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Sebastian Haffner

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Beschreibung

Der Klassiker jetzt auch als eBook. In seinem letzten großen Werk beschreibt Sebastian Haffner die Geschichte des Deutschen Reichs – die Geschichte eines unaufhaltsamen Niedergangs, von der Gründung des Kaiserreichs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. . »Ein bewegendes, manchmal sehr persönliches Vermächtnis eines Publizisten, der wie kein Zweiter mit seinen Arbeiten das historische Bewusstsein der Öffentlichkeit beeinflusst hat.“« Die Zeit

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Sebastian Haffner

Von Bismarck zu Hitler

Ein Rückblick

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Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

EinleitungEntstehung des Deutschen ReichesBismarckzeitKaiserzeitErster Weltkrieg1918Weimar und VersaillesHindenburgzeitHitlerzeitZweiter WeltkriegNachgeschichte des Deutschen ReichesNachbemerkung und DanksagungNachwort 1990
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Einleitung

Wenn man die Geschichte des Deutschen Reichs gewissermaßen durch ein Fernrohr betrachtet, dann fallen sofort drei Sonderbarkeiten auf.

Die erste davon ist die kurze Lebensdauer dieses Reichs. Es hat ja als handlungsfähige Einheit nur 74 Jahre bestanden: von 1871 bis 1945. Selbst wenn man großzügig ist und sein Vorstadium, den Norddeutschen Bund, dazurechnet und hinten die kurze Zeit addiert, in der die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges Deutschland noch als Einheit verwalten wollten, kommt man im ganzen nur auf 80 oder 81 Jahre, 1867 bis 1948 – die Dauer eines Menschenlebens. Für die Dauer eines Staatslebens ist das ungeheuer wenig. Ich wüßte eigentlich kaum einen anderen Staat zu nennen, der so kurze Zeit existiert hat.

Zum zweiten fällt auf, daß während dieser sehr kurzen Lebensdauer das Deutsche Reich mindestens zweimal, 1918 und 1933, aber eigentlich dreimal, nämlich auch schon 1890, seinen inneren Charakter und die Richtung seiner Außenpolitik vollkommen geändert hat. Innerhalb dieser 80 Jahre also vier Perioden, die sich ganz deutlich voneinander unterscheiden und in denen, wenn man so will, Deutschland jedesmal ein anderes Deutschland wurde.

Die dritte Auffälligkeit schließlich besteht darin, daß diese so kurze Geschichte mit drei Kriegen begann und mit zwei ungeheuren Kriegen, Weltkriegen, endete, von denen sich der zweite aus dem ersten mehr oder weniger ergab. So ist die Geschichte des Deutschen Reiches fast eine Kriegsgeschichte, und man könnte versucht sein, das Deutsche Reich ein Kriegsreich zu nennen.

Man fragt sich natürlich, woran das alles liegt. Waren die Deutschen denn kriegerischer als andere Völker? Das würde ich nicht sagen wollen. Wenn man ihre Geschichte als Ganzes nimmt, also doch etwas über tausend Jahre, dann haben sie eigentlich bis zu Bismarcks Zeit sehr wenig Kriege und kaum Angriffskriege geführt. Deutschland lag seit Beginn der Neuzeit in der Mitte Europas als eine Art große, vielgestaltige Pufferzone, in die andere oft hineinwirkten, in der es auch große innere Auseinandersetzungen gab: den Schmalkaldischen Krieg, den Dreißigjährigen Krieg, den Siebenjährigen Krieg … Doch diese internen Streitigkeiten haben nicht aggressiv nach außen gewirkt, wie es das Deutsche Reich jedenfalls in unserem Jahrhundert zweimal getan hat und woran es zugrunde gegangen ist.

Woran ist es denn eigentlich zugrunde gegangen? Warum wurde es, was von seinem Gründer Bismarck nicht beabsichtigt war, ein ausgreifender, aggressiver Staat? Darüber gibt es verschiedene Theorien. Ich finde sie alle nicht sehr überzeugend.

Eine davon schiebt alles auf Preußen. Das Deutsche Reich wurde ja durch Preußen gegründet. Und gemeint war es, jedenfalls von seinem Gründer, durchaus als eine Art Groß-Preußen, als Vorherrschaft Preußens in Deutschland. Wobei ja gleichzeitig auch schon die erste deutsche Teilung stattfand: Österreich wurde aus Deutschland ausgestoßen. Ist Preußen also an allem schuld? Wäre alles besser gegangen, wenn Deutschland 1848 in der Frankfurter Paulskirche auf demokratischer Basis gegründet worden wäre?

Merkwürdigerweise nicht. Das Paulskirchen-Parlament war keineswegs in seiner äußeren Politik friedlich gesinnt – obwohl viele das glauben. In Wirklichkeit hat die Paulskirche sogar gleich mehrere Kriege ins Auge gefaßt: die Linke einen großen Krieg gegen Rußland zur Befreiung Polens; der zentrale und »rechte« Teil der Paulskirche einen Krieg gegen Dänemark um Schleswig-Holstein, der als Auftragskrieg von Preußen 1848 auch eine Weile geführt und dann abgebrochen worden ist. Darüber hinaus gibt es viele Äußerungen prominenter Paulskirchen-Politiker, liberaler Demokraten, die ganz offen sagen: Das Allerwichtigste, was wir für Deutschland erstreben, ist Macht. »Die deutsche Nation ist der Prinzipien und Doktrinen, der literarischen Größe und der theoretischen Existenz satt. Was sie verlangt, ist Macht, Macht, Macht! Und wer ihr Macht gibt, dem wird sie Ehre geben, mehr Ehre, als er sich ausdenken kann.« Das sind Worte Julius Fröbels, eines heute vergessenen, aber damals prominenten großdeutschen Paulskirchen-Politikers.

