freilich war einiges Beunruhigendes geschehen. Die Zeitung hatte etwas, was sie nie gehabt hatte: Überschriften. Mein Vater las sie länger als sonst, hatte ein besorgtes Gesicht dabei und schalt auf die Österreicher, wenn er sie ausgelesen hatte. Einmal hieß die Überschrift: »Krieg!« Ich hörte ständig neue Worte, deren Bedeutung ich nicht kannte und mir umständlich erklären lassen mußte: »Ultimatum«; »Mobilmachung«; »Allianz«; »die Entente«. Ein Major, der auf demselben Gut wohnte und mit dessen beiden Töchtern ich auf Neck- und Kriegsfuß stand, bekam plötzlich eine »Order«, auch so ein neues Wort, und reiste Hals über Kopf ab. Auch einer der Söhne unseres Wirts wurde eingezogen. Alle liefen ein Stück hinterher, als er im Jagdwagen zur Bahn fuhr, und riefen »Sei tapfer!«, »Bleib heil und gesund!«, »Komm bald wieder!« Einer rief: »Hau die Serben!«, worauf ich, eingedenk dessen, was mein Vater nach der Zeitungslektüre zu äußern pflegte, rief: »Und die Österreicher!« Ich war sehr erstaunt, daß alle plötzlich lachten.

Stärker als alles dies traf es mich, als ich hörte, daß auch die schönsten Pferde auf dem Gut, »Hanns« und »Wachtel«, wegkommen sollten, und zwar weil sie, welche Menge von erklärungsbedürftigen Erklärungen!, zur »Kavalleriereserve« gehörten. Die Pferde liebte ich jedes einzeln, und daß die zwei schönsten plötzlich weg sollten, gab mir einen Stich ins Herz.

Aber das Ärgste von allem war, daß zwischendrein auch immer wieder das Wort »Abreise« fiel. »Vielleicht müssen wir morgen schon abreisen.« Das klang für mich genau so, als ob man gesagt hätte: »Vielleicht müssen wir morgen schon sterben.« Morgen – anstatt nach einer Unendlichkeit von zwei Wochen!

Damals gab es bekanntlich noch kein Radio, und die Zeitung kam mit 24 Stunden Verspätung in unsere Wälder. Es stand übrigens auch weit weniger darin, als heute in den Zeitungen zu stehen pflegt. Die Diplomaten waren damals noch viel diskreter als heute ... Und so konnte es geschehen, daß wir gerade am 1. August 1914 beschlossen, daß der Krieg gar nicht stattfinden würde und daß wir bleiben würden, wo wir waren.

Nie werde ich diesen 1. August 1914 vergessen, und immer wird die Erinnerung an diesen Tag ein tiefes Gefühl von Beruhigung, von gelöster Spannung, von »Alles wieder gut« mit heraufbringen. So seltsam kann das »Geschichte-Miterleben« vor sich gehen.

Es war ein Sonnabend, mit all der wundervollen Friedlichkeit, die ein Sonnabend auf dem Lande haben kann. Die Arbeit war vorbei, Geläute heimkehrender Herden in der Luft, Ordnung und Stille über dem ganzen Gutshof, die Knechte und Mägde putzten sich in ihren Kammern für irgendein abendliches Tanzvergnügen. Unten aber in der Halle mit den Hirschgeweihen an den Wänden und den Zinngeräten und blanken Steinguttellern auf den Borden fand ich, in tiefen Lehnstühlen sitzend, meinen Vater und den Gutsherrn, unsern Wirt, vor, wie sie in besonnenem Gespräch alles bedächtig erwogen. Selbstverständlich verstand ich nicht viel von dem, was sie redeten, und ich habe es auch völlig vergessen. Nicht vergessen habe ich, wie ruhig und tröstlich ihre Stimmen klangen, die hellere meines Vaters und der tiefe Baß des Gutsherrn, wie vertrauenseinflößend der wohlriechende Rauch ihrer langsam gerauchten Zigarren in kleinen Säulen vor ihnen in die Luft stieg, und wie, je länger sie redeten, alles immer klarer, immer besser und immer tröstlicher wurde. Ja, es wurde schließlich geradezu unwiderleglich klar, daß es Krieg gar nicht geben konnte, und infolgedessen würden wir uns natürlich nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern bis zum Ende der Ferien hierbleiben, wie immer.

Als ich so weit zugehört hatte, ging ich hinaus, das Herz ganz geschwellt von Erlöstheit, Zufriedenheit und Dankbarkeit, und sah mit geradezu frommen Gefühlen über den Wäldern, die nun wieder mein Besitz waren, die Sonne untergehen. Der Tag war bedeckt gewesen, aber gegen Abend hatte er sich immer mehr aufgeklärt, und jetzt schwamm die Sonne, golden und rötlich, im reinsten Blau, einen wolkenlosen neuen Tag verheißend. So wolkenlos, ich war gewiß, würde die ganze Unendlichkeit von 14 Ferientagen sein, die jetzt wieder vor mir lag! –

