Die deutsche Revolution 1918/19 - Sebastian Haffner - E-Book

Die deutsche Revolution 1918/19 E-Book

Sebastian Haffner

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Beschreibung

Haffners Klassiker als Neuausgabe zum 100. Jahrestag des 9. November 1918 Über kaum einen historischen Vorgang neuerer Zeit herrscht so viel Unklarheit und Dissens wie über die deutsche Revolution von 1918/19. Hat die sozialdemokratische Führung, die am 9. November 1918 die Regierung übernahm, die Revolution gemacht oder niedergeschlagen? Hat sie Deutschland vor dem Bolschewismus gerettet oder der Reaktion zum Sieg verholfen? Ist sie ein Ruhmesblatt oder ein Schandfleck der deutschen Geschichte? Sebastian Haffner, für seine präzisen, scharfsinnigen Analysen und Kommentare zum Zeitgeschehen bekannt, rekonstruiert hier die Ereignisse vom November 1918 bis zum März 1920 und räumt mit alten Legenden auf: mit der Leugnung des Faktums, dass überhaupt eine Revolution stattgefunden hat, mit der Behauptung, dass die Revolution eine bolschewistische gewesen sei, und schließlich mit der berühmten, bis in unsere Tage überlieferten Dolchstoßlegende. «Deutschland krankt an der verratenen Revolution von 1918 noch heute», schrieb Haffner in seinem 1969 erstmals erschienenen Buch. Gilt das für das Deutschland des Jahres 2018 noch immer?

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Sebastian Haffner

Die deutsche Revolution 1918/19

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Über dieses Buch

Haffners Klassiker als Neuausgabe zum 100. Jahrestag des 9. November 1918

 

Über kaum einen historischen Vorgang neuerer Zeit herrscht so viel Unklarheit und Dissens wie über die deutsche Revolution von 1918/19. Hat die sozialdemokratische Führung, die am 9. November 1918 die Regierung übernahm, die Revolution gemacht oder niedergeschlagen? Hat sie Deutschland vor dem Bolschewismus gerettet oder der Reaktion zum Sieg verholfen? Ist sie ein Ruhmesblatt oder ein Schandfleck der deutschen Geschichte?

Sebastian Haffner, für seine präzisen, scharfsinnigen Analysen und Kommentare zum Zeitgeschehen bekannt, rekonstruiert hier die Ereignisse vom November 1918 bis zum März 1920 und räumt mit alten Legenden auf: mit der Leugnung des Faktums, dass überhaupt eine Revolution stattgefunden hat, mit der Behauptung, dass die Revolution eine bolschewistische gewesen sei, und schließlich mit der berühmten, bis in unsere Tage überlieferten Dolchstoßlegende.

«Deutschland krankt an der verratenen Revolution von 1918 noch heute», schrieb Haffner in seinem 1969 erstmals erschienenen Buch. Gilt das für das Deutschland des Jahres 2018 noch immer?

Über Sebastian Haffner

Sebastian Haffner, geboren 1907 in Berlin, war promovierter Jurist. Er emigrierte 1938 nach England und arbeitete als freier Journalist für den «Observer». 1954 kehrte er nach Deutschland zurück, schrieb zunächst für die «Welt», später für den «Stern». 1977 erschienen seine «Anmerkungen zu Hitler». Sebastian Haffner starb 1999.

Und lasst der Welt, die noch nicht weiß, mich sagen,

Wie alles dies geschah; so sollt ihr hören

Von Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich,

Zufälligen Gerichten, blindem Mord;

Von Toden, durch Gewalt und List bewirkt,

Und Planen, die verfehlt zurückgefallen

Auf der Erfinder Haupt: Dies alles kann ich

Mit Wahrheit melden.

 

William Shakespeare (Hamlet, V, 2)

Vorwort

Franz Kafkas Legende Vordem Gesetz erzählt von einem Mann, der Einlass begehrt und, vom Türhüter immer wieder abgewiesen, sein ganzes Leben wartend und hoffend vor dem Tor verbringt, unter immer wiederholten, vergeblichen Versuchen, den unerbittlichen Türhüter zu erweichen. Endlich, in seiner Todesstunde, brüllt ihm der Türhüter in sein «vergehendes Gehör»: «Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.»

An diese Kafka’sche Legende wird man erinnert, wenn man die Geschichte des Deutschen Reiches und der deutschen Sozialdemokratie betrachtet. Fast gleichzeitig entstanden, schienen die beiden füreinander bestimmt: Bismarck hatte den äußeren Staatsrahmen geschaffen, in dem die Sozialdemokratie sich entfalten konnte und den sie eines Tages mit dauerhafter und sinnvoller politischer Substanz auszufüllen hoffte. Wäre es ihr gelungen – vielleicht existierte das Deutsche Reich noch heute.

Bekanntlich ist es ihr nicht gelungen. Das Deutsche Reich ist in die falschen Hände gefallen und ist untergegangen. Die Sozialdemokratie, die sich von Anfang an zu seiner Führung berufen fühlte und die es vielleicht hätte retten können, hat während der 74 Jahre seiner Existenz nie den Mut und die Kraft aufgebracht, sich seiner zu bemächtigen. Wie der Mann in Kafkas Legende hatte sie sich vor der Tür häuslich eingerichtet. Und auch ihr hätte die Weltgeschichte 1945 in die Ohren brüllen können: «Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.»

Aber anders als bei Kafka gibt es in dieser Geschichte einen dramatischen Augenblick, in dem sich alles zu wenden schien. Im Angesicht der äußeren Niederlage öffneten 1918 die Türhüter des Kaiserreichs den sozialdemokratischen Führern selbst das lange versperrte Außentor und ließen sie, nicht ohne Hintergedanken, freiwillig in den Vorhof der Macht; und nun sprengten die sozialdemokratischen Massen, von draußen hereinstürmend und ihre Führer überrennend und mit sich reißend, die letzten Tore zum Machtinnersten. Nach einem halben Jahrhundert des Wartens schien die deutsche Sozialdemokratie im November 1918 endlich am Ziel.

Und dann geschah das Unglaubliche. Die sozialdemokratischen Führer, widerwillig von den sozialdemokratischen Massen auf den leeren Thron gehoben, mobilisierten unverzüglich die alten herrenlos gewordenen Palastwachen und ließen ihre eigenen Anhänger wieder hinaustreiben. Ein Jahr später saßen sie selber wieder draußen vor der Tür – für immer.

Die deutsche Revolution von 1918 war eine sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde: ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat.