Der Wunsch, aus dem passiven Dasein herauszukommen, das die Deutschen viele hundert Jahre lang in der Mitte Europas geführt hatten, war in der gesamten Paulskirche sehr ausgeprägt. Man wollte eben auch einmal, wie die Randmächte Europas schon lange, Machtpolitik und Expansionspolitik betreiben können. Bei Bismarck selbst waren solche Wünsche viel weniger stark; Bismarck sprach nach 1871 vom Deutschen Reich immer als von einem saturierten Staat. Und daran war so viel richtig: Preußen war in diesem Reich saturiert und mehr als saturiert. Es war vielleicht sogar schon ein bißchen über seine natürlichen Einflußgrenzen nach Süddeutschland hinausgewachsen. Erst nach Bismarck erwies sich Deutschland als durchaus nicht saturiert – und zwar gerade in dem Maße, wie es immer weniger ein Groß-Preußen und immer mehr ein Nationalstaat wurde. Mit Preußens Schuld also kann man die Schuld des Deutschen Reiches nicht erklären, wenn man schon von Schuld sprechen will. Im Gegenteil: Preußen fungierte, solange seine Vorherrschaft währte, als Bremse, nicht als Motor im Deutschen Reich.

Nun – es gibt noch mancherlei Erklärungen für Expansionismus und Untergang des Deutschen Reiches. So zum Beispiel die Theorie, daß die Hauptursache in der Industrialisierung zu suchen sei, die das Reich in sehr kurzer Zeit zur führenden Wirtschaftsmacht des Kontinents werden ließ: daß diese rapide Industrialisierung eine gesellschaftliche Dynamik in Gang setzte, die schließlich zur Explosion führte.

Gegen solche Überlegungen spricht die Tatsache, daß die Industrialisierung ja kein speziell deutscher Vorgang war. Die industrielle Revolution erfaßte im neunzehnten Jahrhundert phasenweise den ganzen europäischen Kontinent. Frankreich schon etwas früher als Deutschland, auch die westeuropäischen kleinen Mächte, Holland, Belgien. Dann kam Deutschland; Österreich etwas später, Rußland noch später. Es war ein gesamteuropäischer Prozeß. Gewiß hat Deutschland sich besonders stark und besonders tüchtig industrialisiert, aber doch im großen und ganzen in einer Art Gleichschritt mit dem übrigen Europa. Wenn also die Industrialisierung daran schuld wäre, daß das Deutsche Reich seine unheimliche Dynamik und Expansivität entwickelte, dann stellt sich natürlich die Frage: warum gerade Deutschland? Ob da nicht ein Zweig der heute modernen Geschichtsschreibung versucht, Wirtschaft und Politik enger zusammenzubringen, als sie zusammengehören?

Einigen Erklärungsmodellen merkt man nämlich an, daß sie von einem bestimmten ideologisch-politischen Standpunkt herrühren und eigentlich ausgedacht sind, um diesen Standpunkt zu beweisen. Wenn man zum Beispiel mit Lenin meint, daß der Imperialismus die höchste Form des Kapitalismus sei, dann muß natürlich der Kapitalismus daran schuld sein, daß das Deutsche Reich imperialistisch wurde und deshalb zuletzt zerbrach.

Das hat mich nie überzeugt; vielleicht weil ich kein Marxist bin. Aber selbst wenn ich mich in den marxistischen Standpunkt hineinzudenken versuche, fällt doch auf, daß es viele kapitalistische Staaten gegeben hat, die nie imperialistisch geworden sind – zum Beispiel die hochkapitalistische Schweiz. Warum nicht? Diese Frage führt zu einem ganz anderen Erklärungsmuster, das mir viel einleuchtender zu sein scheint.

Die Schweiz ist ein Kleinstaat. Kleinstaaten und Großmächte leben nach unterschiedlichen außenpolitischen Lebensgesetzen. Der Kleinstaat sucht Anlehnung oder Neutralität. Er kann nie versuchen, durch eigene Machtpolitik sein Los zu verbessern. Den Großmächten jedoch liegt das sehr nahe. Wo sie freie Räume finden, neigen sie dazu, sich dorthin auszudehnen, um ihre Macht, die ja ihre staatliche Lebensgrundlage ist, zu festigen und zu erweitern. Das Deutsche Reich – im Gegensatz zu den vorherigen deutschen Staatsbildungen – war eine Großmacht. Das war das eigentlich Neue an ihm. Aber es fand sehr wenig Freiräume, in die es vorstoßen konnte, um sich zu erweitern.

Ein jüngerer amerikanischer Historiker, David Calleo, hat gesagt: »Das Deutsche Reich wurde eingekreist geboren.« Daran ist so viel richtig, daß es von Anfang an von anderen Großmächten umgeben war. Es grenzte im Westen an Frankreich und England, im Süden und Südosten an Österreich-Ungarn, das damals noch eine Großmacht darstellte, und im Osten an das gewaltige russische Reich.

Das Deutsche Reich war also in geographischer Hinsicht ziemlich schlecht dran. Es hatte keine Freiräume, in die es vorstoßen konnte – wie England, Frankreich, sogar Belgien, Holland, Spanien, Portugal über das Meer hinweg oder wie Rußland nach Osten ins Asiatische hinein. Andererseits war das Reich nun einmal Großmacht und hatte deshalb auch den Großmachtinstinkt, noch größer zu werden. Der war ihm sozusagen in seine Großmacht-Wiege gelegt worden.

Und dazu kam noch ein zweites: Das Reich besaß eine ungeschickte Größe. Es war, das hatte sich bereits in den Gründungskriegen herausgestellt, wahrscheinlich stärker als jede andere einzelne europäische Großmacht. Es war aber selbstverständlich schwächer als eine Koalition mehrerer oder gar aller jener Großmächte, die es umgaben. Genau aus diesem Grunde hatte es solche Koalitionen immer zu fürchten. Denn gerade weil zum Beispiel Frankreich, zum Beispiel Österreich, zum Beispiel Italien und vielleicht sogar Rußland sich schwächer fühlten als das Deutsche Reich, neigten diese Länder dazu, Bündnisse zu suchen, Koalitionen einzugehen. Und wiederum weil sie dazu neigten, war das Deutsche Reich immer versucht, solche Koalitionen zu verhindern, ein Glied herauszusprengen, wenn es konnte – und zwar notfalls mit Gewalt, mit Krieg. Vergessen wir nicht: Krieg war damals noch für alle Mächte die ultima ratio, das letzte und ernsteste Mittel der Politik. Aus dieser Situation hat es sich ergeben, daß die Deutschen – ich sage das noch einmal und werde es später etwas ausführlicher begründen: gegen den Willen des Reichsgründers – dazu neigten, die Reichsgründung für unvollkommen zu halten; für keinen Abschluß ihrer Nationalgeschichte, sondern für ein Sprungbrett zu einer nie genau definierten Ausdehnung.