Als ich am nächsten Tag geweckt wurde, war das Packen schon in vollem Gang. Erst verstand ich überhaupt gar nicht, was geschehen war; das Wort »Mobilmachung«, obwohl man es mir ein paar Tage vorher zu erklären versucht hatte, sagte mir gar nichts. Es war aber wenig Zeit, mir überhaupt irgend etwas zu erklären. Denn mittags mußten wir bereits mit Sack und Pack fahren – es war zweifelhaft, ob später noch irgendein Zug für uns dasein würde. »Heute gehts Null komma fünf«, sagte unser tüchtiges Dienstmädchen; eine Redensart, deren eigentlicher Sinn mir heutigentags noch dunkel ist, die aber jedenfalls besagte, daß es drüber und drunter ging und daß jeder sehen mußte, wo er bliebe. So konnte es auch geschehen, daß ich mich unbemerkt noch einmal davonmachen und in die Wälder laufen konnte – wo man mich gerade noch rechtzeitig vor der Abfahrt auffand, auf einem Baumstumpf sitzend, Kopf in den Händen, fassungslos heulend und ohne jedes Verständnis für den Zuspruch, daß nun Krieg sei und daß jeder Opfer bringen müsse. Irgendwie wurde ich in den Wagen verstaut und fort gings hinter zwei trabenden braunen Pferden – nicht mehr Hanns und Wachtel, die waren schon fort –, mit Staubwolken hinter uns, die alles verhüllten. Nie habe ich die Wälder meiner Kindheit wiedergesehen.

Es war das erste und letzte Mal, daß ich ein Stück vom Kriege als Wirklichkeit erlebte, mit dem natürlichen Schmerz des Menschen, dem etwas genommen und zerstört wird. Schon unterwegs wurde alles anders, aufregender, abenteuerlicher – festlicher. Die Eisenbahnfahrt dauerte nicht sieben Stunden wie sonst, sondern zwölf. Ständig gab es Aufenthalte, Züge voller Soldaten kamen an uns vorüber, und jedesmal stürzte alles zu den Fenstern, mit Winken und brausendem Rufen. Wir hatten kein Abteil für uns wie sonst, wenn wir reisten, sondern standen in Gängen oder saßen auf unseren Koffern, eingequetscht zwischen vielen Menschen, die alle unaufhörlich schnatterten und redeten, als wären es keine Fremden, sondern alte Bekannte. Am meisten sprachen sie über Spione. Ich lernte auf dieser Fahrt alles über das abenteuerliche Gewerbe der Spione, von dem ich noch nie gehört hatte. Über alle Brücken fuhren wir ganz langsam, und ich empfand jedesmal ein angenehmes Gruseln dabei; konnte doch ein Spion Bomben unter die Brücke gelegt haben! Als wir in Berlin ankamen, war es Mitternacht. Nie in meinem Leben war ich so lange aufgeblieben! Und unsere Wohnung war keineswegs auf uns vorbereitet, Bezüge über den Möbeln, die Betten nicht instand. Man machte mir ein Lager auf einem Sofa im tabakduftenden Arbeitszimmer meines Vaters. Kein Zweifel: Ein Krieg brachte auch vieles Erfreuliche mit sich!

In den nächsten Tagen lernte ich unglaublich viel in unglaublich kurzer Zeit. Ich, ein siebenjähriger Junge, der noch vor kurzem kaum gewußt hatte, was ein Krieg, geschweige was »Ultimatum«, »Mobilisierung« und »Kavalleriereserve« ist, wußte alsbald, als hätte ich es immer gewußt, ganz genau nicht nur das Was, Wie und Wo des Krieges, sondern sogar das Warum: Ich wußte, daß am Kriege Frankreichs Revanchelüsternheit, Englands Handelsneid und Rußlands Barbarei schuld waren – ganz geläufig konnte ich alle diese Worte alsbald aussprechen. Ich fing einfach eines Tages an, die Zeitung zu lesen, und wunderte mich, wie überaus leicht verständlich sie war. Ich ließ mir die Karte von Europa zeigen, sah auf einen Blick, daß »wir« mit Frankreich und England schon fertig werden würden, empfand allerdings einen dumpfen Schreck über die Größe Rußlands, ließ mich aber dadurch trösten, daß die Russen ihre beängstigende Zahl durch unglaubliche Dummheit und Verkommenheit und beständiges Wodkatrinken wieder wettmachten. Ich lernte – und zwar, wie gesagt, so schnell, als hätte ich es immer gewußt – die Namen von Heerführern, die Stärke von Armeen, die Bewaffnung und Wasserverdrängung von Schiffen, die Lage der wichtigsten Festungen, den Verlauf der Fronten – und ich kam alsbald dahinter, daß hier ein Spiel im Gange war, geeignet, das Leben spannend und aufregend zu machen wie nichts zuvor. Meine Begeisterung und mein Interesse für dieses Spiel erlahmten nicht bis zum bitteren Ende.

Ich muß hier meine Familie in Schutz nehmen. Es waren keineswegs meine nächsten Angehörigen, die mir den Kopf verdrehten. Mein Vater litt unter dem Kriege vom ersten Augenblick an und blickte auf die Begeisterung der ersten Wochen mit Skepsis, auf die Haßpsychose, die ihr folgte, mit tiefem Ekel – wenn er auch selbstverständlich, loyal und patriotisch, Deutschlands Sieg wünschte. Er gehörte zu den vielen liberalen Geistern seiner Generation, die im Stillen fest überzeugt gewesen waren, daß Kriege unter Europäern ein Ding seien, das der Vergangenheit angehörte. Er konnte mit dem Kriege, sozusagen, nichts anfangen – und er verschmähte es durchaus, sich, wie so viele andere, etwas darüber vorzumachen. Ich hörte ihn ein paarmal bittere und skeptische Worte sagen – nicht mehr nur über die Österreicher –, die mich in meiner neugewonnenen Kriegsbegeisterung befremdeten. Nein, mein Vater – und ebenso meine übrigen Angehörigen – waren unschuldig daran, daß ich binnen weniger Tage zum fanatischen Chauvinisten und »Heimkrieger« wurde.