Wie er sich abspielte, das soll in diesem Buch Szene für Szene dargestellt werden. Aber ehe wir den Vorhang vor dem düsteren Drama aufgehen lassen, empfiehlt es sich, einen kurzen Blick auf sein langes Vorspiel zu werfen: das halbe Jahrhundert sozialdemokratischen Hoffens und Harrens vor dem Tor zur Macht.

1Kaiserreich und Sozialdemokratie

Das Deutsche Reich und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sind nicht nur gleichzeitig entstanden, sie haben dieselbe Wurzel: die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848. Diese Revolution hatte zwei Ziele gehabt, nationale Einigung nach außen und demokratische Neugestaltung im Innern. Beides war fällig. Kleinstaaterei und Feudalismus, immer noch die Grundlagen des vormärzlichen Deutschland, waren im beginnenden Industriezeitalter liquidationsreif.

Aber die bürgerliche Revolution scheiterte, und das deutsche Bürgertum fand sich mit ihrem Scheitern ab. Was seine Aufgabe gewesen wäre, übernahmen andere. Die nationale Einigung – die Einebnung überholter Staatsgrenzen – besorgte statt seiner Bismarck, an der Spitze der preußischen Junkerklasse und mit Hilfe der preußischen Armee. Die innere Modernisierung – die Einebnung überholter Standesgrenzen – nahm der vierte Stand als unerledigte Aufgabe aus den schwach gewordenen Händen des dritten. Bismarck und die beginnende deutsche Arbeiterbewegung hielten in den sechziger Jahren je ein Ende des 1849 abgerissenen Fadens in der Hand. Hätten sie zusammengestanden, so hätte in den Jahren um 1870 das 1848 Verfehlte nachgeholt werden und ein moderner, gesunder, langlebiger deutscher Nationalstaat entstehen können. Aber sie standen nicht zusammen, sie standen gegeneinander, und das konnte wohl auch nicht anders sein – trotz des kurzen, faszinierenden, aber unfruchtbaren Flirts zwischen Bismarck und Lassalle.

Das Ergebnis war ein Deutsches Reich, das, mächtig und gefürchtet nach außen, seinem inneren Zustand nach einer schief zugeknöpften Weste glich. Dass es als Nationalstaat etwas Ungenaues, Ungefähres darstellte – es schloss bekanntlich viele Deutsche aus, viele Nichtdeutsche ein –, war vielleicht unvermeidlich und mochte hingehen. Auch das merkwürdig Verbaute, etwas Unwahrhaftige der Bismarck’schen Verfassung – der ungelöste Dualismus zwischen Reich und Preußen, die Scheinmacht der Bundesfürsten und des Bundesrats, die unklar geteilte Allmacht von Kaiser und Reichskanzler, die institutionalisierte Ohnmacht des Reichstags, die unintegrierte Armee – war nicht das Grundübel dieses Staats; Verfassungen lassen sich ändern. Was Bismarcks Reich, bei allem Glanz der Waffensiege, «von Anfang an todkrank» machte (so der Historiker Arthur Rosenberg in seinem Werk Entstehungder Weimarer Republik), war eine falsche, überholte, geschichtswidrige Machtverteilung zwischen seinen Klassen.

Der Staat stand unter falschem Management. Die wirtschaftlich absinkenden, langsam parasitär werdenden preußischen Junker, die nicht wussten, wie ihnen geschah, hatten plötzlich einen modernen Industriestaat zu führen. Das kapitalistische Bürgertum, seit 1849 an Verantwortungslosigkeit gewöhnt und durch Verantwortungslosigkeit verwöhnt, suchte draußen die Macht, die ihm drinnen verwehrt war, und drängte auf außenpolitische Abenteuer. Und die sozialdemokratischen Arbeiter, objektiv die stärkste Reserve der Nation, die willigen Erben der Verantwortung, auf die das Bürgertum verzichtet hatte, waren «Reichsfeinde».

Waren sie es wirklich? Sie waren gefürchtet, verfemt, verhasst und in den letzten zwölf Jahren der Bismarck-Zeit, von 1878 bis 1890, verfolgt. Ohne Zweifel waren sie – damals – unversöhnliche Gegner der Staats- und Gesellschaftsordnung, die Bismarck seinem Reich gegeben hatte. Ohne Zweifel proklamierten sie die politische und soziale Revolution, über die sie freilich – schon damals – keine klaren Vorstellungen hatten, von konkreten Plänen ganz zu schweigen. Ohne Zweifel hatten sie, ebenso wie die anderen «Reichsfeinde», die katholischen Zentrumswähler, Bindungen und Loyalitäten über die Reichsgrenzen hinaus; was für jene die katholische Weltkirche war, war für sie die Sozialistische Internationale.

Und trotzdem waren die einen so wenig Reichsfeinde wie die anderen. Im Gegenteil: Sozialdemokratie und Zentrum waren von Anfang an die eigentlichen Reichsparteien: im Reich, mit dem Reich und durch das Reich entstanden und gewachsen; tiefer in ihm verwurzelt als seine preußischen Gründer. Weder Sozialdemokraten noch Zentrum dachten im Traum daran, das Deutsche Reich, das ihr Lebenselement war, aufzulösen oder seine Auflösung zu wünschen. Sie fühlten sich vielmehr – die Sozialdemokraten noch mehr als das Zentrum – von Anfang an als Anwärter auf sein Erbe. Es ist nur leicht übertrieben, wenn Arthur Rosenberg schreibt: «So war der sozialdemokratische Parteivorstand die heimliche Gegenregierung und August Bebel auf der Höhe seines Einflusses eine Art von Gegenkaiser.»

Die Sozialdemokraten des Bismarck-Reiches waren revolutionäre Patrioten. Sie wollten inneren Umsturz und Umbau – keineswegs wollten sie äußere Ohnmacht und Auflösung. Sie wollten aus Bismarcks Reich ihr Reich machen – nicht um es zu schwächen oder gar abzuschaffen, sondern um es auf die Höhe der Zeit zu bringen. Freilich ist eine solche Haltung, theoretisch klar genug, in der Praxis nicht ohne Widersprüchlichkeiten. Es liegt ein gewisser Widerspruch in den beiden berühmtesten Aussprüchen des langjährigen Parteiführers August Bebel: «Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!» und «Wenn es gegen Rußland geht, werde ich selbst die Flinte nehmen!» Aber es ist nicht dieser Widerspruch, an dem die Sozialdemokraten 1918 gescheitert sind, sondern ein anderer.