Warum hat man eigentlich den deutschen Nationalstaat, der 1871 in Versailles gegründet wurde, »Deutsches Reich« getauft und nicht einfach »Deutschland«? Doch wohl deswegen, weil er eben von Anfang an mehr – und auch wieder weniger – war als ein Nationalstaat »Deutschland«. Weniger: denn er schloß ja viele Deutsche aus, er war »kleindeutsch«, Nationalstaat nur insoweit, wie es in Preußens Kräften stand, ihn zu gründen, und wie es sich mit preußischer Vorherrschaft vereinbaren ließ; sozusagen: Preußens deutsches Reich.

Aber indem die Titulatur »Deutsches Reich« dieses Weniger verhüllte, deutete sie zugleich ein Mehr an: nämlich den europäischen, übernationalen Universalitätsanspruch des mittelalterlichen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation.

»Deutsches Reich«: das konnte entweder heißen: soviel Deutschland, wie Preußen beherrschen kann; oder: soviel Europa und soviel Welt, wie Deutschland beherrschen kann. Das erste war die Auslegung Bismarcks; das zweite die Hitlers. Der Weg von Bismarck zu Hitler ist die Geschichte des Deutschen Reiches, zugleich schon die Geschichte seines Untergangs.

Denn das ist das Unheimliche an dieser Geschichte, daß das Deutsche Reich fast von Anfang an seine eigene Zerstörung betrieben zu haben scheint. Mit seiner immer größeren und immer weniger berechenbaren Machtentfaltung schuf es sich die Welt von Feinden, an der es zerbrochen ist – und zwischen denen es schließlich geteilt wurde. Mit der Teilung aber hörten wie mit einem Zauberschlag diese Feinde auf, Feinde zu sein. Von den beiden deutschen Staaten, die seit 1949 die Stelle des Bismarckreichs einnehmen, hatte von Anfang an die Bundesrepublik im Westen, die DDR im Osten keinen Feind mehr. Und heute leben wir in einer Epoche, in der allmählich auch der Osten an der fortdauernden Existenz der Bundesrepublik, der Westen an der der DDR ein positives Interesse zu gewinnen scheint. Ein Ende dieser beiden nun schon fast vier Jahrzehnte alten deutschen Staaten ist jedenfalls nicht abzusehen. Und gerade das befähigt uns, die Epoche des Deutschen Reichs, was früher nicht möglich war, von weitem wie durch ein Fernrohr zu betrachten.

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Entstehung des Deutschen Reiches

Man sagt immer, das Deutsche Reich wurde 1870/71 gegründet. Aber eigentlich ist das eine irreführende Vorstellung. Das Deutsche Reich ist nicht auf einmal aus heiterem Himmel »gegründet« worden, sondern es hatte eine ziemlich lange, eine mehr als zwanzigjährige Entstehungsgeschichte: von 1848 bis 1871.

Hervorgegangen ist es aus einem merkwürdig schiefen Bündnis zwischen preußischer Politik in Deutschland auf der einen und der deutschen Nationalbewegung auf der anderen Seite. Dieses Bündnis war schief nicht nur, weil Bismarck es etwas übergewichtig zur preußischen Seite hin angelegt hatte, sondern auch, weil es von vornherein ein sehr paradoxes, nicht vorhersehbares Bündnis zwischen ganz entgegengesetzten Kräften war.

Preußen und die deutsche Nationalbewegung – das waren beides sehr junge Erscheinungen in der deutschen Geschichte. Preußen gab es als Staat erst seit 1701, als Großmacht seit dem Siebenjährigen Krieg 1756 bis 1763 und als deutsche Großmacht eigentlich erst seit der Wiener Kongreßakte von 1815. Vorher tendierte Preußen immer stark nach Polen, und zehn Jahre lang, von 1796 bis 1806, war es geradezu ein binationaler, teils deutscher, teils polnischer Staat. Warschau gehörte damals zu Preußen.

Erst 1815 wurde Preußen sozusagen nach Westen umgedreht, nach Deutschland hineingestoßen. Seine polnischen Besitzungen verlor es zum großen Teil (nicht vollständig), dafür gewann es aber einen ganz massiven westdeutschen Zuwachs, die Rheinprovinz, der mit dem preußischen Hauptgebiet im Osten allerdings überhaupt nicht verbunden war. So wurde Preußen ein geographisch unvollständiger Staat, der irgendwie danach streben mußte, sich zu arrondieren, und zwar in Deutschland. Und gleichzeitig wurde es zur zweiten deutschen Großmacht nach Österreich. So seltsam es klingt: Preußen hat in der Form, in der es im neunzehnten Jahrhundert deutsche Politik machte, eigentlich erst seit 1815 bestanden.

Die deutsche Nationalbewegung war auch nicht viel älter; ihre Entstehung fällt in die napoleonische Epoche. Einen deutschen Nationalstaat, das muß man sich klarmachen, hat es vor dem neunzehnten Jahrhundert nie gegeben. Das alte Heilige Römische Reich war nie ein Nationalstaat gewesen, und seit dem dreizehnten Jahrhundert löste es sich immer mehr in Partikularstaaten auf. Man kann nicht sagen, daß die zeitgenössischen Deutschen das als etwas besonders Unnatürliches empfunden hätten. So konnte zum Beispiel Wieland noch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts in seiner Einleitung zu Schillers »Geschichte des Dreißigjährigen Krieges« »mit gutem Grunde behaupten, daß … die Vorteile, welche aus dieser Zerteilung im ganzen für uns entspringen, das Nachteilige bei weitem überwiegen; oder vielmehr, daß sie es gerade ist, der wir diese Vorteile zu verdanken haben«. Da war noch keine Rede davon, daß Deutschland nun unbedingt ein zusammenhängendes Machtgebilde, ein Staat, und zwar ein Nationalstaat, werden müsse – wie Frankreich.