Schuld war – die Luft; die anonyme, tausendfältig spürbare Stimmung ringsum; der Sog und Zug der massenhaften Einigkeit, die den, der sich hineinwarf (und sei er ein siebenjähriger Junge) mit unerhörten Emotionen beschenkte, und den, der draußen blieb, fast ersticken ließ in einem Vakuum von Öde und Einsamkeit. Ich verspürte zum ersten Mal, damals mit naiver Lust und ohne eine Spur von Zweifel oder Konflikt, die Auswirkung der seltsamen Begabung meines Volkes, Massenpsychosen zu bilden. (Eine Begabung, die vielleicht ein Ausgleich für sein geringes Talent zum individuellen Glück ist.) Ich hatte keine Ahnung, daß es überhaupt möglich sein könnte, bei einer solchen festlich-allgemeinen Raserei sich auszuschließen. Ich kam auch nicht im entferntesten auf den Gedanken, daß etwas Schlimmes oder Gefährliches an einer Sache sein könnte, die so offensichtlich glücklich machte und so unalltäglich-festliche Rauschzustände verschenkte.

Nun war ein Krieg damals für einen Schuljungen in Berlin freilich etwas tief Unwirkliches: unwirklich wie ein Spiel. Es gab keine Fliegerangriffe und keine Bomben. Verwundete gab es, aber nur von fern, mit malerischen Verbänden. Man hatte Verwandte an der Front, gewiß, und hin und wieder kam eine Todesanzeige. Aber dafür war man ein Kind, daß man sich schnell an ihre Abwesenheit gewöhnte; und daß diese Abwesenheit eines Tages endgültig wurde, machte schon gar keinen Unterschied mehr. Was es an wirklichen Härten und fühlbaren Unannehmlichkeiten gab, zählte wenig. Schlechtes Essen – nun ja. Später auch zu wenig Essen, klappernde Holzsohlen an den Schuhen, gewendete Anzüge, Knochen- und Kirschkernsammlungen in der Schule, und, seltsamerweise, häufiges Kranksein. Aber ich muß gestehen, daß mir das alles keinen tiefen Eindruck machte. Nicht etwa, daß ich es »trug wie ein kleiner Held«. Sondern ich hatte gar nicht so besonders daran zu tragen. Ich dachte so wenig an Essen, wie der Fußball-Enthusiast beim Cup-Final an Essen denkt. Der Heeresbericht interessierte mich viel stärker als der Küchenzettel.

Der Vergleich mit dem Fußball-Enthusiasten trägt sehr weit. Tatsächlich war ich damals, als Kind, ein Kriegsenthusiast, wie man ein Fußballenthusiast ist. Ich würde mich schlechter machen als ich war, wollte ich behaupten, daß ich wirklich ein Opfer der eigentlichen Haßpropaganda gewesen wäre, die während der Jahre 15 bis 18 die erlahmende Begeisterung der ersten Monate hochpeitschen sollte. Ich haßte die Franzosen, Engländer und Russen so wenig wie der Portsmouth-Anhänger die Leute von Wolverhampton »haßt«. Selbstverständlich wünschte ich ihnen Niederlage und Demütigung, aber nur weil sie die unvermeidliche Kehrseite von Sieg und Triumph meiner Partei waren.

Was zählte, war die Faszination des kriegerischen Spiels: eines Spiels, in dem nach geheimnisvollen Regeln Gefangenenzahlen, Geländegewinne, eroberte Festungen und versenkte Schiffe ungefähr die Rolle spielten wie Torschüsse beim Fußball oder »Punkte« beim Boxen. Ich wurde nicht müde, innerlich Punktetabellen zu führen. Ich war ein eifriger Leser der Heeresberichte, die ich nach einer Art »umrechnete«, nach wiederum sehr geheimnisvollen, irrationalen Regeln, in denen beispielsweise zehn gefangene Russen einen gefangenen Franzosen oder Engländer wert waren, oder 50 Flugzeuge einen Panzerkreuzer. Hätte es Gefallenenstatistiken gegeben, ich würde sicher auch unbedenklich die Toten »umgerechnet« haben, ohne mir vorzustellen, wie das in der Wirklichkeit aussah, womit ich da rechnete. Es war ein dunkles, geheimnisvolles Spiel, von einem nie endenden, lasterhaften Reiz, der alles auslöschte, das wirkliche Leben nichtig machte, narkotisierend wie Roulette oder Opiumrauchen. Ich und meine Kameraden spielten es den ganzen Krieg hindurch, vier Jahre lang, ungestraft und ungestört – und dieses Spiel, nicht die harmlosen »Kriegsspiele«, die wir nebenbei auf Straßen und Spielplätzen aufführten, war es, was seine gefährlichen Marken in uns allen hinterlassen hat.

4

Vielleicht findet man es nicht der Mühe wert, daß ich die offensichtlich unadäquaten Reaktionen eines Kindes auf den Weltkrieg so ausführlich darstelle. Gewiß wäre es nicht der Mühe wert, wenn es sich dabei um einen Einzelfall handelte. Es ist aber kein Einzelfall. So oder so ähnlich hat eine ganze deutsche Generation in ihrer Kindheit oder frühen Jugend den Krieg erlebt – und zwar sehr bezeichnenderweise die Generation, die heute seine Wiederholung vorbereitet.