Die deutsche soziale Revolution, die sie bis zum letzten Augenblick versprachen und anfangs auch wirklich erhofften und erstrebten, war für sie immer eine Sache des Morgen oder Übermorgen, niemals die Forderung des Tages. Nie hat sich ein deutscher Sozialdemokrat wie Lenin die Frage gestellt: «Was tun?» Die Revolution, sagte man sich, würde irgendwann «kommen»; sie war nicht etwas, das man selber hier und heute machen musste. Es genügte, sie abzuwarten; und inzwischen lebte man im Kaiserreich so, wie es nun einmal war, als Anhänger einer seiner Parteien, erfreut darüber, von Reichstagswahl zu Reichstagswahl stärker zu werden. Aber eine revolutionäre Partei, die sich begnügt, auf die Revolution zu warten, hört allmählich auf, eine revolutionäre Partei zu sein. Die wirkliche Gegenwart ist stärker als die nur erhoffte und erwartete Zukunft, besonders dann, wenn das Erhoffte und Erwartete in eine immer fernere Zukunft zurückweicht und die Gegenwart sich als immer erträglicher erweist.

Beides war der Fall. Im Jahre 1891 sagte August Bebel auf dem Parteitag der SPD: «Die bürgerliche Gesellschaft arbeitet so kräftig auf ihren eigenen Untergang los, daß wir nur den Moment abzuwarten brauchen, in dem wir die ihren Händen entfallende Gewalt aufzunehmen haben … ja, ich bin überzeugt, die Verwirklichung unserer letzten Ziele ist so nahe, daß wenige in diesem Saale sind, die diese Tage nicht erleben werden.» Zwanzig Jahre später nannte er die Revolution nur noch «den großen Kladderadatsch» – ein vielsagendes Wort; ein großer Kladderadatsch ist nicht gerade etwas heiß Ersehntes. Wieder rief er seinen bürgerlichen Gegnern zu (diesmal im Reichstag): «Er [der ‹Kladderadatsch›] kommt nicht durch uns, er kommt durch Sie selber.» Aber davon, dass der Tag der Revolution unmittelbar bevorstehe, war nicht mehr die Rede, sondern: «Er kommt; er ist nur vertagt.» Diesmal waren wirklich nur wenige im Saale, die ihn nicht erleben sollten: Sieben Jahre später war es soweit. Aber die SPD hatte innerlich aufgehört, das, was sie jetzt den «großen Kladderadatsch» nannte, noch wirklich zu wollen.

 

Es ist merkwürdig, wie genau die Schicksalsdaten der deutschen Reichsgeschichte mit denen der sozialdemokratischen Parteigeschichte zusammenfallen. Die achtundvierzig Jahre des Kaiserreichs umfassen drei deutlich getrennte Perioden: die zwanzig Jahre Bismarcks bis 1890; die Wilhelminische Periode von 1890 bis 1914 und die vier Kriegsjahre von 1914 bis 1918. Genau dies sind auch die Perioden der sozialdemokratischen Parteigeschichte. In der Bismarck‑Zeit war sie, wenigstens in ihrer Selbsteinschätzung, die Partei der roten Revolution. Zwischen 1890 und 1914 war sie nur noch in Worten revolutionär; heimlich hatte sie begonnen, sich als ein Bestandteil des wilhelminischen Deutschland zu fühlen. Von 1914 an wurde diese Wandlung offenbar.

Auf die Frage, was die Wandlung bewirkt hatte, muss man zunächst das Aufhören der Verfolgung nennen. Bismarck hatte in seinen letzten Amtswochen die Sozialistengesetze noch verschärfen wollen, bis zur Herausforderung des offenen Bürgerkriegs. Wilhelm II. ließ sie fallen. Die sozialdemokratischen Führer und Funktionäre, die zwölf Jahre lang Geächtete und Gejagte gewesen waren, konnten fortan das ungefährdete, angenehme und interessante Leben parlamentarischer Honoratioren führen. Sie hätten mehr als menschlich sein müssen, um die Erleichterung nicht mit einer gewissen Dankbarkeit zu empfinden.

Aber das war nicht alles. Die ganze innenpolitische Atmosphäre des wilhelminischen Deutschland war anders als die des Bismarck’schen – entspannter, gelöster, weniger hart und streng. Das Deutschland der Jahrhundertwende war ein glücklicheres Land als das der achtziger Jahre. In Bismarcks Deutschland hatte Stickluft geherrscht. Wilhelm II. hatte Fenster aufgerissen und Luft hereingelassen; die große, dankbare Popularität, die er in seinen Anfangsjahren genoss, kam nicht von ungefähr. Freilich, die wohltuende innere Entspannung wurde erzielt durch die Ablenkung gestauter Energien und inneren Überdrucks nach außen, sozusagen auf Kosten der Außenwelt – die sich das auf die Dauer nicht gefallen ließ. Der Preis dafür war am Ende der Krieg.

Aber das war in den Jahren um 1900 noch den wenigsten erkennbar. Was besonders die Sozialdemokraten merkten, war, dass die Gewitterschwüle, die nach revolutionärer Entladung verlangt, gewichen war. Vor 1890 hatten sie die Revolution noch wirklich «kommen» sehen. Jetzt sahen sie sie in eine immer fernere Zukunft zurückweichen.

Die wilhelminische «Weltpolitik» kam hauptsächlich dem kapitalistischen Bürgertum zugute, das für seine innere Ohnmacht jetzt, anders als unter Bismarck, durch äußere Machtentfaltung entschädigt wurde. Aber etwas von dem neuen Wohlstand der imperialistischen Expansion fiel doch auch für den deutschen Arbeiter ab. Es ging ihm noch lange nicht gut, aber es ging ihm besser als vorher; und wer Verbesserung spürt und auf weitere Verbesserung hofft, verliert die Lust an der Revolution. Die «Revisionisten» in der SPD, die in den ersten Jahren des Jahrhunderts die Revolution aus dem Parteiprogramm streichen und zu einer reinen sozialen Reformpolitik übergehen wollten, spürten ganz richtig, wie der Wind wehte. Sie wurden niedergestimmt. Auf Parteitagen und Kundgebungen fuhr die Partei fort, unter roten Fahnen wie eh und je die kommende Revolution zu proklamieren. Aber zwischen Worten und Gesinnungen klaffte jetzt eine immer breitere Lücke. Heimlich dachte das «marxistische Zentrum» der Partei dasselbe, was die Revisionisten offen sagten; die Parteilinke, die immer noch an die Revolution glaubte, war eine Minderheit geworden.