Die Nationalbewegung und Preußen als überwiegend deutsche Großmacht treten also erst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in die deutsche Geschichte ein. Und zwar zunächst keineswegs als Verbündete, sondern als Feinde. Für diese Feindschaft gab es zwei gute Gründe. Der erste: Preußen war, um es einmal einfach mit modernen allgemein-politischen Begriffen zu bezeichnen, »rechts«: ein immer noch weitgehend feudalistischer Agrarstaat mit einer ungebrochenen Adelsherrschaft auf dem Lande, der mit einer modernen absolutistischen Bürokratie ausgerüstet war. Beides würden wir heute als ausgesprochen »rechts« einstufen.

Die deutsche Nationalbewegung dagegen war eine »linke« Bewegung. Sie war von vornherein auf eine Nachahmung des revolutionären Frankreich gerichtet – daher auch ihre ursprüngliche Verbindung mit freiheitlichen, liberal-demokratischen Bewegungen. Stark wurde sie aber erst durch Napoleon. Napoleon rief bei den Deutschen, zunächst den deutschen Politikern und Intellektuellen, dann mehr und mehr auch im breiteren Publikum, zwei unterschiedliche Reaktionen hervor. »Das soll uns nie wieder passieren dürfen!« war die eine, während die andere etwa lautete: »Das wollen wir auch einmal machen können!« Das napoleonische Frankreich war das Vorbild der deutschen Nationalbewegung und Napoleon ihr illegitimer Vater.

Gleichzeitig war die deutsche Nationalbewegung aber auch eine anti-französische Bewegung, denn die Franzosen kamen ja nicht nur als Vorbilder und Modernisierer, sondern auch als Eroberer, Unterwerfer und Ausbeuter nach Deutschland. Besonders als militärische Ausbeuter; die Deutschen haben schwer geblutet in Napoleons Kriegen, in denen sie gezwungenermaßen mitfechten mußten.

So durchmischten sich ganz gegensätzliche Gefühle: zum einen ein ausgeprägter Franzosenhaß (»Das soll uns nie wieder passieren dürfen!«) – aber andererseits ein bewundernder Wunsch, es den Franzosen gleichzutun (»Das wollen wir auch einmal können!«). Was Napoleon vollbracht hatte, verdankte er offensichtlich der Nationalisierung und der Durchpolitisierung Frankreichs in der Revolution, die er ererbt und keineswegs rückgängig gemacht hatte. Schon vor Napoleon schwärmte man in manchen deutschen Kreisen für die neue französische Freiheit und Gleichheit, die nationale Demokratie. Nicht viel anders hielten es die preußischen Militärs in den Befreiungskriegen – man denke an Scharnhorst oder Gneisenau. Da hieß es dann: Wir müssen von Frankreich lernen, wir müssen das, was uns die Franzosen vorexerziert haben, nachahmen; nicht zuletzt freilich, um ihnen mit gleicher Münze zurückzuzahlen. So mischten sich Haß und Bewunderung.

Man idealisiert die deutsche Nationalbewegung gern ein bißchen, auch heute noch. Die deutschen Frühnationalisten, besonders der Freiherr vom Stein, der bedeutendste von ihnen, gelten immer noch als vorbildliche deutsche Staatsmänner. Doch da empfiehlt sich Vorsicht. Wenn man sich die Ablehnung dieser Nationalbewegung durch Goethe vergegenwärtigt, wenn man sich des weiteren Thomas Manns Darstellung dieser Ablehnung in »Lotte in Weimar« anschaut, dann wird man doch sehr nachdenklich. Es fehlt nämlich dieser Frühnationalbewegung keineswegs an Vorklängen des Nationalsozialismus: zum Beispiel eine ungeheure Selbstüberhebung und Selbstanbetung; die Deutschen, das »Urvolk«, das eigentliche Volk, das wirkliche und wahre und beste Volk Europas – und dann gleichzeitig dieser furchtbare Haß, etwa bei Kleist: »Schlagt sie tot! Das Weltgericht/fragt euch nach den Gründen nicht.« Auch bei Ernst Moritz Arndt finden wir dieses bedenkliche Amalgam aus Frankreich-Nachahmung und Franzosenfresserei, schlimmer noch, weil stärker rationalisiert, bei Johann Gottlieb Fichte.

Diese Strömungen sind deshalb von so großer Bedeutung, weil sich die deutsche Nationalbewegung auf die Dauer als der stärkere Partner in jenem schiefen preußisch-nationalen Bündnis erweisen sollte, aus dem das Deutsche Reich entstand – trotz allem, was Bismarck zunächst scheinbar Gegenteiliges erreicht hatte. Sie hat letzten Endes weit mehr als das preußische Element zu den Übersteigerungen des deutschen Nationalismus und Expansionismus beigetragen, die ihren Höhepunkt schließlich unter Hitler erreichen sollten. Freilich war der »Rechts«-»links«-Gegensatz nur einer der beiden Gründe für die Feindschaft zwischen Preußen und der Nationalbewegung. Der ursprüngliche zweite hängt mit dem Gegensatz zwischen Österreich und Preußen zusammen: Die Nationalbewegung war großdeutsch, während preußische Deutschlandpolitik bestenfalls nur eine kleindeutsche sein konnte. Das stellte sich allerdings erst nach 1848 heraus.

In den Jahren von 1815 bis 1848 arbeiteten Preußen und Österreich Hand in Hand, und zwar gerade bei der Unterdrückung der deutschen Nationalbewegung. Ihr gemeinsames Instrument dabei war der Deutsche Bund.