Es schwächt die Kraft und Nachwirkung dieses Erlebnisses keineswegs ab, daß die, die es erfuhren, Kinder oder junge Burschen waren; im Gegenteil! Die Massenseele und die kindliche Seele sind sehr ähnlich in ihren Reaktionen. Man kann sich die Konzeptionen, mit denen Massen gefüttert und bewegt werden, gar nicht kindlich genug vorstellen. Echte Ideen müssen, um massenbewegende historische Kräfte zu werden, im allgemeinen erst bis auf die Fassungskraft eines Kindes heruntersimplifiziert werden. Und eine kindische Wahnvorstellung, gebildet in den Köpfen von zehn Kinderjahrgängen und vier Jahre hindurch in ihnen festgenagelt, kann sehr wohl zwanzig Jahre später als tödlich ernsthafte »Weltanschauung« ihren Einzug in die große Politik halten.

Der Krieg als ein großes, aufregend-begeisterndes Spiel der Nationen, das tiefere Unterhaltung und lustvollere Emotionen beschert als irgendetwas, was der Frieden zu bieten hat; das war 1914 bis 1918 die tägliche Erfahrung von zehn Jahrgängen deutscher Schuljungen; und das ist die positive Grundvision des Nazitums geworden. Von dieser Vision her bezieht es seine Werbekraft, seine Simplizität, seinen Appell an Phantasie und Aktionslust; und von ihr bezieht es ebenso seine Intoleranz und Grausamkeit gegen den innerpolitischen Gegner: weil der, der dieses Spiel nicht mitmachen will, gar nicht als »Gegner« anerkannt, sondern einfach als Spielverderber empfunden wird. Und schließlich bezieht es von ihr seine selbstverständlich kriegsmäßige Einstellung gegen den Nachbarstaat: weil jeder andere Staat wiederum nicht als »Nachbar« anerkannt wird, sondern nolens volens Gegner zu sein hat – sonst könnte ja das ganze Spiel nicht stattfinden!

Vieles hat dem Nazismus später geholfen und sein Wesen modifiziert. Aber hier liegt seine Wurzel: nicht etwa im »Fronterlebnis«, sondern im Kriegserlebnis des deutschen Schuljungen. Die Frontgeneration hat ja im ganzen wenig echte Nazis geliefert und liefert heute noch im wesentlichen die »Nörgler und Meckerer«; sehr verständlich, denn wer den Krieg als Wirklichkeit erlebt hat, bewertet ihn meistens anders. (Ausnahmen zugegeben: die ewigen Krieger, die in der Wirklichkeit des Krieges mit allen Schrecken dennoch ihre Lebensform fanden und immer wieder finden – und die ewigen »gescheiterten Existenzen«, die gerade die Schrecken und Zerstörungen des Krieges mit Jubel erlebten und erleben, als eine Rache an dem Leben, dem sie nicht gewachsen sind. Zum ersten Typ gehört vielleicht Göring; zum zweiten bestimmt Hitler.) Die eigentliche Generation des Nazismus aber sind die in der Dekade 1900 bis 1910 Geborenen, die den Krieg, ganz ungestört von seiner Tatsächlichkeit, als großes Spiel erlebt haben.

– Ganz ungestört! Man wird einwenden, daß sie immerhin gehungert haben. Das ist richtig; aber ich habe schon erzählt, wie wenig der Hunger das Spiel störte. Vielleicht begünstigte er es sogar. Satte und gutgenährte Menschen neigen nicht zu Visionen und Phantasien ... auf jeden Fall: Der Hunger allein desillusionierte nicht. Es wurde, sozusagen, verdaut. Was übrig geblieben ist, ist sogar eine gewisse Abhärtung gegen Unterernährung – vielleicht einer der sympathischeren Züge dieser Generation.

Wir sind sehr früh daran gewöhnt worden, mit einem Minimum von Essen auszukommen. Die meisten jetzt lebenden Deutschen haben dreimal eine unterdurchschnittliche Ernährung gehabt: das erste Mal im Kriege, das zweite Mal in der Hochinflation, das dritte Mal jetzt, unter dem Motto »Kanonen statt Butter«. Sie sind in dieser Hinsicht, sozusagen, trainiert, und nicht besonders anspruchsvoll.

Es ist mir sehr zweifelhaft, ob die weitverbreitete Ansicht stimmt, daß die Deutschen den Weltkrieg aus Hunger abgebrochen hätten. Sie hungerten 1918 schon drei Jahre lang, und 1917 war ein schlimmeres Hungerjahr gewesen als 1918. Meiner Meinung nach brachen die Deutschen den Krieg ab, nicht weil sie hungerten, sondern weil sie ihn als militärisch verloren und aussichtslos ansahen. Wie dem auch sei – die Deutschen werden jedenfalls kaum den Nazismus oder den zweiten Weltkrieg aus Hunger abbrechen. Sie finden heute, daß Hungern halb und halb eine sittliche Pflicht und jedenfalls nicht so schlimm ist. Sie sind nachgerade ein Volk geworden, das sich seiner natürlichen Eßbedürfnisse geradezu geniert, und paradoxerweise gewinnen die Nazis aus der Tatsache, daß sie dem Volk nichts zu essen geben, nebenbei sogar noch ein indirektes Propagandamittel.