Und dazu kam schließlich ein Drittes: die glänzende parlamentarische Karriere der SPD. Von Wahl zu Wahl hatte die Partei an Wählern und Mandaten zugenommen. Seit 1912 war sie die bei weitem stärkste Partei im Reichstag. Konnte das spurlos an ihr vorübergehen? Wenn die Revolution immer unwahrscheinlicher wurde, während die sozialdemokratische Reichstagsfraktion in aller Legalität wuchs und wuchs – musste ihr das nicht zu denken geben?

Der Reichstag der Bismarck’schen Verfassung hatte freilich wenig Macht – aber ließ sich das nicht ändern? Wollten nicht auch andere Parteien mehr Macht? Und wenn man über parlamentarische Mehrheitsbildung und Parlamentarisierung zur Macht kommen konnte – was brauchte es dann noch eine Revolution? Niemand, nicht einmal die Revisionisten, sprach es offen aus, aber in Wahrheit war die SPD von 1914 bereits eine parlamentarische Partei, keine revolutionäre mehr. Sie wollte den bestehenden Staat nicht mehr umstürzen, sie wollte, im Bündnis mit anderen parlamentarischen Parteien, mit den Liberalen, dem Zentrum, in ihn hineinwachsen. Die Massenkundgebungen und die roten Fahnen waren nur noch traditionelles Ritual. Das parlamentarische Spiel, der parlamentarische Ehrgeiz waren die Wirklichkeit der Partei geworden. Beim Kriegsausbruch 1914 erwies sich, was Schein, was Wirklichkeit war.

Eine Woche lang hielt die SPD noch den revolutionären Schein aufrecht. Am 25. Juli 1914 erhob sie, im Einklang mit früheren Parteitagsbeschlüssen, «flammenden Protest gegen das verbrecherische Treiben der Kriegshetzer». In den folgenden Tagen gab es in Berlin noch sozialdemokratische Straßendemonstrationen gegen den Krieg – keineswegs ganz unbedeutende Demonstrationen; zwanzig- bis dreißigtausend Menschen waren jeweils auf den Beinen. Von den beiden Parteivorsitzenden reiste der eine, Friedrich Ebert, mit der Parteikasse nach Zürich; man richtete sich noch auf Verbot, Verhaftungen, Beschlagnahmen ein. Der andere, Hugo Haase, ein «Linker», eilte zum Büro der Sozialistischen Internationale nach Brüssel, um über internationale Aktionen gegen den Krieg zu beraten.

Aber als dann der Krieg wirklich da war, galt nichts mehr von alledem: Mit 96 gegen 14 Stimmen beschloss die Reichstagsfraktion, die Kriegskredite zu bewilligen; und die vierzehn Dissidenten beugten sich ausnahmslos der Mehrheit (unter ihnen auch, für diesmal noch, Karl Liebknecht, der Linkeste der Linken). Einer von den vierzehn war Hugo Haase, der zweite Parteivorsitzende, ein Melancholiker, dessen lebenslängliche Rolle es war, überstimmt zu werden und sich dann der Mehrheit zu fügen. Ihm fiel es zu, am 4. August namens der Partei und gegen seine innere Überzeugung die berühmte Erklärung abzugeben: «Wir lassen das Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich.» Der Kaiser gab die ebenso berühmte Antwort: «Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.» Die deutsche Sozialdemokratie hatte ihren Frieden mit dem deutschen Kaiserreich gemacht. Sie benahm sich fortan als Staatspartei – ohne es noch wirklich zu sein.

Die Parteilinke, die an den alten revolutionären Zielen festhielt, war erschüttert über diesen «Verrat», und sie hielt den neuen Frieden mit dem Kaiserreich denn auch nicht durch: Im Laufe des Krieges spaltete sie sich ab; auch Teile des alten «marxistischen Zentrums» und der alten Revisionisten folgten ihr, und seit 1917 gab es zwei sozialdemokratische Parteien, die SPD und die USPD, die «Mehrheitssozialisten» und die «Unabhängigen», die einen kriegs- und staatsloyal, die anderen pazifistisch und – wenigstens zum Teil – revolutionär. Aber die Entscheidung vom 4. August 1914 war kein «Verrat»; sie lag, nach der Entwicklung, die die Partei im vorangegangenen Vierteljahrhundert genommen hatte, in der Logik ihrer Politik, und zwar auch dann, wenn man alles abzieht, was instinktiver Patriotismus, Kriegspanik und Kriegsbegeisterung beigetragen haben mochten. Die Partei hatte ein richtiges Gefühl dafür, dass der Krieg die Rechnung für ein Vierteljahrhundert imperialistischer, ausgreifender Außenpolitik präsentierte und dass von den Früchten dieser Außenpolitik auch der deutsche Arbeiter und die deutsche Sozialdemokratie mitgenossen hatten. Insofern war es ein Fall von «Mitgegangen, mitgehangen». Vor allem aber: Wenn sie mit dem Parlament und durch das Parlament in die Staatsmacht hineinwachsen wollte, dann war der Krieg ihre Chance. Sie wurde jetzt zum ersten Mal gebraucht. Die Partei, die das Vertrauen der Massen besaß, konnte in einem Krieg der Massen nicht mehr übergangen werden. Mit ihrem «Ja» zum Krieg glaubte die SPD die Schwelle zur Macht zu betreten.

Darin täuschte sie sich und täuschte sich auch wieder nicht. Die wirkliche Macht erlangten Reichstag, Reichstagsmehrheit und Sozialdemokratie den ganzen Krieg hindurch bis zum letzten Augenblick nicht – die erlangte vielmehr das Militär. Aber die deutschen Verfassungsverhältnisse gerieten doch im Laufe des Krieges in Bewegung, und Reichstag und SPD gehörten nicht zu den Verlierern, sondern zu den Gewinnern der veränderten Verfassungswirklichkeit. Die Hauptverlierer waren Kaiser und Bundesfürsten, die aus tragenden Pfeilern zu bloßen Ornamenten des Verfassungsbaus wurden; Verlierer waren auch Kanzler und Kabinett: Sie wurden aus verantwortlichen Entscheidungsinstanzen mehr und mehr zu Hilfsorganen der Obersten Heeresleitung.

Die Oberste Heeresleitung war seit Herbst 1916 Deutschlands wirkliche Regierung. Der wirkliche Kaiser hieß von jetzt an Hindenburg, der wirkliche Kanzler Ludendorff. Aber hinter der stehen gebliebenen monarchischen Fassade bildete sich nicht nur eine Militärdiktatur heraus, sondern zugleich so etwas wie eine heimliche Republik: Die einzige Gegenkraft, die sich neben der Obersten Heeresleitung hielt, an Gewicht gewann und immer wieder Berücksichtigung erzwang, war die Reichstagsmehrheit, die sich im Laufe des Krieges als Koalition von SPD, Fortschrittspartei und Zentrum formierte.