Auf dem Wiener Kongreß war die revolutionäre Idee eines deutschen Nationalstaats ja ausdrücklich verworfen worden, ebenso die Wiederherstellung des alten, 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reichs. Der Deutsche Bund, eine sehr lose Vereinigung von 38 Staaten und Stadtstaaten, die nun an die Stelle des alten Reichs trat, hatte von vornherein gerade auch den Zweck, die Machtkonzentration eines Nationalstaats in Mitteleuropa zu verhindern.

Er war sehr ungleich zusammengesetzt: zwei Großmächte, Österreich und Preußen; vier mittelgroße Königreiche, Bayern, Württemberg, Sachsen und Hannover; der Rest kleinere Staaten und freie Städte. Diese interne Machtverteilung läßt im kleinen an diejenige denken, die heute bei den Vereinten Nationen im großen herrscht. Und so wie der Spiritus rector der Vereinten Nationen, der amerikanische Präsident Roosevelt, immer überzeugt war, daß das Funktionieren der Vereinten Nationen eine ständige Vorverständigung zwischen den beiden Großmächten USA und USSR verlangte, war der Vater des Deutschen Bundes, der österreichische Staatskanzler Metternich, überzeugt, daß der Deutsche Bund nur funktionieren würde, wenn Österreich, die Präsidialmacht, mit der anderen Großmacht Preußen rücksichtsvoll zusammenarbeitete. So waren zum Beispiel die »Karlsbader Beschlüsse« von 1819, mit denen die berüchtigten »Demagogenverfolgungen« eingeleitet wurden, in Karlsbad von Österreich mit Preußen abgestimmt worden, ehe sie in Frankfurt vom Deutschen Bund ins Werk gesetzt wurden. Obwohl die Idee dazu von Österreich ausging, tat sich bei ihrer Durchführung übrigens Preußen besonders hervor.

Die Unterdrückungsmaßnahmen trafen hauptsächlich Universitäten, Literatur und Presse, aber sie galten inhaltlich der Nationalbewegung, die zwischen 1815 und 1848 ja nur in diesen »Medien« (wie wir heute sagen würden) lebendig und greifbar blieb. Und so war denn auch die Revolution von 1848 nicht nur eine Antwort auf Unterdrückung und Verfolgung als solche, sondern sie war zugleich eine nationale Revolution, der Versuch, die Deutschlandregelung von 1815 rückgängig zu machen, an die Stelle des Deutschen Bundes ein Deutsches Reich zu setzen, und zwar ein großdeutsches Reich.

Dieses erste Deutsche Reich hat tatsächlich ein knappes Jahr lang, vom Sommer 1848 bis zum Frühjahr 1849, bestanden, mit einem Staatsoberhaupt, einem Ministerium und einem Parlament in Gestalt der Frankfurter Paulskirchen-Versammlung; es war sogar von den Vereinigten Staaten anerkannt worden. Freilich fehlte ihm eine wirkliche Machtgrundlage.

Denn die Machtgrundlage dieses ersten Deutschen Reiches war einzig die Märzrevolution in den deutschen Staaten gewesen, und diese Revolution hatte keinen langen Atem. Bereits im Sommer fing sie an zu ermüden; im Herbst wurde sie in den beiden deutschen Großstaaten niedergeworfen; in Österreich blutig, in Preußen unblutig; und die Nationalversammlung in der Paulskirche begann zu merken, daß ihrem Staat das fehlte, was einen Staat erst ausmacht, Heer und Verwaltung. Sie mußten es irgendwie anschaffen. Aber wie? Das merkwürdige Resultat dieser Überlegung war, sich diese Institutionen sozusagen zu borgen – und zwar von Preußen.

Als das neue Deutsche Reich von 1848 einen Krieg mit Dänemark um Schleswig-Holstein führen wollte, beauftragte es die preußische Armee damit, zunächst noch erfolgreich (es war im Frühsommer 1848, und auch Preußen selber hatte noch eine Revolutionsregierung). Als dann Preußen, einer Mächteintervention weichend, sich im September aus diesem Krieg zurückzog und in Frankfurt Unruhen ausbrachen, wurde wieder die preußische Armee zur Hilfe gerufen. Und ganz zum Schluß, im Frühjahr 1849, beendete die Paulskirchen-Versammlung ihr Reichsgründungswerk damit, daß sie den preußischen König, allerdings mit knapper Mehrheit, zum erblichen deutschen Kaiser wählte, was er bekanntlich ablehnte. Er wollte mit der Revolution nichts mehr zu tun haben.

Das war eine böse Überraschung für die Männer der Paulskirche. Aber viel überraschender (zunächst sogar für sie selbst) war es, daß sie das Angebot der deutschen Kaiserkrone an den König von Preußen überhaupt gemacht hatten. Die deutsche Nationalbewegung war doch immer großdeutsch gewesen, und auch die Frankfurter Nationalversammlung war ganz überwiegend großdeutsch gesinnt; der Reichsverweser, den sie bestellt hatte, war ein habsburgischer Erzherzog; in der Reichsregierung waren Österreicher sehr stark vertreten; die Österreicher hatten auch mitgewählt. Wie kam es, daß man jetzt plötzlich auf Preußen zurückfiel? Nun, es war eine Notlösung, ein Rückzug, eine Kapitulation vor der Tatsache, daß der österreichische Kaiserstaat nicht, wie anfangs erwartet, zerfallen, sondern im vollen Zuge seiner Restauration war und gar nicht mehr daran dachte, seine Deutschen in ein neugebackenes großdeutsches Reich zu entlassen. Also beschränkte man sich notgedrungen auf ein Kleindeutschland unter preußischer Führung. Das war ein Stück Realpolitik von seiten der Nationalrevolutionäre, ein schmerzliches Opfer, und nun obendrein auch noch ein verweigertes Opfer. Immerhin: Es war das erste Mal, daß sich der deutsche Nationalismus auf eine preußisch-kleindeutsche Lösung einließ, wenn auch nur als eine Ersatzlösung. Lange vor Bismarck hatte also die deutsche Nationalbewegung selbst schon einmal solch ein Notbündnis ins Auge gefaßt.