Sie schieben nämlich jedem, der »schimpft«, öffentlich als Motiv unter, er schimpfe, weil er keine Butter und keinen Kaffee bekomme. Nun wird zwar sehr viel in Deutschland »geschimpft«, aber die meisten schimpfen aus ganz anderen – und tatsächlich meist weit ehrenvolleren – Gründen als wegen der schlechten Ernährung, und sie würden sich schämen, wegen der schlechten Ernährung zu schimpfen. Es wird weit weniger in Deutschland gerade über die Nahrungsmittelknappheit geschimpft, als man nach der Lektüre der Naziblätter glauben sollte. Die Naziblätter wissen aber recht gut, was sie tun, wenn sie das Gegenteil glauben machen: Denn ehe der unzufriedene Deutsche in den Ruf kommen will, er sei aus niederer Eßgier unzufrieden, verstummt er ganz.

Wie gesagt übrigens, ich halte das für einen der sympathischeren Züge der gegenwärtigen Deutschen.

5

Ich verlor während der vier Kriegsjahre allmählich das Gefühl dafür, wie und was der Frieden sein könne. Meine Erinnerung an die Zeit vor dem Kriege verblaßte allmählich. Ich konnte mir einen Tag ohne Heeresbericht nicht mehr vorstellen. Ein solcher Tag hätte auch seinen Hauptreiz entbehrt. Was bot denn der Tag sonst schon? Man ging zur Schule, man lernte Schreiben und Rechnen und später Latein und Geschichte, man spielte mit Freunden, man ging mit seinen Eltern spazieren, aber war das ein Lebensinhalt? Was dem Leben Spannung und dem Tag seine Farbe gab, waren die jeweiligen militärischen Ereignisse; War eine große Offensive im Gange, mit fünfstelligen Gefangenenzahlen und gefallenen Festungen und »unermeßlicher Ausbeute an Kriegsmaterial«, dann war Festzeit, man hatte unendlichen Stoff für die Phantasie, und das Leben ging hoch, ganz ähnlich, wie später, wenn man verliebt war. Waren nur langweilige Abwehrkämpfe, »im Westen nichts Neues«, oder gar »planmäßig durchgeführter strategischer Rückzug«, dann war das ganze Leben angegraut, die Kriegsspiele mit den Kameraden ohne Reiz und die Schularbeiten doppelt langweilig.

Jeden Tag ging ich zu einem Polizeirevier, ein paar Straßenecken von unserer Wohnung: Dort war an einem schwarzen Brett der Heeresbericht angeschlagen, schon mehrere Stunden, ehe er in der Zeitung stand. Ein schmales weißes Blatt, manchmal länger, manchmal kürzer, mit tanzenden Majuskeln besät, die aus einer offenbar reichlich abgenutzten Vervielfältigungsmaschine stammten. Ich mußte mich etwas auf die Zehenspitzen stellen und den Kopf in den Nacken legen, um alles zu entziffern. Ich tat es geduldig und voll Hingabe, jeden Tag.

Wie gesagt, ich hatte keine rechte Vorstellung mehr vom Frieden, wohl aber hatte ich eine Vorstellung vom »Endsieg«. Der Endsieg, die große Summe, zu der sich alle die vielen Teilsiege, die der Heeresbericht enthielt, unvermeidlich einmal zusammenaddieren mußten, war für mich damals ungefähr das, was für den frommen Christen das Jüngste Gericht und die Auferstehung des Fleisches ist, oder für den frommen Juden die Ankunft des Messias. Es war eine unvorstellbare Steigerung aller Siegesnachrichten, in der die Gefangenenzahlen, Landeroberungen und Beuteziffern vor Ungeheuerlichkeit sich selber aufhoben. Danach war nichts mehr vorzustellen. Ich wartete mit einer gewissen wilden und doch zagen Spannung auf den Endsieg; daß er einmal kam, war unvermeidlich. Fraglich war nur, was das Leben danach noch zu bieten haben konnte.

Ich wartete tatsächlich auf den Endsieg auch noch in den Monaten Juli bis Oktober 1918, obwohl ich nicht so töricht war, nicht zu merken, daß die Heeresberichte trüber und trüber wurden und daß ich nachgerade gegen alle Vernunft wartete. Immerhin, war nicht Rußland geschlagen? Besaßen »wir« nicht die Ukraine, die alles liefern würde, was nötig war, um den Krieg zu gewinnen? Standen »wir« nicht immer noch tief in Frankreich?

Unüberhörbar wurde es zwar auch mir in dieser Zeit, daß viele, sehr viele, ja fast alle Leute sich mit der Zeit eine andere Ansicht vom Kriege gebildet hatten als ich, obwohl meine Ansicht doch ursprünglich diejenige aller gewesen war – sie war doch erst meine geworden, eben weil sie die allgemeine war! Überaus ärgerlich, daß gerade jetzt fast alle die Lust am Kriege verloren zu haben schienen – gerade jetzt, wo eine kleine Sonderanstrengung nötig gewesen wäre, um die Heeresberichte aus der trüben Depression »vereitelter Aufrollungsversuche« und »planmäßiger Zurücknahme in vorbereitete Riegelstellungen« wieder in die strahlende Schön-Wetter-Sphäre von »Vorstoß bis zu 30 Kilometer Tiefe«, »das feindliche Stellungssystem zertrümmert«, »30 000 Gefangene« zu bringen!