Die neue Verfassungswirklichkeit enthüllte sich endgültig im Juli 1917, als Oberste Heeresleitung und Reichstagsmehrheit etwas taten, wozu sie nicht die geringste verfassungsmäßige Befugnis hatten: Zusammenwirkend – wenn auch mit entgegengesetzten Fernzielen – stürzten sie den Reichskanzler. Freilich, seinen Nachfolger bestimmte nicht, wie sie es erhofft hatte, die Reichstagsmehrheit. Den bestimmte Ludendorff, und damit zeigte sich wieder, wer in Deutschland jetzt wirklich regierte. Immerhin hatte der Reichskanzler seit 1917 einen Parlamentarier als Vizekanzler; ganz ignorieren ließ sich die Reichstagsmehrheit nicht mehr. Zwischen Oberster Heeresleitung und Reichstagsmehrheit herrschte in den letzten beiden Kriegsjahren ein Verhältnis nicht unähnlich dem von Regierung und Opposition in einem parlamentarischen Staat.

Die Oberste Heeresleitung regierte, und sie regierte mit harter Hand – mit Belagerungszustand, Zensur und Schutzhaft; weit strenger und härter als die verfassungsmäßige kaiserliche Staatsgewalt des Vorkriegs, in deren Schuhe sie unversehens geschlüpft war. Aber anders als die kaiserlichen Autoritäten der Vorkriegszeit konnte sie die Parteien der Reichstagsmehrheit nicht mehr einfach übergehen. Sie wurden angehört, sie konnten mitreden; sie konnten sogar Kanzler stürzen.

Die Reichstagsmehrheit opponierte. Zwischen ihr und der regierenden Militärmacht fanden zwei große Dauerdebatten statt: über Kriegsziele und über Verfassungsreform. Die Reichstagsmehrheit mahnte zu einem Verhandlungsfrieden ohne große Annexionsziele. Die Oberste Heeresleitung machte sich für einen «Siegfrieden» stark. Die Reichstagsmehrheit drängte auf das Reichstagswahlrecht für alle Bundesstaaten, Pressefreiheit, Demokratisierung, Parlamentarisierung. Die Oberste Heeresleitung antwortete: «Nach dem Siege – vielleicht.» Die Debatte war zeitweise erbittert, und die Männer der Reichstagsmehrheit mussten harte Worte einstecken – von ihren parlamentarischen Kollegen auf der Rechten und von der «nationalen» Presse noch mehr als von den regierenden Militärs.

Ihrer Loyalität tat das keinen Abbruch. Sie bewilligten bis zum letzten Augenblick sämtliche Kriegskredite, und die SPD insbesondere tat ihr Bestes, die blutenden und hungernden, manchmal auch schon murrenden und streikenden Massen immer wieder zum «Durchhalten» zu überreden. Kein Gedanke daran, dass sie etwa den Krieg sabotieren könnte, wenn er nicht nach ihren Vorstellungen geführt würde. So weit gingen nur die Unabhängigen Sozialdemokraten, die sich seit dem Frühjahr 1917 als neue Linkspartei organisiert hatten und im Reichstag nur schwach vertreten, im Lande allerdings eine beachtliche Macht waren. Sie aber waren wieder, was die ganze SPD zu Bismarcks Zeiten gewesen war: Verfemte. Soweit ihre parlamentarische Immunität sie nicht schützte, mussten sie mit Schutzhaft rechnen oder mit der Einberufung als Armierungssoldaten und der Abkommandierung zu Strafbataillonen.

Derartiges drohte den Männern der Reichstagsmehrheit nicht mehr, auch den Sozialdemokraten nicht. Sie waren jetzt salonfähig geworden, sie gingen in den Ämtern ein und aus, und selbst im Großen Hauptquartier wurden sie gelegentlich empfangen und höflich angehört. Es war eine ungewohnte Erfahrung für sie, und sie konnten nicht umhin, bei dieser neuen Höflichkeit und Leutseligkeit der Mächtigen ein gewisses warmes und weiches Gefühl zu verspüren.

Zwischen einigen SPD-Führern und einigen Männern der neuen Militärhierarchie bildete sich sogar eine gewisse Kameraderie heraus, zum Beispiel zwischen dem Parteiführer Friedrich Ebert und dem Eisenbahninspekteur General Wilhelm Groener. Beide hatten verschiedentlich miteinander zu tun, und sie verstanden sich gut: Beide waren süddeutsche Handwerkersöhne, der eine aus Baden, der andere aus Württemberg, und beide ernsthafte, nüchterne, tüchtige Sacharbeiter und «nationale Männer». Warum hatte man sich nur früher so fremd und feindselig gegenübergestanden?

Die sozialdemokratische Mehrheitspartei der Kriegsjahre war zwar nicht in die wirkliche Macht hineingewachsen, wohl aber in die Atmosphäre der Macht. Sie gehörte jetzt, wenn auch einstweilen noch in der Oppositionsrolle, zum «Establishment». Sie war eine nationale und loyale Oppositions- und Reformpartei, die die Regierung kritisierte, aber den Staat nicht mehr stürzen wollte. Mit Monarchie und Kapitalismus hatte sie sich abgefunden. Was sie erstrebte, waren die parlamentarische Regierungsform und der Verständigungsfrieden. Mit ihren rechtsbürgerlichen Gegnern war sie bereit, sich in einem parlamentarischen System der Zukunft in der Regierung friedlich abzuwechseln; und ihre bürgerlichen Verbündeten von Fortschritt und Zentrum standen ihr weit näher als ihre abtrünnigen Genossen von der USPD. Die einen waren jetzt Freunde und Partner; die anderen waren Intimfeinde geworden.

 

Was bei dieser Entwicklung ein wenig brüchig wurde, das war die Beziehung zwischen Parteiführung und Parteivolk. Sie hatte immer auf straffer Disziplin und Unterordnung beruht; das Spottwort von der «königlich preußischen Sozialdemokratie» stammte schon aus Vorkriegszeiten. Aber in den Vorkriegszeiten hatte es doch zwischen den einfachen «Genossen» und ihren Führern viel Klassensolidarität, viel Zahlabend-Intimität gegeben. Die sozialdemokratischen Führer waren einfache Leute gewesen, die die Sprache einfacher Leute sprachen. Jetzt sprachen sie mitunter schon die Sprache der Herrschaft. Während sie die Sorgen der regierenden Militärs zu teilen und ihre menschlichen Qualitäten zu schätzen begannen, bekamen ihre einfachen Anhänger mehr denn je die ganze Härte, ja die Brutalität einer Militärherrschaft zu spüren. Eine gewisse Entfremdung war unvermeidlich. Einige der alten SPD-Hochburgen – Berlin, Leipzig, Bremen, Hamburg – wurden jetzt Zentren der neuen USPD.