Eine solche preußisch-deutsche Vereinbarung ist vor Bismarck sogar noch ein zweites Mal für einen Augenblick Wirklichkeit gewesen, und zwar unmittelbar nach 1848. Diesmal ging die Initiative von Preußen aus. Preußen hatte die deutsche Kaiserkrone der Revolution zwar abgelehnt. Aber der Gedanke einer kleindeutschen Einheit unter preußischer Führung war in Berlin durchaus nicht nur auf taube Ohren gestoßen. Man stellte sich einen Fürstenbund vor, locker zwar, aber doch schon bundesstaatlich, auch mit einem Parlament – und natürlich ohne Revolution. So gründete Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. im Jahre 1849 die Deutsche Union, eine Union von 28 deutschen Staaten, die allerdings nicht ganz den Umfang des späteren Deutschen Reiches hatte, weil Bayern und Württemberg von vornherein nicht mitmachten. Auch die beiden Königreiche Hannover und Sachsen fielen später wieder ab.

Das Bemerkenswerte besteht nun darin, daß der Rumpf der Frankfurter Nationalversammlung sich in Gotha versammelte und den Beschluß faßte, bei der Deutschen Union mitzumachen. Der »Zweck«, den man in Frankfurt habe erreichen wollen – also eine deutsche, notfalls auch kleindeutsche Einheit –, sei wichtiger als die Form, wurde erklärt. An den demokratischen Nationalisten also ist die Deutsche Union nicht gescheitert. Ihr Mißerfolg hatte außenpolitische Gründe. Österreich, unterstützt von Rußland, wandte sich ganz stark, zum Schluß unter Kriegsdrohung, gegen das Vorhaben und verlangte die Wiederherstellung des alten Deutschen Bundes. Und Preußen gab nach, wobei übrigens Bismarck die entscheidende Rede im preußischen Abgeordnetenhaus hielt. Bismarck war damals noch gegen das Bündnis mit dem deutschen Nationalismus, für die Wiederherstellung des alten Bundes, für die Wiederherstellung eines guten Verhältnisses Preußens mit Österreich, und gerade deswegen wurde er ja auch im Juli 1851 als preußischer Gesandter nach Frankfurt zum wiederhergestellten Deutschen Bund geschickt. Er blieb dort bis Anfang März 1859. Erst in dieser Periode entwickelte sich dann bei Bismarck der Entschluß, ein Bündnis Preußens mit der deutschen Nationalbewegung zu suchen.

Es muß nun im folgenden sehr viel von Bismarck die Rede sein. Aber ehe wir uns der Geschichte Bismarcks zuwenden, tun wir gut daran, uns klarzumachen, daß das paradoxe Bündnis Preußens mit der deutschen Nationalbewegung, das er 1866 und 1870 zum Erfolg führte, schon vor ihm einmal für einen kurzen Augenblick vollzogen worden war.

Die Deutsche Union von 1849/50 war in der Absicht bereits das Deutsche Reich von 1870/71 gewesen, in der Realität etwas Ähnliches wie Bismarcks Norddeutscher Bund von 1867: die Zusammenfassung wenn nicht ganz Deutschlands, so doch ganz Norddeutschlands als Fürstenbund unter preußischer Führung, unter Ausschluß Österreichs, aber mit ausdrücklicher Zustimmung und Mitwirkung der deutschen Nationalisten und Parlamentarier. Selbst die Frage, wer in diesem Bündnis Preußens mit der nationalen Revolution Roß und wer Reiter sein sollte, war hier schon ganz im späteren Bismarckschen Sinne entschieden: 1848/49 hatte die Revolution sich noch Preußens bedienen wollen, und das war abgelehnt worden. 1849/50 hatte sich Preußen für eine preußische Deutschlandpolitik der Revolution bedient, und so herum war das Bündnis in Gotha angenommen worden. Gescheitert war das Ganze an mangelnder außenpolitischer Absicherung und mangelnder Kriegsbereitschaft. Beides sollte Bismarck 1866 und 1870 nachliefern. Darin, und im Grunde genommen nur darin, liegt sein persönlicher Beitrag zur Reichsgründung. Die Konzeption selbst war schon vor ihm dagewesen, und er mußte erst nachträglich für sie gewonnen, ja zu ihr bekehrt werden.

Das nun geschah in seiner Frankfurter Zeit, in den fünfziger Jahren, und was ihn bekehrte, war die Erfahrung der österreichischen Politik beim wiederhergestellten Bund. 1855 schrieb er in einem Bericht nach Berlin: »Ich war gewiß kein prinzipieller Gegner Österreichs, als ich herkam vor vier Jahren, aber ich hätte jeden Tropfen preußischen Bluts verleugnen müssen, wenn ich mir eine auch nur mäßige Vorliebe für das Österreich, wie seine gegenwärtigen Machthaber es verstehen, hätte bewahren wollen.«

Erinnern wir uns: Der Deutsche Bund war in den Jahren von 1815 bis 1848 stets durch eine Art Kondominium von Österreich und Preußen gelenkt worden. Österreich war zweifelsohne die größere Macht im Deutschen Bund, es war auch die ständige Präsidialmacht – aber Preußen war eben die andere Großmacht. Mit dieser anderen Großmacht war Österreich unter Metternich nach 1815 entschlossen gewesen zusammenzuarbeiten. Das war nach 1848 nicht mehr der Fall. Schon die Wiederherstellung des Deutschen Bundes war ja von Österreich gegen den Willen Preußens erzwungen worden, die beiden traten in den neuen Deutschen Bund als Konkurrenten, als Rivalen, als Gegner ein – und Österreich als der zunächst überlegene Gegner.

Bis 1848 war die deutsche Nationalbewegung unterdrückt worden. Nach 1848 war sie nicht mehr ganz unterdrückbar. Denn die Deutschen hatten inzwischen, wenn auch nur für einen historischen Augenblick, die Realisierbarkeit eines Deutschen Reiches erfahren, und diese Erfahrung vergaßen sie nicht. Die deutsche Nationalbewegung blieb also, auch ohne Macht zu haben, weiterhin ein politischer Faktor, mit dem man immer zu rechnen hatte und den die eine oder andere Großmacht für sich einspannen mußte. Es gab seit 1848/49, was es bis 1848 nicht gegeben hatte: eine deutsche Frage.