Von den Läden, wo ich nach Kunsthonig oder Magermilch anstand – denn meine Mutter und das Dienstmädchen konnten es allein nicht mehr schaffen, und auch ich mußte mich gelegentlich anstellen – hörte ich die Frauen grollen und häßliche Worte tiefsten Unverständnisses äußern. Nicht immer begnügte ich mich, es anzuhören: Ich erhob furchtlos meine noch ziemlich hohe Kinderstimme zu Vorträgen über die Notwendigkeit des »Durchhaltens«. Die Frauen lachten meist zunächst, wunderten sich dann, und wurden rührenderweise mitunter unsicher oder gar kleinlaut. Siegreich verließ ich die Stätte des Redekampfes, selbstvergessen einen Viertelliter Magermilch schwenkend ... Aber die Heeresberichte wollten nicht besser werden.

Und dann nahte, von Oktober ab, die Revolution heran. Sie bereitete sich ähnlich vor wie der Krieg, mit plötzlich in der Luft herumschwirrenden neuen Worten und Begriffen, und wie der Krieg kam sie dann zuletzt doch fast überraschend. Aber hier hört der Vergleich auf. Der Krieg, was immer man über ihn sagen kann, war etwas Ganzes gewesen, eine Sache, die klappte, in seiner Art ein Erfolg, zunächst wenigstens. Von der Revolution kann man das nicht sagen.

Es ist für die gesamte weitere deutsche Geschichte von verhängnisvoller Bedeutung gewesen, daß der Kriegsausbruch, trotz allem fürchterlichen Unglück, das ihm folgte, für fast alle mit ein paar unvergeßlichen Tagen größter Erhebung und gesteigerten Lebens verbunden geblieben ist, während an die Revolution von 1918, die doch schließlich Frieden und Freiheit brachte, eigentlich fast alle Deutschen nur trübe Erinnerungen haben. Schon daß der Kriegsausbruch bei prächtigem Sommerwetter und die Revolution bei naßkaltem Novembernebel vor sich ging, war ein schweres Handicap für die Revolution. So etwas mag lächerlich klingen, aber es ist wahr. Die Republikaner fühlten es später selbst; sie haben nie so recht an den 9. November erinnert sein wollen, und haben ihn nie öffentlich gefeiert. Die Nazis, die den August 14 gegen den November 18 ausspielten, hatten immer ein leichtes Spiel. November 18: Obwohl der Krieg zu Ende ging, die Frauen ihre Männer, die Männer ihr Leben zurückgeschenkt bekamen, ist seltsamerweise kein festliches Nachgefühl mit dem Datum verbunden; vielmehr Mißmut, Niederlage, Angst, sinnlose Schießerei, Konfusion, ja und schlechtes Wetter.

Ich habe persönlich von der eigentlichen Revolution wenig gemerkt. Am Sonnabend meldete die Zeitung, der Kaiser habe abgedankt. Irgendwie überraschte es mich, daß so wenig dabei war. Es war eben auch nur eine Zeitungsüberschrift, und im Kriege hatte ich größere gesehen. In Wahrheit hatte er übrigens noch nicht einmal abgedankt, als wir es in der Zeitung lasen. Da er es dann aber bald nachholte, war auch das nicht mehr so wesentlich.

Erschütternder als die Überschrift »Abdankung des Kaisers« war es schon, daß am Sonntag die Zeitung »Tägliche Rundschau« plötzlich »Die Rote Fahne« hieß. Irgendwelche revolutionären Druckereiarbeiter hatten das durchgesetzt. Im übrigen war der Inhalt wenig verändert, und nach ein paar Tagen hieß sie auch wieder »Tägliche Rundschau«. Ein kleiner Zug, der nicht unsymbolisch für die ganze Revolution von 1918 ist.

An diesem Sonntag hörte ich auch zum ersten Mal Schüsse. Während des ganzen Krieges hatte ich keinen Schuß fallen gehört. Jetzt aber, da der Krieg zu Ende ging, fing man bei uns in Berlin zu schießen an. Wir standen in einem unserer Hinterzimmer, öffneten die Fenster und hörten leise aber deutlich abgerissene Maschinengewehrfeuer. Mir war beklommen zu Mute. Irgend jemand erklärte uns, wie die schweren und wie die leichten Maschinengewehre klangen. Wir stellen Mutmaßungen an, was für ein Kampf da wohl stattfinde. Das Schießen kam aus der Gegend des Schlosses. Ob die Berliner Garnison sich doch wehrte? Ob nicht alles so glatt ging mit der Revolution?

Wenn ich darauf etwa Hoffnungen gesetzt hatte – denn ich war natürlich, was nach allem hier Erzählten keinen wundernehmen wird, von ganzem Herzen gegen die Revolution  – so wurden sie am nächsten Tag enttäuscht. Es war eine ziemlich sinnlose Schießerei zwischen verschiedenen revolutionären Gruppen gewesen, deren jede sich zum Besitz des Marstalls berechtigt fühlte. Von Gegenwehr keine Spur. Die Revolution hatte offenbar gesiegt.

Andererseits, was bedeutete das nun? Wenigstens festliche Unordnung, Drunter und Drüber, Abenteuer und bunte Anarchie? Keineswegs. Vielmehr erklärte noch an diesem selben Montag der gefürchtetste unter unseren Lehrern, ein cholerischer Tyrann mit böse rollenden Äuglein, »hier«, in der Schule nämlich, habe jedenfalls keine Revolution stattgefunden, hier herrsche weiterhin Ordnung, und zur Bekräftigung dessen legte er ein paar von uns, die sich in der Pause beim Revolution-Spielen besonders hervorgetan hatten, über die Bank und verabreichte ihnen eine demonstrative Tracht Prügel. Wir alle, die wir der Exekution beiwohnten, empfanden dunkel, daß sie ein Symbol von böser und umfassender Vorbedeutung war. An einer Revolution stimmte etwas nicht, wenn bereits am Tage darauf die Jungen in der Schule für Revolution-Spielen verhauen wurden. Aus einer solchen Revolution konnte nichts werden. Es wurde ja denn auch nichts aus ihr.