Die USPD, die seit 1916 die Kriegskredite verweigerte, setzte die Traditionen der Vorkriegssozialdemokratie weit treuer fort als die Mehrheitspartei. Sie umfasste das ganze Meinungsspektrum der Vorkriegssozialdemokratie, von dem Revisionistenführer Eduard Bernstein über den Chefideologen des «marxistischen Zentrums» Karl Kautsky bis zu den internationalistischen Revolutionären der «Spartakusgruppe», Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Die USPD war keineswegs eine straffe, einige revolutionäre Linkspartei wie Lenins russische Bolschewiki. Einig zeigte sie sich nur in der Gegnerschaft gegen den Krieg, in dem sie längst keinen Verteidigungskrieg mehr sah, sondern einen imperialistischen Eroberungskrieg; und in der bitteren Abneigung gegen die kriegsloyalen Mehrheitssozialisten – die diese Abneigung von Herzen erwiderten. Für sie waren die Unabhängigen so etwas wie Vaterlandsverräter; für die Unabhängigen die Mehrheitssozialisten Verräter am Sozialismus und an der Arbeiterklasse.

Dennoch sah sich die Parteispaltung, die unter den Politikern so viel Bitterkeit, ja Hass erzeugte, von unten, aus der Perspektive der einfachen Parteimitglieder, recht harmlos an. Für viele von ihnen waren Mehrheitssozialisten und Unabhängige im Grunde immer noch dasselbe, nur in etwas verschiedener Schattierung. Auch die Mehrheitssozialisten waren ja schließlich für einen Verständigungsfrieden und gegen die Annexionisten und «Kriegsverlängerer»; auch sie forderten Wahlrechtsreform und Demokratie, nur etwas geduldiger, in etwas milderer Tonart. Auch an sie konnte man sich wenden, wenn man als persönlich Betroffener gegen die Härten des Belagerungszustandes, gegen willkürliche Verhaftungen und Schikanen angehen wollte. Vielleicht erreichten sie mit ihren konzilianteren Methoden sogar mehr als die «Unabhängigen» mit ihrem bitteren Radikalismus. Den großen sozialistischen Endzielen hatten schließlich auch die Mehrheitssozialisien niemals offen abgeschworen.

Vertrauen stirbt nicht so schnell. Die Massen vertrauten immer noch ihren altgewohnten Führern – denen von der SPD kaum weniger als denen von der USPD. Diese Führer waren alles, was sie hatten. Bei der großen Streikbewegung vom Januar 1918 wählten die Streikenden auch die SPD-Führer in die Streikleitung – und ließen sich von ihnen nach wenigen Tagen zum Abbruch des Streiks überreden. Schließlich war immer noch Krieg, und der Krieg musste wohl durchgestanden werden. Nach dem Krieg erhofften die meisten eine Wiedervereinigung der Partei.

 

Nach dem Krieg – das bedeutete für den einfachen Mann in Deutschland bis tief in den Sommer 1918 hinein: nach dem Sieg oder, allenfalls, nach einem Verständigungsfrieden. Der Gedanke an eine mögliche Niederlage war nie ernsthaft aufgekommen. Hatte man nicht vier Jahre lang ununterbrochen Siege errungen? Stand man nicht überall in Feindesland? Hatte man nicht Russland bereits zum Frieden gezwungen? Der Krieg bestand für die Menschen in Deutschland aus Hunger, aus Sorge um «die draußen» – und aus Siegesnachrichten. Man hielt durch, man biss die Zähne zusammen und kämpfte und hungerte und schuftete weiter – voller Ingrimm auf die, die trotz aller Siege keinen Frieden machen wollten. Dass sie auch noch den Krieg verlieren würden, darauf kam man nicht.

Es gab auch niemanden an der Spitze des Deutschen Reichs, der eine solche Möglichkeit je angedeutet, geschweige denn zugegeben hätte. Auch sich selbst gegenüber gaben die führenden Männer die Möglichkeit der Niederlage nicht zu, auch nicht im Sommer 1918, als sie, mit dem Fehlschlag der letzten großen deutschen Westoffensiven und dem massenhaften Eintreffen der Amerikaner in Frankreich, schon fast zur Gewissheit geworden war. Die Monate, in denen es notwendig gewesen wäre, sich auf die herannahende Niederlage einzustellen, und vielleicht noch möglich, sie abzufangen oder wenigstens zu mildern, wurden versäumt.

Dann begannen sich, im August und September, die Ereignisse zu überstürzen. Im Westen gingen die Alliierten an einem Frontabschnitt nach dem andern zur Offensive über. Die Gewinne der Frühjahrsoffensiven gingen verloren, der Rückzug wurde unaufhaltsam. Die Verbündeten brachen zusammen. Am 13. September sandte Österreich einen Hilferuf aus. Am 15. September brachen die Alliierten an der Balkanfront durch. Am 27. September kapitulierte Bulgarien. Am selben Tag griffen die Alliierten im Westen auf breiter Front die Hindenburglinie an. Es war die letzte ausgebaute Verteidigungslinie der Deutschen. Sie wankte.

Immer noch redeten die deutschen Zeitungen von Durchhalten und Endsieg. Die Parlamentarier in Berlin, böser Ahnungen voll, aber fern von jedem Gedanken, dass das Ende herbeigekommen sei, berieten darüber, ob es nun nicht doch allmählich an der Zeit sei, die Regierung zu wechseln und ernsthaft einen Verständigungsfrieden zu suchen. Die Frage war: Wie bringt man es Ludendorff bei?

Ihnen stand eine furchtbare Überraschung bevor. Es war Ludendorff selbst, der von einem Tag auf den anderen die Regierung wechselte, und die Verfassung gleich noch dazu. Er fasste die Entschlüsse, zu denen die Parlamentarier sich nicht hatten durchringen können. Er verordnete Deutschland die parlamentarische Demokratie, und er brachte die SPD in die Regierung und ans Ziel ihrer Wünsche. Aber als Morgengabe drückte er ihr die Niederlage in die Hand, und was er jetzt von ihr verlangte, das war nicht mehr die Suche nach einem Verständigungsfrieden, sondern die Kapitulation.