Und in dieser deutschen Frage waren Österreich und Preußen Rivalen. Das ist es, was Bismarck in seiner Frankfurter Zeit als preußischer Bundestagsgesandter entdeckte.

Nicht nur Preußen, auch Österreich mußte nach 1848 eine Deutschlandpolitik entwickeln, und das tat es, auf seine Weise. Wenn Preußen sich durch die Natur der Sache in seiner Deutschlandpolitik immer auf ein »Kleindeutschland«, manchmal sogar auf ein bloßes Norddeutschland, zurückverwiesen fand, mußte Österreich nunmehr, wenn es der Vielvölkerstaat bleiben wollte, der es war, und trotzdem Vormacht eines irgendwie geeinigten Deutschland werden wollte, auf eine Art Supergroßdeutschland zielen: ein »Reich der [damals] 70 Millionen«, wie es Fürst Schwarzenberg, ein österreichischer Bismarck, 1850 tatsächlich anstrebte. Schwarzenberg starb unerwartet 1852, aber seine Denkweise starb nicht mit ihm, am wenigsten seine Tendenz, Preußen fortan als einen Rivalen zu betrachten, den man im Kampf um Deutschland schwächen, womöglich zerstören mußte; und Bismarck, ein sehr reizbarer Mann, empfand das sehr stark, auch wenn die österreichische Deutschlandpolitik in seiner Frankfurter Zeit weniger direkt aggressive Formen annahm. Das Folgende sind Zitate aus einer als »Prachtbericht« berühmt gewordenen Denkschrift Bismarcks von 1856:

»Nach der Wiener Politik ist Deutschland einmal zu eng für uns beide; solange ein ehrliches Arrangement über den Einfluß eines jeden in Deutschland nicht getroffen und ausgeführt wird, pflügen wir beide denselben streitigen Acker, und solange bleibt Österreich der einzige Staat, an den wir nachhaltig verlieren und von dem wir nachhaltig gewinnen können.« In demselben »Prachtbericht« ist an anderer Stelle auch bereits von der Möglichkeit die Rede, »daß wir in nicht zu langer Zeit für unsere Existenz gegen Österreich werden fechten müssen und daß es nicht in unserer Macht liegt, dem vorzubeugen, weil der Gang der Dinge in Deutschland keinen anderen Ausweg hat«.

Es ist nicht uncharakteristisch, daß in dem, was man Bismarcks Bekehrungsprozeß nennen könnte und woraus so viel deutsche Geschichte entsprang, die Feindschaft mit Österreich das erste war. Der Gedanke des preußischen Bündnisses mit der deutschnationalen Revolution kam später. Freilich ergab er sich mit einer gewissen Unausweichlichkeit aus der neuen preußisch-österreichischen Gegnerschaft. In einer langen Denkschrift aus dem Jahre 1858 (damals in Berliner Regierungskreisen spöttisch »Das kleine Buch des Herrn von Bismarck« genannt) lesen wir: »Die preußischen Interessen fallen mit denen der meisten Bundesländer, außer Österreich, vollständig zusammen, aber nicht mit denen der Bundesregierungen, und es gibt nichts Deutscheres als gerade die Entwicklung richtig verstandener preußischer Partikularinteressen.« Und wenn das noch etwas gewunden klingt, wird Bismarck ein Jahr später ganz deutlich: »Der alleinige zuverlässige, ausdauernde Alliierte, welchen Preußen haben kann, wenn es sich danach benimmt, ist das deutsche Volk.« Noch ein Jahr später, 1860, sieht er nicht mehr ein, »warum wir von der Idee einer Volksvertretung, sei es im Bunde, sei es in einem Zollvereinsparlament, so zurückschrecken.« (Zehn Jahre zuvor hatte er noch »die preußische Ehre« darin gesehen, »daß Preußen vor allem sich von jeder schmachvollen Verbindung mit der Demokratie entfernt halte«.) Und im Januar 1863 verlas der preußische Gesandte beim Frankfurter Bundestag eine Grundsatzerklärung zugunsten einer aus direkten, geheimen und gleichen Wahlen hervorgehenden Volksvertretung. Damals war Bismarck seit drei Monaten preußischer Ministerpräsident und Außenminister.

Die dramatische Geschichte des preußischen Verfassungskonflikts, dem er seine Ernennung verdankte, braucht hier nicht nacherzählt zu werden. Es ist nur daran zu erinnern, daß es auch in Preußen eine – sehr starke – liberal-nationale Bewegung gab. Bismarck machte sich bei dieser Bewegung durch seine Politik als Konfliktminister zunächst unmöglich. Aber er behielt immer die Idee im Hinterkopf, daß er die preußischen wie die außerpreußischen Liberalen eines Tages als Partner gewinnen und versöhnen würde, müßte, könnte, und zwar indem er ihnen ihre nationalen Wünsche erfüllte. In seiner berühmten ersten Rede als Ministerpräsident sagte Bismarck: »Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht« und: »Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut.« Wie es ja dann auch geschehen ist.