Inzwischen stand noch das Kriegsende aus. Daß die Revolution gleichbedeutend mit dem Ende des Krieges sei, war mir wie jedermann klar, und zwar offensichtlich mit einem Ende ohne Endsieg, da ja die kleine dazu nötige Extra-Anstrengung unverständlicherweise unterblieben war. Wie aber so ein Kriegsende ohne Endsieg aussehen würde, davon hatte ich keinen Begriff; ich mußte es erst sehen, um es mir vorstellen zu können.

Da ja der Krieg sich irgendwo im fernen Frankreich abspielte, in einer unwirklichen Welt, aus der nur die Heeresberichte wie Botschaften aus dem Jenseits zu uns herüberkamen, hatte auch sein Ende keine eigentliche Wirklichkeit für mich. Nichts änderte sich in meiner unmittelbaren, sinnlich wahrnehmbaren Umgebung. Das Ereignis spielte ausschließlich in jener Traumwelt des großen Spiels, in der ich vier Jahre lang gelebt hatte ... Aber freilich, diese Welt war ja viel bedeutender für mich geworden als die wirkliche.

Am 9. und 10. November gab es noch Heeresberichte, üblichen Stils: »Feindliche Durchbruchsversuche abgewiesen«,» ... gingen unsere Truppen nach tapferer Gegenwehr in vorbereitete Stellungen zurück ...« Am 11. November hing kein Heeresbericht mehr am schwarzen Brett meines Polizeireviers, als ich mich zur üblichen Stunde einstellte. Leer und schwarz gähnte mich das Brett an, und ich ermaß mit Schrecken, wie es sein würde, wenn dort, wo ich jahrelang täglich die Nahrung meines Geistes und den Inhalt meiner Träume geschöpft hatte, nichts mehr sein würde als, für immer und ewig, ein leeres schwarzes Brett. Inzwischen aber ging ich weiter. Irgendwelche Nachrichten vom Kriegsschauplatz mußte es doch schließlich geben. Wenn schon der Krieg aus war (womit man rechnen mußte) – wenigstens das Ende mußte doch noch stattgefunden haben, irgendetwas wie der Abpfiff beim Spiel, berichtenswert immerhin. Eine Anzahl Straßen weiter war ein anderes Polizeirevier. Vielleicht hing dort ein Bericht.

Auch dort hing keiner. Die Polizei war eben auch von der Revolution angesteckt worden, und die alte Ordnung war zerstört. Ich konnte mich aber nicht abfinden. Ich trieb weiter durch die Straßen, in einem feinen nässenden Novemberregen, auf der Suche nach irgendwelchen Nachrichten. Ich kam in fremdere Gegenden.

Irgendwo fand ich einen kleinen Menschenhaufen vor der Auslage eines Zeitungsladens. Ich stellte mich an, drängelte mich sachte durch und konnte schließlich auch lesen, was alle, schweigend und mißmutig, lasen. Es war ein verfrühtes Zeitungsblatt, das da aushing, und es hatte die Überschrift: »Waffenstillstand unterzeichnet«. Darunter standen die Bedingungen, eine lange Liste. Ich las sie. Während ich las, erstarrte ich.

– Womit soll ich meine Empfindungen vergleichen – die Empfindungen eines elfjährigen Jungen, dem eine ganze Phantasiewelt zusammenbricht? Soviel ich nachdenke, es ist schwer, im normalen, wirklichen Leben ein Äquivalent dafür zu finden. Gewisse traumhafte Katastrophen sind eben nur in Traumwelten möglich. Wenn jemand, der jahrelang große Summen zur Bank getragen hat, eines Tages seinen Kontoauszug anfordert und erfährt, daß er statt eines Vermögens eine erdrückende Schuldenlast besitzt, mag ihm ähnlich zumute sein. Aber so etwas gibt es eben nur im Traum.

Diese Bedingungen sprachen nicht mehr die schonende Sprache der letzten Heeresberichte. Sie sprachen erbarmungslos die Sprache der Niederlage; so erbarmungslos, wie die Heeresberichte immer nur von feindlichen Niederlagen gesprochen hatten. Daß es so etwas auch für »uns« geben konnte – und zwar nicht als Zwischenfall, sondern als das Endergebnis von lauter Siegen und Siegen – mein Kopf faßte es nicht.

Ich las die Bedingungen wieder und wieder, den Kopf im Nacken, wie ich vier Jahre lang die Heeresberichte gelesen hatte. Schließlich löste ich mich aus der Menschenmenge und ging davon, ohne zu wissen, wohin ich ging. Die Gegend, in die ich auf der Suche nach Nachrichten geraten war, war mir fast fremd, und jetzt geriet ich in eine noch fremdere; ich trieb durch Straßen, die ich nie gesehen hatte. Ein feiner Novemberregen fiel.