Der Tag, an dem dies alles geschah, war der 29. September 1918.

2Der 29. September 1918

Der 29. September 1918, ein Sonntag, begann als schöner Spätsommertag und endete mit Herbststurm und Prasselregen: Es war der Tag, an dem in diesem Jahr der Sommer in den Herbst umschlug. Es war auch der Tag des politischen Wetterumschlags für Deutschland. An diesem Tag wurden, jäh und unvermittelt, die Beschlüsse gefasst, die das Ende des Ersten Weltkriegs, das Ende des deutschen Widerstandes und das Ende des Kaiserreichs einleiteten.

Der 29. September 1918 ist eines der wichtigsten Daten der deutschen Geschichte, aber er ist nicht, wie andere vergleichbare Daten – der 30. Januar 1933 etwa oder der 8. Mai1945 –, ein fester Bestandteil des deutschen Geschichtsbewusstseins geworden. Das mag zum Teil daran liegen, dass nichts von dem, was an diesem Tage geschah, am nächsten Tag in den Zeitungen stand. Das Ereignis des 29. September blieb noch jahrelang Staatsgeheimnis. Aber auch als es schließlich bekannt wurde, behielt es eine merkwürdig unbestimmte Kontur, etwas wie einen umhüllenden Geheimnisnebel.

Der 29. September 1918 war ein 8. Mai 1945 und ein 30. Januar 1933 in einem. Er brachte zugleich Kapitulation und Staatsumbau. Und beides war das Werk eines Mannes – und zwar eines Mannes, dessen verfassungsmäßige Stellung ihm nicht die geringste Befugnis zu so ungeheuren Aktionen gab: des Ersten Generalquartiermeisters Erich Ludendorff.

Hinter dem 29. September 1918 steht immer noch das Rätsel Ludendorffs: das Rätsel seiner Macht, das Rätsel seiner Persönlichkeit und das Rätsel seiner Motive.

Ludendorffs Macht war in den letzten zwei Jahren des Krieges fast unbeschränkt geworden, und nie zeigte sich ihre Schrankenlosigkeit so grell wie an diesem Tage, da er sie weggab und ihr Instrument zerbrach. Es war eine Macht, wie sie kein anderer Deutscher vor Hitler je besessen hat, auch Bismarck nicht: diktatorische Macht.

Ludendorffs nomineller Vorgesetzter, der Chef der Obersten Heeresleitung, Generalfeldmarschall von Hindenburg, war in Wahrheit niemals etwas anderes als sein williges Werkzeug. Der Kaiser, nach dem Buchstaben der Verfassung Oberster Kriegsherr, hatte sich daran gewöhnt, jeden Wunsch der Obersten Heeresleitung – auf politischem ebenso wie auf militärischem Gebiet – wie einen Befehl zu vollstrecken. Kanzler und Minister kamen und gingen auf Ludendorffs Geheiß. Als sich Ludendorff schließlich entschied, von einem Tag auf den andern aus dem Bismarck’schen Deutschland eine parlamentarische Demokratie zu machen und diese parlamentarische Demokratie die weiße Fahne hissen zu lassen, fand sich niemand, der ihm widerstand oder auch nur widersprach. Was er beschlossen hatte, wurde mit lautloser Emsigkeit ausgeführt. Und doch war dieser Mann nur ein General unter vielen, bei weitem nicht der ranghöchste, in der Obersten Heeresleitung immerhin nur der zweite Mann, und ohne jedes politische Amt oder Mandat. Was gab ihm seine ungeheure Macht?

Darauf gibt es heute noch keine klare und unumstrittene Antwort, und auch Ludendorffs Charakter behält etwas Rätselhaftes; er wird sogar immer rätselhafter, je genauer man ihn studiert.

Den breiten Massen bedeutete Ludendorff gar nichts; er war kein Volksheld. Das war Hindenburg, und ihm überließ Ludendorff willig alle Popularität, allen Glanz und allen Ruhm. Von Eitelkeit war er völlig frei. Man wäre versucht zu sagen, dass ihm am Schein der Macht nichts gelegen war, nur an der Macht selbst – wenn man nicht bei näherem Hinsehen bemerken müsste, dass ihm eigentlich auch die Macht selbst gleichgültig war. Hat es je einen anderen Diktator gegeben, der – so wie Ludendorff am 29. September 1918 – die Macht freiwillig aufgab, ja sogar ihre ordnungsmäßige Übergabe an seine politischen Gegner aus eigener Machtvollkommenheit befahl und organisierte?

Freilich tat er dies im Augenblick der Niederlage und, wie sich zeigen wird, nicht ohne Hintergedanken. Trotzdem: Man braucht Ludendorffs Verhalten im Augenblick der Niederlage nur mit dem Hitlers zu vergleichen, und man wird zugeben müssen: Machtgierig war Ludendorff nicht. Er war, auf eine eigentümlich harte, fast böse Weise, selbstlos.

Ludendorff war kein Seelenfänger und Menschenführer. Er besaß weder Charme noch Dämonie, er konnte weder bezaubern noch überzeugen, noch hypnotisieren. Im Umgang war er schroff, trocken, unliebenswürdig, abweisend, «kontaktarm». In seinem Fach, dem militärischen, war er ohne Zweifel ein hervorragender Könner, obwohl schwerlich der begnadete Feldherr, den seine Anhänger später aus ihm machen wollten: kein Mann der genialen Inspiration, kein Napoleon – den gab es im Ersten Weltkrieg auf keiner Seite –, sondern ein Organisator und Administrator, ein Kriegstechniker: kaltblütig und entschlussstark, auf eine rücksichtslose Weise gewissenhaft und unermüdlich in seiner Arbeit, ein tüchtiger General. Aber es gab auch andere tüchtige Generale. Wenn man fragt, was diesen bürgerlichen General von allen abhob und ihm seine durchschlagende Macht gab, dann entdeckt man wirklich nur dies: seine harte, fast ein wenig unmenschliche Selbstlosigkeit – die ihn befähigte, ganz Wille, ganz Instrument, ganz Verkörperung zu sein.