Man hat sich aus dieser Rede immer nur den provokativen Ausdruck »Eisen und Blut« gemerkt. Übersehen hat man, daß hier bereits ein stark angedeutetes Friedensangebot an die Liberalen ausgesprochen wurde. Der Ministerpräsident signalisierte den Abgeordneten, daß die Regierung das gegen ihren Willen vermehrte Heer brauche, um eines Tages mit Gewalt das durchzusetzen, was ja auch sie anstrebten, nämlich den deutschen Nationalstaat – ein mit Preußen verbundenes, durch Preußen geführtes, allerdings kleindeutsches, vielleicht sogar nur norddeutsches Reich. Das war von vornherein Bismarcks Idee. Man übertreibt nur wenig, wenn man sagt, daß der Krieg von 1866 und der Friede, der ihm folgte, in Bismarcks Kopf schon fertig waren, als er 1862 preußischer Ministerpräsident und Außenminister wurde. Freilich, ein wenig übertreibt man. Bismarck sprach wohl die Wahrheit über sich, als er 1890, kurz nach seiner Entlassung, in einem Interview sagte: »Der Staatsmann gleicht einem Wanderer im Walde, der die Richtung seines Marsches kennt, aber nicht den Punkt, an dem er aus dem Forste heraustreten wird … Ich hätte jede Lösung mit Freuden ergriffen, welche uns ohne Krieg der Vergrößerung Preußens und der Einheit Deutschlands zuführte. Viele Wege führten zu meinem Ziel. Ich mußte der Reihe nach einen nach dem anderen einschlagen, den gefährlichsten zuletzt. Einförmigkeit war nicht meine Sache.«

Immerhin, das Ziel stand fest: die Vergrößerung Preußens und so viel deutsche Einheit, wie damit vereinbar war. Und ziemlich fest stand auch von vornherein, daß dieses Ziel nur gegen den Willen Österreichs zu erreichen war und daß der gefährlichste Weg zum Ziel, der kriegerische, zuletzt wohl doch beschritten werden müßte. Darin unterscheidet sich der Krieg von 1866 von den beiden anderen Kriegen Bismarcks, auch dem von 1864, der ihm zeitlich vorausging: Dieser gemeinsam mit Österreich geführte Krieg gegen Dänemark um Schleswig-Holstein war nur einer der Umwege, die zum kriegerischen Austrag des preußisch-österreichischen Konflikts um Deutschland führten, indem er mit der zunächst gemeinsamen, dann geteilten Verwaltung Schleswig-Holsteins einen neuen Zankapfel zwischen den beiden deutschen Großmächten schuf. Im übrigen war er eine Improvisation; sein Anlaß war nicht vorauszusehen gewesen, und die schleswig-holsteinische Frage hatte, ehe sie plötzlich akut wurde, Bismarck kaum beschäftigt.

Dasselbe läßt sich, so erstaunlich es klingen mag, von dem letzten und größten der Bismarckschen Kriege sagen, dem Deutsch-Französischen von 1870/71, aus dem dann das Deutsche Reich hervorging und auf dem, weit mehr als auf dem deutschen »Bruderkrieg« von 1866, Bismarcks Nachruhm und seine postume Popularität in Deutschland beruhte.

Bleiben wir aber noch einen Augenblick bei diesem Bruderkrieg, der ja weit mehr als der Krieg von 1870/71 die deutschen Verhältnisse revolutionierte. Seine Ergebnisse entsprachen genau – weit genauer als die des späteren Deutsch-Französischen Krieges – dem Ziel, das Bismarck so lange auf so vielen Wegen angestrebt hatte. Es waren vier:

Erstens eine gewaltige Vergrößerung Preußens. Ein ganzes Königreich – Hannover –, außerdem Schleswig-Holstein, Kurhessen, Nassau wurden einfach preußische Provinzen, und die alte Freie Reichsstadt Frankfurt, bisher Sitz des Deutschen Bundes, wurde eine preußische Provinzstadt. Preußen erreichte zugleich seine letzte und äußerste Ausdehnung und, zum ersten Mal in seiner Geschichte, einen vollkommen zusammenhängenden deutschen Gebietskörper. Man tut Bismarck wahrscheinlich kein Unrecht, wenn man annimmt, daß für ihn als preußischen Staatsmann dies das wichtigste aller Ergebnisse des Krieges war.

Zweitens eine Neuschöpfung, der Norddeutsche Bund. Unter diesem harmlos klingenden Namen verbarg sich in Wahrheit der erste deutsche Bundesstaat, der zur Keimzelle des späteren Deutschen Reiches werden konnte – vielleicht auch sollte – und jedenfalls vier Jahre später tatsächlich wurde. Das Gewicht seiner 23 Mitglieder war sehr ungleich: Preußen allein hatte nach den Annexionen von 1866 24 Millionen Einwohner, alle übrigen 22 Mitglieder des Norddeutschen Bundes zusammen sechs. Immerhin besaß der Norddeutsche Bund einen nach allgemeinem gleichen Wahlrecht gewählten »Reichstag«, einen »Reichskanzler« und ein Bundesheer, von dem die preußische Armee nur noch ein Bestandteil, allerdings der weitaus größte war. Von Bismarck aus gesehen, war der Norddeutsche Bund seine Abschlagszahlung an die deutsche Nationalbewegung, einschließlich ihrer demokratisch-parlamentarischen Bestrebungen. Es ist nicht sicher, daß Bismarck je mehr als diese Abschlagszahlung leisten wollte.

Drittens vier zum ersten Mal in ihrer Geschichte vollkommen freistehende, souveräne süddeutsche Staaten, die mit Preußen durch Militärbündnisse und Zollunion verbunden waren: Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt. Ihr Anschluß an den Norddeutschen Bund war die einzige innerdeutsche Veränderung, die der Krieg von 1870/71 bewirkte; im Grunde keine gewaltige Veränderung. Dennoch wurde im deutschen Nationalbewußtsein erst er die wirkliche Reichsgründung. Jedenfalls ermöglichte er die Umtaufe des Norddeutschen Bundes in »Deutsches Reich« und seines preußischen Präsidiums in »Deutscher Kaiser«.

Viertens ein Österreich, das zum ersten Mal in einer tausendjährigen Geschichte mit dem übrigen Deutschland keinerlei staatliche Verbindung mehr hatte und sich dadurch übrigens auch zu einer großen inneren Umgestaltung, dem »Ausgleich« mit Ungarn, genötigt sah, der aus dem österreichischen Kaiserreich die kaiserlich-königliche Doppelmonarchie machte. Der Friede mit Österreich vermied indessen sorgfältig jede überflüssige Beleidigung durch Gebietsabtretung oder Kriegsentschädigung und hielt dadurch die Möglichkeit eines künftigen Bündnisses offen.