Wie diese fremden Straßen, war mir die ganze Welt fremd und unheimlich geworden. Das große Spiel hatte offenbar außer seinen faszinierenden Regeln, die ich kannte, noch geheime Regeln besessen, die mir entgangen waren. Es mußte etwas daran scheinbar und falsch gewesen sein. Wo aber war ein Halt, wo Sicherheit, Glauben und Vertrauen, wenn das Weltgeschehen so hinterhältig war, wenn Siege und Siege zu endgültiger Niederlage führten und die wahren Regeln des Geschehens nicht verlautbart wurden, sondern sich erst nachträglich enthüllten, im niederschmetternden Ergebnis? Ich blickte in Abgründe. Ich empfand ein Grauen vor dem Leben.

Ich glaube nicht, daß die deutsche Niederlage irgendjemandem einen tieferen Schock versetzt haben kann als dem elfjährigen Jungen, der da durch die novemberfeuchten fremden Straßen irrte, ohne zu merken, wo er ging, und ohne zu merken, wie ihn der feine Regen allmählich durchnäßte. Ich glaube insbesondere nicht, daß der Schmerz des Gefreiten Hitler tiefer gewesen sein kann, der, ungefähr um dieselbe Stunde, im Pasewalker Lazarett es nicht aushielt, die Bekanntgabe der Niederlage mitanzuhören. Er reagierte zwar dramatischer als ich: »Mir wurde es unmöglich, noch länger zu bleiben,« schreibt er. »Während es mir um die Augen wieder schwarz ward, tastete und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf mich auf mein Lager und grub den brennenden Kopf in Decke und Kissen.« Worauf er beschloß, ein Politiker zu werden.

Seltsamerweise eine weit kindlich-trotzigere Geste zugleich als meine. Und das gilt nicht nur für das Äußere. Wenn ich vergleiche, welche inneren Folgerungen Hitler und ich aus dem gemeinsam erlebten Schmerz zogen: der eine Wut, Trotz und den Beschluß, ein Politiker zu werden, der andere Zweifel an der Gültigkeit der Spielregeln und ahnendes Grauen vor der Unberechenbarkeit des Lebens – wenn ich dies vergleiche, kann ich mir nicht helfen: Ich finde die Reaktion des elfjährigen Jungen reifer als die des neunundzwanzigjährigen Mannes.

Jedenfalls stand es von diesem Augenblick an zweifellos in den Sternen, daß ich mit Hitlers Reich auf keinem freundlichen Fuß würde stehen können.

6

Vorerst hatte ich es ja aber nun nicht mit Hitlers Reich zu tun, sondern mit der Revolution von 1918 und mit der deutschen Republik.

Die Revolution wirkte auf mich und meine Altersgenossen gerade umgekehrt wie der Krieg: Der Krieg hatte unser wirkliches, tägliches Leben bis zur Langweiligkeit unverändert gelassen, dafür aber unserer Phantasie reichsten und unerschöpflichen Stoff gegeben. Die Revolution brachte viel Neues in die tägliche Wirklichkeit, und das Neue war bunt und aufregend genug – ich werde gleich davon erzählen –, aber sie ließ die Phantasie unbeschäftigt. Sie hatte nicht, wie der Krieg, sozusagen ein einfaches und einleuchtendes Dasein, in das man die Ereignisse einordnen konnte. Alle ihre Krisen, Streiks, Schießereien, Putsche, Demonstrationszüge blieben widerspruchsvoll und verwirrend. Nie wurde es recht klar, um was es eigentlich ging. Man konnte sich nicht begeistern. Man konnte nicht einmal verstehen.

Bekanntlich war die Revolution von 1918 keine vorausbedachte und geplante Operation. Sie war ein Nebenprodukt des militärischen Zusammenbruchs. Das Volk – wirklich das Volk! An Führung fehlte es fast vollständig – fühlte sich von seinen militärischen und politischen Führern hintergangen und verscheuchte sie. Verscheuchte; nicht einmal: vertrieb. Denn auf die erste drohende und wegscheuchende Geste hin verschwanden alle, vom Kaiser abwärts, geräusch- und spurlos; ungefähr ebenso geräusch- und spurlos wie später, 1932/33, die Führer der Republik. Die deutschen Politiker von rechts bis links verstehen sich schlecht auf die Kunst des Verlierens.

Die Macht lag auf der Straße. Unter denen, die sie aufnahmen, befanden sich nur sehr wenige wirkliche Revolutionäre; und auch die hatten, wenn man es rückschauend betrachtet, wenig klare Vorstellungen von dem, was sie nun eigentlich wollten und wie sie es zustande bringen wollten (es ist schließlich doch nicht nur Pech, sondern auch ein Zeichen mangelnder Begabung, daß sie fast sämtlich binnen eines halben Jahres nach der Revolution abgeknallt waren).

Die meisten unter den neuen Machthabern waren verlegene Biedermänner, längst alt und bequem geworden in den Gewohnheiten loyaler Opposition, überaus bedrückt von der unerwartet in ihre Hände gefallenen Macht und ängstlich darauf bedacht, sie so bald wie möglich wieder auf gute Art loszuwerden.

Und schließlich gab es eine Anzahl Saboteure unter ihnen, die entschlossen waren, die Revolution »aufzufangen«, will sagen: zu verraten. Der schauerliche Noske ist der bekannteste unter ihnen geworden.

Es entwickelte sich nun das Spiel, daß die wirklichen Revolutionäre eine Anzahl schlecht organisierter und dilettantischer Putsche machten, und die Saboteure gegen sie die Gegenrevolution auf den Plan riefen, die sogenannten »Freicorps«, die dann, als Regierungstruppen verkleidet, binnen ein paar Monaten mit der Revolution blutig aufräumten.