Das war es: Ludendorff verkörperte etwas – verkörperte wie kein anderer die neue bürgerliche Herrenklasse Deutschlands, die während des Krieges die alte Aristokratie mehr und mehr beiseite drängte, verkörperte ihre alldeutschen Ideen, ihren wilden Siegeswillen, die Besessenheit, mit der sie aufs Ganze ging und «nach der Weltmacht griff». Weil er selbstlos war, frei von jeder persönlichen Rücksicht, ja eigentlich von jeder Rücksicht, weil er ganz sachlich war, sachlich auf eine etwas unheimliche, etwas unmenschliche Weise: Deshalb war er imstande, jederzeit das Äußerste zu wagen und Tollkühnheit zur Routine zu machen. Und das fühlte die neue Herrenklasse Deutschlands heraus, deshalb war er ihr Mann, deswegen folgte sie ihm blind – während die feiner besaiteten Aristokraten des alten Regimes vor seiner erbarmungslosen Sachlichkeit und Zielstrebigkeit kapitulierten und die Massen murrend kuschten.

Ludendorff war der Mann, der sich anheischig machte, für Deutschland den Krieg zu gewinnen, und zwar total zu gewinnen; der Mann, der bereit war, mit harter Ruhe immer wieder va banque zu spielen. Alle seine Entschlüsse hatten etwas Ungeheuerliches: der unbeschränkte U-Boot-Krieg, die Unterstützung der bolschewistischen Revolution, der Gewaltfriede von Brest-Litowsk, der große Ostzug des Sommers 1918, unternommen im selben Augenblick, in dem er die Entscheidung im Westen suchte: das war sein Stil, und es war der Stil, in dem das deutsche Großbürgertum seinen eigenen Stil wieder erkannte, in dem es sein innerstes Wesen und Wollen ausgedrückt fand. Mit Ludendorff tritt zum ersten Mal ein neuer Zug im deutschen Wesen hervor – ein Zug von kalt-besessener Übertreibung und Schicksalsherausforderung, ein «Alles oder Nichts», das das Motto einer ganzen Klasse war und das seitdem aus der deutschen Geschichte nicht wieder verschwunden ist.

Auch sein einsamer Entschluss vom 29. September zeigt diese Handschrift. Er war Ludendorffs charakteristische persönliche Reaktion auf die Niederlage.

Man hat oft – fast von Anfang an – gesagt, dass Ludendorff an diesem Tage (oder genauer: am vorangegangenen Freitag, dem 27. September, an dem sich in seinem Kopf der Plan formte, den er dann am Sonntag durchsetzte) einfach «die Nerven verloren habe». Es stimmt, dass Ludendorff die seit Monaten voraussehbare, seit Wochen sichtlich heraufziehende Niederlage bis zum letzten Augenblick nicht hatte wahrhaben wollen – und dann plötzlich, von einem Tag auf den andern, von krampfhafter Siegeszuversicht auf extremen, vielleicht sogar übertriebenen Pessimismus und Defätismus umschaltete. Noch im Juli hatte er, von dem neu ernannten Staatssekretär des Auswärtigen, von Hintze, befragt, versichert, dass er sich von der bevorstehenden deutschen Offensive bei Reims den militärischen Endsieg verspreche – womit er zweifellos bereits die eigene, bessere Einsicht zu übertönen suchte. Noch beim Kronrat vom 14. August, nach dem Scheitern dieser Offensive und den ersten schweren deutschen Niederlagen, hatte er es als immer noch möglich hingestellt, den feindlichen Kriegswillen durch hinhaltenden Widerstand zu lähmen, und sich damit einverstanden erklärt, dass mit Friedensschritten auf eine bessere militärische Lage gewartet werde. Jetzt, am 29. September, forderte er plötzlich ein Waffenstillstandsgesuch binnen vierundzwanzig Stunden – und zwar ausdrücklich mit der Begründung, dass er nicht mehr dafür garantieren könne, eine militärische Katastrophe an der Westfront für mehr als vierundzwanzig Stunden zu verhindern.

Natürlich musste das den Eindruck erwecken, dass er angesichts der – allerdings furchtbar bedrohlich gewordenen –Frontlage plötzlich die Nerven verloren habe; besonders, nachdem sich in den folgenden Tagen und Wochen herausstellte, dass die befürchtete Katastrophe an der Westfront nicht eintrat. Auch trifft es zu, dass Ludendorffs Härte eine brüchige Härte war und dass er schon vorher wiederholt Nervenkrisen gehabt hatte, die seine Umgebung im Hauptquartier erschreckten. Aber das war bezeichnenderweise eher in den vorangegangenen Monaten der Fall gewesen, in denen er, entgegen dem eigenen, besseren militärischen Urteil, sich selbst noch zu einem nicht mehr zu verantwortenden Optimismus gezwungen hatte. An dem historischen Wochenende vom 28. und 29. September wirkte er wieder auffallend kalt, überlegen und souverän: Nicht wie ein Mann, der die Nerven verloren hat, sondern eher wie einer, der seine Nerven wieder gefunden hat und einem klar durchdachten Plan folgt. Vieles spricht dafür, dass dieser Eindruck nicht trog.

Ludendorff war niemals ein Mann der Vorsicht, der Rückversicherung und der nach allen Seiten offen gehaltenen Optionen gewesen. Generalstabsschulung und persönliches Temperament hatten ihm, zusammenwirkend und einander verstärkend, einen Denk- und Aktionsstil aufgeprägt, der nur scharfe, ja extreme Alternativen kannte. Ludendorff war gewohnt, Alternativpläne in Gedanken generalstabsmäßig durchzuspielen, sich dann scharf für einen zu entscheiden und den gewählten Plan mit äußerster Energie durchzuführen, ja auf die Spitze zu treiben, ohne noch weiter nach rechts und links zu sehen; scheiterte der Plan, so war es Zeit für neue Alternativen und neue radikale Entscheidungen. Was Ludendorff im Sommer 1918 gequält und manchmal an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht hatte, war wahrscheinlich gerade dies gewesen, dass er sich zum planlosen Fortwursteln verurteilt gefunden hatte: Unfähig, der Möglichkeit der Niederlage ins Gesicht zu sehen, hatte er immer noch krampfhaft einen Sieg verfolgt, für den er kein klares Konzept mehr hatte. Jetzt plötzlich, am 27. September, beim Einbruch der Alliierten in die Hindenburglinie, gab es kein Ausweichen mehr: Sein militärisches Urteil führte ihm unausweichlich die Möglichkeit der unmittelbaren militärischen Katastrophe vor Augen. Er stellte sich der Niederlage. Der Schock der Erkenntnis muss furchtbar gewesen sein – aber er war auch befreiend. Denn jetzt konnte Ludendorff wieder planen. Jetzt plante er die Niederlage.

Er plante sie, wie er vorher den Sieg geplant hatte: als Militär, als General, nicht als Politiker. Im Angesicht der Niederlage konzentrierte er sich auf das eine Ziel: die Armee zu retten.